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Last Desire 6.5

Just another Desire
von

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Die Leere und der dunkle Bruder

Es war an einem dunklen Dezemberabend, als es endlich aufgehört hatte zu schneien und L mit Frederica und seinen Eltern gemeinsam spazieren ging. Sie gingen gemeinsam durch die von Laternen erleuchteten Straßen und hatten sich warm angezogen. Die meiste Zeit hielt L die Hand seiner Mutter und von seinem Vater, während Frederica neben ihnen her lief und sich besonders warm angezogen hatte, da sie keine Kälte mochte. Ihr Haar hatte sie entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit zusammengebunden und mit einem Tuch verdeckt. Gefühlte -12°C herrschten und ein eisiger Wind wehte. Sie wollten alle zusammen auf den Weihnachtsmarkt gehen, doch L war nicht ganz wohl dabei, abends rauszugehen, selbst mit seinen Eltern nicht. Denn er hatte Angst vor der Dunkelheit und in seiner kindlichen Fantasie sah er irgendwelche unheimlichen Gestalten in den Ecken lauern. Und selbst die Lichter des Weihnachtsmarktes und die Musik vermochten seine Stimmung nicht zu bessern. Während seine Eltern heiße Getränke holen gingen, blieb Frederica bei L und sah, dass etwas nicht mit ihm stimmte. „L, was ist mit dir? Ist dir kalt?“ Er schüttelte den Kopf und sagte nichts. Sie nahm seine Hand und ging hinunter, um ihm in die Augen sehen zu können. „Was hast du denn dann? Du kannst es mir ruhig sagen.“ „Ich mag es nicht, wenn es dunkel ist“, sagte der 5-jährige nach einigem Zögern und wich ihrem Blick aus. Es war ihm peinlich, das zu sagen, aber Frederica lächelte nur und streichelte ihm sanft über seine vor Kälte geröteten Wangen. „Es ist doch nicht schlimm, wenn du vor etwas Angst hast. Weißt du, die Angst bewahrt uns davor, etwas Dummes zu tun.“ „Ich weiß. Mama sagt das ja auch immer wieder. Aber ich hab trotzdem Angst, dass da irgendwelche Monster sind.“

„Nun, vielleicht muntert dich ja eine kleine Geschichte auf.“ Sie gingen zu einer Bank hin und Frederica setzte sich, dann nahm L wie immer auf ihrem Schoß platz. Das Albinomädchen schlang ihre Arme um ihn, um ihn etwas zu wärmen. „Ich habe dir ja mal erzählt, dass Eva die Leere erschaffen hat und dass diese fortgegangen ist, um ein Herz zu finden. Aber die Geschichte geht noch weiter.“

„Echt?“

„Ja. Denn auf ihren Reisen hat die Leere jemanden getroffen, vor dem sich alle gefürchtet haben. Er war ähnlich einsam wie die Leere und unverstanden.“

„Erzähl mir die Geschichte!“
 

„Als die Leere so ziellos durch die Welt streifte und nicht so genau wusste, wohin sie gehen sollte, da erreichte sie einen Ort, der von den Menschen gemieden wurde und wo es nichts gab außer Finsternis und karges Land. Sie blieb stehen und überlegte sich, was es wohl dort gab und so fragte sie die Menschen, die in einem kleinen Dorf nicht weit entfernt lebten. Dort erfuhr die Leere, dass tief im Inneren des finsteren Landes ein Monster wohne. Ein bösartiges Wesen mit Augen so rot wie Höllenfeuer. Keiner wagte es, dorthin zu gehen, weil sie Angst hatten. Aber da die Leere keine Angst empfand, wollte sie in das finstere Land gehen, um sich dort umzusehen. Vielleicht gab es ja dort eine Möglichkeit, dass sie endlich diese innere Leere füllen konnte. Die Menschen warnten sie noch, dass es niemandem gelungen sei, lebend diesem Monster zu entkommen, doch davon ließ sich die Leere auch nicht abschrecken und so zog sie los. Sie nahm keine Waffe mit, kein Licht, rein gar nichts außer dem, was sie bei sich trug. Ihre Reise dauerte mehrere Tage an und da es so dunkel war, konnte die Leere nicht sehen, wohin sie gehen musste. Sie ging immer geradeaus da sie sonst Gefahr laufen würde, im Kreis zu gehen. Auf ihrem Weg hörte sie irgendwann eine Stimme und ein leises Kichern. Die Leere spürte, wie jemand sich ihr in den Weg stellte, blieb stehen und fragte „Wer bist du?“ „Ich bin die Lüge“, antwortete die Stimme und kicherte. „Was immer ich sage, verwirrt den Verstand der Menschen und was über meine Lippen kommt, ist falsch und mein Wesen ist verdorben und böse. Und wenn dich meine Worte erst verwirrt haben, wirst du nie wieder zurückfinden.“

„Aber wenn du immer lügst, so wäre doch die Tatsache, dass du gesagt hast du wärst ein Lügner, die Wahrheit.“

„Wahr gesprochen. Ich lasse dich weiterziehen. Geh du nur deinen Weg.“ Damit ließ die Lüge die Leere passieren und diese hörte irgendwann ein Geräusch. Es klang nach dem Klimpern harter Münzen und nach einer Stimme, die zählte. Die Leere ging weiter und die Geräusche wurden lauter. Schließlich spürte sie, dass jemand ihr den Weg versperrte und so fragte sie „Wer bist du?“ „Ich bin die Habsucht“, antwortete die Stimme. „Jeder, der hierher kam, wollte alles haben und verlor jedoch alles. Willst du dein Glück versuchen? Du könntest als reichster oder als ärmster Mensch zurückkehren.“

„Ich bin bereits arm und habe nichts. Ich kann dir nichts geben, nicht einmal ein Herz. Alles was ich will ist, weiterzuziehen.“ Und da die Habsucht wohl sah, dass die Leere nichts bei sich hatte, verlor sie ihr Interesse und ließ die Leere daraufhin weiterziehen. Und dann, als die Leere schon müde geworden war von der langen Reise, da vernahm sie unzählige Stimmen. Verlockende Düfte und Klänge, die einen Menschen bezaubern konnten, umschwirrten sie. Jemand ging um die Leere herum und so blieb diese stehen und fragte „Wer bist du?“

„Ich bin die Versuchung“, antwortete die Stimme und ergriff den Arm der Leere. „Wer sich hierher verirrt, den nehme ich mit in mein Reich und lasse ihn alle Freuden der Welt zuteil werden. Dir soll es an nichts mangeln, wenn du mit mir kommst.“ Doch die Leere lehnte ab und sagte „Ich bin leer und habe keine Interesse an den Freuden dieser Welt. Ich bin gekommen, um das Monster zu finden, das hier leben soll. Also lass mich weiterziehen.“ Und da die Versuchung der Leere nichts anhaben konnte, musste sie diese ziehen lassen. Die Leere ging noch sehr lange weiter, bis ihr die Füße wehtaten und sie kaum noch laufen konnte. Aber dann erreichte sie das Ende der Finsternis und erblickte eine große Landschaft und ein altes verfallenes Schloss, in welchem niemand zu leben schien. Dennoch ging die Leere weiter und erreichte schließlich das Schloss. Sie fand ein bequemes Nachtlager und ruhte sich dort aus. Als sie Stunden später erwachte, da hörte sie eine Stimme, die einem Menschen wohl das Fürchten gelehrt hätte und diese fragte „Wer bist du und was suchst du in meinem Reich?“ Die Leere sah einen finsteren Gesellen mit Augen so rot wie das Fegefeuer und antwortete wahrheitsgemäß „Ich bin auf der Suche nach etwas, das mein leeres Herz zu füllen vermag. Ich bin die Leere, erschaffen aus Eva.“

„Eva?“ rief die finstere Gestalt, als sie das hörte. „Ich bin die Finsternis, Evas dunkle Seite und ihr Bruder. Einst waren wir ein gemeinsames Wesen, bevor wir uns auseinander entwickelten. Sie ist mein Licht, ich bin ihr Schatten. Deshalb ist auch alles, was ich tue, von schlechter Natur. Du bist ein Narr, dass du hergekommen bist. Denn niemand, der hierhergekommen ist, der fand wieder zurück.“ Doch die Leere zeigte nicht die geringste Angst und das verwirrte den dunklen Bruder und so fragte er „Warum läufst du nicht weg, so wie alle anderen auch?“ „Weil ich keine Angst empfinden kann. Und wenn du mir etwas Böses gewollt hättest, dann hättest du mich getötet, als ich schlief.“ Und diese Worte verwunderten den dunklen Bruder. Er hatte es noch nie erlebt, dass jemand keine Angst vor ihm und der Finsternis hatte. Für gewöhnlich rannten alle vor ihm weg und wollten nichts mit ihm zu schaffen haben. Aber die Leere lief nicht davon und sie hatte keine Angst. Der dunkle Bruder ließ daraufhin die Leere bei sich leben und zeigte ihr sein Leben. Er erzählte, dass er und Eva erbitterte Feinde gewesen waren und versucht hatten, sich gegenseitig zu töten. Eva wollte die Welt vor ihrem dunklen Bruder beschützen und er wollte alles zerstören. Aber als sie erkannt hatten, dass ihre Kämpfe zu nichts führen würden, beschlossen sie, Frieden zu schließen. Und so nahm Eva einen Teil der Finsternis in sich auf und ihrem dunklen Bruder gab sie einen Teil ihres Lichts. So waren sie imstande, in Frieden zu leben. „Doch egal was ich tue, ich bleibe ihr dunkler Bruder. Es ist nicht schlimm, denn alles, was Licht hat, wirft auch Schatten. Ohne meine Finsternis könnte Evas Licht nicht bestehen. Sie braucht mich genauso wie ich sie brauche. Deshalb ist die Finsternis genauso wichtig wie das Licht.“ Die Leere blieb lange Zeit bei Evas dunklem Bruder und lernte viel und erfuhr, wie die Welt wirklich funktionierte. Der dunkle Bruder besaß ein erstaunliches Wissen und kannte die Menschen sehr gut. Er kannte die Mittel, mit denen sich die Menschen beherrschen ließen und wonach sie gierten. Die Versuchung, die Habsucht und die Lüge waren seine Kinder, die die schlechtesten Seiten der Menschen verkörperten und zu seiner einzigen Familie geworden waren. Doch je länger die Leere bei dem dunklen Bruder blieb, desto mehr fühlte er sich zu ihr hingezogen. Da die Leere als Einzige bei ihm blieb und niemals Angst vor ihm zeigte, da fühlte er, wie das kleine Licht, welches Eva ihm einst schenkte und was er beinahe vergessen hatte, heller strahlte und sein Innerstes mit einem ganz neuen Gefühl erfüllte. Zum ersten Mal empfand er so etwas wie Glück und Liebe. Ja, er war glücklich dass er jemanden bei sich hatte, der nicht von ihm erschaffen worden war und der freiwillig bei ihm blieb. Der dunkle Bruder ließ daraufhin die Finsternis verschwinden, die sein Reich versteckte und rief seine Kinder wieder zu sich. Die Leere wurde in diese Familie aufgenommen und half dem dunklen Bruder, sich mehr auf dieses Licht in seinem Herzen einzulassen. Auch wenn es nicht immer einfach war, die Leere blieb da und lernte auch selbst viel. Aber dennoch fand sie im Reich des dunklen Bruders nichts, was ihr leeres Herz füllen konnte. Und sie begriff, dass sie weiterziehen musste. Also ging die Leere zu Evas dunklem Bruder und sagte „Du hast mich viel gelehrt, aber dennoch blieb mein Herz leer. Ich empfinde nichts, deshalb kann ich weder deine Güte noch deine Grausamkeit angemessen erwidern. Ich muss gehen und weitersuchen.“ Doch der dunkle Bruder wollte die Leere nicht gehen lassen. Er fürchtete, sie würde nicht zurückkehren, wenn sie gefunden hatte, was sie suchte und sich dann genauso vor ihm fürchten würde wie all die Menschen auch. Er wollte sie bei sich haben und bot ihr alles an, was sich die Menschen wünschen würden. Geld, Reichtümer, wirklich alles. Aber das war es nicht, was die Leere wollte. Und da der dunkle Bruder den Gedanken nicht ertragen konnte, die Leere zu verlieren, da bot er ihr das größte Geschenk von allen an. Er sagte „Nimm mein Licht, welches Eva mir gab und nimm es als dein Herz an. Sollte es das sein, was du als einziges wünschst, dann gebe ich es dir gerne.“ Doch die Leere lehnte ab, denn sie wusste wohl, dass der dunkle Bruder dieses kleine Licht dank ihr zu schätzen gelernt hatte und es brauchte. „Du brauchst dein Licht, um Liebe und Güte zu empfinden. Ich will es nicht, weil es dir schon gehört. Und ich möchte nicht, dass du dein Licht verlierst und dann nichts Gutes mehr in dir steckt. Ich will mein eigenes Licht und meine eigene Finsternis suchen gehen und dann zu dir zurückkehren.“ Doch der dunkle Bruder zweifelte an den Worten der Leere und erwiderte „Wenn du ein Herz hast, wirst du mich fürchten und hassen. Und dann werde ich wieder einsam sein. Lieber gebe ich dir meines, dann werde ich wenigstens nicht traurig sein, wenn du für immer fortgehst.“ Doch die Leere nahm den dunklen Bruder in den Arm und sagte „Ich werde dich weder fürchten noch hassen, wenn ich ein Herz haben sollte. Denn ich weiß um dein gutes Herz, das Eva dir gab. Es mag sein, dass du die Finsternis bist, aber du sagtest selbst, dass die Finsternis nichts Schlechtes an sich hat. Sie ist nur ein Bestandteil in dieser Welt und ohne sie gäbe es auch kein Licht. Ich gebe dir mein Wort, dass ich zu dir zurückkehren werde. Solange du diesen kleinen Funken Licht in dir drin nicht verwirfst, habe ich keinen Grund, dich für immer zu verlassen.“ Und so ließ der dunkle Bruder die Leere schweren Herzens ziehen. Er war sehr unglücklich darüber, aber er wusste, dass er sie nicht aufhalten konnte. Denn die Leere wollte ein Herz haben und er beschloss daraufhin zu warten. Bis zu dem Tag, an dem die Leere das fand, was sie sich so sehr wünschte und dann zu ihm zurückkehrte.“
 

L drehte den Kopf zu Frederica und sah sie mit seinen großen Augen an. Von Angst vor der Dunkelheit war jetzt keine Spur mehr zu sehen. „Und ist die Leere später zu Evas Bruder zurückgekehrt?“ „Ja, das ist sie. Und sie wurde zu einem Teil von seiner Familie. Eva ließ sie ihren eigenen Weg gehen und war zufrieden, dass die Leere ein eigenes Zuhause gefunden hatte. Aber dennoch kam die Leere oft Evas Familie besuchen. Aber du siehst: die Dunkelheit an sich ist nicht böse. Sie ist notwendig, damit es auch Licht geben kann. Genauso wie es Gut und Böse in dieser Welt gibt. Aber es stimmt schon, dass es in der Dunkelheit gefährlich werden kann, wenn man nicht aufpasst. Solange du mit mir oder deiner Mama und deinem Papa unterwegs bist, wird schon nichts passieren. Wichtig ist nur, dass du nicht alleine in die Dunkelheit gehst und auch nicht mit Fremden mitgehst.“

„Ja weiß ich. Mama und Papa haben mir das auch schon gesagt.“

„Was haben wir gesagt?“ Sie schauten auf und sahen, dass Nastasja und Henry mit den Getränken zurückkamen. Ein heißer Kakao war jetzt genau das Richtige für solch eine Eiseskälte. Frederica grinste und kniff dem kleinen L scherzhaft in die Wange. „Ach, ich hab ihm nur eine kleine Geschichte erzählt, weil er Angst im Dunkeln hatte. Und ich hab ihm erklärt, dass es nicht schlimm ist, Angst zu haben und dass er sich eben nicht alleine in der Nacht umhergeht.“ Nastasja setzte sich zu ihnen dazu und L suchte daraufhin sofort die Nähe zu seiner Mutter und umarmte sie. „Ich hab dich lieb, Mama.“ Und zärtlich gab die Russin ihm einen Kuss schloss ihn nun ihrerseits in die Arme. „Ich dich auch, L. Und denk immer daran: dein Papa und ich werden dich immer sehr lieb haben. Egal was auch kommen mag. Dasselbe gilt natürlich auch für Frederica, deine große Schwester.“ Und damit tätschelte sie ihr den Kopf, woraufhin das Albinomädchen fröhlich grinste und dann aufsprang. „Hey, können wir nicht alle zusammen nachher auf das große Riesenrad? Bitte!“ Henry und Nastasja sahen sich kurz an. „Okay, dann gehen wir alle zusammen aufs Riesenrad und morgen gehen wir dann zusammen los und suchen einen schönen Weihnachtsbaum aus.“

„Au super!“ rief Frederica begeistert und nahm L auf ihren Rücken, um schon mal loszurennen. „Los kommt! Gehen wir alle auf das Riesenrad!“

Jeremiel erwacht

„Okay, seine Werte sind soweit stabil. Hirnfunktionen sind normal und der Puls ebenfalls… und auch die Wundheilung sieht hervorragend aus. Ich glaube, er kommt schon bald wieder auf die Beine. Die Operation ist auch bestens verlaufen. Sag, was meinst du wie lange es dauert, bis er wieder der Alte sein wird?“
 

„Lässt sich momentan noch schwer sagen. Aber da die Wundheilung dank meiner zusätzlichen Unterstützung schnell voranschreitet, wird es nicht lange dauern.“
 

Wer… wer spricht denn da? Wer? Und wo bin ich? Wer bin ich überhaupt? Mein Kopf tut weh…

Jeremiel öffnete die Augen und wurde sogleich von einem hellen Licht geblendet, sodass er die Augen wieder zukneifen musste. Er versuchte etwas zu sehen, doch alles, was er erkannte, waren verschwommene Silhouetten. Sein Kopf dröhnte so stark, dass es fast unerträglich war und ihm war schlecht. Sein ganzer Körper fühlte sich bleischwer an und er konnte sich kaum bewegen. Die Kraft fehlte ihm einfach dazu. Selbst seine Arme konnte er nicht heben und ihm war kalt. Verdammt, wieso nur nahm denn niemand diese helle Lampe weg? Er konnte rein gar nichts sehen und selbst den Kopf zu heben brachte er nicht fertig. Zumindest versuchte er es irgendwie, aber es wollte einfach nicht funktionieren.
 

„Hey, ich glaube, er kommt langsam wieder zu sich.“
 

Die Stimmen klangen wie aus weiter Ferne und er hörte auch alles wie durch Watte gefiltert. Schließlich schaffte er es, seine Kraftreserven irgendwie zu mobilisieren und versuchte sich aufzusetzen, doch da drückte ihn jemand zurück und sagte irgendetwas in der Art, er solle noch liegen bleiben. Wieder verschwamm alles um ihn herum und er verlor erneut das Bewusstsein. Was war nur mit ihm passiert? Und wo war er? Er versuchte sich irgendwie zu erinnern, aber da war rein gar nichts. Irgendwie konnte er sich an rein gar nichts erinnern, was passiert war. Zwar wusste er, dass sein Name Jeremiel Lawliet war, aber ansonsten war da nichts. Ob er vielleicht einen Unfall erlitten und sich dabei am Kopf verletzt hatte? Tat ihm dieser vielleicht deshalb so weh so weh und konnte er sich deswegen kaum bewegen? Nun, möglich wäre es zumindest. Dann gehörten diese Stimmen vielleicht zu irgendwelchen Ärzten, die ihn operiert hatten. Aber warum bloß war ihm so furchtbar kalt? Er hatte das Gefühl, als würde er sich in einer Art Kühlkammer befinden, oder aber sein Körper selbst war so ausgekühlt. Nur zu einem winzigen Bruchteil bekam er mit, dass er irgendwohin gebracht wurde und wie sich diese zwei Stimmen miteinander unterhielten. Eine von ihnen gehörte irgendwie einer Frau und die anderen einem Mann. Jeremiel versuchte erneut, den letzten kläglichen Rest seines Bewusstseins zu mobilisieren und wenigstens eine Frage zu formulieren, die er den beiden stellen konnte, damit er wenigstens wusste, was hier los war und vor allem was mit ihm passiert war. Aber selbst das schaffte er nicht und dann spürte er eine Hand an seiner Schulter, die sich irgendwie heiß anfühlte. Womöglich, weil sein Körper so kalt war. Und dieses Mal hörte er die Stimme deutlich klarer als zuvor. „Bleib ganz ruhig. Du hast eine schwere Operation hinter dir, deshalb musst du dich jetzt schonen.“ Operation? Was sollte das bedeuten? Etwa, dass er tatsächlich einen Unfall hatte und sich nicht erinnern konnte? „Wo… wo bin ich?“ Das war die einzige Frage, die er mit schwacher Stimme hervorbringen konnte. Die Augen konnte er nicht mehr öffnen und er fürchtete, dass er gleich noch einschlafen würde. „Du bist in Sicherheit. Keine Sorge, wir werden uns um dich kümmern, dann wird es dir bald wieder besser gehen.“ Den Rest bekam er nicht mehr mit, denn da versank sein Bewusstsein in eine pechschwarze Tiefe. Wann genau er wieder zu sich kam, wusste er selbst nicht so genau. Aber zumindest fühlte er sich deutlich besser und sein Kopf dröhnte auch nicht mehr so unangenehm wie zuvor. Dennoch war er sehr müde und brauchte eine Weile, um wieder halbwegs klar zu werden. Zwar war ihm noch etwas schlecht und schwindelig war ihm obendrein, aber zumindest konnte er sich mit etwas Mühe aufsetzen. Das erste, was er bemerkte, waren die Bandagen um seinen Kopf und an seiner Brust. Und aus seinem Arm hingen auch diverse Schläuche. Es dauerte eine Weile, bis seine Sehkraft vollständig wiederhergestellt war, aber als er wieder gut genug sehen konnte, bemerkte er sofort, dass er gar nicht in einem Krankenhausbett lag. Merkwürdig, dabei hatte er echt damit gerechnet, dass er einen Unfall gehabt hatte und dass er deswegen ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Wieso hätte er denn auch sonst diese ganzen Bandagen, wenn er nicht verletzt gewesen wäre? Was war denn überhaupt passiert? Jeremiel versuchte zu rekonstruieren, was denn passiert war und woran er sich als letztes erinnern konnte. Aber auch selbst jetzt fehlte ihm jegliche Erinnerung. Fragte sich nur, welche Erinnerungen denn alle betroffen waren. Er beschloss, das erst mal zu überprüfen, um schon mal eine erste Selbstdiagnose erstellen zu können. Mal sehen… Amerikas Präsident war Barack Obama in seiner zweiten Amtsperiode, es war das Jahr 2014 und die Wurzel aus 588 ergab exakt 24,24871131. Die Hauptstadt von Vietnam war Hanoi mit einer Einwohnerzahl von 6.448.837. Na, zumindest funktionierte sein Allgemeinwissen noch. Offenbar fehlten ihm lediglich die persönlichen Erinnerungen. Typische Anzeichen für eine Amnesie und wenn er bedachte, dass er sich an nichts erinnern konnte, was vor dieser Operation war, dann lag mit großer Sicherheit eine retrograde Amnesie vor. Ob er sich vielleicht ein Schädelhirntrauma zugezogen hatte? Jeremiel sah sich im Zimmer um, welches sehr hübsch eingerichtet war. Das Bett war groß und bequem, es gab große Fenster und auch einen Balkon und es war auch sehr hell und modern eingerichtet. Also definitiv kein Krankenhaus. Aber wo war er dann, wenn er operiert worden war? Vermutlich in einer Privatklinik. Ansonsten war hier niemand und er fragte sich, ob er hier besser warten oder ob er nach jemandem suchen sollte. Er beschloss, noch einen Augenblick zu warten und versuchte noch mal alles durchzugehen, was er wusste. Aber außer Dingen, die nicht sein persönliches Leben beinhalteten, wusste er rein gar nichts. Weder, wo er gelebt hatte oder ob er Freunde und Verwandte hatte. Verwandte… Moment mal. Ja, da war doch etwas. Irgendwie klingelte da ganz schwach etwas bei ihm und als er sich mehr zu erinnern versuchte, da kam ihm ein Name in den Sinn: L. Komischer Name… war das überhaupt ein Name? Er dachte noch weiter nach und versuchte den vollständigen Namen auf die Kette zu bekommen. Und dann hatte er es endlich: L Lawliet. Moment mal, dachte er sich und bemerkte sogleich etwas: ich heiße doch auch mit Nachnamen Lawliet. Dann habe ich also einen Verwandten? L… das ist doch mein jüngerer Zwillingsbruder. Ja richtig! Ich habe einen Zwillingsbruder. Aber wieso ist er nicht hier, wenn ich doch vielleicht sogar einen Unfall hatte? Vielleicht weiß er ja gar nicht, was mit mir ist, oder aber er wartet draußen. Gerade wollte Jeremiel die Schläuche aus seinem Arm ziehen, da öffnete sich die Tür und ein groß gewachsener Mann mit schwarzem Haar und dunkelroten Augen kam herein. Er hatte eine außergewöhnliche charismatische Ausstrahlung und erinnerte irgendwie an einen Panter. Anders konnte man es einfach nicht beschreiben. In der Iris seines rechten Auges leuchtete ein goldener Ring und etwas Erhabenes, Stolzes und zugleich Bedrohliches ging von ihm aus, was Jeremiel in seiner Verfassung aber nicht sonderlich wahrnahm. Er sah ihn mit einem schwer zu deutenden Blick an und sogleich kam der Mann, der ein Kreuz um den Hals trug, auf ihn zu und setzte ein Lächeln auf, in welchem sich auch List und Überlegenheit abspielte. Nicht sonderlich vertrauenswürdig, aber wahrscheinlich auch nicht zu hundert Prozent beabsichtigt, da er wohl eher freundlich wirken wollte. Nur schien ihm das nicht sonderlich zu gelingen, da er seine Art wohl schlecht ablegen konnte. „Leg dich besser wieder hin, du solltest dich noch etwas schonen. Du warst immerhin eine Woche ohne Bewusstsein.“ Eine Woche? So viel Zeit war seit der Operation vergangen? Kein Wunder, dass er sich so erschöpft und müde fühlte. „Und wer sind Sie?“ Der Mann schwieg und schien etwas verdutzt über diese Frage zu sein. Er war irritiert und brauchte einen Moment, bis er begriff, was los war. Er gewann seine Fassung wieder und erklärte „Ich bin Liam J. Adams, ein alter Freund.“

„Und was genau ist mit mir passiert?“

„Du bist angeschossen worden und musstest operiert werden. Kannst du dich an irgendetwas erinnern?“ Jeremiel schüttelte den Kopf und starrte hinunter auf seine Füße. „Ich weiß gar nichts. Ich weiß weder, wer ich genau bin, noch was mit mir passiert ist. Alles was ich weiß ist, dass ich Jeremiel Lawliet heiße und einen jüngeren Zwillingsbruder namens L habe. Aber ansonsten kann ich mich an nichts erinnern. Wer… wer hat mich denn angeschossen und warum?“ Liam verschränkte die Arme und sein Blick nahm etwas Düsteres an. Man hätte in diesem Moment echt Angst vor ihm bekommen können, wenn man ihn allein schon angesehen hätte. Aber Jeremiel empfand nicht direkt Angst vor ihm. Er wusste ja selbst nicht, was er gerade fühlte, denn irgendwie war ihm so, als wäre da eine Art große Lücke in seinem Gedächtnis oder als hätte er irgendwie alles verlernt, was Gefühle betraf. Denn er konnte auch nicht erkennen, was dieser Liam wohl gerade fühlte und er interpretierte diesen Gesichtsausdruck als Zeichen dafür, dass dieser offenbar verärgert war. „Habe ich etwas Falsches gesagt?“ „Wie?“

„Sind Sie wütend auf mich?“ So ganz verstand Liam nicht, was Jeremiel damit sagen wollte und diese irritierte Reaktion nahm er als eine verneinende Antwort auf seine Frage an. Aber trotzdem hatte er den Eindruck, als würde diesen ihm völlig unbekannten Mann etwas beschäftigen. „Sagen Sie, Mr. Adams…“

„Nenn mich einfach Liam. Die Höflichkeitsfloskeln können wir uns ruhig sparen.“

„Also gut, Liam. Kannst du mir sagen, ob ich dich vielleicht von irgendwo her kenne? Ich würde mich ja gerne erinnern wenn ich könnte, aber ich kann dein Gesicht einfach nicht zuordnen.“ Obwohl das nicht böse gemeint war, schienen dem in schwarz gekleidete groß gewachsenen Mann diese Worte nicht sonderlich zu gefallen und sein Gesichtsausdruck verhärtete sich und er antwortete mit deutlich kühlerer Stimme „Wir haben uns vor sehr langer Zeit kennen gelernt, als du auf Durchreisen warst. Du bist jetzt übrigens bei mir zuhause.“

