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Last Desire Extra

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
So, meine liebe pri_fairy… Da du mich ja gebeten hast, etwas zu Anne zu schreiben, bekommst du hier ihre ganze Geschichte bis einschließlich ihrer Begegnung mit Kenan. Ich hoffe, ich hab dir nicht zu viel versprochen. Komplett anzeigen

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Die Madonna mit den Eisaugen

Vor genau 22.484 Jahren, als die letzte große Eiszeit noch nicht ganz vorbei war und große Teile Europas noch unter dichtem Eis verborgen waren, kam eine dreiköpfige Familie in diese Welt, mit dem einfachen Ziel, zu überleben und versteckt zu leben. Diese Familie bestand aus Tayar, einem Unterklasse-Sefira, seiner Naphil-Frau Shoshana und ihrer gemeinsamen Tochter Kabrana. Die kleine Kabrana war erst sieben Jahre alt, als sie mit ihren Eltern fliehen musste und sie war noch zu jung um zu begreifen, was eigentlich geschah und wieso sie nicht mehr in der Heimat bleiben durften. Doch sie ahnte, dass es etwas Schlimmes sein musste, da ihre Eltern Angst hatten und sie oft ernste Gespräche miteinander führten. Sie erklärten der Siebenjährigen, dass sie fliehen mussten, weil Shoshana eine Naphil und ihre Tochter somit eine Halb-Naphil war und die Halbblüter von den großen Alten verfolgt und aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Und auf jene, die gefasst wurden, wartete die Todesstrafe. Kabrana verstand zwar, dass es gefährlich war, in der Heimat zu bleiben, aber sie begriff nicht, warum es so schlimm war, ein Halbblut zu sein. Und sie musste sich nun damit abfinden, dass ihr komfortables Leben in der Heimat für immer vorbei war. Sie ließen sich in einer Höhle nieder und richteten dort provisorisch ihr Lager ein. In dicke Mäntel gehüllt saßen sie am Feuer und schwiegen die meiste Zeit. Die Stimmung war bedrückt, Tayar blieb die ganze Zeit wachsam und war fest entschlossen, seine kleine Familie zu beschützen, denn er wusste, dass man nach ihnen suchte. Shoshana hingegen plagte das schlechte Gewissen, dass ihr Mann ihretwegen die Heimat verlassen musste. Und auch ihrer Tochter gegenüber hatte sie Schuldgefühle, denn sie wusste, dass auf sie und Kabrana ein Leben im Exil warten würde. Hilfe konnten sie von niemandem erwarten. Sie waren Abschaum und gehörten weder in die Welt der Unvergänglichen, noch in die der Menschen. Verdammt dazu, für den Rest ihres Lebens zwischen zwei Welten zu leben, würde sie ein hartes Leben erwarten. Oft hörte Kabrana, wie sich ihre Mutter entschuldigte, aber sie sah keinen Grund, für den es sich zu entschuldigen gab. Und auch Tayar war seiner Frau nicht böse und versicherte ihr, dass er sie liebte, ganz egal ob sie Unvergängliche oder Halbblut war. Und er schwor, sie beide mit seinem Leben zu beschützen. So verbrachten sie zwei Nächte in der Höhle und zogen dann weiter. Sie blieben in stetiger Bewegung, um die Möglichkeit weitestgehend zu verringern, dass man sie finden könnte. Manchmal kam es vor, dass sie die Nacht im Freien verbringen mussten und da es im nördlichen Teil der Erde noch zu kalt war und die Eiszeit sie fest im Griff hielt, wanderten sie in Richtung Süden in der Hoffnung, auf die Weise ein warmes Zuhause zu finden. So waren sie gut sechs Monate unterwegs und fanden schließlich im Süden Amerikas Zuflucht und ließen sich dort nieder. Sie bauten sich ein gemeinsames Zuhause auf und lebten glückliche Tage und waren vor der Kälte der Eiszeit geschützt. Kabrana arrangierte sich sehr gut mit ihrem neuen Leben und war glücklich, solange sie ihre Familie hatte. Eines Tages, als sie schließlich im Wald war um Beeren zu sammeln und schon wieder auf dem Rückweg war, da konnte sie etwas beobachten. Sie sah ihre Eltern auf dem Boden knien und vor ihnen stand eine Frau, die eine Art Rüstung trug, eine doppelköpfige Streitaxt bei sich hatte und deren blondes Haar zu einem Knoten zusammengebunden war. Ihr linkes Auge wurde durch eine Augenklappe verdeckt und ihr Blick zeugte von Strenge, Grausamkeit und Kompromisslosigkeit. Sofort versteckte sich Kabrana im Gebüsch und verbarg ihre Aura, denn sie wusste, dass diese Frau gefährlich war. Ihre Eltern hatten ihr Geschichten von Miswa der Strengen erzählt und ihr immer wieder aufs Neue eingeschärft: sollte diese Frau mit der Augenklappe auftauchen, sollte Kabrana sich verstecken, ihre Aura verbergen und unter keinen Umständen aus ihrem Versteck herauskommen. Egal was auch passierte, denn sonst würde diese Frau sie töten. Also tat das kleine Mädchen das, was ihre Eltern gesagt hatten und versteckte sich, dann beobachtete sie aus sicherer Entfernung das Geschehene. Sie hörte, wie Miswa ihre Eltern anbrüllte und sah, wie sie sie trat und ins Gesicht schlug, während sie tobte. Jedes Mal, wenn Miswa gewalttätig wurde, zuckte das kleine Mädchen erschrocken zusammen und wollte zu ihren Eltern, aber sie hatte einfach zu viel Angst. Sie traute sich nicht aus ihrem Versteck hervor, weil die Angst vor dieser grausamen Frau zu groß war. So kauerte sie im Gebüsch und sah mit an, wie Miswa ihre Axt erhob. Mit gesenktem Blick knieten Tayar und Shoshana auf dem Boden, die Hände auf dem Rücken gefesselt und mit gebrochenem Blick. Sie hatten unzählige Wunden von schweren Misshandlungen und sahen aus, als hätte man sie gefoltert. „Mama? Papa?“ flüsterte das kleine Mädchen kaum hörbar. Sie ahnte, dass gleich etwas Schlimmes passieren würde, aber ein Teil von ihr hoffte noch, dass es nicht geschehen würde und ihre Eltern sich befreien konnten. Es konnte doch nicht sein, dass… Ehe Kabrana ihre Gedanken zu Ende führen konnte, ließ Miswa die Axt niedersausen und das kleine Mädchen musste mit ansehen, wie erst ihrem Vater und dann ihrer Mutter der Kopf vom Hals abgetrennt wurde. Blut spritzte und wie Marionetten, denen man die Fäden durchgeschnitten hatte, fielen die enthaupteten Körper ihrer Eltern zu Boden.

Kabrana starrte fassungslos auf dieses blutige Szenario und war wie erstarrt. Sie konnte weder schreien noch weinen, geschweige denn, sich überhaupt einen Zentimeter bewegen. Ihr kindlicher Verstand begriff noch nicht so wirklich, was gerade geschehen war und dass ihre Eltern jetzt tot waren. Enthauptet von dieser schrecklichen Frau, weil ihr Vater eine Naphil liebte und mit ihr ein Kind hatte.
 

Das war der Grund, warum sie sterben mussten…
 

Immer noch war Kabrana wie erstarrt und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das Geschehene. Sie sah, wie Miswa sich an ihre Gefolgsleute wandte, die allesamt maskiert waren und stopfte die abgeschlagenen Köpfe in einen Beutel und wies die Maskierten an, nach der „anderen Naphilbrut“ zu suchen. Das kleine Mädchen mit den bernsteinfarbenen Augen wusste, dass sie damit gemeint war und dass sie sofort getötet werden würde, wenn man sie fand. Sie wandte sich um und rannte los. Sie rannte durch das Dickicht des Dschungels, schlug sich durch das dichte Gebüsch und kämpfte mit ihren Tränen. Sie weinte und rannte um ihr Leben, damit diese Leute nicht auch noch ihr den Kopf abschlugen und ihn mitnahmen. „Mama, Papa“, rief sie dabei und dies rief sie immer wieder, während sie durch den Dschungel rannte, während die Verfolger ihr dicht auf den Fersen waren. Es gelang Kabrana, sich in einer kleinen Erdmulde zu verstecken und so ihre Verfolger abzuschütteln. Dennoch hatte sie zu viel Angst, um aus ihrem Versteck herauszukommen. Zwei Wochen blieb sie in der Erdmulde und überlebte von dem Regenwasser, welches sie in einem großen Blatt sammelte und von Insekten, um nicht zu verhungern. Dann, als sie glaubte, halbwegs sicher zu sein, wagte sie sich hervor und schlug sich weiter durch den Dschungel.

Bei ihrer Flucht wurde sie schließlich von einem Menschenstamm aufgegriffen, der im Urwald lebte. Sie hielten das Mädchen gewaltsam fest und als sich Kabrana in ihrer Panik zur Wehr setzte, schlugen sie sie nieder und brachten sie in ihr Dorf. Die Dörfler überlegten, was sie mit dem Mädchen tun sollten und Yak-tun, der Häuptling des Stammes, entschied schließlich, dass Kabrana bleiben und ein Mitglied des Stammes werden sollte. Ki, eine stämmige Frau mit gutmütigem Blick, die selbst zwei Kinder hatte, nahm das kleine Mädchen auf. Da sich kaum jemand aus dem Stamm Kabranas Namen merken konnte, wurde sie von ihrer Ziehmutter, die von „Kabrana“ nur ein „Brane“ zustande brachte, kurzerhand „Ane“ genannt und lebte bei dem Stamm. Doch es dauerte noch lange, bis Kabrana das Trauma über den Verlust ihrer Eltern verarbeiten konnte. Nächtelang weinte sie nur, litt unter Alpträumen und konnte an vielen Tagen auch nichts essen. Insbesondere, als der Stamm der Queltzak sie mit der Aufgabe betraute, zusammen mit den anderen Frauen die erlegten Tiere ihrer Innereien zu entledigen, da kehrte das Trauma wieder zurück und Kabrana schrie, als sie wieder den Anblick ihrer enthaupteten Eltern vor Augen hatte. Ihr schwieriges Verhalten sorgte schnell dafür, dass es teilweise Unmut im Dorf gab, aber Ki ließ sie dennoch bei sich leben und trug ihr alle möglichen Aufgaben auf. Kabrana schleppte tagtäglich unzählige Liter Wasser, kochte, wusch und tat alles, was ihr aufgetragen wurde. Sie wurde mehr wie eine Sklavin gehalten, war aber viel zu froh darüber, ein Zuhause zu haben und nicht alleine zu sein, dass sie dieses Dasein bereitwillig annahm und nicht aufmuckte. So ging es, bis Kabrana alias „Ane“ fast zwölf Jahre alt war. Sie hatte sich den harten Lebensbedingungen angepasst und sich in ihr neues Leben gut eingefunden. Inzwischen konnte sie die Aufgaben, die ihr aufgetragen wurden, sehr gut und sie ging sogar jagen, nachdem sich zeigte, dass sie für ihr Alter erstaunlich ausdauernd, stark und schnell war. Nachdem sie sich in den Stamm einigermaßen integrieren konnte, freundete sie sich auch mit den Kindern an und lernte vieles. Und so lernte Kabrana nicht nur das Kochen, Schlachten, die Herstellung von Kleidung und Decken, sondern auch das Sammeln und Jagen. Sie erwies sich als erstaunlich talentiert und konnte selbst unter den härtesten Bedingungen leben. Auch wurde sie nie krank wie andere und egal wie schwer sie sich verletzte, sie überlebte. Selbst als ein Jaguar sie fast totgebissen hätte und sie schwerste Verletzungen davontrug, sie war nicht totzukriegen und ihre Verletzungen heilten schneller als bei anderen. Und das bemerkte auch der Stamm der Queltzak. Das Stammesoberhaupt Yak-tun wollte mehr darüber wissen und Kabrana erzählte ihm, dass sie die Fähigkeit von ihren verstorbenen Eltern geerbt habe. Für das Oberhaupt stand fest, dass Kabrana ein Gotteskind sei und er wollte ihre Fähigkeiten haben.
 