„Ach so. Und kennst du meinen Bruder?“

„Nein, deinen Bruder habe ich nie getroffen.“ Schade, aber einen Versuch war es ja Wert gewesen. Jeremiel dachte nach und legte dabei das Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger, wobei er die Beine anzog und eine etwas merkwürdige Sitzhaltung einnahm. Dieser Liam war also ein alter Bekannter, den er vor langer Zeit auf irgendwelchen Durchreisen kennen gelernt hatte. Aber L hatte er nie kennen gelernt, also musste er entweder jemand anderen fragen oder aber sich auf die Suche nach L machen. Vielleicht war das ja der einzige Weg, Antworten bezüglich seiner Vergangenheit zu finden. Jeremiel wollte schon damit beginnen, die Schläuche aus seinem Arm zu ziehen, doch da packte Liam seine Hand und hielt ihn davon ab. „Was zum Teufel hast du da jetzt vor, kannst du mir das erklären?“ Immer noch starrte Jeremiel ihn mit einem absoluten Pokerface an, aus welchem man nicht die geringste Gefühlsregung schließen konnte. Es war, als wären seine Gesichtsmuskeln vollkommen eingefroren und nur die Augen glänzten und zeugten von Leben. „Ich habe vor, nach meinem Bruder L zu suchen. Vielleicht kann er mir Antworten auf meine Vergangenheit geben.“ „Das schlag dir mal besser aus dem Kopf“, entgegnete Liam und stieß ihn wieder aufs Bett zurück, wobei er einen sehr barschen Ton annahm. „Du hast eine schwere Operation hinter dir gehabt und warst zudem kurzzeitig sogar tot. Was du jetzt brauchst ist Schonung und Bettruhe. Leg dich also gefälligst wieder hin. Wenn du etwas brauchst, dann betätige den Schalter hier. Ich werde später zurückkommen.“ Damit ging Liam wieder zur Tür raus und Jeremiel blieb da sitzen und dachte weiter nach. Das war ja mal ein seltsamer Zeitgenosse gewesen. Vom Charakter her schien er ein sehr ungemütlicher Kerl zu sein und zudem machte er einen etwas zwielichtigen Eindruck. Vielleicht ist er in einer etwas rauen Umgebung aufgewachsen. Freundlichkeit und Feingefühl schienen jedenfalls nicht zu seinen größten Stärken zu zählen. Aber was suchte er ausgerechnet bei ihm zuhause und wieso war er nicht in einem Krankenhaus? Hätte er ihn das mal besser gleich gefragt, aber andererseits kam Liam sowieso nachher wieder zurück. Dann aber beschäftigte ihn noch etwas: diese Worte von Liam, dass er angeblich angeschossen worden war. Wieso hatte man ihn angeschossen und war da vielleicht noch jemand verletzt oder sogar schlimmstenfalls getötet worden? Ob es seinem Bruder gut ging? Jeremiel versuchte sich zu erinnern, wie sein Bruder ausgesehen hatte, aber da wollte sich nur sehr schwer ein Bild zusammensetzen. Wie sah er denn selbst überhaupt aus? Das Beste war, er suchte irgendwo einen Spiegel. Wenn L wirklich sein Zwillingsbruder war, dann mussten sie doch theoretisch gleich aussehen. Zumindest wenn sie eineiige Zwillinge waren. Jeremiel sah sich um, entdeckte aber nirgends einen Spiegel. Also zog er doch die Schläuche aus seinem Arm, zuckte aber dann zusammen, als er den Schmerz spürte. Aua, das tat ja weh! Seltsam, er konnte sich irgendwie nicht erinnern, dass er jemals Schmerzen empfunden hatte. Zwar der Anblick der Verletzungen nicht sonderlich verwunderlich für ihn, aber die Tatsache, dass er Schmerzen spürte, verwirrte ihn total. Wieso nur tat das so weh? Merkwürdig… normalerweise müsste er doch wissen, dass so etwas wehtat. Er wusste es, aber trotzdem war es total seltsam und neu für ihn, dass ihn irgendetwas schmerzte. Streng genommen müssten solche Erinnerungen trotz Amnesie erhalten bleiben, also war es vielleicht möglich, dass er zuvor nie Schmerzen gefühlt hatte? Nein, das durfte eigentlich nicht möglich sein. Selbst wenn er am CIPA-Syndrom leiden würde (was natürlich sowieso schon extrem selten war), dann verschwand so etwas nicht so einfach. Das war höchst unwahrscheinlich und zudem unlogisch. Also war er vielleicht nie mit Schmerzen konfrontiert worden? Auch das erschien ihm unsinnig, immerhin war er 25 Jahre alt und da war es doch mehr als unwahrscheinlich, dass er noch nie mit Schmerzen konfrontiert worden war. Was ist nur mit mir los? Hoffentlich kann mein Bruder mir Antwort geben, wenn ich ihn finde. Gleich schon als er auf die Beine kam, da verließ seine Beine fast die Kraft und er musste sich am Bett festhalten, um nicht hinzufallen. Dann aber schaffte er mit Mühe ein paar Schritte und fand auch schon das Bad. Er öffnete die Tür und sah auch gleich schon das Waschbecken und darüber einen großen Spiegel. Mit immer noch unsicheren Schritten ging er näher ran und sah sein eigenes Spiegelbild. Es war schon merkwürdig, sich selbst zu sehen und sich dennoch nicht wiederzuerkennen. Er sah seinem Alter entsprechend aus, hatte platinblondes Haar und eisblaue Augen, die schon fast zu leuchten schienen. Seine Haut war etwas kränklich blass, was aber auch von seinem angeschlagenen Gesundheitszustand herrühren mochte und sein Gesichtsausdruck wirkte irgendwie so… nichts sagend. Ob ich immer so dreingeschaut habe, fragte er sich insgeheim und betastete seinen Kopf. Wieder durchfuhr ihn ein starker Schmerz und als er die Bandagen abnahm bemerkte er, dass sie mit irgendetwas getränkt waren, was ein wenig seltsam roch. Am Kopf war er jedenfalls nicht operiert worden und er sah auch keine Verletzungen. Also kein Schädelhirntrauma. Und woher rührte dann die Amnesie? Vielleicht durch einen Schock? Wenn die Person, die auf ihn geschossen hatte, ein guter Bekannter von ihm gewesen war, dann könnte es gut sein, dass es zu einer Schutzreaktion seines Unterbewusstseins gekommen war, woraufhin seine Erinnerungen unzugänglich geworden waren. Als nächstes zog er sein Shirt aus und sah nun den Verband und die Stelle, wo er operiert worden war. Direkt in die Brust. Der Schütze hatte jedenfalls wirklich gut gezielt. Die Verletzung wäre mit Sicherheit tödlich gewesen. Nun ja, Liam hatte ja gesagt gehabt, dass er zwischendurch einen Herzstillstand gehabt hatte. Dann hatte er ja einen richtig guten Arzt gehabt. Jeremiel wollte sein Shirt wieder anziehen, da durchfuhr ein stechender Schmerz seinen Kopf und ihm wurde kurz schwarz vor Augen und er verlor den Halt, woraufhin er zu Boden stürzte. Was war denn nur mit ihm los und wieso tat ihm der Kopf so weh? Von der Narkose konnte das ja wohl schlecht kommen. Er atmete schwer und spürte, wie ausgetrocknet seine Kehle eigentlich war. Keuchend versuchte er, sich am Waschbecken hochzuziehen, doch er schaffte es nicht und fiel wieder auf die Fliesen. Kalt… dachte er und blinzelte benommen. Es fühlt sich so komisch an. So fremd und unangenehm. Wieso nur kommt es mir so vor, als würde ich zum allerersten Mal in meinem Leben so etwas wie Kälte oder Schmerz spüren? Was ist nur mit mir los, wieso kann ich mich kaum bewegen und warum nur bin ich nicht bei meinem Bruder oder in einem Krankenhaus, wenn ich doch angeschossen worden war? Wollte mich jemand töten und bin ich deshalb hier? Jeremiel spürte einen unangenehmen Stich in der Brust. Seine Kehle schnürte sich zu und das Atmen fiel ihm schwer. Tränen sammelten sich in seinen Augenwinkeln, doch er verstand nicht, wieso das gerade passierte. Warum sonderten seine Tränendrüsen plötzlich Salzwasser ab und wieso tat ihm die Brust so weh? Sein ganzer Körper schien verrückt zu spielen und er konnte nicht verstehen, was mit seinem Körper los war. Da er nicht die Kraft hatte, aufzustehen, blieb er auf dem Boden liegen, bis er wieder jemanden an der Tür hörte. Ob es Liam war? Nein, das Schuhwerk klang anders, ebenso wie die Schritte. „Ach herrje, was ist denn mit dir passiert, Engelchen?“ Es war nicht Liams Stimme. Sie klang deutlich lebhafter und hatte einen Ton an sich, den man schon fast als tuntig bezeichnen konnte. Jeremiel schaffte es mit Mühe, sich ein wenig aufzurichten und war verwirrt, als er eine Frau mit langen schwarzen Haaren und einem Kimono mit weitem Ausschnitt sah. Der Gürtel war vorne zugeschnürt. Ein Zeichen dafür, dass es sich um eine Prostituierte handeln könnte. Aber… die Stimme gehörte eindeutig einem Mann. Ein Transvestit? Die Person im Kimono eilte zu ihm hin und kniete sich neben ihm hin. „Hey Engelchen, was ist? Kannst du nicht aufstehen?“ „Nein“, brachte Jeremiel hervor und wurde sogleich hochgezogen. Das Gesicht dieses Mannes war sehr schön geschminkt und er hatte auch sonst sehr feminine Gesichtszüge, sodass man wirklich sofort hätte denken können, es wäre eine Frau, wenn man die Stimme nicht gehört hätte. Er brachte den angeschlagenen Jeremiel zurück und legte ihn ins Bett. „Was machst du denn für Sachen? Liam hat doch gesagt, dass du dich ausruhen musst und du hast eine schwere Operation hinter dir. Was soll denn der Blödsinn?“

„Wer… wer bist du überhaupt?“

„Ich bin Delta, Liams rechte Hand und Stellvertreter, aber auch sein bester Freund und engster Vertrauter. Die Liste ist lang! Ich wollte nur mal nach dem Rechten schauen und sehen, wie es dir geht. Hast du irgendwelche Beschwerden, Fragen oder sonst irgendetwas, das dir auf dem Herzen liegt?“ Dieser Delta war irgendwie seltsam, aber er schien deutlich anders zu sein als Liam. Viel freundlicher und lebhafter. Aber was sollte er von ihm halten und wieso hatte man ihn wirklich geschickt? „Ich würde gerne wissen, wieso ich hierher gebracht wurde und wieso ich nicht im Krankenhaus bin.“

„Nun, das liegt einfach daran, weil Liam selbst ein hervorragender Chirurg ist und dich lieber selber operieren wollte, als von irgendwelchen fremden Ärzten. Auch wenn man es ihm vielleicht nicht ansieht, aber er ist der beste Chirurg, den du auf der Welt finden wirst. Und außerdem wollte er dir helfen, weil er unter anderem eine alte Schuld bei dir begleichen wollte. Aber ich geh dir erst mal einen Drink holen, Engelchen. Du siehst wirklich aus, als könntest du jetzt was gebrauchen.“ Damit wollte Delta gehen, doch Jeremiel hielt ihn zurück und fragte verständnislos „Wieso nennst du mich so?“

„Ach, ich gebe allen einen Spitznamen. Liam zum Beispiel ist mein Herzchen. Marcel ist mein Hase, wenn ich ihn gerade mal nicht am liebsten abknallen würde und Johnny nenne ich immer Darling. Aber die anderen wirst du auch noch kennen lernen. Das kommt noch früh genug. Erst mal kommst du schön wieder auf die Beine. Immerhin bist du zwar kurz nach der OP aufgewacht, aber dann eine Woche lang im Koma gewesen.“ Damit zwinkerte Delta ihm mit einem verführerischen Lächeln zu und verließ das Zimmer.

Zimmerarrest

„Was zum Teufel ist mit ihm los und wieso erinnert er sich an nichts?“ Liam schlug mit der Faust gegen die Wand und seine Augen funkelten die weißhaarige schöne Frau an, die ein wenig apathisch aussah. Er war wütend und hätte sie am liebsten dafür umgebracht, aber das wäre völlig zwecklos. Selbst wenn er sie tötete, Eva würde sich einfach einen neuen Wirtskörper suchen und zurückkehren. „Du hast mir versprochen, dass du ihn mir zurückgeben wirst und dass alles gut werden wird. Du verdammte Hexe hast mich schon wieder betrogen.“ „Das habe ich nicht“, erwiderte Eva in einem ruhigen und beschwichtigenden Ton und fing sich sogleich eine Ohrfeige ein, die es so in sich hatte, dass sie zu Boden stürzte. „Er hatte keine eigene Seele, also musste ich erst eine konstruieren. Und da er durch die Mutationen schwere Gehirnschäden hatte und dadurch weder Gefühle noch Schmerz oder Hitze und Kälte empfinden konnte, musste ich ein paar Änderungen vornehmen. Deshalb hat er auch keine persönlichen Erinnerungen mehr. Weder an die Zeit, als er Sam Leens war, noch als er in meiner Welt gelebt hat. Das war leider unvermeidlich.“

„Unvermeidlich… unvermeidlich sagst du? Du hast mich betrogen, Eva. Du hast mir schon wieder irgendwelche Hoffnungen gemacht und diese zerschlagen. Ich hab dir gesagt, dass ich deine menschliche Wiedergeburt so wie die deiner gesamten Familie töten werde, wenn du mir Nikolaj nicht zurückgibst. Du bist schuld, dass er damals getötet wurde. Es war deine Aufgabe, deine Familie zu beschützen und du hast sie im Stich gelassen. Du hast mich im Stich gelassen, als du feige abgehauen bist und ich über 400 verdammte Jahre nichts mehr von dir gehört habe. Du hast mir Nikolaj genommen und hast mich mit deiner hinterhältigen Lüge getäuscht, um deine Familie zu retten. Glaub mir, wenn du nicht unvergänglich wärst, dann hätte ich dich auf der Stelle kalt gemacht.“ Eva kam wieder auf die Beine und sah traurig aus. Sie senkte den Blick und man sah ihr an, dass sie sich schuldig fühlte. „Es tut mir leid“, sagte sie mit leiser Stimme und wich seinem Blick aus. „Ich wollte doch nicht, dass es passiert und glaub mir, ich habe versucht, sie alle damals zu retten, aber ich konnte nichts tun. Sie als Menschen wieder zurückzuholen war die einzige Möglichkeit gewesen und ich bin doch jetzt hier, damit ich dir helfen kann.“ „Was nützt mir deine Hilfe, wenn er sich an nichts erinnern kann? Du hättest wenigstens seine Erinnerungen als Sam Leens intakt lassen können.“ Doch da schüttelte Eva den Kopf und erwiderte „Jetzt denk doch nach, Bruderherz: er spürt zum ersten Mal Gefühle, Schmerz und andere Empfindungen. Er ist mit Sicherheit völlig überfordert mit der Situation und du weißt genau, was er in seinem Leben als Sam Leens getan hat. Das wird ihm den Rest geben, wenn er erfährt, dass er unzählige Menschen gefoltert und getötet hat. Ein Stück weit wollte ich ihn genau davor beschützen und außerdem sind er und Sam Leens zwei verschiedene Personen, das müsste dir doch auch klar sein. Mit Nikolaj hat es sich ja nicht anders verhalten.“

„Aber da hast du seine Erinnerungen auch nicht gelöscht.“

„Jetzt beruhige dich erst mal. Es bringt überhaupt nichts, wenn du dich so dermaßen aufregst und deine Wut vielleicht noch an ihm auslässt. Jeremiel ist der Allerletzte, der etwas dafür kann. Lass ihm doch erst mal Zeit, sich an diese neue Situation zu gewöhnen.“ Verächtlich verzog der Rotäugige die Miene und funkelte Eva hasserfüllt an. „Zeit… 419 Jahre habe ich gewartet und als er wiedergeboren wurde, habe ich auf deinen und Fredericas Wunsch hin noch mal 25 Jahre gewartet, bis er alt genug war. Ich bin es leid zu warten. Wenn du dein Versprechen nicht halten wirst, dann werde ich L und die anderen töten.“

„Araphel!“ rief sie, als Liam gehen wollte und ergriff seine Hand. Doch er schlug sie weg und stieß Eva zurück. „Fass mich nicht an und nenn mich nie wieder bei diesem Namen. Ich bleibe bei meinem Wort, im Gegensatz zu dir. Wenn ich schon nicht glücklich werden kann, dann du genauso wenig. Und inzwischen müsstest du längst kapiert haben, dass es mit unserer Freundschaft schon lange vorbei ist. Du spielst dich hier wie eine wohltätige Göttin auf und dabei weiß doch niemand, wie viel Blut wirklich an deinen Händen klebt. Wie viele Menschenleben hast du geopfert, nur um deine Familie wieder zurückzuholen? Wenn ich an den Tod von Nastasja Kasakowa und ihrem Mann denke, an das Massaker im Norington Waisenhaus… wie viele Tote gehen denn auf dein Konto, weil du meinst, du könntest aus Lust und Laune deine Kräfte einsetzen, nur um deinen Willen zu bekommen? Ich habe mich damals entschlossen, nach den Regeln der Menschen zu spielen, so wie Nikolaj es mir gesagt hat und das solltest du auch tun. Also hör, auf mir irgendwelche Moralpredigten zu halten und zu denken, du wärst etwas Besseres.“

„Das tue ich doch nicht.“ Aber Liam ließ nicht mit sich reden. Er verließ das Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Wie sehr er diese verlogene Hexe doch hasste. Wenn sie damals nicht in den Wald zum Feuerholzsammeln gegangen wäre, dann wären Nikolaj und die anderen noch am leben und er wäre all die Zeit nicht allein gewesen. Gleich schon, als er auf den Flur hinausging, kam ihm Delta entgegen. „Und?“ fragte er und sah ihn immer noch mit einem kühlen Blick an. „Wie geht es ihm?“ „Tja, was soll ich sagen? Er ist im Bad zusammengebrochen und wirkt völlig verwirrt… Der weiß wohl noch gar nicht, wie ihm geschieht. Und Herzchen, was hat das Gespräch ergeben?“

„Was denn schon? Sie sagte, dass sie seine Erinnerungen absichtlich gelöscht hat. Angeblich, um ihn zu schützen.“ Delta seufzte theatralisch und klopfte Liam auf die Schulter, wobei er den Kopf schüttelte. „Herzchen, dir fehlt es echt an Empathie und Feingefühl. Die Menschen sind nun mal ein sensibles Völkchen. Wenn sie erfahren, dass sie vor ihrem Gedächtnisverlust Mörder waren, da bricht eine Welt für sie zusammen! Und mal im Ernst: sein bisheriges Leben war ja auch nicht gerade toll gewesen. Aber du weißt doch selbst, dass alle ihre Erinnerungen verloren haben, aber die Gefühle und der Charakter sind gleich geblieben. Folglich also kann doch nichts schief gehen, wenn du endlich mal deine Krallen einfahren und dich nicht wie das letzte Arschloch aufführen würdest. Versuch doch wenigstens ein kleines bisschen netter zu ihm zu sein und ihn nicht gleich anzuranzen, obwohl er doch überhaupt keine Schuld an der Situation trägt. Denk mal darüber nach, Herzchen. Ich muss noch mit Marcel sprechen. Es geht um die neue Einrichtung eines Nachtklubs und ich muss ihn endlich mal dazu bringen, mir mehr Gelder zu bewilligen, anstatt mir immer die ganzen Kosten vorzurechnen. Dieser brillenschlangige Schmalspuradvokat…“

„Lasst mir aber dieses Mal die Einrichtung am Stück und achtet mal ein wenig auf die Lautstärke. Das letzte Mal, als bei euch die Fetzen geflogen haben, seid ihr so lautstark gewesen, dass Johnny schon meinte, ihr würdet euch gegenseitig im wahrsten Sinne des Wortes die Ärsche aufreißen.“

„Ich weiß. Aber dafür ist der Sex umso schmutziger. Tüdelü! Ich lass dich mal mit Engelchen allein.“ Damit ging Delta mit einem verführerischen Zwinkern davon und summte munter eine Melodie vor sich her. Liam sah ihm kopfschüttelnd hinterher und wollte sich auf den Weg zu Jeremiels Zimmer machen, da bemerkte er, dass die Tür offen stand und der 25-jährige mit ein wenig wankenden Schritten den Flur entlangging, wobei er sich an der Wand abstützte. Was hat der denn jetzt vor? Liam ging direkt zu ihm hin und packte ihn etwas grob an der Schulter. „Was soll das denn werden? Ich hab dir ausdrücklich gesagt, du sollst in deinem Zimmer bleiben und dich ausruhen. Wo willst du überhaupt hin?“

Jeremiel sah ihn mit einem Blick an, den man einfach nicht deuten konnte. Seit sein wahres Selbst erwacht war, wirkten zwar seine Augen lebhaft, aber der Rest seines Gesichts war genauso starr und ausdruckslos geblieben wie sonst. „Ich wollte meinen Bruder suchen gehen. Vielleicht kann er mir sagen, wer ich wirklich bin.“

„Du hattest kaum Kontakt zu ihm und er kennt dich nicht mal wirklich. Also gibt es auch keinen Grund für dich, nach ihm zu suchen. Du bleibst hier und schonst dich. Du hast echt Nerven, dass du in deinem Zustand einfach gehen willst.“

„Aber ich weiß nicht, wer ich bin und wieso ich angeschossen wurde. Ich weiß rein gar nichts und um dieser retrograden Amnesie entgegenzuwirken, will ich jedem Hinweis auf meine Vergangenheit nachgehen und auf diese Weise meine Erinnerungen wieder abrufbar machen.“ Der hat sie doch nicht mehr alle, dachte Liam und packte ihn, dann zerrte er ihn zurück in sein Zimmer und stieß ihn aufs Bett. Warum nur will er mit aller Macht wissen, wer er wirklich ist? Das will er in Wirklichkeit gar nicht. Wenn er es erfährt, dann wird das sein Leben für immer verändern und der wird sich nur selbst unglücklich machen. Und überhaupt: ich werde ihn ganz gewiss nicht gehen lassen. Den Fehler mache ich nicht ein zweites Mal. „Du wirst schön hier bleiben und dich ausruhen. Wenn du vernünftig bist, dann wartest du wenigstens, bis du vollständig genesen bist.“

„Aber…“

Liam ergriff seine Hand und legte sie ihm auf die Brust. „Du lebst und das ist das Einzige, was du wissen musst. Also lass es gut sein.“ Jeremiel sah zu ihm hoch, immer noch mit diesem ausdruckslosen Gesicht, welches alles nur noch schlimmer machte. Man konnte aus ihm einfach nicht schlau werden. Beim besten Willen nicht. „Was genau hast du eigentlich mit mir vor?“

„Erst einmal dafür sorgen, dass es dir besser geht und du wieder auf die Beine kommst.“ Doch Jeremiel sah nicht danach aus, als würde er sich damit wirklich zufrieden geben. Verdammt hartnäckig, dachte Liam und ballte die Hände zu Fäusten. Genauso wie sein Bruder. Er wird nicht auf das hören, was ich sage und wieder versuchen, nach seinem Bruder zu suchen. Wenn ich nichts unternehme, wird er noch wieder abhauen. Einen Sturkopf wie ihn kriegt man so schnell nicht klein. Aber so einfach lass ich ihn nicht gehen. Nein, ich werde nicht zulassen, dass er weggeht. Und wenn ich zu härteren Mitteln greifen muss, um ihn daran zu hindern. Kurzerhand verließ Liam das Zimmer und kam wenig später mit einer Fußfessel mit einer langen Kette zurück, dann befestigte er die Kette ans Heizungsrohr und legte die Fessel am rechten Fußgelenk des Blondhaarigen an. Jeremiels Gesicht blieb unbewegt, aber ein leichter Anflug von Besorgnis war in seinen Augen schon zu erkennen. Und er selbst merkte auch, wie er unruhig wurde und wie sein Herz schneller schlug. Aber er verstand nicht, wieso sein Körper so komisch reagierte und was das alles zu bedeuten hatte. „Warum… warum tust du das?“ „Zu deinem eigenen Schutz. Wer nicht hören will, der muss eben fühlen und ich werde nicht zulassen, dass du deine Gesundheit aufs Spiel setzt, indem du planlos durch die Gegend rennst, obwohl du kaum laufen kannst. Die Kette ist lang genug, dass du dich im Zimmer frei bewegen kannst und ins Bad kommst du damit auch.“

„Bin ich hier ein Gefangener?“

„Nein, du bist mein Gast. Ich mach das hier einzig und allein zu deiner eigenen Sicherheit. Du hättest das Problem jetzt nicht, wenn du auf mich gehört hättest und im Bett geblieben wärst!“ Damit ging Liam wieder und Jeremiel blieb allein zurück. Er betrachtete die Fußfessel und fragte sich, ob man so etwas wirklich Gastfreundschaft nennen konnte. Soweit er sich doch richtig erinnerte, legte man jemandem keine Fessel an, der ein Gast war. Also war er doch ein Gefangener. Dieser Liam hatte eine etwas seltsame Auffassung von Gastfreundschaft und nun stellte sich natürlich die Frage, wie lang er diese Fessel tragen musste. Vielleicht, bis er genesen war? Oder würde er diese Fußfessel schlimmstenfalls länger tragen müssen? So wie er den Eindruck gehabt hatte, schien dieser Liam nicht gerade darauf aus zu sein, ihn einfach gehen zu lassen. Nein, er wollte anscheinend mit aller Macht verhindern, dass er seinen Bruder L suchen ging. Aber wieso? Jeremiel nahm wieder diese gewohnte Sitzhaltung ein und klemmte sein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. Den Rücken ließ er dabei aber gerade und stützte seinen anderen Arm auf seinen Oberschenkeln ab, um eine halbwegs gerade Haltung gewährleisten zu können. Also folgende Optionen standen offen: 1. er war eine Geisel von Liam und dieser wollte ihn aus bestimmten Gründen nicht gehen lassen oder aber 2. etwas war mit seinem Bruder passiert, was er nicht herausfinden durfte. Dass er gefangen gehalten wurde, konnte folgende Gründe haben. Entweder war das hier vielleicht eine Lösegelderpressung, von der er nichts erfahren sollte, oder aber es ging um etwas anderes. So oder so war es ratsam, sich besser vor Liam in Acht zu nehmen. Denn der schien einer von der Sorte zu sein, die absolut knallhart und kompromisslos war. Aber was will er von mir? Irgendwie will er mir auch keine richtige Antwort auf diese Frage geben. Also was soll ich dann tun? Mich ihm zu widersetzen scheint jedenfalls keine gute Idee zu sein. Ich wollte ja nur meinen Bruder suchen und daraufhin legt er mir gleich eine Fußfessel an. Was wohl passiert, wenn ich die Fessel irgendwie aufbekomme? Nun, ich glaube nicht, dass er sonderlich begeistert sein wird.

Ein brennender Stich in seinem Kopf lähmte für einen Moment seine Gedanken und er biss sich auf die Unterlippe. Seit er aufgewacht war, hatte er höllische Kopfschmerzen. Und die machten ihm am meisten zu schaffen. Er drückte auf den Schalter und kurz darauf öffnete sich die Tür und ein Junge von knapp 17 oder 18 Jahren kam herein. Er hatte kurz geschnittenes schwarzes Haar, trug einen rotschwarz gestreiften Pullover, darüber einen Pullunder mit Kapuze und einen schwarzen Mantel. Mit einem fröhlichen Grinsen kam er herein und rief gleich „Hey Bitches! Johnny is in the House!“ Jeremiel sah ihn irritiert an und verstand nicht so wirklich, was das jetzt bedeuten sollte. Der Junge kam auf ihn zu und sofort sah der 25-jährige auch diesen goldenen Ring in der rechten Iris, genauso wie bei Liam und Delta. „Hey, ich bin Johnny. Und du bist Jeremiel, Liams Ehrengast nicht wahr? Ich sehe schon, du bist ihm auch schon auf die Füße getreten oder habt ihr gleich schon das erste Date übersprungen und seid schon beim Vorspiel?“ Immer noch ratlos sah Jeremiel ihn an und verstand noch nicht wirklich, was Johnny denn meinte. „Wer bist du überhaupt?“

„Johnny. Mein richtiger Name ist Kazab, aber ich finde, Johnny klingt irgendwie cooler. Ich gehöre zu Liams Familie und bin sein persönlicher Informant und Kurier. Ich dachte mal, ich sag hallo, solange Delta noch mit Marcel beschäftigt ist. Wahrscheinlich zerlegen sie wieder die gesamte Einrichtung, während sie es richtig krachen lassen. Aber sag schon, Jerry, was gibt’s?“

„Mein Kopf tut ziemlich weh…“ Johnny begann an der Innenseite seines Mantels herumzukramen und dabei entdeckte Jeremiel mehrere Messer, die Johnny bei sich trug. Auch Schlagringe und Pistolen. Schließlich holte er ein kleines Döschen mit Pillen heraus und rief „Ah wunderbar, da sind sie ja. Ich hab immer was für den Notfall dabei.“ Damit gab er Jeremiel zwei von den Pillen, die er dankend entgegennahm und schluckte. Johnny zog einen Stuhl heran und setzte sich zu ihm. „Hast du sonst irgendwelche Fragen?“ „Ja… wo genau sind wir hier und wieso wurde ich hierher gebracht? Und wieso bin ich überhaupt hier?“ Johnny holte ein Springmesser hervor und begann sich damit den Dreck unter den Fingernägeln zu entfernen. Er wirkte wie jemand, der ein typischer Unruhestifter war und mit Sicherheit viel Ärger machte. „Nun, wir befinden uns am äußersten Stadtrand von Boston und du bist hier, weil Liam wohl was von dir will oder so. Aber ich darf da leider auch nicht viel sagen, ich bin nämlich sehr verschwiegen musst du wissen. Ich weiß aber, dass Liam wohl seit längerem ein Auge auf dich hatte und dass du so einiges getrieben hast. Das ist aber alles.“

„Und mein Bruder?“

„Nun, soweit ich weiß ist er so eine Art Detektiv. Er ist sogar ein ziemlich guter und hat es geschafft, Kira das Handwerk zu legen und damit einen der gefährlichsten Massenmörder aufzuhalten.“ Kira. Ja, der Name sagte ihm was. Das war doch dieser Schüler aus Japan, der mit einer bis dato unbekannten Waffe Verbrecher und später auch persönliche Feinde töten und manipulieren konnte, wofür er nur ihre Namen und Gesichter brauchte. Bis heute war nie öffentlich gemacht worden, um was für eine Waffe es sich handelte. Komisch, dass er sich daran erinnern konnte, aber nicht an Liam. „Kannst du mir sagen, wieso Liam unbedingt verhindern will, dass ich meinen Bruder finde?“

„Nun, das könnte daran liegen, weil du deinen Bruder nie wirklich getroffen hast oder zumindest nicht als Bruder selbst. Ihr wusstet bis vor kurzem gar nichts voneinander und es könnte deshalb ein klein wenig schwierig werden. Wahrscheinlich will Liam dich nur schonen, auch wenn er es nicht wirklich zeigt. Leider ist der Kerl so feinfühlig wie ein Kaktus.“ Jeremiel spürte langsam, wie seine Kopfschmerzen nachließen und er war auch wirklich dankbar dafür. Teilweise waren sie so schlimm gewesen, dass es kaum auszuhalten war. Aber dennoch war er immer noch nicht schlauer als vorher. Wenn er wenigstens Liams Motiv kennen würde, dann könnte er seine Lage besser abschätzen, aber selbst Johnny wollte offenbar nicht viel dazu sagen. „Kann ich Liam überhaupt vertrauen?“

„Nun Jerry, es gibt zwei Sorten von Menschen, denen du besser nicht vertrauen solltest: jenen, die dir sagen, sie seien vertrauenswürdig und jenen, die von sich behaupten, sie seien nicht vertrauenswürdig.“

„Soll das etwa heißen, ich darf niemandem mehr vertrauen?“

„Falsch! Du kannst darauf vertrauen, dass die Person, die sich als nicht vertrauenswürdig einstuft, auch wirklich nicht vertrauenswürdig ist. Und du kannst darauf vertrauen, dass Personen, die vorgeben, sie seien vertrauenswürdig, nicht immer zu vertrauen ist.“

„Ah verstehe. Also soll ich niemandem leichtfertig vertrauen.“

„Ich sehe, du kapierst es. Weißt du, die meisten sind damit schon längst überfordert, weil ich dazu neige, mit Worten so lange zu jonglieren, bis die Leute nicht mehr wissen, wo oben und unten ist. Ich verdrehe die Tatsachen und die Logik und kann sie auf die Weise dazu bringen, mir irgendwann jedes Wort zu glauben, selbst wenn ich ihnen sagen würde, Gott ist ein fliegendes Spaghettimonster. Ich hab noch jeden in den Wahnsinn getrieben, aber du scheinst zu verstehen, was ich sagen will. Du gefällst mir.“ Schließlich holte Johnny aus den diversen Innentaschen seines Mantels Bonbons hervor und gab Jeremiel davon eines. Dieser schob es sich in den Mund und runzelte die Stirn, als er diesen seltsamen Geschmack wahrnahm. „Das ist… süß.“

„Klar, sonst würden sie ja nicht Süßigkeiten heißen. Sag bloß, du hast noch nie Süßes gegessen.“

„Weiß nicht. Aber… mir kommt das alles so neu vor. Auch, dass ich Schmerzen habe und Hitze und Kälte wahrnehme. Als hätte ich das alles noch nie zuvor gehabt. Ich weiß einfach nicht, was mit mir los ist und ob das auch von dieser Amnesie herkommt.“ Johnny aß nun selbst ein Bonbon und schwieg, wobei er Jeremiel neugierig betrachtete. Er schien selbst nachzudenken und erklärte dann nach einer Weile „Der Grund liegt darin, weil du durch eine Gehirnstörung nicht fähig warst, Gefühle oder Schmerz zu empfinden. Und da sind eben solche Dinge neu für dich. Aber Liam und Eva haben diesen Fehler behoben und nun, da du nach 25 Jahren fähig bist, Gefühle zu empfinden, musst du das alles erst einmal lernen und das braucht eben seine Zeit. Und eben weil Liam diesen Defekt behoben hat, brauchst du Ruhe, weil dein Hirn sonst so schnell überlastet wird.“

„Ich wurde am Gehirn operiert? Aber… ich hab gar keine Spuren einer Operation gefunden.“

„Nun… Liam versteht es eben, so vorzugehen, dass er kaum Spuren hinterlässt. Das ist seine Spezialität. Aber wir können ein anderes Mal weiterreden, Jerry. Ich muss jetzt auch mal los. Wenn ich dir einen guten Rat geben darf: lass dich nicht von Liam unterkriegen. Er ist zwar manchmal ein Arsch, aber er meint es eigentlich nicht böse.“ Damit stand Johnny wieder auf und ließ Jeremiel erst mal alleine. Diesem ging es zwar ein klein wenig besser, da seine Kopfschmerzen deutlich nachgelassen hatten, aber dennoch kam er sich irgendwie etwas verloren vor. Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis er sich an diese Situation gewöhnt hatte, aber trotzdem beschäftigte ihn diese Tatsache sehr, dass er nie Kontakt zu seinem Bruder gehabt hatte und dass er zudem noch an einen Hirndefekt gelitten haben sollte. Die ganze Zeit hatte er keine Gefühle wahrnehmen können und war deshalb so überfordert mit der ganzen Situation? Aber wieso war die Erinnerung an seinen Zwillingsbruder so präsent, wenn sie sich beide angeblich nie direkt getroffen hatten? Tja, vielleicht erhalte ich ja die nächste Zeit Antwort darauf. Fragt sich nur, wie lange ich hier bleiben muss, bis man mir diese Fußfessel abnimmt.

Erschöpft und müde legte sich Jeremiel ins Bett und beschloss, noch ein wenig zu schlafen. Vielleicht wurde ja morgen alles besser…

Freigang

Es vergingen knapp drei Tage, in denen Jeremiel in seinem Zimmer festsaß und diese Fußfessel trug. Er fühlte sich zwischendurch etwas schlechter und litt auch wieder unter Kopfschmerzen, woraufhin meist Liam vorbei kam und ihm etwas gegen die Schmerzen gab. Aber er machte keine Anstalten, ihm die Fußfessel abzunehmen und er weigerte sich auch hartnäckig, daran etwas zu ändern. So allmählich kam sich Jeremiel tatsächlich wie ein Gefangener vor und wusste auch nicht, wem er sich überhaupt anvertrauen konnte oder wen er um Hilfe bitten sollte. Denn Johnny gehorchte Liam und der ließ nicht mit sich reden. Der 25-jährige begann allmählich zu realisieren, dass er vielleicht nie hier rauskommen würde und dass er tatsächlich eine Geisel war. Warum auch sonst sollte man ihn hier einsperren und ihm eine Fußfessel anlegen? Meist, wenn er Langeweile hatte, da beschäftigte er sich mit Rubrikwürfeln oder las Bücher, aber das war es auch schon. Wegen der Fußfessel konnte er das Zimmer nicht verlassen und diese ließ sich nicht öffnen. Und selbst wenn, er befürchtete, dass Liam noch drastischere Maßnahmen ergreifen würde, um ihn einzusperren. Was also sollte er tun? Ein Risiko eingehen oder sich still verhalten, bis Liam ihm irgendwann mal diese Fessel abnahm? Irgendwie fühlte er sich schlecht und seine Stimmung hatte sich auch deutlich verdüstert. Ihm fehlte selbst die Motivation zum Lesen und er war sehr still geworden. Selbst den Appetit hatte er verloren und baute deshalb auch ab. Meist saß er auf dem Bett, hatte die Beine angezogen und den Kopf abgelegt. Unterdessen merkte er nicht, dass es hinter der Tür seines Zimmers ziemlich heftig zuging. Als nämlich Delta von einer mehrtägigen Reise zurückkehrte und von Eva erfuhr, was Liam da gemacht hatte, da hatte er diesen kurzerhand an den Kragen gepackt und ins Büro geschleift und die Tür zugeknallt. „Also ich bin ja einiges von dir gewohnt Herzchen, aber das hier geht doch jetzt eindeutig zu weit. Hast du sie noch alle, dass du den Ärmsten jetzt auch noch festkettest wie einen Hund? Er ist doch kein Gefangener verdammt! Denkst du überhaupt mal nach?“ Liam schwieg und blickte zur Seite, während er nachdachte. Auch Eva hatte ihn diesbezüglich schon zur Rede gestellt, allerdings nicht ganz so deutlich wie Delta und ihr hatte er auch keine sonderliche Beachtung geschenkt, denn ihn interessierte nicht, was sie dazu zu sagen hatte. Aber Delta ließ sich nicht so leicht abwimmeln und er war sauer, das merkte man sofort. „Menschenskinder, was soll er denn denken, was diese Aktion sollte? Er kann sich an nichts erinnern und wird zum ersten Mal mit Gefühlen und körperlichen Empfindungen konfrontiert und ist völlig überfordert mit der Situation. Er kennt dich nicht und weiß auch nicht, was los ist und da kettest du ihn einfach fest. Hast du zu viel getrunken oder was sollte der Scheiß?“

„Ich wollte verhindern, dass er abhaut. Ich hab ihn schon mal verloren und ich lasse nicht zu, dass das wieder geschieht. Er gehört zu mir.“

„Er ist aber kein Haustier oder irgendein Besitztum, sondern ein Mensch. Mag zwar sein, dass du und deine Schwester keine Menschen seid und ich und die anderen nur Abkömmlinge von euch sind, aber wenn du ihn weiterhin so behandelst, dann stößt du ihn immer weiter von dir und dann stehst du vor dem Scherbenhaufen. Meine Güte, was ist nur mit dir los? Ich kapier es nicht. Anstatt, dass du ihm mit Feingefühl begegnest, sperrst du ihn gleich ein.“ Liam entgegnete nichts, aber Deltas Worte gingen nicht spurlos an ihm vorbei, das sah man sofort. Natürlich wusste Delta, dass diese Aktion eigentlich nicht böse gemeint war, aber sie war trotzdem unüberlegt und falsch. Der Crossdresser schüttelte den Kopf und konnte nicht fassen, was sein bester Freund und Vorgesetzter da gemacht hatte und hätte sich am liebsten noch mehr aufgeregt, aber davon würde es auch nicht besser werden. „Ich kann schon verstehen, warum du das gemacht hast, aber das ist doch nun wirklich nicht der richtige Weg. Du kannst ihn nicht für den Rest seines Lebens einsperren. Er ist kein Besitz und die Menschen hätten ja wohl nicht so viele Gesetze und Rechte erfunden, wenn ihnen die Freiheit nicht so wichtig wäre. Ich gehe jetzt erst einmal los und entschärfe die Situation. Vielleicht kann ich ja noch was kitten und das arme Engelchen ja ein wenig aufmuntern. Und dann nehme ich ihm auch mal diese schreckliche Fußfessel ab. Wenn man überhaupt Fesseln benutzen sollte, dann auch nur beim Sex, klar?“ Damit ging Delta und ließ Liam allein. Er wusste, dass er ihn mit seinen direkten Worten ziemlich getroffen haben musste, aber es war eben seine Aufgabe, ihm auch mal die Leviten zu lesen. Jeder in der Familie hatte seine Aufgaben und während Marcel die Buchhaltung und Finanzen innehatte und sämtliche Glücksspiele verwaltete und sich um die Schuldeneintreibungen kümmerte, war es Deltas Aufgabe, das Rotlichtmilieu zu verwalten und Liam des Öfteren mal ordentlich ins Gewissen zu reden. Marcel war viel zu kühl und passiv für so etwas und Johnny, der Liams Informant und Stellvertreter auf dem Schwarzmarkt war, hatte an so etwas kein Interesse. In gewisser Hinsicht war Delta so etwas wie die kleine Grille aus dem Holzpuppenmärchen und er war sich dieser Aufgabe wohl bewusst. Er wollte Liam helfen und dafür sorgen, dass dieser endlich mal wieder lächeln konnte. Tatsache war ja leider, dass er Nikolajs Tod nicht verkraften konnte und er Eva dafür bis heute noch die Schuld gab. Ganz verdenken konnte Delta es ihm ja nicht, aber er erkannte auch, dass er da auch vermitteln musste. Sonst würde alles noch in eine große Katastrophe steuern und dann hatten sie den Salat. Genau das musste er verhindern. Na hoffentlich ging es Jeremiel einigermaßen gut…
 

Die Tür des Zimmers öffnete sich und als Jeremiel aufsah, erkannte er Delta, der direkt zu ihm kam und ein fröhliches Lächeln auf dem Lippen hatte. „Hallöchen Engelchen. Mensch, du siehst ja vielleicht bescheiden aus. Wie fühlst du dich denn?“ Unsicher zuckte Jeremiel mit den Achseln und hatte wie immer diesen nichts sagenden Blick. Er wusste ja, dass das keine richtige Antwort auf Deltas Frage war, aber er konnte einfach nicht sagen, wie er sich fühlte. Zwar merkte er, dass er antriebslos war und seine Stimmung ziemlich unten war, aber er konnte einfach kein passendes Gefühl finden, was dies vielleicht beschreiben konnte. „Ich weiß nicht, wie ich mich fühle.“ „Dann versuch es zu beschreiben.“ Nur mit Mühe gelang es Jeremiel, auch die richtigen Worte zu finden und seinen Zustand zu erklären. Delta hörte ihm aufmerksam zu, nickte schließlich und erklärte „Du fühlst dich unglücklich, Engelchen. Weißt du, wenn Menschen unglücklich sind, dann ziehen sie oft ein langes Gesicht, haben keine Motivation und verlieren auch ihre Energie. Du zeigst alle Symptome dafür und ich kann mir schon denken, woran das liegt. Ich hab mit Liam gesprochen und er sieht ein, dass es übertrieben war, dir die Fußfessel anzulegen. Er meint es nicht böse, er hatte nur Sorge, dass dir in deinem angeschlagenen Zustand etwas passieren könnte. Na komm, ich nehme dir dieses furchtbare Ding erst mal ab.“ Delta holte einen kleinen Schlüssel hervor und öffnete das kleine Schloss, dann streifte er Jeremiel die Fessel vorsichtig ab. Dies machte er mit solcher Zärtlichkeit, als wolle er einer Frau behilflich sein. „Du hast eine sehr zarte Haut“, bemerkte er mit einer sanften und beruhigend klingenden Stimme. „Und schöne Füße. Da könnte man schon fast schwach werden.“

„Wieso?“

„Ach Engelchen, du musst wohl noch sehr viel lernen. Was das Allgemeinwissen betrifft, magst du ja ein Genie sein, aber in allem Zwischenmenschlichen scheinst du ja komplett unerfahren zu sein. Mein Gott, so unschuldig… wie ein Engel…“ Delta seufzte theatralisch und zog dann eine mehr als übertriebene wehleidige Miene. „Wenn du nicht Liams Ehrengast wärst, hätte ich dir schon längst Dinge gezeigt, von denen du nicht einmal zu träumen gewagt hättest, Engelchen. Bei dir kann man ja nur schwach werden!“ Jeremiel verstand zwar nicht, was Delta damit andeuten wollte, aber er sagte nichts. Er wollte lieber nichts tun, was seine neu gewonnene Freiheit vielleicht noch gefährden könnte. Delta zog ihn schließlich sanft hoch und ging gemeinsam mit ihm zur Tür. „So, jetzt werde ich dir mal das Haus zeigen und dich den anderen vorstellen.“

„Eine Frage: ist dein Name wirklich „Delta“?“

„Nö, eigentlich heiße ich Asmodeus, aber das klingt irgendwie so negativ belastet und böse. Deshalb habe ich mich für Delta entschieden. Das klingt neutraler.“

„Und wieso kleidest du dich wie eine Frau?“

„Weil ich so hübscher aussehe. Manche halten mich für eine Transe, aber ich hab kein Interesse dran, eine Frau zu werden. Ich bin eben ein Original.“ Delta ging voran und führte ihn durch das weitläufige Anwesen. Zu allererst steuerten sie ein Zimmer an, wo ein entsetzliches Chaos herrschte. Es wurde laut CROW’s CLAW gespielt und an den Wänden hingen diverse Poster von Rockbands. Auf dem Bett saß Johnny mit einem Laptop. „Das ist Johnnys Zimmer. Er sammelt wichtige Informationen und kennt angeblich alle schmutzigen Geheimnisse. Vor ihm solltest du dich übrigens in Acht nehmen. Der Kerl lügt, was das Zeug hält und ehe du dich versiehst, hat er dich ausgefragt, bevor du überhaupt etwas gemerkt hast. Hey Johnny, mach mal die Musik etwas leiser!!!“ Der Junge sah kurz auf, dann tippte er auf den Laptop herum und die Musik wurde abgestellt. „Yo Delta, alte Drag-Queen. Willst du jetzt etwa nen Dreier schieben oder wieso klopfst du an?“

„Ich wollte unserem Engelchen nur das Haus zeigen. Und überhaupt: du bist echt verrückt, wenn du denkst, zwischen uns beiden würde jemals wieder etwas laufen!“ Johnny lächelte verschlagen, als er das hörte und setzte sich auf. „Es ist schon seltsam, dass man über andere ein Urteil über dessen psychische Verfassung fällen kann, aber nicht über seine eigene… Ich meine, wenn Menschen dazu neigen, ihre eigenen psychischen Probleme nicht zu erkennen, woher wollen sie dann wissen, dass sie selbst gesund sind? Aber wie wollen diese vermeintlich gesunden Menschen wissen, dass sie gesund sind, wenn alle psychisch Kranken ihre Probleme nicht erkennen? Und wie wollen psychisch Kranke erkennen, ob ein Mensch gesund oder nicht gesund ist? Das ist das Paradoxe an der Situation.“

Delta seufzte und verdrehte die Augen. „Was zum Henker meinst du damit?“

„Dass im schlimmsten Falle die ganze Welt verrückt ist. Genauso wie du und ich. Wobei es aber erneut einen Widerspruch darstellen mag, weil Menschen, die von sich selbst behaupten sie seien verrückt, bei weitem vernünftiger sind, als so manche vernünftige Menschen, die von sich behaupten, sie seien nicht verrückt. Ein Paradoxon im Paradoxon, wenn man es so sehen will.“

„Wenn du deine kleinen Psychospielchen so mit mir weitertreibst, werde ich noch verrückt!“

„Wenn du es nicht bereits bist.“

„Ich werde ja wohl selber wissen, ob ich verrückt bin, oder nicht!“

„Irgendwie habe ich das Gefühl, dass du mir nicht wirklich zugehört hast.“

Damit wandte sich Delta mit einer wehleidigen Miene an Jeremiel und seufzte jammervoll. „Da siehst du es. Am besten spricht man kein Wort mehr mit ihm. Ansonsten dreht man noch völlig durch.“ Doch Jeremiel zuckte nur mit den Achseln und erklärte „Ich kann seine Gedankengänge schon nachvollziehen.“ „ECHT?? Au backe, dann wird er dich in Zukunft noch stundenlang vollquasseln. Na komm, wir gehen weiter, bevor Johnny noch weitermacht und ich noch endgültig einen Kurzschluss im Gehirn bekomme.“ Damit hakte sich Delta bei Jeremiel ein und ging mit ihm weiter. Er zeigte ihm den großen Salon, das Kaminzimmer und noch einige andere Räumlichkeiten, bis sie dann einem groß gewachsenen kühl dreinschauenden Brillenträger im Anzug begegneten, der ein Notizbuch durchblätterte. Auch er hatte einen goldenen Ring in der rechten Iris. Deltas Euphorie wurde je gedämpft, als er den Mann sah. Der jedoch behielt den Blick des kühlen Geschäftsmannes bei. „Delta, gut dass ich dich spreche. Die Monatsabrechnung des „Moona Launch“ weist eine Differenz von exakt 11,58$ auf, die noch behoben werden müssen. Du bist sehr nachlässig mit der Buchführung.“ Delta seufzte genervt und verdrehte die Augen. „Engelchen, das ist Marcel Lewinski, unser Buchhalter und Anwalt in einer Person. Der Kerl ist kälter als ein Eisblock und den interessiert nur Geld. Und nun zu dir, du Schmalspuradvokat: reg dich nicht wegen den paar Dollar auf! Meine Güte, du gehst mir echt auf die Nerven. Und überhaupt: wann krieg ich denn endlich das Geld für das „Mesmerize Inn“ für die Renovierung? Die Mädchen liegen mir schon seit Monaten in den Ohren und so allmählich verliere ich die Geduld!“

„Du hast dein Jahresbudget bereits aufgebracht. Also kann ich dir nicht helfen. Es ist nicht mein Problem, wenn du nicht mit dem Geld haushalten kannst.“

„Du verdammte Brillenschlange!“ Damit zog Delta einen kleinen Dolch aus dem Ärmel seines Kimonos und warf ihn in Marcels Richtung, wohl in der Absicht, ihn damit zu treffen. Doch der nahm einfach sein Notizbuch als Schild und fing damit den Dolch ab. Dabei sah er nicht einmal hin oder verzog die Miene. „Lass es gut sein, Delta. Deine Tricks funktionieren schon lange nicht mehr bei mir.“ Damit ging er einfach weiter und Delta sah ihm mit einem hasserfüllten Funkeln in den Augen hinterher. „Irgendwann reiß ich dir noch eigenhändig den Arsch auf, Marcel. Das schwöre ich dir. Du mit deinem verdammten Geiz gehst mir so was von auf die Nerven.“ Doch der Anwalt und Buchhalter lächelte nur kühl und herablassend und meinte „Soweit ich weiß bin ich doch derjenige, der dir, wie du es so schön formulierst, den Arsch aufreißt.“

„GEH STERBEN!!“ Damit warf Delta ihm einen weiteren Dolch hinterher, doch Marcel wich ihm lässig aus und hätte beinahe Liam getroffen, der gerade an dem Buchhalter vorbeiging, doch der fing mit zwei Fingern den Dolch auf und wirkte sichtlich genervt. „Könnt ihr euch nicht woanders in Stücke reißen? Mal im Ernst, aus euch soll mal einer schlau werden. Ihr hasst euch wie die Pest und kratzt euch bei jedem Treffen die Augen aus und dann treibt ihr es miteinander, als gäbe es keinen Morgen mehr.“

„Er ist eben eine verdammte Granate im Bett und er sieht eben gut aus. Da werde ich eben schwach. Was soll ich da machen?“

„Dich mal therapieren lassen…“ Liam bemerkte erst jetzt Jeremiel, der sich etwas hinter Delta gehalten hatte, um nicht noch zwischen die Fronten zu geraten. Für einen Moment schwanden diese harten Gesichtszüge und er sah ihn mit einem Blick an, den Jeremiel aber nicht wirklich deuten konnte. In diesem Moment ärgerte dieser sich, dass er es nicht zustande brachte zu erkennen, wie sich Liam wohl in diesem Moment fühlte. „Wie geht es dir?“ „Besser. Die Kopfschmerzen sind weg und mein Kreislauf hat sich auch wieder stabilisiert.“ „Das ist gut.“ Liam legte eine Hand auf Jeremiels Schulter und sah ihn wieder mit diesem Blick an. Irgendwie… irgendwie tat es ihm in der Brust weh, Liam so zu sehen. Seine Stimmung sank wieder nach unten und er fühlte sich… unglücklich. Auch Liam schien unglücklich zu sein, aber er sagte nichts und wandte sich schließlich an Delta. „Ich bin gleich bei einem Geschäftstreffen, zusammen mit Marcel. Du und Johnny bleibt hier.“ Damit ging er und Jeremiel sah ihm schweigend nach. Warum hatte er so unglücklich ausgesehen? Und wieso habe ich mich auch so schlecht gefühlt, ihn so zu sehen? Seltsamerweise hatte es mir nichts ausgemacht, wenn er mich mit diesem kalten Blick angesehen hat, aber ihn unglücklich zu sehen, lässt mich ebenfalls unglücklich fühlen. Wieso? Delta sah ihm nach und wirkte nun etwas ernster als zuvor. „Oh Mann, dem muss es doch echt an die Nieren gegangen sein, als ich ihm die Meinung gegeigt habe.“

„Was hast du ihm gesagt?“

„Dass er ein Rad ab hat, weil er dir diese bescheuerte Fußfessel angelegt hat. Weißt du, Liam ist eigentlich kein schlechter Kerl. Aber er besitzt einfach nicht sonderlich viel Feingefühl. Das war leider schon immer sein Problem gewesen. Es tut ihm leid, dass er dich eingesperrt hat, aber er hat sich Sorgen um dich gemacht.“ Er hat sich Sorgen um mich gemacht? Aber warum? Sie gingen schließlich nach draußen auf die Terrasse, wo ihnen die Sonne grell ins Gesicht schien. Es war ziemlich heiß, also musste es Hochsommer sein. Jeremiel und Delta setzten sich in einen schattigen Teil der Terrasse, wo es ein klein wenig kühler war, aber der 25-jährige merkte sofort, dass die Hitze ihm überhaupt nicht bekam. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn und ihm war, als würde seinem Körper jegliche Energie entzogen werden. Sein Kopf schmerzte ein klein wenig, aber es hielt sich zum Glück in Grenzen. Delta holte aus seinem Kimono einen Fächer hervor und begann damit, sich Luft zuzufächeln. „Genau deshalb liebe ich Kimonos: Sie sind im Sommer sehr luftig und im Winter sind sie warm genug. Aber sag schon, Engelchen: warum ziehst du so ein Gesicht? Ist es wegen Liam oder bist du wegen der Sache mit Marcel so neben der Spur? Wenn es das ist, dann lass mich eines sagen: die Streitereien sind ganz normal. Geiz und Versuchung haben sich leider nie wirklich vertragen und deshalb ist es eben recht schwierig zwischen uns. Die meiste Zeit streiten wir uns und dann landen wir trotzdem irgendwie gemeinsam im Bett. Ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, woran das liegt. Vielleicht am Sex? Naja, er sieht ja auch ganz gut aus und…“

„Nein, es ist nicht wegen dir und diesem Marcel Lewinski. Ich war nur irgendwie irritiert, dass Liam solch einen merkwürdigen Blick hatte, der irgendwie nicht zu ihm passte.“ Delta stand auf und ging zu einer kleinen Bar hin, dann kam er kurz darauf mit zwei Gläsern Eistee zurück und gab Jeremiel eines. „Nun ja, im Grunde plagt ihn schon irgendwie das schlechte Gewissen, aber er kriegt einfach beim besten Willen keine Entschuldigung zustande. Er gestattet sich eben keinerlei Schwächen und es fällt ihm auch schwer, diese raue Seite abzulegen. Aber das bringen seine Geschäfte nun mal mit sich, da darf er eben keine Schwächen zeigen, das könnte sonst gefährlich werden. Nicht nur für ihn, sondern auch fürs Geschäft.“ Geschäft? Nun, Jeremiel lebte jetzt schon seit Tagen in diesem Haus und bis jetzt wusste er noch rein gar nichts über Liam. Und er fragte sich schon, was er denn beruflich machte. Wie ein Arzt oder Chirurg sah er jedenfalls nicht aus. Eher machte er den Anschein, als würde er sein Geld auf nicht ganz ehrliche Weise verdienen. Aber er konnte sich ja auch täuschen. Besser war es, einfach mal nachzufragen. „Delta, was genau macht Liam überhaupt? Dass er Arzt ist, halte ich persönlich eher für unwahrscheinlich. Sein Charakterbild passt nicht genau da rein und dieses große Anwesen hier würde sich ein normaler Arzt oder Chirurg doch wohl kaum leisten können. Und die Rede von den Nachtklubs, Informanten und Buchhaltern klingt für mich eher danach, als hätte er kriminelle Geschäfte am laufen. Oder irre ich mich?“

„Durchaus nicht“, antwortete Delta und fuhr sich mit seinen grazilen Fingern durchs Haar, während er einen Schluck Eistee trank und dann seine Zunge verführerisch über seine rot geschminkten Lippen kreisen ließ. „Du hast schon richtige Schlüsse gezogen, Engelchen. Liam J. Adams ist der Kopf einer Mafiabande. Und sowohl Marcel, Johnny und ich arbeiten für ihn. Wir sind also quasi ebenfalls Mitglieder der Mafia.“

Jeremiels Flucht

Jeremiel sah Delta unbewegt an und sagte nichts. Er war nicht wirklich sicher, was er darauf antworten sollte und konnte nicht einmal genau sagen, wie er sich jetzt gerade fühlte. Delta seinerseits schien da kein sonderliches Problem zu sehen und erklärte „Liam hat seinen Einfluss in vielen Bereichen. Im Glücksspiel, auf dem Schwarzmarkt und im Vergnügungsviertel. Ich als seine rechte Hand verwalte sämtliche Nachtklubs und Bordelle und kümmere mich um die Mädchen. Angefangen von Abkassierungen über medizinische Untersuchungen bis hin zu Problemen mit aggressiven und gewalttätigen Gästen. Marcel unser Buchhalter ist für sämtliche Finanzen zuständig und kümmert sich deshalb auch um alles, was mit Glücksspiel zu tun hat. Und er organisiert auch die Schuldeneintreibungen. Tja, Johnny ist die Nummer 1 auf dem Schwarzmarkt und kennt sich dort am besten aus. Er ist sowohl Informant als auch Kurier und zieht Aufträge an Land. Liam ist der Kopf der Mafia und hatte eine Zeit lang auch mit Organhandel zu tun, hat sich aber da schnell wieder herausgezogen. Er ist ein äußerst genialer Chirurg und auch wenn man es ihm nicht wirklich ansehen mag, so besitzt er auch ein gutes Herz. Denn auch wenn er im organisierten Verbrechen tätig ist und denkt, dass Geld das einzige Mittel ist, um erfolgreich und effektiv andere Menschen zu kontrollieren, so kommt es immer wieder vor, dass er sich um jene kümmert, die sich keine Krankenversicherung leisten können. Dann operiert er Kinder und mittellose Menschen, die eine Familie ernähren müssen.“ Jeremiel schwieg immer noch und starrte auf sein Glas. Offenbar hatte seine Einschätzung ihn doch nicht getäuscht, als er gedacht hatte, dass Liam vielleicht in kriminelle Geschichten verwickelt war. Und das Schlimme war: er war das Oberhaupt einer Mafiafamilie. „Und was will er von mir?“ Ja, das war die große Frage. Jeremiel wusste nicht, was er mit Liam zu schaffen hatte und wieso er gerettet worden war. Delta merkte wohl, dass den 25-jährigen etwas beschäftigte und lächelte. „Engelchen, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Liam will nichts Geschäftliches von dir, das kann ich schon mal sagen. Das Ganze ist eher… emotional geprägt. Für ihn bist du etwas Besonderes, deshalb bist du auch sein Ehrengast. Wie gesagt: diese Aktion mit der Fußfessel war von ihm sehr unüberlegt gewesen, aber er hat es in erster Linie gemacht, weil er dich schützen und vor allem verhindern wollte, dass du deine Gesundheit leichtsinnig aufs Spiel setzt.“