Und kaum, dass es das ganze Dorf wusste, machte man Jagd auf das Kind.
 

Kabrana wollte daraufhin fliehen, als plötzlich ein fremder Stamm ins Dorf einfiel und sie angriff. Sie hatten Waffen dabei und erschlugen Yak-tun und seine Söhne, die Behausungen brannten sie nieder und töteten einige der Frauen und Männer. Kabrana versuchte gemeinsam mit den Kindern zu fliehen, wurde jedoch gefangen genommen und zusammen mit den anderen zum Stamm der Angreifer gebracht. Sie hatte Angst und wusste nicht, was denn nun passieren würde und was diese Männer mit ihr vorhatten. Doch sie erfuhr es schneller als ihr lieb war, als nämlich eines der Kinder auf einer Art großen Stein gelegt und festgehalten wurde. Dann erhob ein Mann, der den Schädel eines Raubtieres als Kopfschmuck trug, ein Messer und stieß es dem Kind in die Brust. Die 12-jährige konnte nicht fassen, was sie da sah. Warum nur taten die Menschen das? Sie hatte immer gedacht, nur die Unvergänglichen seien so grausam und töteten Unschuldige. Deshalb war sie in der Menschenwelt geblieben und aus diesem Grund hasste sie auch die Unvergänglichen. Sie dachte immer, die Menschen seien anders und sie könne sicher bei ihnen leben. Stattdessen musste sie mit ansehen, wie diese Menschen Kinder töteten. Und warum? Sie konnte es nicht verstehen und sie wollte es auch nicht. All die Jahre hatte sie angenommen, sie könne ein normales Leben führen. Doch stattdessen würde sie gleich sterben. Warum? Wofür denn bitteschön? Wofür waren ihre Eltern gestorben und wieso durfte sie nicht so leben wie andere? Und warum nur konnten die Menschen nicht wenigstens anders sein als die Sefirot? Kabrana wurde schließlich als Nächste gepackt und auf den Stein gelegt, wobei man sie festhielt, damit sie sich nicht befreien konnte. So lag sie da und sah das Messer, welches gleich ihr Herz durchbohren würde. Und immer noch begriff sie nicht, warum das alles geschah und wieso diese Menschen sie töten wollten. Hatte sie irgendetwas falsch gemacht? Hatte sie irgendetwas Unrechtes getan, wofür sie den Tod verdiente? Sie hatte doch immer alles getan, was man ihr aufgetragen hatte. Egal wie gemein man auch zu ihr war und sie wegen ihrer Augenfarbe behandelt hatte, sie war stets gehorsam gewesen und hatte nie rebelliert oder sich gewehrt. Egal was auch kam, sie war freundlich geblieben und was hatte ihr das gebracht? Nun würde sie trotzdem sterben. Und nach ihr auch alle anderen Kinder. Doch wollte sie das einfach so akzeptieren? Wollte sie wirklich einfach so sterben und ihr Schicksal hinnehmen? Sollte ihr Leben wirklich so enden? Nein, das sollte es nicht. Sie wollte nicht sterben, nicht so! Eine gewaltige Kraft durchströmte Kabrana in diesem Augenblick. Die Wut und die Verzweiflung, die sie in diesem Augenblick spürte, ließ sie ihre lähmende Angst völlig vergessen. Und als dann der irrsinnige Schmerz folgte und ihr das eigene Blut ins Gesicht spritzte, als das Messer ihre Brust durchbohrte, schaltete sich etwas in ihrem Hirn aus. Als hätte sich ein Schalter umgelegt, war der letzte Rest ihrer Ängste, Zweifel aber auch der Rest ihrer Menschlichkeit fort. Diese Menschen hatten es gewagt, ihr auch noch die zweite Familie zu nehmen und dafür sollten sie sterben. Immerzu hatte sie gekuscht und sich nie gegen die ganzen Schikanen gewehrt. Wirklich alles hatte sie stillschweigend ertragen, aber jetzt war es endgültig genug. Dieses Mal würde sie nicht einfach so alles hinnehmen. Nein, sie würde diese Leute töten und nicht zulassen, dass ihr oder den anderen Kindern etwas passierte. Sie sah, wie der Mann wieder das blutige Messer hob, um es ihr erneut in den Körper zu stoßen und sie damit endgültig zu töten. Mit Mühe gelang es ihr, ihre Wunde zu schließen, doch sie wusste, dass dieser Mensch… dieser widerwärtige Mensch ihr erneut wehtun würde. Er wollte sie töten und er würde erst damit aufhören, wenn nur noch ihre blutüberströmte Leiche übrig blieb. Er wollte Blut sehen… aber sie wollte es in diesem Augeblick noch mehr. Mit einem hasserfüllten „Ihr sollt verrecken!!!“ setzte sie die Resonanzkatastrophe ein, die den Männern, die sie festhielten, den Schädel zerfetzte, genauso wie den Torso. Blut, Fleischfetzen und Knochensplitter schossen durch die Luft und einige der Kinder schrieen auf, auch der Mann, der Kabrana mit dem Messer töten wollte, ließ vor Schreck das Messer fallen und wich entsetzt vor der 12-jährigen zurück. Diese nahm die Waffe an sich, stürzte sich mit einem lauten Schrei auf ihn und stach mit dem Messer auf ihn ein. Immer und immer wieder stieß sie zu und Blut spritzte ihr ins Gesicht und auf ihre Kleidung. Als drei bewaffnete Männer mit Speeren auf sie losgehen wollten, wich Kabrana den Angriffen aus, ignorierte den Schmerz, als die Spitze eines Speeres sich in ihre Seite bohrte und sie fühlte in diesem Moment nichts als blanken Hass. Hass gegen die Männer, die ihr Zuhause zerstört hatten und sie töten wollten… Hass gegen die Menschen, die genauso falsch und grausam waren wie die Unvergänglichen. Sie tötete vier weitere mit der Resonanzkatastrophe und dem Mann, der sie mit dem Speer verletzt hatte, bohrte sie ihren rechten Arm mitten in seine Brust und riss ein blutiges Loch. So tötete sie alle Männer und hinterließ ein einziges Blutbad. Doch es war ihr egal. Sie hatte die Monster getötet aber viel wichtiger noch: sie war am Leben und die Kinder auch. Benommen wankte sie durch die Blutpfützen, fühlte sich müde und erschöpft und ihr Kopf tat entsetzlich weh und ein Blutrinnsal lief ihr aus der Nase. Ihre Mutter hatte ihr eingeschärft, niemals diese Fähigkeiten einzusetzen, da sie gefährlich für ihren Körper waren. Aber in diesem Fall hatte sie keine andere Wahl gehabt. Hätte sie es nicht getan, wäre sie jetzt tot. Kabrana nahm den blutverschmierten Dolch mit und sagte zu den Kindern „Lasst uns nach Hause gehen.“ Die Kinder sahen sie entsetzt und angsterfüllt an und Kabrana konnte sich gut vorstellen, wie sie in diesem Moment wirken musste. Mit ihrem pechschwarzem Haar, den stechend gelben Augen und… und dem vielem Blut an ihrem Körper. Aber das war ihr in diesem Moment egal. Sie hatte diese schrecklichen Menschen getötet und das war das Einzige, was zählte.