„Aber wie habe ich ihn kennen gelernt?“ Delta musste überlegen, wie er ihm am besten antworten konnte. Er durfte ihm auf Liams Wunsch hin nicht die ganze Wahrheit sagen, weil er ihn nicht überfordern sollte. Immerhin hatte Jeremiel keine Erinnerungen und zu erfahren, wer er wirklich war, würde ein Schock für ihn bedeuten. Kein Wunder, denn immerhin war Jeremiel ein fehlgeschlagenes Experiment gewesen und mehr nicht. Ein Hybrid, der im Labor herangezüchtet worden war und als emotionsloser Killer unzählige Menschen gefoltert und getötet hatte. „Nun, Liam hat dich kennen gelernt, bevor er ins Mafiageschäft eingestiegen ist. Du hast ihm geholfen, als es ihm schlecht ging und er ist dir auch sehr dankbar dafür. Deshalb hat er dich gerettet und bei sich aufgenommen: weil du nichts und niemanden hattest und er sich revanchieren wollte für das, was du für ihn getan hast.“ Ich hatte nichts und niemanden? Aber… was ist denn mit meinem Bruder? Wieso hat mir Liam nicht einfach die Wahrheit gesagt? Jeremiel versank in ein tiefes nachdenkliches Schweigen und versuchte das alles erst einmal richtig einzusortieren. Aber für ihn stellte sich schon die Frage, wieso Liam ihn dann nicht zu L gehen lassen wollte. Warum hielt er ihn denn fest? Jeremiel und Delta saßen noch eine Weile beisammen, bis der Crossdresser schließlich aufstand, sich streckte und sagte „So, Engelchen. Ich bin kurz weg. Wenn du willst, kannst du ja noch gerne hier draußen sitzen, oder aber du kannst dich gerne noch im Haus umsehen. Wenn irgendetwas ist, dann kannst du dich jederzeit an mich, Johnny oder Marcel wenden.“ Als Delta reingegangen war, da erhob sich Jeremiel und dachte nach. Was sollte er tun? Hier bleiben und warten, bis sich irgendetwas Neues ergab? Oder sollte er die Gelegenheit nutzen und nach seinem Bruder suchen? Nun, wenn er hier blieb, sanken seine Chancen rapide. Also war es empfehlenswerter, die Gelegenheit zu nutzen und sich abzusetzen. Zwar hatte er noch keine große Idee, wo er seinen Bruder suchen sollte, aber vielleicht hatte er ja Glück und er erinnerte sich an irgendetwas. Also stand Jeremiel auf und verließ das Anwesen durch den weitläufigen Garten. Die Sonne brannte entsetzlich und die Hitze setzte ihm schon zu, aber er war entschlossen, seinen Bruder L unbedingt zu finden. Er lief, bis er das Anwesen weit hinter sich gelassen hatte und die Hauptstraße erreichte. Dabei sah er sich um und bemerkte, dass noch niemand sein Verschwinden bemerkt zu haben schien. So weit so gut. Dann brauchte er wenigstens nicht so schnell damit rechnen, von irgendjemandem gefunden und dann noch aufgehalten zu werden. Bei Delta machte er sich ja keine großen Sorgen, doch was Liam anbetraf, da war er sich weniger sicher. Ebenso wenig wie bei Marcel, der eher den Eindruck machte, als wäre er absolut kompromisslos. Nun galt es zu überlegen, wohin er gehen sollte. Immerhin hatte er nicht einmal ein Foto und alles wirkte so fremd auf ihn. Er wusste nicht, wo er war und Boston war riesig, außerdem hatte er kein Geld bei sich. Aber er fand sicherlich schon eine Lösung für sein Problem und würde seinen Bruder schon finden. Es musste doch einen Grund geben, warum er sich ausgerechnet an ihn erinnern konnte, aber sonst an nichts Persönliches. Also würde er sich auch nicht von der Tatsache unterkriegen lassen, dass er in einer riesigen fremden Stadt ohne Geld und hilfreicher Informationen war. Doch trotzdem beschäftigte ihn die Tatsache, dass er einfach abgehauen war, obwohl sich Liam doch angeblich Sorgen um ihn machte. Irgendwie kam ihm das so falsch vor, was er da gerade tat und er fühlte sich unglücklich. Es war schon ärgerlich, dass das „unglücklich sein“ momentan das einzige Gefühl war, welches er ungefähr zu erkennen vermochte. Er kannte zwar Begriffe wie „Angst“, „Liebe“, „Freude oder „Wut“, aber er konnte sie nicht wirklich bei anderen Menschen erkennen, geschweige denn bei sich selbst. Es war merkwürdig, dass er sich schlecht fühlte, Liam so unglücklich zu sehen. Wenn er es richtig im Gedächtnis hatte, nannte sich dieses Phänomen „emotionale Empathie“. Es ließ einen das fühlen, was der andere fühlte. Also funktionierte zumindest seine emotionale Empathie. Allerdings hatte er erheblich Probleme, was die kognitive Empathie betraf, nämlich zu erkennen, wie sich der andere fühlte. Kein Wunder, er merkte ja nicht mal, wie er sich selbst eigentlich fühlte. Liam… irgendwie konnte er nicht aufhören, an diesen traurigen Blick zu denken, den er hatte. Es ließ ihm einfach keine Ruhe und er spürte immer noch diesen unangenehmen Stich in seiner Brust. Vielleicht sollte ich zu ihm zurückkehren und mich entschuldigen, wenn ich meinen Bruder gefunden habe, dachte sich Jeremiel und ging im Schatten, wo er wenigstens von dieser brennenden Sonne verschont wurde. Schließlich kam er an ein paar Läden vorbei und betrachtete sein Spiegelbild. Wenn er sich richtig erinnerte, hatte L doch schwarzes Haar und dunkle Augen. Also warum sahen sie sich äußerlich überhaupt nicht ähnlich? Eineiige Zwillinge waren natürliche Klone und selbst wenn er sein Haar irgendwann mal blondiert hatte, bevor es zu der Amnesie kam, dann hätte er doch wenigstens dieselben Augen. Aber diese hatten ein so helles blau, dass sie schon fast zu leuchten schienen. Eisblaue Augen…

Warum versuchte er denn eigentlich so angestrengt, seinen Bruder zu finden? Johnny hatte doch selbst gesagt, er hatte ihn kaum gekannt und nicht mal von ihm gewusst. Ob es mit seiner Zeit vor seinem Gedächtnisverlust zu tun hatte? Nun, das würde er mit Sicherheit noch herausfinden. Als nächstes sah er sich um und überlegte, wohin er gehen sollte. Zur Polizei vielleicht. Wenn er ihnen sein Problem schilderte, dann konnten sie ihm ja womöglich helfen. Fragte sich nur, wie er am besten zur Polizei hinkam. Jeremiel ging weiter die Hauptstraße entlang und sah sich um in der Hoffnung, irgendwo etwas zu finden, was seine Erinnerungen womöglich wieder zurückholen konnte. Aber egal wohin er auch ging, das alles hier wirkte so fremd auf ihn, genauso wie die Menschen. Und irgendwie kam er sich ziemlich verloren vor. Es war schon ein echt mieses Gefühl, sich an rein gar nichts mehr erinnern zu können. Man wusste nicht, wer man war, wo man wohnte, noch ob man irgendwelche Freunde oder Verwandte hatte. Seine einzigen Anhaltspunkte waren sein Name und der von L und die Tatsache, dass er Liam offenbar schon länger kannte und dieser war Mafiaboss. Sehr dürftige Informationen. Vor allem war fraglich, ob er sich überhaupt richtig erinnerte. Woher wollte er denn so genau wissen, dass sein Name auch wirklich „Jeremiel Lawliet“ war? Wer weiß… es könnte ja tatsächlich sein, dass er gar nicht so hieß und er sich falsch erinnerte. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und seufzte, da er merkte, dass seine Lage wirklich nicht zum Besten stand. Nicht nur, dass irgendjemand ihn angeschossen hatte, er besaß ja nicht einmal irgendwelche Papiere. Er besaß rein gar nichts. Nach einer Weile erreichte er schließlich einen Park und sah nicht weit entfernt einen Mann ungefähr in seinem Alter. Er hatte dunkelrotes Haar, grasgrüne Augen und trug an den Handgelenken Lederarmbänder. Irgendwie kam ihm dieses Gesicht bekannt vor. Es dauerte eine Weile, aber dann kam ihm ein Name ins Gedächtnis. Andrew Asylum… ja richtig. Dieser Mann da war Andrew Asylum. Komisch… woher kannte er ihn? Vielleicht ein Bekannter oder guter Freund von ihm? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Jeremiel ging zu ihm hin und beobachtete ihn. Andrew bemerkte ihn gar nicht, sondern schaute auf sein Handy und schrieb wohl eine Nachricht. Ob wir vielleicht Freunde waren, bevor ich eine Amnesie erlitt? Na hoffentlich weiß er mehr über mich. Er ging nun etwas langsamer zu ihm hin, blieb dann stehen und sagte dann „Andrew?“ Der Rothaarige sah von seinem Handy auf, schaute sich etwas verwundert um und sah dann Jeremiel. Allerdings war die Reaktion nicht so ganz wie erhofft, denn schlagartig wurde er kreidebleich und riss die Augen weit auf. Er erstarrte und wirkte auf den emotional Unerfahrenen wie ein Reh, kurz bevor es von einem Auto überfahren wurde. Nun, das war vielleicht ein etwas unglücklich gewählter Vergleich aber es half Jeremiel viel besser zu erkennen, dass Andrew offenbar nicht ganz so erfreut war, ihn zu sehen. Nur leider konnte er nicht genau sehen, dass dieser eine regelrechte Todesangst hatte. Dementsprechend konnte er auch nicht angemessen darauf reagieren und sagte einfach „Entschuldige, dass ich dich beim Schreiben von Kurznachrichten störe, aber ich dachte…“

„Nein, bitte…“, brachte Andrew mit angsterfüllter Stimme hervor und zitterte am ganzen Körper. Jeremiel beobachtete, wie sein Gegenüber immer blasser wurde und wie dessen Atem sich deutlich beschleunigte. Schnellerer Herzschlag, erhöhter Puls… ist er vielleicht aufgeregt? Ob er sich freut, mich zu sehen? Nein, normalerweise verziehen die Leute doch die Mundwinkel so komisch, wenn sie sich freuen und nennen das „lächeln“. Und da er nicht lächelt, scheint er sich nicht zu freuen. Vielleicht ist er ja überrascht. Das würde zumindest die weit geöffneten Augen erklären. „Bitte… ich hab niemandem etwas verraten. Wirklich! Bitte bring mich nicht um. Ich will nicht sterben.“ Jeremiel sah ihn irritiert an und verstand nicht, was Andrew ihm sagen wollte. Wieso sollte er ihn denn töten und was sollte das bedeuten, dass er nichts verraten hatte? „Einen Augenblick mal, ich verstehe nicht wirklich…“ Doch der Rothaarige war völlig verängstigt und wäre wohl am liebsten sofort weggerannt, doch er war regelrecht erstarrt und schließlich sammelten sich Tränen in seinen Augen. Merkwürdig, dachte sich Jeremiel, der mit diesem extremen Verhalten überhaupt nichts anzufangen wusste und auch ein Stück weit überfragt war. Wieso sondern seine Tränendrüsen plötzlich Salzwasser ab? Das ist doch das gleiche Phänomen, als ich im Bad gelegen hatte und nicht aufstehen konnte. Da ist doch das Gleiche passiert. Wie nennt man das noch mal gleich? „Weinen“? Also wieso weint er denn? Ist er unglücklich? Jeremiel versuchte angestrengt, die Reaktionen irgendwie zu deuten und verfiel in ein nachdenkliches Schweigen. Und da er sowieso ein absolutes Pokerface hatte, musste er in Andrews Augen einfach wie Sam Leens aussehen und das machte es nur noch schlimmer. „Andy!“ Jeremiel hob ein wenig den Blick und sah einen schwarzhaarigen Mann, ungefähr im selben Alter (vielleicht aber auch ein Jahr älter), der einen Zopf trug und einen sportlichen Eindruck machte. Er grinste fröhlich vor sich hin und winkte ihm zu. Als Jeremiel ihn sah, da wusste er seltsamerweise, dass das Oliver O’Brien war, Andrews Verlobter. Dann musste Andrew wohl auf ihn gewartet haben. Aber woher wusste er, wer Oliver war? Richtige Erinnerungen an ihn hatte er jedenfalls nicht, trotzdem schien er zu wissen, wer er war. Oliver blieb stehen, als er sah, wie verängstigt sein Verlobter war und schaute zu Jeremiel, der immer noch schweigend da stand und keinen erkennbaren Gesichtsausdruck hatte, während er immer noch angestrengt versuchte zu erkennen, was die beiden wohl gerade für Gefühle durchlebten. „Andy, was ist los? Was hast du?“ Dieser zitterte heftig und Tränen rannen unablässig seine kreidebleichen Wangen hinunter. „Je-Je…“ Oliver verstand sofort, was das zu bedeuten hatte, zog Andrew hoch und stellte sich schützend vor ihm. „Bist du hier, um ihn zu töten, Sam?“ Sam? Hatte er ihn gerade „Sam“ genannt? Verwechselten ihn die beiden womöglich mit irgendjemandem? Immer noch sagte Jeremiel nichts und überlegte sich, was er jetzt am besten sagen sollte. Sonderlich gut schienen die beiden ja nicht auf ihn zu sprechen zu sein. „Ich bin hier, weil…“ „Er will mich umbringen!“ rief Andrew und klammerte sich an Oliver fest. „Er weiß, dass ich der Einzige bin, der überlebt hat und jetzt will er auch mich töten.“

„Aber ich will doch…“ Aber irgendwie wollte ihn wohl keiner ausreden lassen, denn da kam Oliver ihm auch schon zuvor und zielte mit einer Pistole auf ihn. „Wie konntest du überhaupt überleben? Wir dachten echt, du wärst tot. Beyond hat eindeutig gesehen, dass deine Lebenszeit abgelaufen war.“ Ach, dann wussten die beiden also, was mit ihm passiert war? Und wer war Beyond? Jeremiel brauchte nicht lange zu grübeln, dann fiel ihm ein, dass Beyond ja der Partner seines Bruders war. Komisch… sein Bruder war mit einem anderen Mann zusammen? Das machte doch keinen logisch erkennbaren Sinn. „Hast du mich angeschossen?“ „Nein. Aber ich werde hiervon garantiert Gebrauch machen, wenn du Andy zu nahe kommst, Sam.“

„Wieso nennst du mich Sam?“ Nun war es Oliver, der irritiert war. Immerhin war es Sam Leens und der hatte immer so viel Wert darauf gelegt, seine wahre Identität geheim zu halten. Und ihm entging nicht, dass er sich ein klein wenig merkwürdig verhielt. Wenn er Andrew töten wollte, um den letzten Zeugen vom Norington Massaker zu beseitigen, dann hätte er es schon längst getan. Was hielt ihn also davon ab? „Ich glaube, ihr verwechselt mich mit jemandem. Mein Name ist Jeremiel, Jeremiel Lawliet. Ich kenne keinen Sam.“

„Was redest du da? All die Jahre hast du dich Sam Leens genannt. Also was ist mit dir los?“

„Erschieß ihn Olli, bitte. Er wird uns umbringen, genauso wie er damals meine Eltern und die Kinder im Waisenhaus getötet hat. Er bringt uns noch um!“ Wie bitte? Aber ich bin doch kein Mörder. Ich töte keine Kinder oder überhaupt Menschen. Warum sollte ich das tun? Es muss einfach eine Verwechslung sein. Die beiden halten mich für irgendjemand anderes. Aber… wenn ich nicht besser verschwinde, dann eskaliert die Situation und er wird mich tatsächlich noch erschießen. Schnell drehte Jeremiel sich um und lief davon. Er verließ den Park auf schnellstem Wege, schaffte es aber nicht mehr sonderlich weit und musste im Schatten einer Gasse Halt machen, da ihm die Hitze doch sehr zu schaffen machte und er völlig aus der Puste war. Seine Kehle fühlte sich trocken an und Schweiß lief seine Stirn hinunter. Keuchend blieb er stehen und verstand die Welt nicht mehr. Wieso nur hatten die beiden ihn mit Sam angeredet und behauptet, er hätte Kinder getötet und dann auch noch Andrews Eltern? Es konnte sich doch nur um eine Verwechslung handeln, oder aber… Oder aber ich bin tatsächlich dieser Sam Leens gewesen und ich kann mich nur nicht daran erinnern. Ausgeschlossen ist das nicht. Vor meiner Amnesie kann ich ein vollkommen anderer Mensch gewesen sein. Dann… dann habe ich also wirklich Menschen getötet? Kinder… und Andrews Eltern? Bin ich vielleicht deshalb angeschossen worden, weil ich ein Mörder war? Wer weiß… vielleicht bin ich ja auf der Flucht vor der Polizei gewesen und deshalb angeschossen worden. Und darum hat Liam mich auch nicht in ein Krankenhaus gebracht: weil ich sonst von der Polizei verhaftet worden wäre. Aber warum nur? Warum habe ich diese Menschen getötet, wenn das wirklich gewesen sein sollte? Wieso habe ich Andrews Eltern ermordet? Was für einen Grund sollte ich denn bitteschön gehabt haben, Kinder zu erschießen? Jeremiel sank auf den Boden und spürte wieder, wie sich seine Brust schmerzhaft zusammenschnürte. Ungehindert flossen die Tränen und er fühlte sich einfach nur… überfordert und hilflos. Er wusste nicht, wer er war und was für ein Mensch er gewesen war. Stimmte es denn wirklich und er war ein Verbrecher und wollte Liam genau diese Tatsache vor ihm verbergen? Was soll ich bloß tun, fragte er sich und fuhr sich durch sein platinblondes Haar. Wenn ich wirklich ein Mörder bin, dann muss ich unbedingt herausfinden, was mich dazu angetrieben hat, diese schrecklichen Dinge zu tun und ich muss irgendwie meine Erinnerungen zurückholen. Allein so kann ich unmöglich weitermachen. Ich kann doch unmöglich so weiterleben, wenn ich doch so viele Menschen getötet habe.
 

… ich bin ein Mörder…
 

Dieser Gedanke machte es nur noch schlimmer und er fühlte sich einfach nur elend. In diesem Moment hätte er ja gerne gesagt, er würde am liebsten zurück nach Hause, aber er wusste ja nicht einmal, ob er überhaupt eines hatte und wenn, dann auch nicht wo. Der einzige Ort, an welchem er überhaupt zurückkehren konnte, war Liams Haus. Liam war der einzige Mensch, an den er sich momentan wirklich wenden konnte. Außer ihm und seinen Untergebenen hatte er doch sonst niemanden. Was also sollte er jetzt tun?
 

„Wie zum Teufel hast du ihn bloß entkommen lassen?“ Liam war kurzerhand zurückgekehrt, nachdem er erfahren hatte, dass Jeremiel spurlos verschwunden war und er ärgerte sich schwarz, dass er so dumm gewesen war und auf Deltas Gequatsche gehört hatte. Dieser war untröstlich und tupfte sich mit zierlichen Handbewegungen mit einem Taschentuch die Tränen weg, bevor sein Make-up verschmieren konnte. „Ich sagte doch, dass es mir leid tut, Herzchen. Ich konnte doch nicht ahnen, dass er wegläuft. Also schrei mich nicht so an. Und überhaupt: teilweise hast du dir das ja wohl auch zuzuschreiben. Immerhin hast du ihm diese Fußfessel angelegt und da ist es doch abzusehen gewesen, dass er sich klammheimlich aus dem Staub macht.“

„Meine Schuld… meine Schuld… Das alles wäre nicht passiert, wenn ich ihm diesen Quatsch mit seinem Bruder ausgeredet hätte. Die beiden kennen sich ja nicht einmal, also warum sollte er unbedingt nach ihm suchen, hä?“ Delta, der darauf leider keine Antwort wusste, zuckte mit den Achseln, wobei sein Kimono etwas verrutschte und seine Schulter freigelegt wurde. Er machte sich aber nicht die Mühe, ihn wieder zu richten und wandte sich an Eva, die etwas still da saß und gewartet hatte, bis sich ihr Bruder wieder abreagiert hatte. „Es ist ganz natürlich, dass er nach ihm sucht. Nikolaj hat damals einen Teil meines Herzens erhalten und L ist meine menschliche Wiedergeburt. Also ist Jeremiel unterbewusst bestrebt, ihn zu finden. Liam, du musst Vertrauen haben und ihm seinen Wunsch gewähren.“

„Halt du gefälligst deine Klappe, Eva. Den ganzen Schlamassel hätten wir jetzt nicht, wenn du nicht gepfuscht hättest. Das alles ist doch erst nur deinetwegen passiert. Nur deinetwegen ist er jetzt abgehauen und ohne irgendwelche Erinnerungen oder Mittel ist er doch völlig aufgeschmissen. Verdammte Scheiße. Wir müssen ihn wieder finden, bevor noch irgendetwas passiert. Delta, du schickst unsere Leute los. Sie sollen die Augen offen halten. Und Johnny wird… hey, wo ist Johnny?“ Wie aufs Stichwort wurde die Tür aufgeknallt, dass sie fast aus den Angeln fiel und mit einem provokanten Grinsen kam Johnny herein, der sichtlich Spaß zu haben schien. „Hey, what’s up Bitches?“

„Wieso hat das so lange gedauert?“

„Ich hab da noch ein paar „Infos“ gesammelt. Ich fand es mal ganz interessant herauszufinden, was Delta und Marcel da eigentlich hinter verschlossenen Türen so treiben, dass unsere Tucke vom Dienst so laut herumschreit, als würde er gerade vergewaltigt wer…“ Johnny wich noch im letzten Moment Deltas Dolch aus, welchen dieser mit einem finsteren Blick nach ihm geworfen hatte. Mit einem giftigen Funkeln in den Augen verzog er die Miene und erklärte „Mein Sexleben geht dich ja wohl nichts an, Freundchen.“

„Was denn? Du filmst doch alles und lädst es auf der Cloud hoch. Was kann ich denn dafür, dass jeder sehen kann, was ihr beide da für ein abartiges Zeug treibt?“

„Du bist doch bloß neidisch, das ist alles.“

„Worauf denn? Dass ich mir von dem Kerl das Hirn regelrecht rausficken lasse, den ich eigentlich wie die Pest hasse?“

„JETZT HALTET ENDLICH DIE SCHNAUZE!“ schrie Liam und schlug mit der Faust so heftig auf den Tisch, dass er dabei eine Delle hinterließ. Er hatte nun endgültig die Schnauze voll und wollte sich dieses Weibergezicke von Delta und Johnnys Provokationen nicht eine Sekunde mehr länger mit anhören. „Eure Beziehungskiste könnt ihr meinetwegen woanders klären und wenn ihr euch gegenseitig die Schädel einschlagen wollt, dann macht das ruhig, aber dann gefälligst ein anderes Mal. Hier geht es erst einmal um Jeremiel. Er ist abgehauen und ich will, dass ihr ihn wieder findet. Johnny, du hörst dich im Untergrund um. Wenn er in irgendwelche Schwierigkeiten hineingeraten sollte, wirst du es als Erstes erfahren. Und du Delta, du schickst ein paar der Jungs raus, die nach ihm suchen sollen. Je eher wir ihn finden, desto besser.“ Damit hatte er sein Wort gesprochen und da diese Ansage wirklich gesessen hatte, schwiegen Delta und Johnny brav und machten sich an die Arbeit. Liam blieb noch eine Weile im Zimmer, ebenso wie Eva. Diese sah ihn besorgt an und versuchte, ihn irgendwie wieder aufzumuntern. „Mach dir keine Sorge Liam, wir werden ihn schon finden und auch retten, wenn er in Gefahr sein sollte.“

„Halt du dich da raus.“ Mit einem eiskalten Funkeln in den Augen packte er sie am Kragen und zog sie hoch. Dabei hob er sie so hoch, dass sie den Boden unter den Füßen verlor. „Das alles ist nur deine Schuld und hör auf, dich wie ein großer Moralapostel aufzuführen. Ich brauche deine Hilfe nicht und glaub ja nicht, ich verzeihe dir jemals, was du getan hast. Deine Heuchelei kotzt mich so was von an.“

„Es tut mir Leid, Bruderherz. Ich gebe zu, dass ich viele Fehler gemacht habe, aber ich will dir wirklich helfen! Das musst du mir glauben.“

„Ich habe dich damals gebraucht, als Nikolaj gestorben ist, aber du hast uns alle einfach im Stich gelassen und bist verschwunden. Selbst die arme Frederica hast du im Stich gelassen. Ich habe sie gelehrt, wie sie die Zeit zurückdrehen kann, damit sie DEINEN Willen erfüllen konnte, während du sie einfach in dieser Welt zurückgelassen und sie dieser schrecklichen Tortur ausgesetzt hast. Und Jeremiel hätte jetzt all diese Probleme nicht, wenn du ihm schon viel früher ein Herz gegeben hättest. Dann wäre er gar nicht erst zu Sam Leens geworden und hätte seine Erinnerungen nicht verlieren müssen. Also sei so gut und verschwinde einfach und das am besten für immer. Glaub mir, die Welt wird so viel besser da stehen, wenn es dich nicht mehr geben würde.“ Und damit ließ er sie wieder zu Boden sinken und verließ den Raum. Eva blieb allein zurück, dann brach sie in Tränen aus und schluchzte leise.

Deltas Unruhe

Jeremiel war noch eine Weile ziellos umhergewandert, ohne zu wissen, wohin er gehen sollte. Immer noch beschäftigte ihn diese Begegnung mit Andrew und es tat ihm weh daran zu denken, dass er vielleicht Menschen getötet haben könnte, bevor er seine Amnesie erlitten hatte. Er wusste nicht was er glauben sollte, fühlte sich total verunsichert und ihn plagte die Sorge, dass da tatsächlich etwas dran sein könnte. Kann es wirklich sein, dass ich ein Mörder bin? Was soll ich tun, wenn es stimmt und ich Menschen getötet habe? Ziellos irrte er umher, nicht wissend, wo er überhaupt war, aber dafür hatte er jetzt einfach keinen Kopf. Doch die Hitze setzte ihm immer mehr zu und er fühlte sich einfach nur müde und erschöpft. Verdammt, warum nur musste es so furchtbar heiß sein? Das war doch einfach nicht zum Aushalten. Er suchte sich eine etwas schattige Gasse und atmete tief durch. Sein Hals tat weh und er war dehydriert. Womöglich hatte er deshalb Kopfschmerzen. Zu dumm, dass er kein Geld dabei hatte. Vielleicht konnte er sich irgendwo in ein Lokal setzen und sich dort abkühlen. Nach einer Weile erreichte er eine Art Bar, die den Namen Lovely Evening trug. Was das wohl für ein Laden war? Warte… war das nicht dieser komische Schwulentreff? Nee, da suchte er sich lieber etwas anderes. „Hey, alles in Ordnung bei dir?“ Jeremiel blieb stehen und sah einen braungebrannten Mann an die Hauswand gelehnt, der Goldschmuck trug und einen ziemlich muskulösen Eindruck machte. Der 25-jährige blickte ihn fragend an, denn er kannte diesen Mann nicht und konnte sich deshalb nicht erklären, weshalb dieser ihn ansprach. „Kennen wir uns?“ „Nicht wirklich, aber du hast einen ziemlich geknickten Eindruck gemacht. Ich bin Norman Hayes! Hey was ist? Soll ich dich auf einen Drink einladen?“ Dieser Norman schien hilfsbereit zu sein. Also nahm Jeremiel das Angebot an und sogleich führte der Mann ihn in die Bar. Das irritierte den Blondhaarigen nur noch mehr und er fragte sogleich „Wieso gehen wir in die Bar?“ „Da sind die Drinks sehr günstig. Und man kann dort eben ziemlich gut Party machen.“ Na wenn das so war. Jeremiel gab sich mit dieser Antwort zufrieden und folgte Norman in die Bar und spürte sogleich die angenehme Kühle der Klimaanlagen. Da es Mittagszeit war, war noch nicht sonderlich viel los und so setzten sie sich an den Tresen. Sogleich kam der Barkeeper, der sich als Alex vorstellte und bemerkte sogleich „Hey Norman, ich dachte echt, Mama Ruby hat dich aus der Stadt gejagt.“ „Ach, von der lass ich mir gar nichts sagen. Und soweit ich weiß, muss sie sich jetzt sowieso um ihre Bälger kümmern. Die soll sich hier mal nicht als Möchtegern-Batman aufspielen.“ Sogleich bekamen sie die Drinks und Norman reichte Jeremiel seinen herüber. Dieser sah auf sein Glas und meinte „Ich weiß nicht, ob ich wirklich Alkohol vertrage.“

„Ist alkoholfrei, da mach dir keine Gedanken.“ Jeremiel nahm dankend sein Glas entgegen und trank einen Schluck. Nach der sengenden Hitze da draußen war das hier wirklich eine Wohltat. Er hatte wohl wirklich Glück gehabt, diesen Norman getroffen zu haben. Aber wieso war dieser so hilfsbereit? Das verstand er irgendwie nicht. „Wie heißt du den eigentlich?“ „Jeremiel.“

„Jeremiel? Komischer Name…“

„Der Name kommt vom achten Erzengel der russisch orthodoxen Kirche. Dem Glauben nach war Jeremiel der Engel der Vorhersehung und jener, der die Verstorbenen ins Jenseits gebracht hat.“

„So? Dann bist du also religiös?“ Jeremiel schüttelte den Kopf und nahm noch einen Schluck von seinem Drink. „Ich glaube im Allgemeinen nicht an eine höhere Existenz göttlicher Natur. Das ist unlogisch, denn diese ist nicht wissenschaftlich belegbar und es gibt keinerlei Indizien. Streng genommen ist der Glaube an ein göttliches Wesen ein erstes Symptom einer infantilen Neurose oder man kann von anderen Störungen des Gehirns ausgehen. Zum Beispiel von einer Frontallappenepilepsie wie im Fall Jeanne D’Arc.“ „Ah, verstehe“, murmelte Norman, schien aber wohl nicht ganz zugehört zu haben. Stattdessen betrachtete er ein wenig neugierig Jeremiels Gesicht und meinte schließlich „Du hast wirklich schöne Augen.“

„Ach echt?“

„Ja. Solche eisblauen Augen hab ich noch nie gesehen. Sag mal, wo kommst du eigentlich her?“

„Keine Ahnung. Ich habe mein Gedächtnis verloren und weiß nicht, ob ich von hier bin.“ Irgendwie fühlte sich Jeremiel ein klein wenig komisch. Sein Kopf fühlte sich so schwer an und irgendwie schien ihm jegliche Energie zu fehlen. Er erhob sich und wollte nach draußen gehen, um ein wenig frische Luft zu schnappen, da stand auch Norman auf. „Hey, alles in Ordnung?“ „Mir… mir ist gerade etwas seltsam zumute.“ Er musste sich am Tresen abstützen und spürte, wie ihm schwindelig wurde. Hatte er vielleicht einen Hitzeschlag gekriegt oder war es etwas anderes? Seit wann… seit wann fühlte er sich denn so komisch? Jeremiel versuchte weiterzulaufen, doch da verlor er die Kraft in den Beinen und stürzte zu Boden. Sein Atem wurde flacher und irgendwie fühlten sich seine Fingerspitzen seltsam taub an. Sein ganzer Körper war wie paralysiert und er war nicht mehr imstande, sich zu bewegen. „Hey!“ hörte er Norman rufen, der ihn hochzog und ihn zu stützen versuchte. „Bleib ganz ruhig, ich bring dich ins Krankenhaus.“ Nur mit Mühe konnte der 25-jährige die Augen offen halten und wollte etwas sagen, doch er brachte nicht einen Ton zustande und ihm war, als wäre er vollständig gelähmt worden. Was um alles in der Welt passierte da nur mit ihm? So langsam wurde ihm schwarz vor Augen und er merkte nur, wie er nach draußen gebracht und in einen Wagen gelegt wurde. Eine Stimme rief „Hey Norman, das hat aber gedauert. Und? Was hast du denn dieses Mal?“ Der Drink, dachte Jeremiel und verstand allmählich, was hier gerade passierte und was mit ihm los war. Norman muss mir irgendetwas in den Drink gegeben haben. Aber warum? Was hat er mir in den Drink getan und was hat er mit mir vor? „Mensch, da hast du aber einen echten Glücksgriff erwischt. Ich wette der wird noch ordentlich Kohle bringen.“ Geld? Die… die wollen mich doch nicht etwa wirklich… Jeremiel konnte kaum noch die Augen offen halten und wusste, dass er gleich das Bewusstsein verlieren würde. Doch er wusste, dass er nichts mehr ausrichten konnte. Das Mittel wirkte schon und sein Körper reagierte schon längst darauf.
 