Auf ihrem Weg zurück wusch sich Kabrana das Blut ab, welches an ihr klebte. Und als sie gerade nicht aufpasste, stieß eines der Kinder sie von hinten in den Fluss. Die Strömung riss Kabrana einige Meter mit sich, bis sie sich wieder aus dem Wasser herauskämpfen konnte. Erschöpft sank sie zusammen und verstand nicht, wieso die Kinder das getan hatten. Immerhin hatte sie die Männer doch umgebracht und sie gerettet. Warum also? Sie begriff es einfach nicht und ging davon aus, dass es nur ein Scherz der Kinder gewesen war. Ja, ein Scherz. Das musste es sein. Nie und nimmer würden sie versuchen, sie umzubringen. Dessen war sich Kabrana sicher. Da die Kinder inzwischen weitergegangen waren, machte sich die 12-jährige schließlich alleine auf den Weg und erreichte nach einem Tagesmarsch endlich das Dorf. Zu ihrer Erleichterung waren die Kinder auch schon da und lagen in den Armen ihrer Eltern. Und als sie Ki sah, wollte sie zu ihr laufen, bis ein Stein sie im Gesicht traf und eine blutige Platzwunde riss. Sie stürzte zu Boden und brauchte einen Moment, um wieder klar im Kopf zu werden. Wer… wer hatte da den Stein geworfen? Etwas benommen kam sie wieder auf die Beine und sah, wie sie sich die Dorfleute und die Kinder vor ihr versammelt hatten. Und in ihren Augen lagen Angst und Verachtung. Kabrana verstand diese Reaktion nicht und fragte, was denn der Grund sei, da riefen sie ihr zu, sie solle verschwinden. Sie sei kein Gotteskind, sondern ein Dämon, der Unheil und Zerstörung über sie gebracht habe. Wieder warfen sie mit Steinen nach ihr, einige trafen Kabrana wieder am Kopf, doch sie wehrte sich nicht, sondern versuchte zu erklären, dass sie kein Dämon sei und diese Menschen doch nur getötet habe, um die Kinder zu retten. Doch selbst die Kinder schnappten sich Steine, beschimpften sie und griffen sie an. Selbst Ki rief ihr zu, sie solle verschwinden und das Dorf in Ruhe lassen. Da sich Kabrana einer Übermacht gegenübersah, ergriff sie die Flucht und lief in den Urwald hinein. Sie versteckte sich auf einem Baum, als sie erkannte, dass der Stamm sie sogar mit Speeren jagte. So kauerte sie auf dem Baum und wusste nicht, ob sie weinen sollte oder nicht. Mit einem Schlag hatte sie ihr Zuhause verloren und ihre Familie und Freunde. Sie war ganz alleine und warum? Nur weil sie sich gewehrt hatte und die anderen retten wollte. Und wie dankte man ihr das? Man behandelte sie wie ein Monster und jagte sie fort. Die Menschen sind doch alle gleich, dachte Kabrana sich und kauerte sich zusammen, als der Regen einsetzte. Sie haben mich nie geliebt und sehen mich nicht als eine der ihren. Ich gehöre nicht in ihre Welt, genauso wenig wie in die Welt der Unvergänglichen. Ich gehöre nirgendwo hin… ich bin… allein.

Seltsamerweise schmerzte sie dieser Gedanke nicht mehr so sehr wie damals vor fünf Jahren, als sie ihre Eltern verloren hatte und die Heimat verlassen musste. Nein, inzwischen hatte sie sich damit abgefunden und tief in ihrem Inneren hatte sie doch gespürt, dass die Menschen sie nicht akzeptiert hatten. Zwar hatten sie ihr ein Zuhause gegeben, aber im Grunde hatte sie nie die Liebe und Zuwendung erfahren, wie sie es von ihren Eltern gewohnt gewesen war. Sie war eine Fremde geblieben und selbst ihre angeblichen Freunde hatten sich gegen sie gewandt und sie im Stich gelassen. Jeder hatte sie im Stich gelassen und nun war sie ganz alleine und hatte niemanden. Kabrana sah auf das Messer, welches sie mitgenommen hatte und welches immer noch gefährlich scharf war. Selbst ihre Hände rochen noch nach Blut… In dem Moment begann sich ein neuer Gedanke zu formen. Und dieser tötete all den Schmerz und den Zorn in ihrem Inneren. „Wenn ich nirgendwo hingehöre, dann ist das so. Ich bin eine Außenseiterin und werde es auch immer bleiben. Ja und? Ich brauche niemanden. Weder die Menschen, noch die Unvergänglichen. Ich weiß, was ich tun muss, um zu überleben. Und wenn sich mir jemand in den Weg stellt, dann bring ich ihn einfach um. Was soll ich noch länger Rücksicht nehmen? Es nimmt ja niemand Rücksicht auf mich. Keiner liebt mich, deshalb werde ich auch niemanden lieben. Ich will niemanden mehr lieben. Es ist mir egal, ob sie mich lieben oder hassen, ich bleibe alleine. So ist es am Besten für mich.“ Und so verschloss Kabrana ihr Herz vollständig und schlug sich alleine durch den Dschungel. Sie suchte kein anderes Dorf, wo man sie vielleicht aufnehmen würde. Nein, sie blieb einfach allein und lebte ganz allein für sich. So ging es Tage, Wochen und Monate so und selbst nach Jahren hatte sich nichts an Kabranas Entschluss geändert. So durchwanderte sie das Land und ging in Richtung Norden, wo es kälter wurde. In eisigen Temperaturen harrte sie aus und lebte von allem, was sie fand, ohne wählerisch zu sein. Manchmal war sie so durchgefroren, dass sie sich kaum bewegen konnte, doch ihr eiserner Wille, zu überleben und unter allen Umständen am Leben zu bleiben, ließen sie durchhalten. Wenn sie nichts Essbares fand, suchte sie die Lager der Menschen auf, überfiel sie, nahm sich was sie brauchte und ging weiter. So gelangte sie über die riesigen Eisdecken nach Europa. Es waren teilweise einzige Überlebenskämpfe, als sie mit eisigen Temperaturen mit bis zu -50°C auskommen musste, nichts zu essen hatte und nicht wusste, wohin sie gehen sollte. Manchmal brach sie auch im Eis ein oder stürzte in riesige Gletscherspalten. Aber dennoch kämpfte sie sich weiter voran. 10.000 Jahre vergingen, in denen die Eiszeit noch anhielt und sich die Lebensumstände nicht sonderlich besserten. Kabrana, die inzwischen zu einer Frau herangewachsen war, lebte von dem, was sie jagte und wenn das nicht reichte, überfiel sie die Menschen auf ihrer Reise. Hauptsächlich griff sie Jäger an, die mit Beutetieren nach Hause kamen. Sie tötete sie, raubte ihnen die Beute, die Waffen und die Kleidung und suchte sich dann eine neue Bleibe. So zog sie von Land zu Land, lebte allein und mied jegliche menschliche Zivilisation.
 

Und da sie alleine lebte und auch ganz allein für sich lebte, wurde sie immer verschlossener. Ihr Herz wurde genauso kalt wie die Welt, in der sie lebte und sie sprach nicht einmal mehr mit sich selbst.
 