Liam… hilf mir…
 

Das waren die letzten Gedanken, die er noch zu fassen vermochte, bevor die Welt in eine tiefe Schwärze versank und er endgültig das Bewusstsein verlor. Nachdem Norman ihn ins Auto gelegt hatte, stieg er ins Auto zu seinem Komplizen und fuhr los. „Der wird sicher ein absoluter Hauptgewinn sein. Nachdem diese verdammte Hexe mich vor ein paar Monaten mit ihrer Teufelsmusik noch fast in den Wahnsinn getrieben hat und ich mich nach San Diego absetzen musste, muss ich so langsam die Kohle wieder reinbringen. Bis jetzt hab ich irgendwie nur Massenware gefunden, aber dieser Jeremiel scheint schon ein kleines Juwel zu sein.“ „Stimmt schon. Er hat ein wirklich schönes Gesicht und besonders seine Augen sind faszinierend. Ich denke, wir haben endlich den Jackpot. Der wird uns bei der Auktion noch echt viel Geld einbringen.“
 

Delta ging unruhig auf und ab, während er darauf wartete, dass endlich jemand von Liams Leuten zurückrief, um Bescheid zu geben, dass sie den Verschwundenen endlich gefunden hatten. Aber nichts tat sich und am liebsten wäre Delta ebenfalls losgezogen, aber Liam wollte ihn lieber im Haus haben, falls es dazu kommen sollte, dass Jeremiel wieder zurückkehren sollte. Johnny war derweil in der Gegend unterwegs, um seine Quellen abzufragen, ob die etwas wussten. Marcel, der ungerührt und mit einem völlig desinteressierten Blick die Bücher durchging, schwieg und schien sich kaum für das derzeitige Problem zu interessieren. Nach einer Weile seufzte Delta jammervoll und theatralisch und ließ sich auf einem Stuhl sinken. „Ach Hasi, was soll ich bloß machen? Ich mach mir solche Sorgen wegen unserem Engelchen. Am liebsten würde ich sofort losgehen und ihn suchen…“

„Nun, es bringt durchaus finanzielle Vorteile, wenn er wegfällt. Dann wären die Kosten deutlich geringer. Allein schon die Medikamente, die er benötigt und die Energiekosten, ganz zu schweigen von der Verpflegung.“

„Ach verschon mich mit deinen Zahlen, du unsensibler Pinguin. Das arme Engelchen weiß doch gar nicht wohin und ist doch völlig aufgeschmissen. Was, wenn ihm was zustößt? Das würde mir das Herz brechen!“ Marcel sah immer noch nicht von seinen Büchern auf und zeigte nicht wirklich Mitgefühl. Aber dann nahm er kurz seine Brille ab, um die Gläser zu putzen. „Delta, Liam und Eva sind Unvergängliche und sie haben genug Möglichkeiten, um ihn zu retten. Du machst dir unnötig Sorgen und verschwendest nur deine Energie.“

„Das weiß ich, aber du müsstest doch auch wissen, dass Liam seine Kräfte nicht einsetzen will, weil er lieber nach den Regeln der Menschen spielt. Und du kennst mich eben: ich bin nun mal emotional und mach mir Sorgen. Du weißt doch, wie sehr Liam Nikolajs Tod damals mitgenommen hat. Es kann ja nicht jeder so ein gefühlskalter Kerl wie du sein, Hase.“ „Das hat seine Gründe. Ich bin dein ausgleichender Pol und bewahre stets die Objektivität, weil du das nicht kannst. Du lässt dich zu sehr von deinen Gefühlen beherrschen und das trübt deinen Blick für gewisse Dinge. Ich sehe das alles aus distanzierter und objektiver Sicht und weiß deshalb, dass Jeremiel schon rechtzeitig gefunden wird, bevor ihm etwas ernsthaft passieren kann. Also sei so gut und reg dich ab, ich kann mich nur schwer auf meine Arbeit konzentrieren, wenn du dich wie ein sterbender Schwan in einer Seifenoper aufführst.“

„Ich bin nun mal theatralisch, na und? Ich mach mir trotzdem große Sorgen um Liam. Seit Eva wieder da ist, da ist er entweder dauergereizt oder er ist total verschwiegen und abweisend. Entweder hatte er schlechten Sex, oder es sind einfach diese aufgestauten Aggressionen gegen seine Schwester. Weißt du, ich finde es ja auch nicht sonderlich prickelnd, wie sich Eva verhalten hat und ich muss Liam in vielen Punkten zustimmen, was seine Meinung über sie angeht. Aber irgendwie verhält er sich so komisch, seit wir Engelchen zu uns geholt haben. Was glaubst du, Hase? Was ist mit ihm los?“

„Was kümmern mich schon Gefühle?“

„Das ist keine Antwort!“ rief Delta genervt und wollte ihm mit dem Fächer eins überbraten, aber Marcel nahm einfach eins seiner Bücher als Schild und fing den Schlag ab, ohne wirklich hinzusehen. „Also wenn du meine Einschätzung willst: ich denke, er ist verunsichert und versucht das durch seine Aggressivität zu verbergen. Er ist eben jemand, der keine Schwäche zeigt.“ Ja, das musste es wohl sein. Aber so langsam begann sich der Crossdresser zu fragen, wie das denn weitergehen sollte. Liam war zwar schon immer einer von der knallharten Sorte gewesen und eben der etwas Unnahbare. Aber seit Jeremiel und Eva da waren, wurde es immer schlimmer mit ihm. Jedes Mal, wenn er Eva sah, da würde er sie am liebsten in Stücke reißen und auch Jeremiel bekam alles ab, obwohl er doch überhaupt nichts dafür konnte. Es brachte alles nichts. Delta goss sich einen Drink ein, überkreuzte die Beine und lehnte sich zurück. „Es muss schon hart sein für Liam. Ich meine, er hat Nikolaj abgöttisch geliebt. Er war ein Teil unserer Familie und wir alle hatten ihn ins Herz geschlossen, selbst du. Sein Tod war schon schlimm genug und jetzt ist er wiedergeboren worden und was ist? Er ist ein völlig anderer Mensch. Zwar hat er noch so ungefähr denselben Charakter, aber er ist trotzdem nicht mehr derselbe und das macht auch Liam ganz schön fertig. Mit ihm will ich ganz sicher nicht tauschen. Ob er sich vielleicht deshalb so unmöglich Engelchen gegenüber verhalten hat, weil er Nikolaj zurückhaben will?“

„Das kann ich nicht sagen, ich bin erstens kein Therapeut und zweitens kümmern mich diese Gefühlsduseleien recht wenig.“

„Das merke ich jede Nacht, Hasi. Immer, wenn ich im Anschluss kuscheln will, setzt du deine blöden Gläser auf und fängst wieder mit der Buchhaltung an. Das ist genau der Grund, warum ich dir am liebsten wieder die Augen auskratzen würde.“

„Weil du eben ein Nymphomane ist.“

„Ich bin kein Nymphomane!“

„Sagt der, der es selbst mit Johnny getrieben hat. Und ich dachte, selbst so ein triebgesteuerter Transvestit wie du hat ein wenig Selbstachtung. Das zeigt doch nur, wie tief du inzwischen gesunken bist und wie niedrig inzwischen deine Ansprüche geworden sind.“

„So, so. Hör ich da etwa eine Spur von Eifersucht bei dir raus, Hasilein?“

„Wozu denn? Wir sind nicht mal richtig zusammen. Wir schlafen nur miteinander.“ Delta betrachtete ihn, lächelte wohl wissend und fuhr sich mit seiner Zunge über seine weißen Zähne, während er Marcel betrachtete. „Nur zu deiner Info: das mit Johnny war eh der schlimmste Fehler meines Lebens. Genauso wie eigentlich jede Nacht mit dir, wenn ich überlege, was für ein Eisblock du bist. Streng genommen bist du genauso emotional wie eine Raufasertapete. Ich brauch einen richtigen Kerl!“ Damit stand er auf und ging. Marcel blieb kopfschüttelnd zurück und sah nicht ein Mal von seinen Büchern auf. Delta brauchte unbedingt mal eine Therapie…

Delta durchstreifte das ganze Haus und telefonierte noch ein wenig herum in der Hoffnung, dass irgendjemand Jeremiel bereits gefunden haben könnte. Wenn dem noch was passierte und man fand ihn nicht rechtzeitig, würde er sich das so schnell nicht verzeihen können. Vielleicht sollte er Eva sprechen. Immerhin hatten sie diesen ganzen Schlamassel ja auch teilweise ihr zu verdanken und momentan war er ja der Einzige, der vernünftig mit ihr reden konnte. Auch wenn er so seine Meinung hatte, was Eva betraf, so wollte er allein Liam und Jeremiel zuliebe vernünftig mit ihr reden und eine Lösung finden. Johnny hielt ja ohnehin zu Liam und auch wenn er ein Arsch mit einem miesen Charakter war, der gerne intrigierte, so würde er ihn gewiss nicht hintergehen. Er brauchte nicht lange zu suchen und fand Eva schließlich in der Bibliothek, welche Liam im Laufe der Zeit zusammengetragen hatte. Sie saß still und alleine auf einem Stuhl und sah ins Leere. Unbewegt und starr wie eine Puppe. Tränen glänzten auf ihren blassen Wangen und sie sah sehr unglücklich aus. „Eva?“ Hastig wischte sie sich ihre Tränen weg und blickte ihn überrascht an. „Delta, was gibt es? Ist irgendetwas mit meinem Bruder?“

„Nein, ich bin wegen Engelchen hier. Aber wie ich sehe, scheint Herzchen dich schon wieder ziemlich zusammengestaucht zu haben.“

„Ich halte das nicht aus…“, brachte sie hervor und vergrub schluchzend das Gesicht in den Händen. „Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich will Liam doch so gerne helfen und meine Fehler wieder gut machen. Aber… egal was ich tue, er stößt mich immer von sich. Und ich bin ganz alleine…“ „Gib ihm einfach etwas Zeit, Liebes. Er hat es auch nicht leicht gehabt und braucht eine Weile, um mit der Gesamtsituation klarzukommen. Ich rede noch mal mit ihm. Aber sag schon, hast du vielleicht eine Spur von Engelchen? Du und Liam, ihr seid die Einzigen, die mit allen Menschen auf der Welt verbunden seid. Da müsste es doch kein Problem für dich sein, ihn zu finden.“

„Das geht leider nicht. Mein neuer Körper hat sich noch nicht vollständig meinen Ansprüchen angepasst und ich kann meine Kräfte noch nicht gänzlich freisetzen. Es wird noch eine Weile dauern. Ich habe diesen Körper ja erst seit einigen Tagen.“ Unzufrieden über diese Antwort verschränkte Delta die Arme und dachte nach. Was konnten sie denn noch tun, um Jeremiel schnell wiederzufinden? „Ach Mensch, es wäre echt viel einfacher, wenn Liam seine Kräfte einsetzen würde, um ihn wiederzufinden aber nein: er will es einfach nicht. Nun gut, ich kann verstehen, wieso er das nicht tun will, aber es geht immerhin um Engelchen! Da könnte er zumindest dieses eine Mal eine Ausnahme machen.“

„Du kennst ihn doch, Delta. Er würde niemals eine Ausnahme machen. Auch wenn er die negative Hälfte verkörpert, ist er immer noch der Moralischere von uns beiden. Er war es eigentlich schon immer gewesen, im Gegensatz zu mir. Im Grunde ist er schon bewundernswert wenn man bedenkt, wie lange er bereits in dieser Welt lebt und damit klar kommt, dass alles vergeht, nur er nicht.“

„Er weiß eben um seine Aufgabe, Liebes. Wenn es Vergängliches in dieser Welt gibt, dann gibt es auch Unvergängliches. Er ist ein Teil des Ganzen, so wie du. Und er hat auch einen ganz anderen Bezug zu den Menschen als du. Eigentlich hat er viel mit Anja gemeinsam gehabt, was aber auch daran liegt, weil Anja aus der Finsternis geboren wurde, die du von deinem Bruder angenommen hast. Du hast eine viel zu emotionale Bindung zu den Menschen und das ist deine Schwäche, Liebes. Und solange du sie hast, wirst du immer mit einem gebrochenen Herzen enden. Wir Unvergänglichen müssen nun mal damit leben, dass wir nicht in das Leben der Menschen hineinpassen. Wir werden immer anders sein und nicht unter ihnen leben können, ohne sie zu täuschen. Dies ist nun mal der Preis, den wir dafür zahlen müssen. Mag ja sein, dass du das nicht willst und du damit unzufrieden bist, aber was willst du denn dagegen tun? Es gibt nun mal Dinge, die sich nicht ändern lassen. Du bist in diese Welt zurückgekommen, um sowohl Engelchen, als auch deinem Bruder zu helfen. Also mach das Beste aus seiner Situation und übe dich einfach noch ein wenig in Geduld. Liam befindet sich gerade in einer schwierigen Phase und braucht einfach etwas Zeit. Und solange bin ich ja da, wenn irgendetwas sein sollte.“

„Warum tust du das, Delta? Ich dachte, du würdest mich auch hassen.“ Delta fuhr sich mit seinen grazilen Fingern durchs Haar und lächelte. „Ich hasse dich doch nicht, Liebes. Dafür bin ich nicht der Typ. Ich denke einfach, dass du viele Sachen falsch angehst und ich denke auch, dass du für Liam hättest da sein sollen, als Nikolaj gestorben ist. Nun gut, du hast deine Familie verloren und das ist sehr tragisch. Aber du hättest mit Liam das Gespräch suchen sollen, anstatt einfach zu verschwinden. Und dass du Frederica, Nastasja Kasakowa, Henry Lawliet, die Kinder vom Norington Waisenhaus und noch unzählige andere Menschenleben geopfert hast, nur damit du deine Familie wieder zusammenbringen kannst, das ist es, was ich beim besten Willen nicht verstehen kann. Und das ist es auch, was Liam dir nicht verzeihen will. Zwar ist er auch kein Unschuldsengel, aber er hasst es, unnötig Leben zu opfern und dann auch noch für solche „Kleinigkeiten“. Weißt du, er und Frederica waren enge Freunde gewesen und wir hatten sie lange Zeit bei uns aufgenommen, während sie gewartet hat. Und Fakt ist nun mal, dass Frederica nur zu dem Zweck von dir erschaffen wurde, damit sie deinen Willen erfüllt. Und dabei war dir vollkommen egal gewesen, was aus ihr wird und du hast keinen Gedanken daran verschwendet, dass Frederica nicht bloß ein Werkzeug war, sondern auch ein eigenständig denkendes und fühlendes Wesen so wie Marcel, Johnny und ich. Sie hatte auch Gefühle und außerdem hatte sie Freunde und Familie. Das alles hat sie aufgegeben, nur um deinen Willen zu erfüllen und ich denke, darin liegt das Kernproblem bei eurem Geschwisterstreit: du stellst deine Bedürfnisse über andere und siehst nur dein Elend. Und dabei denkst du nicht für eine Sekunde nach, wie es anderen vielleicht dabei geht. Das ist es, womit Liam nicht klar kommt und was er dir auch nicht so schnell vergeben kann. Ich denke…“ Delta wollte weiterreden, doch da klingelte plötzlich sein Handy. Er sah schon auf dem Display, dass es Johnny war und ging sofort ran. „Was gibt’s, Darling? Schon etwas Neues von Engelchen?“

„Yo Delta! Ich hab tatsächlich Neuigkeiten. Als ich mich nämlich ein wenig im Viertel umgesehen habe, da hab ich erfahren, dass wieder mal eine illegale Auktion stattfinden soll.“

„Organhandel?“

„Nee. Denke ich eher nicht. Aber ich habe gehört, dass da wohl jemand versteigert wurde, der hellblondes Haar und eisblaue Augen hatte. Und so wie angegeben wurde, soll der Versteigerte Jeremiel heißen.“ Delta sprang sofort auf als er das hörte und warf Eva einen kurzen Blick zu, dann verließ er schnell den Raum, um sich sofort auf den Weg zu machen. „Und wo ist er?“ „Im Paradise Hotel. Soll wohl ein stinkreicher Geschäftsmann sein, der ihn gekauft hat. Ich bin noch dabei, den Namen rauszufinden und bin bereits auf den Weg dorthin. Wenn du dich beeilst, dann können wir uns den Kerl gemeinsam vorknöpfen. Ansonsten musst du dich hinten anstellen.“

„Ist gut, ich gebe eben Liam Bescheid und dann bin ich sofort da!“ Das Paradise Hotel. Das traf sich ja gut. Das lag nicht sonderlich weit von hier entfernt und war schnell zu erreichen. Na hoffentlich schafften sie es auch rechtzeitig, bevor es zu spät war. Denn es war nicht schwer abzusehen, was Liam dann tun würde. Mit großer Sicherheit würde da noch sehr viel Blut fließen. So viel stand fest.

Befreiung in letzter Sekunde

So heiß… mir… mir ist so heiß… und mein Herz schlägt wie verrückt. Was… was ist mit mir? Jeremiel öffnete die Augen, erkannte allerdings nur verschwommene Silhouetten und spürte ein merkwürdiges Gefühl in seinem Körper. Irgendeine seltsame Hitze und ein komisches Kribbeln erfüllten ihn und ihm war schwindelig. Er hörte Stimmen und setzte sich auf. Soweit er irgendwie erkennen konnte, lag er in einem Bett und zuerst dachte er, er hätte vielleicht nur geträumt und wäre noch bei Liam, aber das Zimmer sah irgendwie danach aus, als befände er sich in einem Hotel. Nach der Einrichtung zu urteilen musste es sich um ein teures Hotel handeln. Wie war er nur hergekommen und was war passiert? Er versuchte sich irgendwie zu erinnern und dann fiel ihm wieder ein, dass er diesen Norman Hayes getroffen hatte. Ja richtig! Sie beide waren zusammen in die Bar gegangen und dann hatten sie zusammen Drinks getrunken. Norman hatte mir irgendetwas in den Drink gemischt und dann bin ich umgekippt. Dann hat er mich zu einem Wagen gebracht und hat mit jemandem wegen Geld gesprochen. Ja… sie wollten mich verkaufen. Bin ich vielleicht noch rechtzeitig aufgewacht? Als er aufstehen wollte, da merkte er, dass er kaum Kraft in seinem Körper hatte und seine Arme und Beine gaben augenblicklich nach. Und zugleich erfüllte ihn wieder dieses seltsame Gefühl in seinem Körper. Sein Atem wurde zu einem Keuchen und als er den Kopf hob, da sah er, wie die Tür geöffnet wurde und Norman in Begleitung eines Mannes hereinkam, der ein Jackett trug und den Eindruck eines zwielichtigen Geschäftsmannes machte. „So“, meinte der Geschäftsmann und lächelte herablassend. „Das ist also der Goldjunge, um den sich bei der Auktion so gestritten wurde. Er sieht wirklich interessant aus, hat ein hübsches Gesicht. Seine Augen gefallen mir. Aber die Frage ist, ob er auch den Preis wirklich wert ist. Bevor ich nämlich das Geld rausrücke, will ich doch wenigstens sicherstellen, dass ich auch gut investiert habe. Immerhin will ich ja nicht nur eine Nacht mit ihm Spaß haben und gute Ware kriegt man nur schwer.“

„Keine Sorge, Sie kriegen schon was für Ihr Geld. Und dank der Drogen wird der Kerl auch kaum imstande sein, sich zu wehren.“ Damit ging Norman zu Jeremiel hin und griff ihm zwischen die Beine. In diesem Moment merkte der 25-jährige, wie überempfindlich er war und ein unbeschreibliches Gefühl überkam ihn, dass er nicht mehr imstande war, klar zu denken. Er stöhnte laut auf und spürte dieses elektrisierende Kribbeln im ganzen Körper. Was passierte da nur mit ihm und was hatten diese Männer mit ihm vor? Wieso… wieso tat Norman das? Sein Herz raste wie verrückt, ihm war unbeschreiblich heiß zumute und er spürte, dass er erregt war. Als Norman schließlich sein T-Shirt hochschob und damit auch den Verband freilegte, da sagte der Mann im Jackett etwas unwirsch „Hey, du hast mir versprochen, dass ich erste Qualität kriege! Was will ich denn mit dem, wenn er verletzt ist? Dafür ziehe ich zehn Prozent vom vereinbarten Preis ab!“ „Keine Sorge, dem fehlt schon nichts. Sie werden schon sehen, dass man viel Spaß mit ihm haben kann.“ Und damit begann Norman, dem wehrlosen Jeremiel die Hose zu öffnen, woraufhin diesem ein Schauer über den Rücken fuhr und sofort versuchte er, ihn wegzudrücken. „Nein, lasst mich… ich… hört auf!“ Doch als er sich zur Wehr setzte, kam noch ein zweiter Mann hinzu, der ihm die Hände aufs Bett drückte und sie dann ans Kopfende des Bettes fesselte. „Meine Güte, der dürfte sich doch eigentlich kaum wehren können. Aber Sie sehen schon Mr. Fincher, dass er nicht allzu schlimm verletzt ist. Also dann, wollen wir anfangen?“ Nein… hört auf! Ich… ich will das nicht. Jeremiel versuchte Norman irgendwie wegzutreten, doch es brachte rein gar nichts. Er hatte einfach nicht die nötige Energie und ehe er sich versah, war er auch schon gewaltsam entkleidet worden. Insgeheim wusste er, was gleich folgen würde, aber er verstand nicht, warum ausgerechnet ihm das passierte. Das machte doch keinen Sinn. Sie waren doch Männer! Das war… das war doch falsch! „Hört auf, ich will das nicht! Geht weg von mir!“ Doch alles Protestieren war zwecklos. Er schaffte es nicht, Norman abzuwehren und dieser begann sein bestes Stück mit der Zunge zu bearbeiten. Für Jeremiel war das alles völlig fremd und er war völlig überfordert mit der Situation. Diese intensiven Gefühle waren einfach zu viel für ihn und zudem wurde er von Emotionen überwältigt, die unerträglich waren und sein Herz fast zum Explodieren brachten. Er wollte nur noch raus hier und sich schnellstmöglich befreien… er hatte Angst. Obwohl er keine Ahnung von Emotionen hatte, so wusste er in diesem Augenblick hundertprozentig, dass er Angst hatte. Angst vor dem, was diese Männer mit ihm vorhatten. Es gelang ihm irgendwie trotz seiner mangelnden Kraft durch die Drogen, Norman wegzutreten und wurde sogleich grob an den Haaren gepackt. Mr. Fincher grinste herablassend und sah mit Genugtuung, dass Jeremiel kaum in der Lage war, sich gegen seine Erregung zu wehren. „Ein wirklich süßes Gesicht. Aber noch ein klein wenig widerspenstig. Erinnert mich an mein letztes Schmuckstück der Auktion, das ich ersteigert habe. Nur dummerweise hat er mir zu laut geschrieen. Also hab ich ihm einfach die Stimmbänder entfernt und ihm die Achillessehnen durchtrennen lassen, damit er nirgendwo mehr hinlaufen kann. Und die Augen habe ich ihm gleich auch mitentfernen lassen. Aber ich denke, dass ich dir deine drin lassen werde. Die Augen und die blonden Haare sind eindeutig das Schönste an dir. Aber ich denke, die Stimmbänder werde ich dir trotzdem operativ entfernen lassen.“ Jeremiel sah ihn angsterfüllt an und hätte ihn eigentlich auch am liebsten von sich gestoßen, aber da spürte er, wie sich etwas in sein Innerstes bahnte, als Norman gleich zwei Finger einführte. Laut stöhnte er auf und war nicht imstande, auch nur ein Wort zu sagen. Sein Körper spielte vollkommen verrückt und er verlor den letzten Rest seiner kläglichen Widerstandskraft. Tränen sammelten sich in seinen Augen und sogleich packte Mr. Fincher ihm grob am Kiefer und musterte ihn. „Wenn du auch noch gut im Blasen bist, dann könnte ich mir echt vorstellen, dass du noch ein richtig gutes Spielzeug werden kannst. Ich könnte ihn vielleicht sogar mal an ein paar Geschäftspartner vermieten. Ich wette, die würden einiges dafür springen lassen.“

„Das mit Sicherheit“, versicherte Norman, der offensichtlich selbst seinen Spaß bei der Sache zu haben schien. „Ich sagte doch, dass ich nur 1A-Qualität verkaufe.“ Nein, ich will nicht… ich will hier raus… Bitte hört auf! Liam… hilf mir… „NEHM EURE HÄNDE WEG!!!“ schrie er und sogleich fing er sich noch einen Schlag ein, der ihm fast das Bewusstsein raubte. Mr. Fincher rieb sich die Handflächen und schüttelte den Kopf. „Also Energie hat er auf jeden Fall. Aber er ist mir eindeutig zu laut.“ Und so wurde Jeremiel auf den Bauch gedreht, damit er sich nicht mehr ganz so stark zur Wehr setzen konnte. Aber sogleich bemerkte Mr. Fincher „Hey… was zum Teufel ist das?“ Und damit schob er Jeremiels Haare am Hinterkopf ein wenig weg und bemerkte „Ist das… eine Tätowierung?“ Auch Norman sah sich das an, schüttelte aber den Kopf und meinte nur „Das ist sicherlich nur ein Muttermal.“ „Nein. Das… das ist eine Tätowierung. Und das sieht mir stark nach einem Code aus. Oder… einer Seriennummer. Norman, was zum Teufel hast du mir da angeschleppt? Wo hast du den denn her?“

„Na aus der Bar. Er hatte keine Erinnerungen und so hab ich ihn ins Gespräch verwickelt und ihm dann das Schlafmittel verabreicht. Ich weiß nichts von einem Code!“

„Verarsch mich nicht! Mit dem Kerl stimmt doch was nicht.“ Was reden die denn da? Was ist denn jetzt los und von welchem Code sprechen die? Jeremiels Kopf wurde gewaltsam aufs Bett gedrückt und sogleich hörte er, wie Mr. Fincher den Reißverschluss seiner Hose öffnete. „Na wie dem auch sei. Die Haare verdecken das ja zum Glück und es kann mir auch egal sein, woher er kommt. Solange kein Schwein nach ihm sucht, habe ich ja nichts zu befürchten. So, dann wollen wir mal testen, wie gut er denn so im Bett ist. Norman, schieb ihm einen Knebel in den Mund, damit ich mir sein Geschreie nicht anhören muss.“ „Nein… hört auf! Hört sofort auf da…“ Jeremiel schaffte es nicht, zu Ende zu sprechen, da wurde ihm ein Tuch in den Mund gestopft, sodass er kein Wort mehr hervorbrachte. Gerade schon als er glaubte, dass jetzt alles zu spät war und gleich das folgen würde, was er befürchtete, da hörten sie von draußen Schreie und im nächsten Moment wurde die Tür aufgestoßen, dass sie fast aus den Angeln fiel. Johnny stand im Türrahmen und grinste breit. „Hier ist Johnny, Motherfuckers!“ Sofort löste sich Mr. Fincher von seinem Gefangenen und wandte sich Johnny zu und Norman zog eine Pistole. Doch Johnny blieb die Ruhe selbst und funkelte Mr. Fincher mit einem diabolischen Blick an. „Gerald Fincher… ich dachte, mein Boss hätte dir mehr als deutlich gesagt, dass du endlich aufhören sollt, ihm ans Bein zu pissen. Stattdessen machst du dich über jemanden her, der unter seinem persönlichen Schutz steht.“ Der Anzugträger erbleichte, als er das hörte und wich vor Johnny zurück, als hätte er Angst vor ihm. Nur Norman verstand rein gar nichts und fragte „Wer ist der Bengel?“ „Mein Name ist Johnny, Arschloch. Ich bin der Kurier von Mr. Adams. Er schickt mich, um das zurückzuholen, was ihm gehört.“ Weitere Schritte ertönten und sogleich tauchte Delta auf, welcher völlig außer Atem war und wohl den ganzen Weg hierher gerannt war. Sogleich sah er Jeremiel auf dem Bett und sah entsetzt aus. „Engelchen“, rief er und wollte zu ihm, doch da griff der Komplize von Norman ihn an und wollte ihn mit einem Messer attackieren, doch der Kimonoträger reagierte blitzschnell. Er fing den Angriff ab, drehte ihm das Messer aus der Hand und ehe sich der Kerl versah, hatte Delta ihm im Polizeigriff und drückte ihm das Messer gegen die Halsschlagader. „Vorsicht!“ warnte er ihn und sein Blick nahm etwas Mörderisches an. „Kleine Fische wie ihr solltet wissen, wo euer Platz ist und mit wem ihr euch besser nicht anlegen solltet. Ich kenne 75 Arten, einen Menschen ohne Waffen zu töten und glaub mir: ich habe mehr von euch kleinen widerwärtigen Maden getötet als du dir je vorstellen könntest.“ Nun wandte sich Johnny den anderen zu und zeigte immer noch nicht die geringste Angst vor Normans Pistole. Stattdessen grinste er breit und erklärte „Unser Boss bat uns, potentiellen Entführern oder anderweitigen Personen, die eine Bedrohung für Jeremiel darstellen, eine Botschaft mitzuteilen: ihr habt euch mit der falschen Mafia angelegt, Motherfucker.“ Und damit griff Johnny an. Blitzschnell, fast kaum mit den Augen zu verfolgen, zog er mehrere Wurfmesser aus der Innenseite seines Mantels hervor und die Klingen durchbohrten Normans Arm und seine Schulter, woraufhin er die Pistole fallen ließ, ein weiteres Messer traf ihn unter die Gürtellinie. Schreiend vor Schmerz brach er zusammen und sogleich trat Johnny ihm mit aller Kraft auf seine Hand, welche durch die Wucht brach, sodass der am Boden Liegende keine Chance mehr hatte, seine Pistole zu benutzen. Da Delta noch mit dem Komplizen beschäftigt war, wollte Mr. Fincher die Chance nutzen, um abzuhauen, doch da tauchte ein Schatten im Türrahmen auf. Ein großer schwarzer Schatten mit dämonisch roten Augen und einem goldenen Ring in der rechten Iris. Liam… Sofort entwich dem Anzugträger das letzte bisschen seiner Gesichtsfarbe und man sah ihm die Todesangst förmlich an. Entsetzt wich er zurück und schaffte es kaum, auch nur einen Ton hervorzubringen. Schließlich aber stammelte er „Ne-nein bitte… ich… das ist alles nur ein Missverständnis. Ich… ich… ich wusste doch nicht, dass er zu dir gehört.“