Sogar ihre Gedanken wurden stumm. Still und monoton lebte sie vor sich hin, reiste durch Europa nach Asien, lebte zwischendurch sogar in Afrika, aber sie blieb nirgendwo länger als ein oder zwei Tage. Sie rastete nur, wenn die Erschöpfung zu groß war, ihre Vorräte zur Neige gingen oder wenn sie einen Platz gefunden hatte, wo sie erst mal gut leben konnte. Doch egal wohin sie auch kam, sie mied die Gesellschaft der Menschen und zeigte nicht das geringste Interesse daran, sich ihnen anzunähern. Wozu denn auch? Was konnten ihr die Menschen denn bieten? Sie konnte sehr gut für sich selbst sorgen. Sie wusste, wie man kochte, Kleidung herstellte, jagte und Tiere schlachtete. Und sie wusste, wie man Menschen tötete. Still und monoton ging das Leben dieser einsamen Frau weiter und sie erlebte, wie Imperien entstanden und zerfielen. Ebenso wie Zivilisationen erbaut und wieder zerstört wurden. Als sie merkte, dass die Menschen begannen, aus Metall Waffen herzustellen, beobachtete sie diese bei der Herstellung. Danach versuchte sie es selbst und konnte sich tatsächlich selbst nach einigen missglückten Versuchen einen Dolch und ein Schwert herstellen. Auch das Bogenschießen erlernte sie und wusste genau, wie sie vorgehen musste, wenn sie jemanden töten wollte. Sie scherte sich nicht darum, wer es war, den sie überfiel und tötete. Solange sie einen guten Grund sah, war es ihr vollkommen egal. Es genügte, wenn sie sich selbst wichtig war und mehr als sich selbst brauchte sie auch nicht. Sonst hätte sie auch nicht so lange überleben können. So waren 21.696 Jahre vergangen, in denen sie in völliger Einsamkeit verbracht hatte und als dieses eine schicksalhafte Jahr 783 anbrach, war Kabrana inzwischen 21.708 Jahre alt. Ein für die Nephilim unvorstellbares Alter. Doch da sie mit den Kräften eines Sefiras ausgestattet war und lediglich den Körper einer Naphil hatte, konnte sie ihr Alter noch weiter verlängern und hatte somit ein unfassbares Machtpotential. Aber nicht nur ihre Sefirafähigkeiten waren gefährlich. Im Laufe der Zeit, wo Jahrtausend um Jahrtausend an ihr vorübergezogen war und die Menschen sich immer weiter fort entwickelt hatten, so hatte auch Kabrana ihren Kampfstil immer wieder aufs Neue perfektioniert und sich auf jede Waffe eingestellt. Sie konnte Kugeln genauso standhalten wie Messer, Schwerter und Pfeilen und ihr machten weder klirrende Kälte noch sengende Hitze zu schaffen. Geduldig, hartnäckig und zäh wie sie war, hatte sie allen Schwierigkeiten und Unmöglichkeiten getrotzt und war ihren Weg gegangen. Nun aber hatte die Halb-Naphil nach ihrer Rückkehr aus Frankreich der Weg zurück ins damalige Deutschland geführt, wo sie sich schließlich im nördlichen Teil von Sachsen niederließ. Sie fand eine Hütte im Wald, die Räubern gehörte und nachdem sie diese getötet und die Leichen entsorgt hatte, richtete sie sich häuslich ein und beschloss, fürs Erste hier ihr Quartier zu beziehen und dann zu schauen, wann sie weiterziehen würde. Es war tiefster Winter und sie hatte zum Glück genug Decken dabei und es waren noch einige Essensvorräte der vorherigen Hausbesitzer übrig. Traf sich also ganz gut. So lebte Kabrana vorerst in der Hütte und ging zwischendurch auf die Jagd, um Hirsche oder Hasen zu erlegen, Fische zu fangen, oder um Feuerholz zu sammeln. Zwischendurch ging sie auch auf ihre Erkundungsgänge, um festzustellen, wo die Reiter denn ihre Routen hatten. Es war kein Geheimnis, dass diese sich oft gezwungenermaßen durch Wälder schlagen mussten und teilweise waren auch Händler dabei. Wenn deren Waren für sie interessant genug war, überfiel sie diese. Wenn sie wegliefen, stellte sie ihnen nicht nach, sondern nahm sich die Beute einfach mit und ließ die Menschen laufen, wenn sie der Ansicht war, dass sie keinen Ärger machen würden. Einzig, wenn bewaffnete Reiter unterwegs waren, dann tötete sie diese lieber, wenn sie sich der Hütte zu sehr näherten. Nun hatte Kabrana einen Salzhändler überfallen und wollte im Anschluss Fische fangen gehen und dann den Fisch und das Fleisch ihrer Beute in Salz einzulegen für die Tage, wo sie vielleicht weniger Glück hatte. Vorausschauende Entscheidungen waren auch der Grund, weshalb sie so lange überleben konnte. Nun war sie gerade auf dem Weg zum Fluss, da spürte sie etwas Merkwürdiges. Es fühlte sich nicht wie die Aura eines Menschen an oder die eines Tieres. Sie war ganz anders… Sofort ging die Schwarzhaarige in Lauerstellung, hielt ihr Schwert bereit und sah sich um. Irgendwo in der Nähe war ein Unvergänglicher. Aber was suchte der hier? War er ihretwegen hergekommen und hatten sie die großen Alten nach all der Zeit doch tatsächlich aufspüren können? An manchen Tagen hatte sie fast vergessen, wieso sie in dieser Welt lebte, bis sie sich wieder den Tag ins Gedächtnis rief, an dem ihre Eltern ermordet worden waren. Geduckt ging Kabrana vorwärts und hörte Schreie. Es klang aber nicht nach der Mörderin ihrer Eltern, sondern viel mehr nach einem Kind. Ein Kind? Das war merkwürdig… was machte denn ein Kind hier? Kabrana ging weiter und der tiefe Schnee schluckte all ihre Schritte. Sie erreichte den See, der zugefroren war, allerdings war die Eisschicht extrem dünn und sie ging da selbst nicht hin, es sei denn, sie wollte Fische fangen. Ein kleiner Junge irrte umher, mit tränenüberströmten Wangen. Sein Haar war rotbraun und seine Augen hatten ein strahlendes Smaragdgrün. Er wirkte nicht älter als sechs Jahre und er weinte laut, wobei er immer „Mama! Papa!“ rief. Kabrana beobachtete ihn von der Distanz aus und überlegte, was sie tun sollte. Der Junge war offensichtlich ein Seraph, wahrscheinlich war er von seinem Herrn davongelaufen. In dem Fall würde es nicht lange dauern, bis die Sefirot kamen und ihn mitnahmen oder töteten. Und das konnte Kabrana überhaupt nicht gebrauchen. Es war das Beste, sie tötete das Kind auf der Stelle, bevor sie noch die Sefirot am Hals hatte. Also ging sie zu ihm hin und sah, wie der Junge orientierungslos umherirrte und direkt auf die Eisfläche lief. „Mama!“ rief er und weinte heftig. „Ich hab Angst, Mama! Wo bist du?“ Kabrana zögerte nun und dachte nach. Was, wenn dieses Kind wirklich ganz alleine war? Konnte sie es dann einfach so töten? Ach was, völliger Quatsch. Der Junge war ein Problem und… ganz alleine. Dieser letzte Gedanke brachte ihren Entschluss erneut ins Wanken und sie realisierte, dass sie es nicht tun konnte. Sie konnte diesen Jungen nicht töten und das war ihr noch nie passiert. Warum nur wollte sie ihn nicht töten, wenn er sie noch in Gefahr bringen konnte? Es war ihr wirklich ein Rätsel. „Mama? Mama, wo… aaaaah!!!“ Ein lauter Schrei riss die Halb-Naphil aus ihren Gedanken und sie sah, dass das Eis unter den Füßen des Kindes wegbrach und der Junge mit einem lauten Schrei ins Wasser stürzte. In dem Moment schaltete sich jeder logische Verstand und bei ihr aus und mit ihr auch jede Vernunft. Als sie sah, wie der Junge verzweifelt um sein Leben kämpfte und um Hilfe rief, rannte sie selbst aufs Eis, hörte, wie es unter ihrem Gewicht knackte, doch sie rannte weiter, bekam die Hand des Kindes zu fassen und zog es aus dem eiskalten Wasser raus. Unter ihrem linken Fuß brach das Eis ein, aber sie schaffte es noch schnell genug, sich aus dieser Todesfalle zu retten und ans sichere Land zu flüchten. Keuchend blieb sie stehen und ließ vorsichtig den Jungen zu Boden. Dieser zitterte am ganzen Körper und so tropfnass wie er war, musste er ziemlich frieren. Eigentlich konnte ihr das doch auch egal sein. Er war nur irgendein Kind und sie hatte ihm schon das Leben gerettet, damit hatte sich die Sache erledigt. Doch als sich der Junge dann schluchzend an sie klammerte, da konnte sie nicht mehr weggehen. „Bitte geh nicht“, flehte er und sah sie mit seinen strahlend grünen Augen an. „Ich weiß nicht, wo ich hin soll.“ „Hast du niemanden?“ fragte Kabrana und brach damit ihr Schweigen, welches jahrelang ungebrochen gewesen war. Es fühlte sich schon fast seltsam an, zu sprechen. Und obwohl es vielleicht ein paar tausend Jahre her war, seit sie das letzte Mal gesprochen hatte, so hatte sie es seltsamerweise gar nicht verlernt. Der Junge schluchzte heftig und schüttelte den Kopf. „Mama und Papa haben mich hierher geschickt. Sie sagten, ich wäre hier in Sicherheit. Sie sind beide Seraphim und Diener von dieser Frau mit der Augenklappe.“ Frau? Augenklappe? Es gab nur eine Sefira, der ein Auge fehlte und das war Miswa. Dann hatten die Eltern also ihren Sohn hier in die Menschenwelt gebracht, um ihn vor ihr zu verstecken. Nun, in dem Fall waren sie sicher schon längst tot. Miswa kannte kein Erbarmen. Also das hieß dann im Klartext: der Junge war Waise, lebte im Exil und hatte niemanden. Was für eine Ironie… „Wie heißt du?“ „Kenan“, antwortete der Junge und schien sich so langsam zu beruhigen. „Und wie… wie heißt du?“ Kabrana musste überlegen. Sie hatte ihren Namen schon seit dem Tod ihrer Eltern schon nicht mehr gehört und je mehr sie nachdachte, desto deutlicher wurde ihr klar, dass sie sich gar nicht mehr an ihren richtigen Geburtsnamen erinnern konnte. Nur an jenen, den sie von ihrer Ziehmutter Ki bekommen hatte. „Nenn mich Ane.“ „Anne?“ fragte der Junge und sah sie mit großen Augen an. Zuerst überlegte Kabrana, ob sie sich die Mühe machen sollte, diesem Kind beizubringen, dass sie Ane hieß, aber sie ließ es sein, denn sie konnte sich auch ganz gut mit Anne zufrieden geben. Nun stellte sich die Frage, was sie tun sollte. Für gewöhnlich würde sie den Jungen einfach zurücklassen und dann wieder ihrer eigenen Wege gehen. Aber sie konnte es nicht. Sie brachte es einfach nicht über sich, dieses Kind zurückzulassen und das gab ihr Rätsel auf. In all der Zeit hatte sie sich um niemanden gekümmert und auch keinen Gedanken an andere verschwendet. Aber nun… irgendwie war das alles mehr als seltsam.

Da der Junge komplett durchnässt war, brachte sie ihn erst mal zur Hütte zurück. Die nassen Kleider trocknete sie am Kamin und sie wickelte ihn in die warme Pferdedecke. Gleich danach gab es gab es Fleisch und Kohl zu essen und Kenan langte ordentlich zu. Wie Kabrana erfuhr, irrte der Junge schon seit gestern herum und seine Eltern hatten ihm gesagt, sie würden nachkommen und er solle auf sie warten. Aber sie waren nicht gekommen und so war er sie suchen gegangen. Mit dem Ergebnis, dass er keine Ahnung hatte, wo er war, völlig verängstigst und ausgehungert war und niemanden hatte. So langsam wurde der Halb-Naphil klar, dass der Junge alleine überhaupt keine Überlebenschancen hatte. Er war nicht so wie sie. Sie hatte sich damals zu helfen gewusst, aber der Junge war völlig aufgeschmissen, so ganz alleine. Und fest stand, dass Kenan dasselbe Schicksal blühte. Er würde nie wieder in die Heimat zurückkehren können, aber er würde auch niemals ein Teil dieser Welt werden. Und wen hatte er denn schon? Ich muss mich um ihn kümmern, dachte Kabrana und streichelte ihm sanft den Kopf. Ohne mich wird er garantiert sterben. Und ich kann locker für uns beide sorgen. Aber hatte ich mir denn nicht geschworen, nie wieder jemanden in mein Leben zu lassen? Wollte ich denn nicht für immer ganz alleine bleiben und nur mir selbst wichtig sein? Wieso ist es mir dann so wichtig, für diesen Jungen zu sorgen, der vollkommen unfähig ist, alleine zu überleben? Kabrana begann wirklich an sich selbst zu zweifeln und konnte sich nicht erklären, was das bedeuten sollte. Schließlich wurde es spät und die Halb-Naphil mit den bernsteinfarbenen Augen bereitete das Nachtlager vor. Sie legte die Strohsäcke aus, auf denen sie schlafen würden und sorgte dafür, dass es Kenan bequem hatte. Mit großen Augen sah er sie etwas müde an und sagte schließlich „Danke Anne, dass du mich aufnimmst.“