Liam sah zu Jeremiel, sein Gesicht verfinsterte sich so sehr, dass man wirklich Angst vor ihm bekommen konnte. Er sagte nichts, ging einfach zu dem 25-jährigen hin, schnitt mit einem Messer die Fesseln durch und nahm ihm den Knebel aus dem Mund. „Delta…“, sagte er nur und legte nun Jeremiel seine Jacke um, dann hob er ihn hoch. „Räum hier auf. Ich will diesen Abschaum nie wieder in meiner Stadt sehen.“

„Nein bitte!“ rief Mr. Fincher und eilte zu ihm, um ihn aufzuhalten, doch da reagierte Delta sofort. Er packte seine Hand, verdrehte sie in einen so unmöglichen Winkel dass sie brach und dann hörte man nur noch etwas zischen. Blitzschnell schoss eine Schlange aus dem Ärmel von Deltas Kimono hervor und öffnete weit ihr Maul, dann biss sie zu und bohrte ihre Fangzähne in den Hals des Anzugträgers. Delta lächelte eiskalt, dann stieß er Mr. Fincher zu Boden und drückte dann seinen Fuß auf dessen Brustkorb. „Eines sollte man sich merken. Die Schlange hat schon im alten Testament die Versuchung verkörpert. Ich bin die Versuchung… die Schlange im Paradies. Und ich ziehe jene, die in meine Fänge geraten, hinab bis in die tiefsten Abgründe der Hölle.“ Das war das Letzte, was Jeremiel noch mitbekam, bevor er mit Liam das Zimmer verließ. Überall auf dem Gang lagen tote oder schwer verletzte Männer. In ihren Körpern steckten dieselben Messer, wie Johnny sie verwendet hatte. Dann hatte er also diese ganzen Männer getötet? Jeremiel war kaum in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Die ganze Welt nahm er nur noch verschwommen wahr und noch immer spürte er dieses merkwürdige Gefühl in seinem Körper. „Was… was passiert mit ihnen?“ Liam antwortete nicht, sondern ging mit ihm hinunter und verließ das Hotel durch eine Hintertür. Nicht weit entfernt parkte eine schwarze Limousine. Sie stiegen ein und sogleich sagte Liam „Fahr uns zurück nach Hause“, dann fuhr der Chauffeur los. Die ganze Zeit über hielt Liam den immer noch unter Drogeneinfluss stehenden Jeremiel im Arm und sagte nichts. Sein Blick war immer noch düster und so wie es aussah, schien er nachzudenken. Schließlich aber fragte er „Wie ist das passiert?“ Jeremiel wandte den Blick von ihm ab und dachte nach. Schließlich antwortete er „Er hat mich angesprochen und mir einen Drink ausgegeben. Und in diesen hat er Schlafmittel getan.“

„Wer?“

„Norman… Norman Hayes. Der Kerl mit der Pistole, den Johnny angegriffen hat.“

„Verstehe… und wie geht es dir?“

„Ich fühl mich irgendwie ganz komisch. Aber sag, woher wusstet ihr, wo ich bin?“

„Johnny hat von der Menschenauktion erfahren und dass du dort versteigert wurdest. Es gibt Mafiagruppen, die sich auf Menschenhandel spezialisieren. Diese entführen Mädchen und junge Männer und versteigern sie dann als Sexsklaven an den Höchstbietenden. Und du bist diesen Leuten ebenfalls zum Opfer gefallen.“ Also dann hatte ich mit meiner Befürchtung doch Recht gehabt, dachte Jeremiel und konnte kaum glauben, in was für eine Gefahr er da eigentlich hineingeraten war. Aber dabei… dabei hatte doch alles so harmlos ausgesehen. „Wieso ich?“ „Weil du vom Aussehen her in ihr Schema passt.“

„Und wieso seid ihr gekommen? Ich meine… wir kennen uns doch kaum.“

„Weil du mir gehörst und ich es nicht gerne sehe, wenn Leute mir wegnehmen, was mir gehört.“ Sie erreichten schließlich das Anwesen und Liam brachte Jeremiel in sein Zimmer, blieb aber dennoch bei ihm, da er ihn wegen der Drogen noch untersuchen wollte, doch als er ihm näher kommen wollte, da zuckte Jeremiel sofort zusammen und seine Wangen begannen zu glühen. Liam ignorierte dies und sah sich stattdessen die Augen an. „Verstehe“, murmelte er schließlich und begann nun mit einer kleinen Taschenlampe die Pupillen zu untersuchen. „Sie haben dir nicht nur Beruhigungsmittel gegeben, sondern auch Aphrodisiaka, um dich gefügiger zu machen. Diese Mischung wird bei solchen Auktionen immer verwendet. Die Wirkung wird leider nicht so schnell nachlassen.“ Liam erhob sich kurz, dann schloss er die Tür und ging zu Jeremiel hin, dann setzte er sich zu ihm ans Bett. „Wie konntest du überhaupt so unvernünftig sein und einfach so abhauen, wenn du dich doch an nichts erinnern kannst? Und dann noch so dumm sein und mit Wildfremden mitgehen, ohne dass du sie kennst. Wie naiv muss man eigentlich sein?“

„Entschuldige“, murmelte Jeremiel und sah ihn wieder mit diesem unbeweglichen Gesichtsausdruck an. „Ich habe mich nicht so gut gefühlt und Norman hatte mir seine Hilfe angeboten.“

„Bei solch zwielichtigen Typen muss man doch misstrauisch werden, verdammt. Wenn du nicht aufpasst, wirst du bald wieder in so eine Situation geraten. Ich verstehe einfach nicht, wie man nur so blind sein kann und das nicht erkennt.“

„Ich habe einfach nichts gemerkt…“ Am liebsten hätte Liam ihm wieder etwas gesagt, aber dann erinnerte er sich an etwas. Jeremiel kannte so etwas nicht. Er hatte vorher nie etwas gefühlt, deshalb war er nicht in der Lage, so etwas wie Misstrauen zu hegen, weil er absolut unerfahren war, was das Soziale anbelangte. Deshalb würde er sich immer wieder in solche Gefahr bringen. Liam schüttelte den Kopf, dann beugte er sich über ihn und funkelte ihn mit seinen blutroten Augen an. „Dir ist wirklich nicht mehr zu helfen.“ Und damit strich er mit seiner Hand über Jeremiels blassen Körper und über diese zarte Haut. Als sie seine Weichteile umschloss, da zuckte der 25-jährige zusammen und ergriff Liams Arm, als wolle er ihn aufhalten. „Wa… was machst du da?“

„Von alleine wird sich dein Problem nicht in Luft auflösen. Also helfe ich dir dabei. Ich bin auch vorsichtig, mach dir also keine Sorgen und überlass das mir.“

„Aber… wir… wir sind beide Männer. Das ist unlogisch! Das ist unnatürlich.“ Liam hielt für eine Sekunde inne, als er das hörte. „Unnatürlich sagst du? Da sagt dein Körper aber etwas anderes. Sex ist Sex, also besteht hierin auch kein sonderliches Problem.“ Doch Jeremiel versuchte noch irgendwie, Liams Hand zurückzuweisen, doch durch die Drogen war er dazu kaum imstande. Und als er wieder dieses intensive und völlig fremde Gefühl verspürte und es auch einfach nicht einzuordnen wusste, da hielt er sich mehr an Liam fest, als dass er versuchte, seine Hand wegzudrücken. Er atmete schwer und zitterte vor Erregung. „Und wenn es unnatürlich wäre, dann würde das hier doch wohl kaum passieren.“ Doch trotzdem erschien ihm das auf irgendeine Art und Weise falsch. Sex zwischen zwei Männern, wie sollte das denn gehen? Und überhaupt, wozu machten die Menschen so etwas überhaupt, wenn nicht zur Fortpflanzung? Einen anderen sinnvollen Zweck hatte es doch sonst nicht, also wieso sollte das hier denn bitteschön natürlich sein? Jeremiel verstand das alles nicht. Er wusste einfach nicht, wie ihm geschah und er konnte auch nicht sagen, wie er sich emotional dabei fühlte. Diese Berührungen jetzt in diesem Augenblick fühlten sich bei weitem nicht so schlimm an wie bei Norman und Mr. Fincher, aber dennoch sträubte sich etwas in ihm. Es wollte ihm einfach nicht in den Kopf, warum Liam das hier gerade mit ihm machte und was das für einen sinnvollen Zweck haben sollte. Es war einfach unlogisch! Die Natur hatte doch wohl nicht umsonst zwei verschiedene Geschlechter vorgesehen, was die Fortpflanzung betraf. Was sollte es denn sonst für einen Grund haben, wieso Menschen sich auf diese Weise mit anderen näher kamen? Genau an diesem Punkt versagte sein logisches Denken und er wusste nicht mehr, was er tun, denken oder fühlen sollte. Er war völlig überfordert mit der Gesamtsituation und war deshalb auch nicht imstande, sich zur Wehr zu setzen. Die Drogen verschlimmerten das alles nur. Liam begann nun seine Brustwarzen zu kneten und mit seiner Zunge zu umspielen. Jeremiel atmete schwer und hatte das Gefühl, als würde er gleich das Bewusstsein verlieren. Ihm war schwindelig und in seinem Inneren herrschte eine unbeschreibliche Hitze, die in seinem Kopf pulsierte. Er wusste, was Liam mit ihm vorhatte: nämlich das Gleiche wie dieser Gerald Fincher. Was soll ich nur tun? Soll ich mich dagegen wehren oder nicht? Warum nur muss das ausgerechnet mir passieren?

Kollateralschaden

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Die grausame Wahrheit

Am nächsten Morgen wachte Jeremiel mit leichten Kopfschmerzen auf, bemerkte, dass er kaum laufen konnte und schleppte sich mehr oder weniger ins Bad. Er hatte immer noch Schmerzen von gestern Abend und war froh, dass Delta ihm wenigstens ein paar Schmerzmittel da gelassen hatte, damit es ihm ein klein wenig besser ging. Schließlich, als er auf den Flur hinausging, kam Johnny mit einem Vorschlaghammer vorbei und pfiff munter „Twisted Nerve“ aus dem Kill Bill Film. Er schien ziemlich guter Laune zu sein und blieb kurz stehen, als er Jeremiel sah. „Yo Jerry, altes Haus. Alles noch dran bei dir?“ „Es geht. Aber sag, was hast du mit dem Vorschlaghammer vor?“

„Liam bat mich, dass ich mich um ein paar Ratten kümmere. Wenn er etwas mehr hasst als seine Schwester, dann ist es Ungeziefer das meint, es könne ihm an der Nase herumtanzen. Wenn du Delta suchst, der kommt erst heute Nachmittag zurück, da er noch ein paar Angelegenheiten in einigen Nachtklubs regeln muss. Marcel ist auch gerade beschäftigt und Liam müsste sich gerade irgendwo im Haus herumtreiben, genauso wie Eva. Hör mal, ich komm nachher mal bei dir vorbeischauen, wenn ich mich um die Ratten gekümmert habe.“ Damit verabschiedete sich Johnny und Jeremiel sah ihm ein wenig verwirrt hinterher. Wozu brauchte Johnny einen Vorschlaghammer für die Ungezieferbeseitigung? Oder war das etwa vielleicht so etwas wie Mafiajargon? Nun, es war vielleicht besser, nicht allzu viel darüber nachzudenken. Jeremiel beschäftigte ohnehin etwas völlig anderes. Er wollte zu Liam und mit ihm über die gestrige Nacht sprechen und vor allem, warum das passiert war. Und vor allem beschäftigten ihn diese Worte, die Liam auf Russisch zu ihm gesagt hatte. Er hatte sich diese Worte durch den Kopf gehen lassen und verstand auch, was sie bedeuteten, aber er konnte sie nicht mit Liams Handlung in einen sinnvollen Zusammenhang bringen. Und da er wusste, dass er mit Gefühlen sowieso überfordert war, musste er mit Liam sprechen. Er wollte ihn verstehen und vor allem auch sich selbst verstehen. Irgendwie hatte er einfach nicht aufhören können an ihn zu denken und das verstand er nicht. Er hätte allen Grund, wütend auf ihn zu sein und ihn dafür zu hassen, was er getan hatte. Aber seltsamerweise tat er das nicht. Stattdessen hatte Liam ihm Leid getan. Er fühlte sich schlecht, ihn so unglücklich zu sehen und er wollte verstehen, wieso er sich Sorgen um ihn machte. Als Jeremiel die Treppe hinunter ins Erdgeschoss ging, da spürte er, wie ihm schlecht wurde. Sein Magen verkrampfte sich schmerzhaft und er blieb stehen. „Hey, alles in Ordnung?“ Das Geräusch von Absätzen war zu hören und er sah, dass es Eva war. Sie sah ihn mit ihren strahlenden eisblauen Augen an und ihr hellblondes Haar war fast vollständig weiß geworden. Sie strahlte eine fremdartige Schönheit aus und hatte etwas ähnlich Charismatisches an sich wie Liam. Das war also seine Schwester, auf die er so schlecht zu sprechen war? „Irgendwie ist mir gerade nicht gut.“ „Sicher hast du Hunger. Na komm.“ Er folgte ihr und zusammen betraten sie einen großen Raum, welcher sehr große Fenster besaß und von wo man aus direkt in den Garten gelangte. Sie setzten sich an einen gedeckten Tisch und Eva goss sich einen Kaffee ein. Nach einigem Zögern griff Jeremiel zu und nahm sich wahllos irgendwas und probierte es. Dabei gab er jedes Mal, wenn er etwas Neues entdeckte, einen kurzen und erstaunten Kommentar wie „süß“ oder „salzig“ von sich. Eva bot ihm schließlich einen Tee an, den er dankend annahm, obwohl er offenbar nicht wirklich wusste, was ihn damit erwartete. Und sogleich, als er die Tasse anfassen wollte, zog er mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hand zurück und bemerkte „Das ist ja heiß!“ „Manche Getränke werden heiß getrunken. Und dazu zählen auch Kaffee und Tee. Du musst aufpassen, sonst verbrennst du dir die Finger.“

„Verstehe…“ Jeremiel ließ nun etwas mehr Vorsicht walten und trank schließlich seinen Tee. Eva betrachtete ihn eine Weile und Jeremiel bemerkte, dass auch sie diesen goldenen Ring in der Iris hatte, allerdings auf der linken Seite. Nach einer Weile fragte sie „Wie geht es dir eigentlich? Findest du dich gut zurecht oder hast du irgendwo Schwierigkeiten?“

„Das alles ist ziemlich neu für mich und ich fühl mich teilweise ziemlich überfordert. Ich erinnere mich an nichts und da ist so vieles, was für mich vollkommen neu ist. Dinge wie Gefühle sind absolut fremd für mich, genauso wie Schmerzempfinden. Selbst Hitze und Kälte oder Geschmack erscheinen mir so neu, als hätte ich das nie wirklich erlebt. Und… dann ist da letzte Nacht so einiges passiert, was ich nicht verstehe.“ Eva wartete, wohl in der Annahme, dass Jeremiel es von selbst erzählen würde. Als er aber nichts sagte, fragte sie „Was ist denn gestern passiert?“ „Liam und ich hatten Geschlechtsverkehr.“ Nun ließ Eva ihre Tasse sinken und sah ihn mit einem Blick an, den er natürlich nicht deuten konnte, aber da sich ihre Augen weiteten, schien sie wohl entweder entsetzt, erstaunt oder erfreut zu sein. Nun… was traf wohl zu? Er wusste es beim besten Willen nicht. „Wie bitte was?“ fragte sie und anhand ihres Tonfalls schloss Jeremiel, dass sie entweder entsetzt oder erstaunt war. Er nickte und erklärte „Ja. Er… er hat mich überwältigt und ich war nicht imstande, mich dagegen zu wehren, als es passierte. Ich dachte, er würde es tun, weil er wütend auf mich ist oder weil er mich hasst. Dann hatte er diesen komischen Blick und ist dann gegangen.“

„Er hat dich gezwungen?“

„In gewisser Weise schon. Es tat auch ziemlich weh und dann hat sich Delta um mich gekümmert. Aber… es ist nicht so, dass ich wütend auf Liam wäre, weil er das getan hat. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, wenn man wütend ist, aber wenn ich es wäre, dann hätte ich wahrscheinlich irgendwie heftiger reagiert. Delta meinte, ich würde mir Sorgen um Liam machen. Aber was heißt das? Kannst du mir das erklären?“

„Nun, Sorgen macht man sich, wenn jemand anderes entweder in Gefahr ist, wenn er Probleme hat oder wenn es ihm nicht gut geht und man diesen Menschen mag. Man fragt sich, wie es ihm geht und überlegt sich, wie man ihm helfen kann. Man macht sich nur um Menschen Sorgen, wenn man sich ihnen verbunden fühlt.“ Ich fühle mich also Liam verbunden? Aber warum? Ich kenne ihn eigentlich gar nicht und weiß so gut wie gar nichts über ihn. Nur dass er ein Mafiaboss ist und er und ich alte Bekannte sind. Das ist es aber auch schon. Also wie kann es sein, dass ich mir Sorgen um ihn mache? Irgendwie schien das alles immer komplizierter zu werden und Jeremiel verstand rein gar nichts mehr. Nachdem er sich gestärkt und seinen Tee ausgetrunken hatte, stellte er eine etwas merkwürdige Frage an Eva. „Gibt es hier vielleicht Bücher über Psychologie, menschlicher Verhaltensforschung und Beziehungsratgeber?“

„Natürlich. Aber wozu brauchst du die?“

„Alleine komme ich nicht weiter und bin nicht in der Lage zu erkennen, wie ich mich gerade fühle. Also muss ich mich irgendwie anders behelfen.“ Eva nickte und stand auf. „Okay, dann werde ich dir helfen, ein paar geeignete Bücher für dich zu finden. Wenn du meinst, dass das dir am besten hilft, dann werde ich schon etwas Geeignetes finden.“ Damit ging sie mit Jeremiel in die Bibliothek und begann die Regale zu durchstöbern. Dabei fragte der 25-jährige auch gleich „Warum sind du und Liam so zerstritten?“ Hier senkte die fremdartige Schönheit den Blick und wirkte wieder so unglücklich und traurig. Irgendetwas musste ihr schwer auf der Seele lasten, das sah selbst Jeremiel. Nach einer Weile erklärte sie „Liam und ich waren schon immer vollkommen verschieden gewesen. Er hatte schon immer feste Grundsätze gehabt und wollte nach den Regeln der Menschen spielen. Ich war da schon immer ganz anders gewesen. Ich habe die Menschen schon immer geliebt, aber… Liam meinte dass ich sie zu sehr liebe. Und das ist mein Problem. Denn Liebe kann auch Verzweiflung bedeuten. Wenn man jemanden verliert, den man liebt, gibt es nichts Schlimmeres. Der Schmerz ist unerträglich und es gibt nichts, was dagegen hilft. Deshalb dachte ich mir: wenn alle irgendwann sterben und ich dann ganz alleine bin, warum kann ich nicht einfach dafür sorgen, dass es keinen Tod mehr auf der Welt gibt? Wenn alles Leben auf der Welt ewig währen würde, dann müsste ich keine Angst mehr haben, dass jemand sterben könnte, den ich liebe. Damit war Liam noch nie einverstanden gewesen und wir hatten uns ziemlich heftig gestritten. Schließlich fanden wir beide einen Kompromiss und so konnten wir unsere Fehde beilegen. Aber dann hat er jemanden getroffen, den er sehr geliebt hat. Dieser jemand war sein ein und alles und er hätte wirklich alles für diese Person hergegeben, selbst sein Herz. Doch diese Person ist gestorben, obwohl ich zu dem Zeitpunkt verantwortlich für sie war. Das hat er mir nie verzeihen können.“

„Liam hätte sein „Herz“ für diese Person gegeben?“ fragte Jeremiel und verstand nicht wirklich, was das für einen Sinn haben sollte. Denn mit Herz verband er so einiges, aber nicht wirklich das, was Eva damit meinte. Diese verstand schon, was ihn verwirrte und erklärte „Wenn man von einem Herzen spricht, dann meint man nicht das anatomische Herz damit. Die Menschen glauben, dass im Herzen die Gefühle sitzen, weil ihnen die Brust wehtut, wenn sie traurig sind oder weil es schneller zu schlagen anfängt, wenn sie sich freuen oder aufgeregt sind. Da das Gehirn der denkende Part ist, assoziieren sie mit dem Herzen sämtliche Gefühle. Wenn also jemand davon spricht, dass er zum Beispiel ein großes Herz hat, dann meint man nicht damit, dass das anatomische Herz groß ist. Es bedeutet, dass er sehr viele positive Gefühle in sich trägt, die er mit anderen Menschen teilt.“ Schließlich hatte Eva ein paar Bücher gefunden, zog sie aus den Regalen heraus und reichte sie Jeremiel. Und schließlich drückte sie ihm nicht bloß einen Beziehungsratgeber oder eine Lektüre über Psychologie in die Hand, sondern ein Drama, das den Titel „Romeo und Julia“ trug. „Ich finde es wirklich bewundernswert, dass du dich so bemühst, deine Gefühle zu verstehen und auch keinen Groll gegen meinen Bruder hegst, nach dem, was er dir angetan hat.“

„Ich weiß eben einfach nicht, wann man Hass oder Wut empfindet und wie sich das anfühlt. Vielleicht hasse ich ihn ja und erkenne es ganz einfach nicht.“

„Nein, du hasst ihn ganz sicher nicht. Das kann ich dir schon mal sagen. Wenn du ihn nämlich hassen würdest, dann würdest du dir keine Sorgen um ihn machen und auch nicht versuchen, ihn zu verstehen. Stattdessen würdest du schlecht über ihn sprechen und dir wünschen, dass ihm etwas Schlimmes passiert. Und auch du willst ihm dann am liebsten wehtun.“ Dann hasse ich ihn also schon mal nicht, dachte Jeremiel und ließ sich das alles durch den Kopf gehen. Es war wirklich sehr hilfreich, mit Eva darüber zu sprechen. Sie schien das alles sehr gut erklären zu können und sie antwortete auf seine Fragen auch genau so, dass er es verstehen konnte. So konnte er einiges zumindest besser verstehen, aber da war noch eine Frage, die ihn beschäftigte. Er musste nämlich an seine Begegnung mit Andrew Asylum denken, der ihn „Sam“ genannt und gesagt hatte, er sei ein Mörder. „Eva, wer bin ich eigentlich? Ich meine, ich weiß rein gar nichts über mich und ich bin jemandem begegnet, der mich kennt und sagte, ich sei ein Mörder. Bin ich wirklich einer gewesen und wieso bin ich angeschossen worden? Liam gibt mir darauf ebenso wenig eine Antwort wie Delta und Johnny. Kannst du mir nicht helfen?“ Hier sah Eva ihn mit einem etwas ängstlichen Blick an und zögerte. „Bist du sicher, dass du das hören willst? Glaub mir, es ist keine schöne Geschichte.“

„Ich will es wissen. Dann kann ich wenigstens verstehen, wieso Andrew so heftig reagiert hat, als ich ihn angesprochen habe.“ Sie setzten sich schließlich an einen Tisch, wo Jeremiel auch seine ganzen Bücher abstellte. Eva beantwortete seine Frage nicht sofort, sondern ließ sich noch etwas Zeit, wohl um die richtigen Worte zurechtzulegen. Dann aber begann sie, seine Geschichte zu erzählen.
 

Jeremiel erfuhr, dass er als Embryo aus der Gebärmutter seiner Mutter herausgeschnitten und zu genetischen Experimenten benutzt wurde. Wie seine DNA mit der von Eva gekreuzt wurde und er daraufhin ein verändertes Aussehen sowie einige Hirnschäden entwickelte, die es ihm unmöglich machten, Gefühle oder Schmerz zu empfinden, geschweige denn überhaupt die Welt so wahrzunehmen wie jeder andere Mensch. Wie er, getrieben von seinem Wunsch nach einem Herzen, zu einem namenlosen Killer wurde, der versuchte, die Menschen zu verstehen. Auch erzählte sie ihm, wie sie Kontakt zu ihm aufgenommen und ihm ihre Hilfe angeboten hatte, wenn er ihr dafür half, ihre Familie zusammenzubringen und wie er dabei niedergeschossen worden war. Während der ganzen Zeit, wo Eva sprach, sagte er nichts. Sein Gesicht blieb unbewegt und es ließ sich nur schwer sagen, wie es ihm gerade ging. Doch es war deutlich zu erkennen, dass er immer blasser wurde und sich Fassungslosigkeit in seinen Augen abzeichnete. „Ich bin also wirklich ein Mörder?“ „Nein“, erklärte Eva und nahm seine Hand. „Du und Sam Leens, ihr seid vollkommen verschiedene Persönlichkeiten. Deshalb hast du auch keine persönlichen Erinnerungen: weil du und er nichts gemeinsam habt. Es mag wohl sein, dass du noch ein paar Gewohnheiten von ihm beibehalten hast, aber du bist nicht wie er. Und du hast Beyond, dem Freund deines Bruders geholfen, als er selbst ohne Erinnerungen aufgewacht ist. Du hast sein Leben gerettet und es ihm ermöglicht, mit L wieder glücklich zu werden.“

„Ja. Nachdem ich ihn fast umgebracht und ihm so wehgetan habe. Ich habe Andrew seine Familie und sein Zuhause genommen und… ich habe so viele Menschen getötet.“

„So etwas darfst du nicht denken, Jeremiel. Das warst nicht du und bevor dein wahres Ich erwacht ist, hat da ein völlig anderer Mensch in deinem Körper gewohnt. Du kannst rein gar nichts dafür. Die Schuld liegt einzig und allein bei mir, weil ich das alles zugelassen habe.“

„Wer oder was bin ich überhaupt?“ Eva seufzte und faltete die Hände wie zum Gebet. Sie schien mit jeder Minute immer unglücklicher zu werden und gleich in Tränen auszubrechen. „Du bist ein Wiedergeborener meiner Familie. Weißt du, Liam und ich sind Unvergängliche. Unser Bewusstsein bleibt ewig bestehen und selbst wenn wir sterben, verlieren wir unsere Erinnerungen nicht. Als Unvergängliche sind wir in der Lage, Leben zu erschaffen und es zu nehmen. Und wir können uns in menschliche Körper einnisten und uns diese zu eigen machen wie Parasiten. Dieser Körper hat vorher einer Verstorbenen gehört, genauso wie Liams Körper vorher jemand anderem gehört hat. Delta, Johnny und Marcel sind Schöpfungen von Liam. Sie wurden aus Fragmenten seines Bewusstseins geboren und sind damit unvergänglich. Da wir den Körper unseres Wirts nach unseren Vorstellungen verändern können, sind wir auch in der Lage, uns unsere Jugend zu erhalten und damit auch den Alterungsprozess zu stoppen. Wir sind dazu verdammt, für immer zu existieren und alles in dieser Welt sterben zu sehen. Deshalb erschufen wir uns je eine eigene Familie, damit wir wenigstens nicht so alleine waren. Ich erschuf als erstes eine Tochter, der ich den Namen Sophie gab. Mein Mann hieß Jasha und Sophies Freund und Gefährte war Chasov. Als nächstes wurde Anja geboren, der ich als Eltern Maria und Dimitrij gab. Sie alle verkörperten auch Teile von mir. Nämlich meine Furcht und Unsicherheit, mein Wunsch meine Familie zu beschützen, meine Sehnsucht nach einem freien Leben, meine Liebe, mein Zorn und meine Gutmütigkeit. Und schließlich wurdest du aus der Leere geboren und ich gab dir den Namen Nikolaj. Du warst anders und hattest nirgendwo einen Platz in dieser Welt. Deshalb bist du fortgegangen und hast schließlich Liam kennen gelernt. Du bist zu der wichtigsten Person in seinem Leben geworden und hast ihm geholfen, auch sein gutes Herz zu entdecken. Ihr beide seid sehr glücklich gewesen, aber dann ist etwas sehr Schlimmes passiert. Als du zu uns nach Nowgorod gekommen bist und ich im Wald Holz sammeln war, da fielen die Opritschnina über unsere Stadt her und töteten dich und den Rest meiner Familie. Ich kam zu spät um euch zu retten. Ich konnte nichts mehr für euch tun und bin schließlich aus dieser Welt verschwunden, indem ich mein unvergängliches Bewusstsein von meinem Wirtskörper trennte und ihn zurückließ. Du und die anderen seid ohne Erinnerungen als normale Menschen wiedergeboren worden, damit ihr eine Chance habt, ganz normal bei eurer wahren Familie zu leben. Du bist Nikolajs Wiedergeburt und Liam hat dich gerettet, weil du der wichtigste Mensch in seinem Leben bist. Und er wollte dich vor der Wahrheit beschützen.“ Die Wahrheit… Etwa dass er nichts Weiteres als ein im Labor gezüchteter Hybrid war? Oder dass er vor seinem Gedächtnisverlust ein Killer war und so viele Menschen ins Unglück gestürzt hatte? Irgendwie hatte er das Gefühl, als würde so vieles über ihn hereinbrechen und er fühlte sich einfach nur erschöpft, hilflos und in die Ecke gedrängt. „Was… was bin ich eigentlich?“ „Du bist ein Mensch, Jeremiel. Du bist ein wunderbarer Mensch und kannst nichts dafür. Es waren einfach unglückliche Umstände gewesen.“ „Unglückliche Umstände? Ich bin ein Mörder! Ich habe Menschen getötet und Familien zerstört. Ich bin kein Mensch, sondern ein im Labor gezüchtetes Experiment und nicht mehr. Und im Grunde bin ich doch nur von dir erschaffen worden. Was macht mich zu einem Menschen?“