„Schon gut. Jetzt schlaf.“ Damit legte sich Kenan hin, aber schlafen konnte er nicht. Er fror stark und zitterte trotz der Decke. Sein Körper musste komplett ausgekühlt sein. Ihn so zu sehen, ließ Kabrana nicht los. Sie fand keine Ruhe, solange sie wusste, dass es dem Jungen nicht gut ging und er so sehr fror. Also was konnte sie tun? Nun, es gab nur eine wirksame Methode, um ihn zu wärmen. Anne zog ihren warmen Mantel aus und auch ihre diversen Oberteile, bis sie nur noch ihr Hemd trug, die Hose und die Stiefel trug. Auch Kenan zog sie die dicke Pelzjacke aus, kroch unter die Decke und schloss den zitternden Jungen fest in ihre Arme, um ihn zu wärmen. Zuerst war Kenan noch recht erstaunt darüber und begriff erst nicht, was hier geschah, aber dann sammelten sich wieder Tränen in seinen Augen und während er sich an seine Lebensretterin klammerte und sich von ihr wärmen ließ, schluchzte er leise. „Mama… Papa…“ Kabrana spürte einen Stich in ihrer Brust, als sie das leise Schluchzen des Jungen hörte. Es tat ihr so unendlich weh und auch das verstand sie nicht. Wieso nur tat es ihr so sehr weh, Kenan so weinen zu sehen? Sie kannte ihn nicht, geschweige denn, dass sie ihn überhaupt mal gesehen hatte. Und doch machte es sie selbst traurig, ihn zu sehen. Er war so unschuldig und wirkte so, als hätte er nie irgendwelches Leid kennen gelernt. Und sie? Sie war schon vor langer Zeit zu einer Mörderin geworden, die der Welt entsagt hatte, um allein zu sein. 21.696 Jahre lang hatte sie die Gesellschaft der Menschen gemieden, war alleine gewesen und hatte ihr Herz immer weiter erkalten lassen. Doch nun war dieser Junge aufgetaucht, der ihr ganzes Weltbild durcheinander brachte und in ihr tatsächlich den Wunsch entfachte, ihn zu beschützen und alles zu tun, damit er glücklich war. Sie wollte ihn nicht traurig sehen oder wissen, dass es ihm nicht gut ging. Nein, Kenan sollte ein fröhliches und unbeschwertes Kind bleiben und niemals die Welt kennen lernen, die sie zu dem gemacht hatte, was sie jetzt war. Und als sie diesen Entschluss gefasst hatte, erhielt ihr Leben auch ein neues Ziel. Es war nicht mehr dieses „Ich muss überleben und zwar ganz alleine“, sondern ihr Ziel hieß jetzt „Ich muss alles tun, um Kenan glücklich zu machen und ihn zu beschützen.“ Ja… von nun an würde das ihre Aufgabe sein.

Zärtlich streichelte Kabrana seinen Kopf und er weinte noch eine Weile, bis er dann doch von der Müdigkeit und Erschöpfung übermannt wurde und in ihren Armen einschlief. Und während der Kleine schlief und seinen Kopf auf ihre Brust gelegt hatte, da ging Kabrana in diesem Moment ein Gedanke durch den Kopf: wer hätte gedacht, dass sich ein lebender Körper so warm anfühlen kann. Und da spielte sich auch ein kleines Lächeln auf ihre Lippen. Von heute an würde sie ihr Leben als Anne Ludwig beginnen und ihr altes Leben hinter sich lassen. Und damit würde sie von diesem Tag an ihr Leben einzig und allein diesem Jungen widmen.



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