„Du hast ein schlagendes Herz und denkst und fühlst wie ein Mensch.“

„Ich fühle doch gar nicht wie ein Mensch. Sonst würde ich doch in der Lage sein, Emotionen zu verstehen. Ich bin kein Mensch und bin noch nie einer gewesen. Selbst mein Körper ist doch nicht zu hundert Prozent menschlich. Ich bin nichts, rein gar nichts!“ Jeremiel spürte, wie sich seine Brust wieder schmerzhaft zusammenschnürte und er konnte es einfach nicht fassen. Warum nur hatte er das unbedingt wissen wollen? Jetzt musste er für den Rest seiner Tage damit leben, dass er vor seiner Amnesie ein eiskalter Killer gewesen war und nicht einmal richtig menschlich war. Er war ein Experiment… ein Laborprodukt und nicht mehr. Also was berechtigte ihn dann überhaupt dazu, weiterzuleben, wenn er doch kein Mensch in dem Sinne war, sondern ein Fremder? Er war ein Nichts, das im Körper eines Menschen lebte und deshalb wäre es doch das Beste für alle auf der Welt, wenn er einfach nicht mehr existieren würde. Wenn er verschwinden würde, dann könnte er wenigstens nicht mehr anderen Menschen so wehtun und so grausame Dinge tun. Er stand auf und wollte gehen, doch Eva versuchte ihn festzuhalten. „Jeremiel, warte doch. Hör zu, du bist doch nicht wie Sam. Du bist kein Monster und du bist auch kein wertloses Laborexperiment.“

„Aber was bin ich denn sonst? Ich habe Menschen verletzt, sie getötet und ihr Leben zerstört. Wie soll ich da noch einfach so herumlaufen und so tun, als wäre nichts gewesen? Was ich getan habe, ist unverzeihlich. Also lass mich los!“ Er riss sich von ihr los und verließ die Bibliothek. Eva blieb noch stehen und überlegte, was sie tun sollte. Aber dann verließ auch sie die Bibliothek und rannte zu den Privatzimmern ihres Bruders, wo er gerade dabei war, mit Marcel ein paar Unterlagen durchzugehen. Als er seine Schwester sah, verfinsterte sich sein Blick und er fragte mit gereizter Stimme „Was willst du hier?“ „Liam, du musst schnell kommen und helfen. Jeremiel ist völlig durcheinander und braucht dich jetzt.“

„Er braucht mich gewiss nicht. Nachdem, was ich ihm angetan habe, will er sicherlich nichts mehr von mir wissen. Ich will ihn beschützen, deshalb ist es das Beste, wenn ich ihm aus dem Weg gehe. Dann kann ich ihn auch wenigstens vor mir selbst beschützen.“

„Aber wenn du nicht kommst und mit ihm redest, könnte ihm vielleicht noch etwas passieren. Er weiß jetzt, wer er wirklich ist.“ Als Liam das hörte, sah er auf und fuhr hoch wobei er lautstark „Wie bitte?“ fragte. „Er weiß alles? Woher denn? Ich dachte, du hättest ihm seine Erinnerungen genommen.“ Schuldbewusst senkte Eva den Blick und erklärte „Ich habe es ihm gesagt, weil er einfach keine Ruhe gegeben hat.“ „DU HAST WAS???“ Er ging zu ihr hin und packte sie am Kragen. Er sah aus, als wolle er sie am liebsten erwürgen und wahrscheinlich hätte er das auch sogar getan. „Du hast ihm gesagt, was er als Sam Leens getan hat? Nach dem, was er allein schon gestern alles durchmachen musste? Ich könnte dich umbringen, Eva. Anstatt, dass du hilfst, machst du alles nur noch schlimmer. Verschwinde bloß von hier und lass dich hier nie wieder blicken, hörst du? Hau ab und wag es nie wieder, mir auch nur ein einziges Mal unter die Augen zu kommen.“ Damit stieß er sie zu Boden und ging zur Tür. „Du bist echt das Allerletzte.“

Liams Geständnis

Jeremiel hatte sich in eines der Zimmer zurückgezogen und sich in eine Ecke gekauert. Er saß da wie ein kleines verängstigtes Kind, das sich verstecken wollte. Tränen kamen ihm und sein ganzer Körper bebte. Das alles wurde einfach zu viel für ihn und er wusste einfach nicht, was er tun sollte und fühlte sich vollkommen verloren. Wer oder was war er denn überhaupt? Wieso hatte man ihn nicht einfach sterben lassen und warum nur konnte er sich an nichts erinnern? Sein Leben kam ihm wie eine einzige Lüge vor. Wie sollte er damit leben, was er getan hatte? Was sollte er tun und überhaupt: wo sollte er hingehen? Vielleicht war es das Beste, wenn er einfach aus dieser Welt verschwand. Denn damit würde wenigstens ein brutaler Serienkiller sterben. Was berechtigte ihn überhaupt dazu, mit diesen unverzeihlichen Verbrechen weiterzuleben, die da auf seiner Schulter lasteten? Und vor allem: durfte er überhaupt existieren, wenn er doch nur eine Schöpfung Evas war? Jeremiel befand sich in einer furchtbaren Identitätskrise und konnte nicht sagen, wer oder was er war. Er war so durcheinander und aufgewühlt, dass er gar nicht merkte, wie die Tür geöffnet wurde und Liam schließlich vor ihm stand. Wieder sah er ihn mit diesem seltsamen Blick an, der Jeremiel einfach nicht losließ. Schließlich sagte er „steh auf“ und der 25-jährige folgt seiner Anweisung nach einigem Zögern. Immer noch flossen Tränen und er zitterte am ganzen Körper. „Was willst du von mir?“ fragte er, hatte aber Mühe, dass seine Stimme nicht allzu heftig zitterte. Doch Liam sagte nichts, sondern legte seine Hände an die Schläfen des Aufgewühlten und dann berührte er seine Stirn mit der seinen. Ein schmerzhafter Stich durchfuhr Jeremiels Kopf, dann versank die Welt um ihn herum in völlige Dunkelheit. Als er wieder aufwachte, fand er sich an einen Ort wieder, der vollkommen leer war. Es gab hier nichts, weder Finsternis noch Licht, geschweige denn Wärme und Kälte. Er verstand nicht, wo er war und vor allem, was mit ihm passiert war. Dieser Ort kam ihm so fremd vor. Es gab nichts als die unendliche Leere und er fühlte sich überhaupt nicht wohl hier. Hier gab es nicht einmal Geräusche und es war ziemlich beklemmend hier. Irgendwie musste er hier doch rauskommen. Also ging er los und suchte nach irgendetwas, was ihm vielleicht helfen konnte zu verstehen, was hier passierte und wie er von hier wegkommen konnte. „Hallo?“ rief er und lief weiter. „Ist hier jemand? Hey!“ Keine Antwort, es gab nicht einmal ein Echo. Stattdessen hatte er das Gefühl, als würde etwas Unsichtbares den ganzen Schall schlucken. Nicht einmal seine Schritte waren zu hören. Er rannte nun, aber es gab hier rein gar nichts außer der Leere und dem Nichts. Angst überkam ihn und er wollte einfach nur weg hier, da berührte ihn plötzlich jemand an seiner Schulter. Er blieb stehen und er sah, dass es Liam war. „Wie gefällt dir dieser Ort?“ fragte er und sah ihn mit seinen blutroten Augen an, ohne dass erkennbare Emotionen darin zu sehen waren. Jeremiel hingegen war völlig durcheinander und fragte „Wo sind wir hier und was ist mit mir passiert?“ „Ich habe eine Verbindung geschaffen, damit du es selbst sehen kannst. Das hier ist die Welt von Sam Leens. All das, was er in seinem Herzen trug, bevor er starb.“ Wie bitte? Das war seine Welt? Aber das konnte doch nicht möglich sein. Niemandem würde so etwas hier gefallen. „Hier ist gar nichts“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Nichts… nicht einmal hell oder dunkel oder schwarz oder weiß… Keine Farben und kein Leben…“

„Natürlich. Weil Sam Leens auch nichts empfunden hat. Er war die Leere und deshalb gab es auch in seinem Herzen rein gar nichts, was sich hier in seiner Welt hätte widerspiegeln können. Nicht einmal Erinnerungen.“ Jeremiel konnte nicht fassen, dass das hier wirklich das Herz eines Menschen widerspiegelte… sein eigenes Herz. Wie konnte man nur so einen Zustand überhaupt ertragen? Er verstand das einfach nicht. „Ich kann es nicht glauben, dass das hier wirklich zu mir gehört.“

„Das tut es auch nicht. Die Tatsache, dass du nicht verstehen kannst, wie man so nur leben kann, ist genau das, was dich von Sam Leens unterscheidet und dich anders macht als er. Er hat mit dieser Welt gelebt, er war ein Teil von ihr und war nichts Weiteres als eine leere lebende Hülle. Ihm war nichts und niemand wichtig. Er hat nicht gelebt, sondern nur funktioniert. Du lebst und du empfindest Gefühle. Du fühlst Schmerz und Traurigkeit und deshalb bist du nicht er. Und nun werde ich dir meine Welt zeigen.“ Damit wich die Leere und es wurde mit einem Male finster. Ein tiefer Nachthimmel mit schwach leuchtenden Sternen und einem blassgelben Vollmond erschien und um sie herum bildeten sich ebenso schwarze und finstere Gebäude. Es war die Kulisse einer riesigen Stadt inmitten einer tiefen Nacht. „In mir hingegen lebt die Finsternis. Ich lebe in der Dunkelheit und sie lebt in mir. Lange Zeit gab es nichts außer der Dunkelheit, deshalb wurde ich von allen gemieden und gefürchtet.“ Sie gingen die Straßen entlang und Jeremiel sah die unzähligen finsteren Gassen. Wahrscheinlich hätte jeder Mensch Angst bekommen, wenn er hier gewesen wäre. Vor allem, weil sich überall zwielichtige Gestalten herumtrieben. Aber seltsamerweise nicht Jeremiel. Nun gut, er war noch ziemlich durcheinander und diese entsetzliche Leere in der Welt von Sam Leens verfolgte ihn immer noch wie ein schlimmer Alptraum. Doch diese finstere Welt war nicht so schlimm. Irgendwie hatte er das Gefühl, als wäre sie ihm vertraut.

Nach einer Weile erreichten sie eine Art Kathedrale inmitten der Stadt. Sie wirkte vollkommen deplatziert und Liam ging direkt darauf zu. Als er das Tor erreichte, öffnete er es und ging hindurch und was Jeremiel dahinter fand, war gleißendes Licht. Eine seltsame Wärme erfüllte ihn und mit einem Mal vergaß er auch all den Schmerz und die Verzweiflung, die er bis dahin gefühlt hatte. Was war das nur für ein Licht? Seltsamerweise blendete es ihn gar nicht… „Einst gab Eva mir einen Teil ihres Lichts und sie nahm einen Teil meiner Finsternis in sich auf. Somit waren wir imstande im Gleichgewicht zu bleiben. Dieses Licht hier ist das Einzige, was auch wirklich gut an mir ist. Alles andere ist nur tiefe Finsternis. Das ist meine Welt.“ Jeremiel sah sich um und bemerkte, dass im ganz anders wurde. Er fühlte sich so… so leicht und ihm war, als würde mit einem Male all der Schmerz von ihm genommen werden. „Sam Leens wäre nicht in der Lage, den emotionalen Unterschied von Licht und Finsternis zu erkennen. Das Licht wäre ihm genauso fremd und gleichgültig gewesen. Deshalb bist du auch nicht er.“

„Ja aber was bin ich dann? Im Grunde bin ich doch nur eine Schöpfung Evas und mein Körper ist noch nicht mal menschlich. Ich bin kein Mensch, kein Unvergänglicher, ich bin nichts und gehöre nirgendwo dazu!“

„Jetzt hör mir mal gut zu“, sagte Liam und sein Griff um Jeremiels Schulter verstärkte sich. Sein Blick nahm etwas Düsteres an und es sah zunächst danach aus, als wäre er verärgert. „Es sind nicht unsere Fähigkeiten oder die Umstände unserer Geburt, die uns zu dem machen, was wir wirklich sind. Es sind unsere Entscheidungen. Ich habe mich damals entschieden, nach den Regeln der Menschen zu spielen und unter ihnen zu leben, weil ich weder ein Gott, noch ein parasitäres Wesen sein wollte, das nach Lust und Laune mit dem Leben anderer spielen kann. Die Menschen sind ein interessantes Völkchen und auch wenn ich nicht immer die besten Absichten habe, so wäre es sehr bedauerlich, wenn es sie eines Tages nicht mehr gäbe. Aber… du bist anders. Du bist für mich wichtig und ich wollte dich an mich binden, dich sogar zwingen, bei mir zu bleiben. Für mich warst du nie ein Laborexperiment oder ein Mörder wie Sam Leens. Für mich bist du auch nicht bloß ein Mensch wie jeder andere. Mag sein, dass du kein vollwertiger Mensch bist, weil du durch Evas Gene verändert wurdest, aber was sagt das über deinen Charakter aus? Es sind nicht deine Gene oder dein Aussehen, geschweige denn deine Vergangenheit, die auch nur irgendetwas darüber besagen, wer du wirklich bist. Es ist dein Herz. Du willst niemandem wehtun und das beweist, dass du nicht Sam Leens bist. Es beweist, dass du ein gutes Herz hast.“ Ein gutes Herz. Dann hieß das, er war ein guter Mensch? „Es stimmt schon, dass du in deinem letzten Leben eine Schöpfung Evas warst. Aber das bedeutet nicht, dass du weniger wert bist als ein Mensch. Du bist damals gestorben und als normaler Mensch mit einer menschlichen Seele geboren worden. Darum bist du auch kein Monster, keine Marionette oder ein Spielzeug. Ich wollte dir diesen Schmerz ersparen und dich beschützen. Auch davor, dass du das erfährst. Aber stattdessen habe ich dir immer nur wehgetan.“

„Warum tust du das? Siehst du in mir vielleicht Nikolaj?“

„Ich sehe dich, Jeremiel. Es stimmt schon, dass mir Nikolaj sehr viel bedeutet hat. Er hat mir gezeigt, dass ich nicht bösartig bin, nur weil ich die Dunkelheit verkörpere. Durch ihn weiß ich, dass ich auch etwas Gutes in mir trage, solange ich es nicht verwerfe und mich daran erinnere, dass es allein meine Entscheidungen sind, die mich entweder gut oder schlecht machen. Ich habe Nikolaj geliebt, das stimmt. Ich habe ihn verloren und wollte nicht noch einmal diesen Schmerz erleben, indem ich dich auch verliere. Deshalb wollte ich mit aller Macht verhindern, dass du von mir gehst. Ich wollte dich beschützen, aber… anstatt dies zu tun, habe ich dich nur eingesperrt wie ein Tier und dir wehgetan. Und ich will dass du weißt, dass es mir leid tut.“ Bevor Jeremiel etwas darauf erwidern konnte, küsste Liam ihn plötzlich. Es kam so überraschend, dass er gar nicht wusste, wie ihm geschah. Und ehe er sich versah, fand er sich plötzlich im Zimmer wieder. Offenbar waren sie wieder zurückgekehrt. Immer noch lagen Liams Lippen auf den seinen und als sich der Mafiaboss wieder von ihm löste, sah er mit einem Mal so verzweifelt und unglücklich aus. Er wirkte genauso wie Jeremiel gerade, als würde er genau das Gleiche durchmachen. Er schloss ihn fest in seine Arme, doch der 25-jährige erwiderte die Geste nicht. Er wusste einfach nicht, wie er darauf reagieren sollte. „Es tut mir alles so leid“, sagte Liam und Tränen sammelten sich in seinen Augen. „Ich habe dir so schlimme Dinge angetan, obwohl ich dich genau davor beschützen wollte. Ich hatte solche Angst, dich zu verlieren, aber letzten Endes habe ich alles nur noch schlimmer gemacht, weil ich nicht gesehen habe, wie du gelitten hast.“ Damit löste er sich von Jeremiel und wandte sich von ihm ab. „Es war ein Fehler, dich davon abzuhalten, nach deinem Bruder zu suchen. Ich habe die ganze Zeit nur an mich selbst gedacht und war egoistisch. Wenn du gehen willst, dann werde ich dich nicht aufhalten.“ Und damit ging Liam und war schon an der Tür, da rief Jeremiel „Warte!“ Der Unvergängliche blieb stehen und wandte sich zu ihm um, er wirkte unsicher und viel verletzlicher als sonst. Dieser majestätische stolze und gefährliche Panter wirkte irgendwie ängstlich. Seine Krallen und Zähne waren stumpf, diese charismatische Ausstrahlung war endgültig gewichen. „Was willst du noch?“

„Diese Worte, die du mir gestern gesagt hast: „ja ljubljú tibjá, ja fßigdá chatschú byt' ß tabó.“ Du hast auf Russisch gesagt, dass du mich liebst und dass du für immer mit mir zusammen sein willst, oder etwa nicht?“ „Vergiss diese Worte“, sagte Liam mit kraftloser und trauriger Stimme und wandte sich wieder um. „Sie sind jetzt sowieso bedeutungslos geworden.“ Damit verließ er den Raum und ließ Jeremiel allein zurück. Dieser blieb unschlüssig stehen und wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Er sollte diese Worte einfach vergessen und sie haben keine Bedeutung mehr? Sollte das jetzt heißen, dass Liam sie nicht so gemeint hatte? Das alles war ihm ein einziges Rätsel. Warum nur mussten Gefühle so kompliziert sein? Wie gerne würde er doch verstehen, was Liam denn jetzt wollte und vor allem, wie er sich verhalten sollte. Aber… diese Worte, die er da in dieser seltsamen Welt zu ihm gesagt hatte, ließen ihn nicht los. Obwohl er Liam nicht gerade als jemanden eingeschätzt hatte, der offen Gefühle zeigte oder solche Reden hielt, schien selbst einen sehr gefestigten Charakter zu haben und vor allem genau zu wissen, was er da sagte. Er… er hatte ihm doch gesagt, dass er ihn liebt und er liebte ihn offenbar als Jeremiel und als niemand anderen sonst. Liam sieht in mir dieses Ich hier und nicht Nikolaj oder Sam Leens. Es ist ihm egal, was ich getan habe… Als Jeremiel daran dachte, wie Liam ihm diese Worte gesagt hatte, dass es nur darauf ankam, wofür man sich entschied, da wurde ihm ganz seltsam zumute. Aber er konnte leider auch nicht sagen, wie er sich fühlte. Seine Brust tat jedenfalls nicht weh, dafür aber schien sein Herz etwas schneller zu schlagen als sonst. Ach Mensch, wenn er doch wenigstens verstehen könnte, was er gerade für Emotionen empfand. Zumindest hatte das Gespräch mit Liam geholfen und auch wenn es ihm immer noch sehr auf der Seele lastete, dass er vor seiner Amnesie ein Mörder gewesen war, so fühlte er sich wenigstens nicht mehr ganz so unglücklich. Nach einer Weile verließ Jeremiel das Zimmer und traf auch schon sogleich auf Eva, die einen Koffer dabei hatte. Verwundert fragte er „Reist du ab?“ „Ja. Ich habe hier nichts mehr verloren und das mit Liam wird sich wohl nicht mehr klären. Tut mir leid, dass ich keine sonderlich große Hilfe war… ich hatte wirklich gehofft, euch beiden irgendwie helfen zu können, aber stattdessen habe ich alles nur kaputt gemacht. Das alles tut mir wirklich leid, aber ich hoffe, dass du das irgendwie schaffen wirst. Pass gut auf dich auf.“ Damit verabschiedete sie sich von ihm und ging. Sie wirkte völlig fertig und schien auch geweint zu haben. Irgendwie tat sie ihm schon leid, auch wenn das, was sie vor allem ihm angetan hatte, unverzeihlich war. Sie hatte ihm immerhin gestanden, dass sie einfach zugelassen hatte, dass er zu einem Mörder wurde und ihm nicht schon viel früher geholfen hatte. Zugegeben, das stieß ihm schon ziemlich sauer auf, aber es war nicht so, dass er Eva dafür jetzt hasste. Er wollte das auch nicht, denn ohne sie wäre er jetzt auch nicht am leben. Schließlich ging er zurück in die Bibliothek, wo noch die Bücher lagen, die Eva ihm rausgesucht hatte. Kurzerhand nahm er sich das erste und begann es durchzulesen. Er hatte es binnen kürzester Zeit durch und schnappte sich sogleich das nächste. Schon merkwürdig, dachte er und war erstaunt, dass er so schnell mit dem Lesen vorankam. Aber für ihn war das auch eine vergleichsweise sehr einfache Lektüre und zum Glück war der Inhalt auch recht gut erklärt. Schließlich aber kam Johnny herein und rief lauthals „Yeah Ladies, sperrt eure Töchter weg, denn Johnny ist hier!“ Wie immer war er bester Laune und ging direkt zu Jeremiel hin, der gerade einen Beziehungsratgeber las. „Hey, what’s up, Jerry-Berry? Was liest du denn da für einen Schinken?“

„Das nennt man ein Buch und außerdem ist es unlogisch, in einem Schinken lesen zu wollen. Ich lese einen Beziehungsratgeber, weil ich anhand der Bücher schneller lernen will, Gefühle zu verstehen.“

„Das war eine Redewendung, Alter. Manche Bücher werden Schinken genannt, weil sie genauso dick und abgehangen sind. Oh Mann, von Metaphern und Redewendungen scheinst du ja auch keinen blassen Schimmer zu haben. Das kann ja noch spaßig mit dir werden.“

„Wieso spaßig?“

„Das war Ironie. Ach Mensch, jetzt weiß ich auch, wieso Delta sich bei dir wie die reinste Glucke aufführt. Mit deiner Unwissenheit ist es doch klar, dass du Beschützerinstinkte bei ihm weckst. Genauso wie bei Liam.“ Johnny setzte sich zu ihm und holte aus den Innentaschen seines Mantels eine Tafel Schokolade hervor. Diese teilte er mit Jeremiel, der sich sofort erkundigte „Wie kommst du mit dem Ungeziefer voran?“ „Das ist ganz schön hartnäckig, aber ich bin umso kreativer mit dem Werkzeug. Den Vorschlaghammer hab ich abgehakt, als nächstes kommt der Schraubendreher zum Einsatz.“ Immer noch verstand Jeremiel nicht so wirklich, was Johnny mit dem ganzen Werkzeug wollte und fragte „Was hast du mit dem Schraubendreher vor?“ „Schon mal Togainu no Chi gespielt?“

„Nee, wieso?“

„Weil da ganz gut gezeigt wird, wozu ein Schraubendreher alles gut sein kann. Und du weißt: you can’t spell screwdriver without SCREW!“ Zwar war Jeremiel immer noch nicht schlauer, aber er dachte sich einfach: das sind schon wieder irgendwelche Metaphern, die ich nicht ganz verstehe. Er brach sich schließlich ein Stück von der Schokolade ab und als er es sich in den Mund schob, bemerkte er „Das schmeckt süß.“ Eine Weile saßen sie zusammen und redeten nicht viel. Jeremiel las weiter seine Lektüren und Johnny entfernte sich mit einem Springmesser den Dreck unter den Fingernägeln. Aber dann irgendwann legte der 25-jährige sein Buch beiseite und betrachtete den Informanten mit einem nachdenklichen Blick. „Darf ich dich was fragen, Johnny?“ „Klaro. Fragen kostet ja nichts, zumindest nicht, wenn du nicht Marcel fragen willst.“

„Wie kommst du eigentlich damit zurecht, dass du kein Mensch bist, sondern quasi von Liam erschaffen worden bist? Eva sagte mir, dass ihr abgespaltene Fragmente von ihm seid, die in die Körper von Menschen eingepflanzt worden sind. Ist das nicht irgendwie hart für euch?“ Johnny lächelte, als er das hörte und lehnte sich zurück, wobei er die Füße auf dem Tisch ablegte und sie dabei überkreuzte. „Ist doch nichts dabei. Na und? Wir sind nicht seine persönlichen Sklaven, sondern seine Familie. Er hat uns einen eigenen Willen gegeben, ein Leben und eine Persönlichkeit mit einer eigenen Seele. Im Prinzip hat er ja fast genau das Gleiche gemacht, was die Menschen tun, wenn sie beschließen, Nachwuchs zur Welt zu bringen. Und außerdem ist es scheißegal, wo wir herkommen. Ich bin ich und ich darf genau das Arschloch sein, das ich sein will. Ich muss mich nur an bestimmte Regeln halten und die wären, dass ich meine Macht für nichts anderes einsetzen darf, als für meinen Job. Liam hat was dagegen, dass wir unsere Kräfte einsetzen und uns damit von den Menschen abheben.“

„Aber hat Liam nicht irgendwie die Macht über euch? Ich meine, ihr wurdet doch zu dem Zweck erschaffen, um bei ihm zu bleiben, oder?“

„In erster Linie schon. Aber was unterscheidet uns denn so großartig von einer stinknormalen Familie? Wir bleiben als Unvergängliche unter uns, das stimmt schon und wir sind aufeinander schon angewiesen. Aber es ist nicht so, dass man uns irgendwie dazu zwingt. Liam respektiert uns als eigenständige Personen mit einem freien Willen. Jeder von uns hat seine Aufgabe und auf die Weise funktioniert unsere Familie, auch wenn wir vom Charakter her sehr schlecht zusammenpassen. Und überhaupt: so etwas wie Freiheit gibt es gar nicht. Sie ist ein von den Menschen frei erschaffenes Fantasiekonstrukt, weil der Mensch bestrebt ist, frei zu sein. Paradoxerweise aber erschafft er sich Gesetze und Regeln und eine Hierarchie, durch die er andere Menschen über sein Leben bestimmen lässt, weil er mit dieser Freiheit nicht umgehen kann und deshalb seine eigene Freiheit immer weiter einschränkt, je mehr er nach dieser strebt. Je näher er also der Freiheit ist und je stärker er nach ihr strebt, desto mehr entfernt er sich von ihr. Der Mensch ist frei, soweit es seine eigene Natur zulässt, denn die Natur sieht vor, dass die Tiere von ihren Instinkten und Trieben beherrscht werden, genauso wie die Menschen. Der freie Wille ist nichts anderes als ein Wunschtraum, weil wir alle von unseren Grundbedürfnissen gelenkt werden. Jeder Gedanke, jeder Wunsch ist nichts Weiteres als eine Abfolge biochemischer Reaktionen in unserem Körper. Die einzige wahre Freiheit die wir haben ist die Freiheit der Entscheidung. Eine andere Freiheit existiert nicht. Außer freilich natürlich die Freiheit zu sagen, dass wir nach der Freiheit streben. Wobei aber auch hier wieder die Frage besteht, ob die Freiheit, nach der Freiheit zu streben, auch wirklich eine Freiheit ist, oder lediglich ein weiterer biochemischer Impuls ist, der durch unser Gehirn verursacht wird.“

„Erklär mir das mit der Entscheidungsfreiheit.“

„Wir haben die Freiheit zu entscheiden, wie wir unser Leben gestalten wollen. Natürlich werden wir dabei von unserem Umfeld beeinflusst, welches uns in eine bestimmte Richtung schieben will. Aber wir können wählen, ob wir weiterleben oder unser Leben beenden wollen. Ebenso entscheidet man sich, ob man Menschen töten will oder nicht. Genauso konnten Marcel, Delta und ich uns entscheiden, ob wir bei Liam bleiben oder unseren eigenen Weg gehen wollen. Wir haben uns entschieden, bei ihm zu bleiben. Und als du damals Nikolaj warst, hast du dich dazu entschieden, Evas Familie zu verlassen und ein Teil unserer Familie zu werden. Genauso hast du jetzt auch die Freiheit zu entscheiden, was du jetzt tun willst. Willst du bei uns bleiben oder deinen Bruder suchen gehen? Das entscheidest allein du. Das ist deine Freiheit.“ Man konnte über Johnny sagen was man wollte. Dass er einen schlechten Charakter hatte oder dass er mit seiner Wortgewandtheit andere in den Wahnsinn treiben konnte. Aber was er sagte, war auf logischer Basis gesehen vollkommen verständlich. Eben weil Jeremiel ein intelligenter Kopf war, dem es leichter fiel, logischer zu denken, konnte er Johnnys paradoxe Logik viel besser nachvollziehen als die anderen. Er nickte bedächtig und ließ sich diese Worte durch den Kopf gehen. Schließlich aber stand er vor einem entscheidenden Dilemma. „Ich weiß nicht, was ich eigentlich will. Zuerst wollte ich nur schnellstmöglich meinen Bruder finden und herausfinden, wer ich bin. Aber jetzt bin ich irgendwie durcheinander und weiß nicht, was ich tun soll.“

„Dann lass dir einfach mal Zeit. Es zwingt dich ja niemand dazu, dich sofort für irgendetwas zu entscheiden. Es war ja auch ganz schön viel und jeder andere wäre an deiner Stelle ebenfalls komplett überfordert. Lass das alles mal in Ruhe sacken. Du weißt ja: wenn du irgendwelche Fragen oder Probleme hast, auf mich und Delta kannst du zählen.“ Damit zog sich Johnny zurück, wobei er fröhlich „Bad Romance“ von Lady Gaga pfiff.

Ein Gespräch mit Delta

Unermüdlich saß Jeremiel bis spät in die Nacht über seinen Büchern und wäre dabei fast eingeschlafen, wenn da nicht plötzlich laute Geräusche wären, die ihn aufschreckten. Es klang irgendwie danach, als würde irgendjemand schreien. Ob da jemand in Schwierigkeiten steckte? Er beschloss kurzerhand, nachsehen zu gehen und sicherzugehen, dass da auch alles in Ordnung war. Auf dem Flur war es stockfinster und er musste sich vorantasten, da er so gut wie gar nichts sehen konnte. Schließlich aber erreichte er den Raum, wo diese Schreie herkamen und gerade wollte er die Tür öffnen, da hörte er jemanden rufen „Ich an deiner Stelle würde da jetzt nicht reingehen, wenn ich du wäre. Was die da drin treiben, willst du lieber nicht sehen.“ Jeremiel drehte sich um und wurde sogleich von einer Taschenlampe geblendet, sodass er rein gar nichts sehen konnte. Als diese aber herabgesenkt wurde, erkannte er ein Mädchen von knapp 20 oder 22 Jahren. Sie hatte ihr Haar türkis gefärbt und trug an ihrem Gürtel Werkzeug und hatte Handschuhe an. „Wer bist du?“ „Gishi Rikigaku, ich arbeite für Liam als persönliche KFZ-Mechanikerin.“ Sie hatte keinen goldenen Ring in der Iris. Dann war sie offenbar ein normaler Mensch. „Du bist sicherlich Jeremiel Lawliet, Liams persönlicher Ehrengast. Freut mich sehr.“ Sie gab ihm einen so festen Händedruck, dass ihm fast die Fingerknöchel knackten und sie machte auch irgendwie den Eindruck, als wäre sie eine Hartgesottene. „Okay Gishi, kannst du mir sagen, warum die da drin so schreien, als würde gleich jemand sterben?“

„Nun, die haben alle eine Vollmeise. Weißt du, Delta ist jemand, der schon mehr Kerle hatte als jeder schwule Callboy. Irgendwie scheint da momentan eine Dreiecksbeziehung mit Marcel und Johnny zu laufen. Er hasst Marcel wie die Pest, trotzdem treiben die es jede Nacht wie die Karnickel und nachdem er sich offenbar mit Johnny halbwegs vertragen hat, scheint es auch wieder wild mit denen zuzugehen. Du wirst dich schon irgendwann daran gewöhnen. Delta ist eben ein absoluter Nymphomane, der im Bezug auf seine Lover auch nicht sonderlich viel Selbstachtung hat. Aber ich regle das schon.“ Damit stieß die Asiatin die Tür auf und sogleich hörte Jeremiel Delta keuchend und zugleich auch gereizt rufen „Hey, hast du schon mal was von Privatsphäre gehört, Honey?“

„Meine Fresse, Delta. Es ist drei Uhr morgens. Wenn du schon hinter Marcels Rücken mit Johnny rumbumsen musst, dann sei gefälligst leiser, oder mach wenigstens die Wände schalldicht. Das ist ja nicht zum Aushalten. Es gibt hier auch Menschen im Haus, die schlafen wollen.“ Und daraufhin kam Gishi wieder zurück und knallte die Tür hinter sich zu. „Menschenskinder. Man merkt schon, dass die die alle Unvergängliche sind. Irgendwann haben die alle eine Vollklatsche.“

„Du weißt darüber bescheid?“

„Klar. Immerhin lebe ich schon seit ein paar Jahren hier. Delta hat mich vom Kinderstrich weggeholt und seitdem bin ich hier für die fahrbaren Untersätze zuständig. Die sind eigentlich ganz nett, wenn man sie näher kennt, aber trotzdem haben die schon einen erheblichen Knacks im Oberstübchen. Unvergänglich zu sein ist ja auch auf Dauer langweilig. Deshalb denken die sich immer wieder einen neuen Zeitvertreib aus. Eine Zeit lang haben die sich gegenseitig immer wieder gekillt und dann durch die Zeitrücksetzung ihre Körper wiederhergestellt. Und jetzt haben sie eben halt diese völlig bescheuerten Bettgeschichten am Laufen. Pass also ja auf, dass Delta nicht noch versucht, sich an dich ranzumachen. Der Kerl ist der reinste Nymphomane und selbst vor Liam hat er nicht Halt gemacht…“ Als Jeremiel das hörte, verkrampfte sich sein Magen und ihm wurde mit einem Male ganz anders und er wusste gerade nicht, was er davon halten sollte. „Delta hatte was mit Liam?“ „Delta hatte schon jeden Kerl gehabt. Also pass bloß auf, bevor er sich noch deinen Arsch krallt. Ich wünsch dir schon mal eine gute Nacht, ich geh mich auch wieder in die Federn legen, bevor ich morgen die Luxusschlitten auf Vordermann bringe.“ Damit verabschiedete sich die junge Mechanikerin von ihm und verschwand mit der Taschenlampe. Jeremiel sah ihr noch nach und fühlte sich irgendwie unruhig. Es fiel ihm schwer zu glauben und zu begreifen, dass Delta und Liam mal was miteinander hatten. Und irgendwie gefiel ihm der Gedanke auch nicht wirklich. Deshalb fand er die Nacht auch kaum Schlaf und war dementsprechend am nächsten Mittag müde und erschöpft. Dennoch ging er wie immer in die Bibliothek zum Lesen, fand aber kaum die Konzentration dafür, weil er immer noch daran denken musste, was diese Gishi ihm gestern gesagt hatte. Liam und Delta hatten mal was miteinander gehabt? Aber hatte Liam nicht gesagt gehabt, er würde nur einen Menschen lieben? Jeremiel hatte zwar gelernt, dass Menschen nicht bloß zur Fortpflanzung miteinander schliefen, sondern auch weil sie sich liebten, aber irgendwie hatte Liam nicht gerade den Eindruck gemacht, als würde er so etwas für Delta empfinden. Zumindest behandelt er ihn nicht so wie mich, dachte sich der 25-jährige. Aber auch bei Delta und Marcel verhielt es sich doch ähnlich. Immerhin hatte er sogar miterlebt gehabt, wie der Crossdresser versucht hatte, Marcel mit einem Dolch zu attackieren. Die konnten sich doch wohl kaum lieben. Jeremiel durchsuchte seine Bücher und fand schließlich etwas über reine Sexbeziehungen. Nun, es endete schließlich damit, dass er zu dem Schluss kam, dass die Unvergänglichen genauso kompliziert waren wie die Menschen. Wie um alles in der Welt sollte man da überhaupt durchblicken und so etwas verstehen? Da er kaum die Konzentration aufbrachte, um weiterzulesen, unterbrach er seine Studien fürs Erste, rieb sich müde die Augen und durchstreifte das Haus. Dabei kam er schließlich zu jenem Zimmer, wo Johnny und Delta die Nacht so lautstark miteinander verbracht hatten. Da die Tür einen Spalt breit offen stand, lugte er vorsichtig hinein und fand das Zimmer in einem heillosen Durcheinander vor. Sachen waren vom Schreibtisch heruntergeworfen worden, der Bürostuhl lag unten und auch eine Kommode war umgeschmissen worden, die Gardine lag ebenfalls auf dem Boden. Das Bett war zerwühlt und es sah aus, als wäre hier ein Tornado durchgefegt. Jeremiel war sprachlos und wusste nicht so wirklich, wie er dieses Chaos deuten sollte. Was zum Henker haben die beiden nur gemacht? Heiliger Bimbam, das sah ja aus wie das reinste Schlachtfeld. Jeremiel sah zu der Kommode neben dem Bett und fand sowohl dort als auch in den Regalen allerhand Sachen, die mehr als deutlich zeigten, wie Delta gestrickt war. Ach herrje, dachte er als er das sah. Das hat Gishi also damit gemeint… Gerade wollte er wieder rausgehen und schnell wieder verschwinden, da stand auch schon Delta in der Tür. Er hatte nicht mal die Augen offen, sein Haar war komplett zerzaust und er trug wie immer einen Kimono. „Hey Engelchen“, murmelte er und versuchte seine Zottelmähne irgendwie aus dem Gesicht zu entfernen. Auch sein Make-up war erheblich in Mitleidenschaft gezogen worden. „Wolltest du zu mir?“ Jeremiel brachte kein Wort hervor. Er starrte Delta mit einem schwer zu deutenden Gesichtsausdruck an, aber es war ihm schon irgendwie anzusehen, dass er ziemlich sprachlos war und gar nicht wusste, wie er das alles einzuordnen hatte. Delta, der offenbar nicht mal aufrecht stehen konnte, ließ sich aufs Bett fallen und stöhnte theatralisch. „Oh Mann, ich muss echt mal mit meinem Therapeuten sprechen…“

„Sind das hier alles deine Sachen?“

„Klar doch, wem sollen sie denn sonst gehören? Ich hab ne größere Sammlung als ein ganzer Sexshop. Kimonos und Erotik sind eben meine Welt. Kann ja nicht jeder so unschuldig sein wie du, Engelchen.“ Jeremiel sagte nichts und steckte die Hände in die Hosentaschen. Warum nur fühlte er sich so unwohl dabei, wenn er daran dachte, dass auch Liam und Delta mal was miteinander gehabt hatten? Er und Delta verstanden sich doch so gut, warum nur beschäftigte ihn das so sehr? Vor allem aber konnte er einfach nicht vergessen, wie Liam ihn geküsst hatte. Ihm wurde seltsam heiß zumute, sein Herz schlug wie wild, er konnte kaum atmen und auch der Kimonoträger bemerkte, dass da was nicht stimmte. „Engelchen, ist alles in Ordnung bei dir?“ „Irgendwie ist mir heiß und mein Herz schlägt wie verrückt. Ich glaube, ich bin krank.“ Als Delta das hörte, setzte er sich auf, wobei sein Kimono komplett verrutschte und dabei sein halber Oberkörper freigelegt wurde, der von unzähligen Knutschflecken, blauen Flecken und Fesselspuren gezeichnet war. Er legte eine Hand auf Jeremiels Stirn, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen. „Also ich kann bei dir nichts erkennen. Zumindest hast du kein Fieber. Vielleicht solltest du dich noch etwas schonen.“ Dann kam das also von dem Stress? Nun ja, es wäre eine gute Erklärung. Aber da war noch etwas, das er unbedingt wissen wollte. „Delta, dürfte ich dir eine Frage stellen?“ „Na immer doch, Engelchen. Liegt dir irgendetwas auf der Seele?“

„Ich hab gestern ein Mädchen namens Gishi kennen gelernt und sie erzählte mir, du und Liam hattet mal was miteinander.“ Delta hob erstaunt die Augenbrauen, als er das hörte. „Ach, du hast unsere Madonna mit den Schraubenschlüsseln kennen gelernt? Nun, was diese Geschichte betrifft, die ist schon uralt. Das war kurz nachdem wir die Dead End Spiele abgeschafft hatten. Da hatte ich mit Liam eine kurze Nacht verbracht, aber danach nie wieder. Wir haben es beide bereut…“

„Dead End Spiele?“

„Du musst wissen, Engelchen, dass wir als Unvergängliche ein sehr langes Leben führen. Und deshalb kann es schnell dazu kommen, dass wir uns langweilen. Irgendwann wird alles belanglos und eintönig, deshalb versucht man irgendwie Abwechslung und Action reinzubringen. Also haben wir die Dead End Spiele erfunden. Wir haben uns untereinander mit allen möglichen Waffen und Tricks bekämpft. Deshalb ist Marcel auch in der Lage gewesen, meinen Angriff mit dem Dolch abzuwehren. Aber Liam hat dann die Spiele abgeschafft, als es immer weiter ausgeartet ist und dabei auch Unbeteiligte zu Schaden kamen. Da hat für ihn der Spaß endgültig aufgehört. Er war sowieso immer unschlagbar gewesen. Die Einzige, die wirklich an sein Format herankam, war Frederica.“

„Frederica?“

„Eine weitere Schöpfung Evas. Sie ist aber vor kurzem gestorben. Für Liam war sie eine sehr enge Freundin gewesen, quasi sein kleiner Schützling und er hat ihr auch einiges beigebracht. Sie hat sich auch um deinen Bruder gekümmert und war für ihn wie eine Art große Schwester.“ „Verstehe…“, murmelte Jeremiel und senkte nachdenklich den Blick. Immer noch war ihm so komisch zumute und er konnte sich einfach nicht die Ursache erklären. Er brachte kaum die Konzentration auf, Delta vernünftig zuzuhören und driftete immer wieder mit seinen Gedanken ab. Er konnte einfach nicht aufhören, an diese gestrige Situation mit Liam zu denken, der sich bei ihm entschuldigt und dabei so unendlich traurig ausgesehen hatte. Wie es ihm wohl ging? War er immer noch so unglücklich? Delta merkte schon, was los war, rückte seinen Kimono zurecht und legte schließlich einen Arm um Jeremiels Schultern. „Jetzt sag schon, was dich so bedrückt, Engelchen. Geht dir das mit ihm immer noch so an die Nieren? Wenn du willst, kann ich ja mit ihm reden.“

„Nein, er hat sich schon bei mir entschuldigt und mir alles erklärt. Aber… da ist etwas, was mir keine Ruhe lässt. Als er mit mir geschlafen hat, da hat er mir auf Russisch gesagt, dass er mich liebt und dass er für immer mit mir zusammen bleiben will. Und dann sagte er, ich solle vergessen, was er gesagt hat, weil diese Worte bedeutungslos geworden sind. Ich verstehe einfach nicht, was er damit meint. Und aus den Büchern werde ich auch nicht schlau.“

„Ach Engelchen, man kann doch nicht alles aus Büchern lernen. Dafür sind Leute da, die einem mit Rat zur Seite stehen.“

„So wie du und Johnny?“

„Wenn du aus Johnnys Gequassel schlau wirst, dann ja. Weißt du, ich bin nicht nur Liams rechte Hand, sondern auch sein Ratgeber und sozusagen wie die kleine Grille aus dem Pinocchio-Märchen. Meine Aufgabe ist es, ihn zurechtzuweisen, ganz egal ob es ihm passt oder nicht. Und ebenso bin ich für dich als Freund da und stehe dir natürlich bei, wenn dir etwas auf der Seele lasten sollte. Was das angeht, was Liam zu dir gesagt hat, das kann ich dir gerne erklären: er liebt dich wirklich sehr, das ist die Wahrheit. Er hat furchtbare Angst davor, dich zu verlieren und das kann er nicht zeigen. Ebenso wenig wie seine Verunsicherung in deiner Gegenwart, deshalb benimmt er sich wie ein Arschloch. Er ist eben nicht der Typ, der offen seine Emotionen zeigt, so wie ich. Deshalb ist es auch nicht immer einfach zu verstehen, wie es wirklich in ihn drin aussieht. Dass er dir gesagt hat, dass diese Worte bedeutungslos geworden sind, hat nichts damit zu tun, dass er dich vielleicht nicht mehr lieben würde. Im Gegenteil, er liebt dich, aber er glaubt, dass du ihm nicht verzeihen kannst. Deshalb hat er aufgegeben und lässt dich gehen, weil er wohl glaubt, dass er dir nur wehtun würde. Und den Gedanken kann er einfach nicht ertragen.“ So ist das also. Liam liebt mich, aber er würde sich lieber von mir abwenden und sich von mir distanzieren, als mir vielleicht noch mal so wehzutun, als er mit mir geschlafen hat. Er will mich immer noch beschützen…

Jeremiel wandte sich schließlich Delta zu und dachte einen Augenblick nach, dann richtete er eine wirklich sehr ungewöhnliche Bitte an ihn. „Delta, könntest… könntest du mich küssen?“ Das verwirrte selbst den Kimonoträger, denn der hätte mit so einigem gerechnet, aber nicht damit. Und sogleich fragte er „Was ist denn mit dir los, Engelchen? Wieso fragst du so etwas?“ „Ich will etwas überprüfen und ich denke du bist der Einzige, an den ich diese Bitte richten kann, ohne dass es allzu seltsam wirken könnte.“

„Nun gut, wenn du es unbedingt willst. Soll es ein einfacher Kuss sein, oder willst du es gleich mit Zunge haben?“

„Ein einfacher wird wohl reichen.“ Damit beugte sich Delta zu ihm herüber und küsste ihn. Doch kaum, dass sich ihre Lippen berührten, merkte Jeremiel sofort, dass es nicht das war, was er erwartet hatte. Sein Herz begann nicht zu rasen wie bei Liam und ihm wurde auch nicht so seltsam warm in der Brust zumute. Es fühlte sich komisch an und sonderlich angenehm war ihm das auch nicht wirklich. Also beendete er das sofort wieder und so fragte Delta „Und? Hat es dir etwas gebracht?“

„Ich denke schon“, murmelte Jeremiel und legte nachdenklich sein Kinn zwischen Zeigefinger und Daumen. Genauso wie er es immer tat, wenn er nachdachte und dabei nahm er auch seine etwas eigentümliche Sitzposition ein. „Weißt du, es ist für mich sehr schwierig, meine Gefühle zu verstehen. Und du hast ja auch Recht, dass man aus Büchern allein nicht viel lernen kann. Im Grunde bin ich auf dem Stand eines Kleinkindes, weil ich noch nie vorher Gefühle empfunden hatte und nicht einmal erkennen kann, dass Menschen traurig sind, wenn sie weinen. Und dass sie auch weinen können, wenn sie sich freuen, erscheint mir vollkommen widersprüchlich und unlogisch. Aber Gefühle sind leider nicht logisch. Sie sind so kompliziert, dass ich noch lange brauchen werde, um sie zu verstehen. Zugegeben, das alles ist noch ziemlich neu für mich und auch die Tatsache, dass ich kein richtiger Mensch bin und auch nicht unter normalen Umständen geboren wurde, ist für mich noch echt hart. Ebenso, dass ich vor meiner Amnesie ein Mörder war. Aber Liam sagte mir, dass es weder auf die Fähigkeiten oder die Umstände der Geburt ankommt. Es kommt einzig und allein auf die Entscheidungen an, die man trifft.“

„Da hat er auch vollkommen Recht, Engelchen. Die Tatsache ist eben auch, dass ich nicht das bin, was Menschen als normal bezeichnen würden. Ich bin nun mal ein sexuell sehr aktiver und temperamentvoller Killer mit einem Hang zur Extravaganz und Theatralik. Aber auch wenn ich nicht gerade ein Unschuldsengel bin, so würde ich gewiss niemandem ein Haar krümmen, der nichts Böses im Schilde führt, oder der nichts auf dem Kerbholz hat. Wie denkst du denn über mich?“ Hier musste Jeremiel erst einmal nachdenken, um sich die richtigen Worte zurechtzulegen „Du bist schon ein wenig eigenartig, das stimmt. Aber du bist auch sehr hilfsbereit und ich merke auch, dass du sehr bemüht bist, mir zu helfen. Deshalb denke ich nicht, dass du einen schlechten Charakter hast.“

„Jeder von uns hat irgendwo seinen schlechten Charakter, insbesondere Marcel, Johnny und ich. Wir wurden aus den schlimmsten Seiten der Menschheit erschaffen. Ich bin die Versuchung, die Schlange im Paradies, die ihre Opfer mit süßen Verlockungen ins Verderben stürzt wie eine Venusfliegenfalle. Johnny ist der Inbegriff der Lüge und der Intrige. Fakt ist, dass die Menschen sich alle gegenseitig belügen. Nun gut, ohne die Lüge würde ein friedliches Miteinander kaum möglich sein. Es gibt eben Lügen, die notwendig sind. Nicht umsonst heißt es: Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist. Deshalb ist Johnny auch so ein Arschloch. Denn wenn er die Wahrheit spricht, ist er respektlos, hinterhältig und auch vulgär. Auch du hast deine schlechten Seiten, Engelchen. Irgendwann wirst du sie schon entdecken. Das kann ich dir jetzt schon versprechen. Und da wir ja von Liam erschaffen wurden, hat er auch seine dunklen Seiten.“

„Das schon, aber… er hat keinen durch und durch schlechten Charakter. Er will mich beschützen und hat mir auch eigentlich nicht wehtun wollen. Und du und Johnny, ihr seid immer so hilfsbereit und eigentlich schon so was wie gute Freunde.“

„Ach Engelchen, das hast du aber süß gesagt.“ Damit umarmte Delta ihn und seufzte dabei schwärmerisch. „Bei dir kann man wirklich nur schwach werden. Am liebsten würde ich dich hier gleich auffressen mit Haut und Haaren aber… ich weiß, wann ich die Finger von jemandem lassen muss. Und wenn du schon einen einfachen Kuss mit mir unangenehm findest, dann werde dich wohl kaum dazu zwingen, noch einen Schritt weiterzugehen.“ Schließlich verabschiedete sich Jeremiel von dem Crossdresser, der sich noch ein wenig ausruhen wollte und bedankte sich noch mal für das Gespräch. Es war immer sehr hilfreich, mit Delta zu sprechen und sich von ihm oder Johnny einen Rat zu holen. Die beiden schienen wirklich immer eine passende Antwort zu haben. Zwar war er sich noch nicht zu einhundert Prozent sicher, was er wirklich fühlte und was er jetzt genau tun sollte, aber er beschloss einfach mal, es zu versuchen und sich mehr auf sein Gefühl zu verlassen, auch wenn es nicht einfach war. Hoffentlich ging das auch irgendwie gut und es blieb ebenfalls zu hoffen, dass er wusste was er zu tun hatte, wenn eine völlig neue Situation auf ihn zukam, mit der er nicht umgehen konnte. Als er zur Tür gehen wollte, da hielt Delta ihn noch kurz zurück. „Wenn ich dir noch einen allerletzten Rat geben darf, bevor du gehst: wenn es zu viel für dich wird und du überhaupt nicht weißt, was du tun sollst, dann versuch offen darüber zu sprechen. Dann weiß Liam auch, wie es in dir drin wirklich aussieht und dann kommt es nicht zu irgendwelchen Missverständnissen.“ „Danke Delta. Ich werde diesen Ratschlag im Gedächtnis behalten.“

Jeremiels Geständnis

Jeremiel suchte überall nach Liam, aber in diesem weitläufigen Anwesen war es schon schwierig, ihn zu finden. Schließlich traf er auf Johnny, der sich gerade mit Gishi am Streiten war. Diese war tierisch sauer und rief „Verdammt noch mal, du Psycho. Wenn du dich schon um die beiden Ratten im Keller kümmern musst, dann lass wenigstens mein Werkzeug in Ruhe. Man repariert damit Autos und rammt das nicht in irgendwelche Körperöffnungen rein, verdammt!“

„Sorry Schnecke, ist ne Anordnung von Liam gewesen.“

„Ist mit scheißegal was er sagt. Du lässt deine verdammten Griffel von meinem Werkzeug. Oder noch besser: steck es dir selbst in den A…“ Gishi unterbrach kurz, als sie bemerkte, dass Jeremiel auf sie und Johnny zukam und wandte sich ihm zu. Sofort grüßte Johnny ihn breit grinsend und rief „Hey Jerry, willst du bei unserem kleinen Zickenkrieg auch gleich mitmischen?“

„Nein danke. Ich suche Liam, habt ihr ihn gesehen?“ Johnny antwortete nicht sofort, sondern verschränkte die Arme und sein Grinsen hatte schon fast etwas Anzügliches an sich. Er war immer so unausstehlich, wenn er ehrlich war. „Na klar doch. Er ist mit Marcel in seinem Büro, aber er ist gleich weg, weil er noch nachher geschäftlich unterwegs ist. Na? Habt ihr zwei Turteltäubchen etwa irgendwas da am Laufen?“ „Nein, aber ich muss einfach mit ihm reden.“

„Dann lass dich mal nicht aufhalten.“ Damit ging Jeremiel weiter und ließ die beiden Streithähne erst mal alleine. Dummerweise wusste er nicht so wirklich, wo Liams Büro war und so musste er erst einmal eine Weile suchen. Irgendwann aber fand er schließlich ein Zimmer, das wohl Liam gehören musste. Es war leer, aber Jeremiel ging trotzdem hinein, um sich näher umzusehen. Dabei machte er eine etwas seltsame Entdeckung, die ihn stutzig machte: auf einem Tisch lagen mehrere Röntgenaufnahmen oder Bilder von Tomographien. Sie zeigten Frakturen, Blutungen, Tumore und noch andere Dinge und jedes Bild war mit Namen versehen. Stimmt ja, dachte Jeremiel, als er das sah. Liam ist ja nicht nur im organisierten Verbrechen tätig, sondern auch Chirurg. Ob es auch zu mir irgendwo eine Akte gibt? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Er fand schließlich einen Aktenschrank, wo er nach einigem Suchen tatsächlich fündig wurde. Die Akte enthielt einen Operationsbericht in typisch medizinischer Fachsprache, wo noch mal genau erläutert wurde, was Liam alles gemacht hatte und wie er dabei vorgegangen war. Dabei fand er auch die CT-Bilder, wo sich die Missbildungen in seinem Gehirn abzeichneten. Schäden im Limbischen System… Jeremiel wusste, dass dieser Bereich für Gefühle zuständig war, ebenso wie das moralische Empfinden von richtig oder falsch. Wenn Aussetzer dort auftraten, konnten Menschen nicht mehr zwischen Gut oder Schlecht differenzieren und all ihr moralisches Denken wurde komplett ausgeschaltet. In diesem Zustand waren diese Menschen auch zu Mord fähig weil sie in diesem Zustand nicht erkannten, dass das, was sie da taten, ein Verbrechen war. Dann war das, was er getan hatte, also auch auf diesen Defekt zurückzuführen. Des Weiteren lagen noch andere neurologische Schäden vor, die es ihm vor seiner Amnesie unmöglich gemacht hatten, auch körperliche Empfindungen wie Schmerzen oder Hitze und Kälte wahrzunehmen. Und Liam hatte das alles bei ihm behoben, damit er ein normales Leben führen konnte? Aber wie hatte er das geschafft, ohne Spuren einer Operation zu hinterlassen? Er fand diesbezüglich keine eindeutigen Angaben und fand hauptsächlich Informationen darüber, wie die Schusswunde operiert worden war. Moment mal… hatte Eva nicht gesagt, dass sie und Liam parasitäre Bewusstseinsformen waren, die sich in die Körper der Menschen einnisten und den Körper dann nach ihren Vorstellungen verändern konnten? War es also möglich, dass Liam so etwas mit ihm gemacht hatte? Er musste ihn einfach fragen. Jeremiel legte die Akte wieder zurück und machte sich wieder auf die Suche. Irgendwann schließlich fand er das Büro, wo Liam gerade mit Marcel was besprach und einen sehr beschäftigten Eindruck machte. Da er nur ungern stören wollte, beschloss er zu warten. Er wartete knapp eine Stunde vor der Tür, bis schließlich Marcel herauskam. Dieser bemerkte Jeremiel aus den Augenwinkeln und fragte „Möchtest du zu Liam?“ „Ja, ich will mit ihm reden.“

„Dann beeil dich, er hat geschäftlich zu tun.“ Der 25-jährige ging rein und betrat das Büro. Liam saß am Schreibtisch und hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und dachte offenbar über irgendetwas nach. Als er dann aber Jeremiel bemerkte, da war für einen kurzen Moment wieder dieser Ausdruck von Schwäche in seinen Augen. Aber auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, denn da fand er seine kühle und autoritäre Haltung wieder und fragte „Kann ich dir helfen?“ „Ich möchte gerne mit dir reden. Es gibt da einige Dinge, die ich wissen muss.“ Nachdem er die Tür geschlossen hatte, ging Jeremiel zu ihm hin. Sein Blick hatte etwas Forschendes und schon fast Lauerndes angenommen. Derselbe Blick wie sein Bruder, dachte Liam, als er ihn so betrachtete. Zwar gibt es immer noch einige Unterschiede, aber die Ähnlichkeit der beiden ist in den letzten Tagen immer deutlicher geworden. Er ist gar nicht mehr wiederzuerkennen. Schließlich setzte sich Jeremiel auf einen Stuhl. Nun ja, er hockte sich mehr darauf und legte nachdenklich sein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. „Ich habe mich sehr intensiv mit dem Thema Gefühle auseinandergesetzt und dabei auch darüber nachgedacht, was du gesagt hast. Ich weiß, dass ich absolut hilflos und überfordert in dem Sinne bin. Auch habe ich einfach nicht verstanden, was du wolltest und deshalb habe ich versucht, mehr darüber herauszufinden. Ich habe mir Rat von Delta und Johnny geholt und Bücher gelesen, trotzdem bin ich immer noch sehr langsam und ich erkenne viele Dinge nicht, die für andere offensichtlich erscheinen. Deshalb tut es mir auch leid, dass ich erst jetzt zu dir komme und nicht schon viel früher.“ Es war deutlich zu sehen, dass Liam unruhig war. Zwar konnte er sich seine kühle charismatische Ausstrahlung bewahren, doch er konnte es nicht mehr für lange. Jeremiel hatte sich intensiv genug damit beschäftigt und war inzwischen in der Lage zumindest halbwegs zu erkennen, dass Liam nervös war und vielleicht auch Angst hatte. Aber so ganz hundertprozentig sicher war er sich da auch noch nicht wirklich. Er atmete tief durch und schwieg eine Weile, dann aber stand er auf, ging um den Schreibtisch herum und beugte sich zu Liam herunter, dann küsste er ihn. Ganz eindeutig. Es fühlte sich vollkommen anders an, als Delta ihn geküsst hatte. Sein Herz begann zu rasen und ihm war, als würde ihm irgendetwas die Luft abschnüren. Liam war verwirrt darüber und mit einem Mal war auch diese charismatische Ausstrahlung endgültig gewichen. „Und was sollte das jetzt?“ fragte er und wollte immer noch so kühl und distanziert erscheinen, aber er scheiterte kläglich an dem Versuch. Jeremiel brauchte selbst einen Moment um sich zu sammeln, dann aber atmete er wieder tief durch und erklärte „Ich glaube, ich bin dir verfallen, Liam.“ Der Unvergängliche brachte kein Wort hervor, als er das hörte und war nicht imstande, darauf zu reagieren. Es kam einfach viel zu überraschend. „Als ich bei Norman und Mr. Fincher war, da habe ich es gehasst, dass sie mich so angefasst haben. Es war für mich unerträglich gewesen, aber bei dir war es irgendwie anders, auch wenn es ziemlich wehgetan hat. Ich war dir nicht böse deswegen, stattdessen konnte ich nicht aufhören an dich zu denken. Und dann hat mein Herz immer so schnell geschlagen und ich habe mich immer so merkwürdig gefühlt. Ich konnte diesen Kuss einfach nicht vergessen und so bat ich schließlich Delta darum, mich zu küssen, weil ich sichergehen wollte, dass es nicht bloß eine normale körperliche Reaktion auf einen Kuss wäre, ganz unabhängig von der Person. Aber bei Delta war es nicht so wie bei dir. Mein Herz hat da nicht schneller geschlagen und es fühlte sich auch ein wenig unangenehm an. Das war nur bei dir so. Ich kann nicht aufhören an dich zu denken und mich zu fragen, wie du dich fühlst und wie traurig du ausgesehen hast. Mag sein, dass ich ziemlich langsam im Erkennen von Gefühlen bin, aber inzwischen bin ich mir sicher, dass ich mich in dich verliebt habe.“ Liam sagte rein gar nichts. Wahrscheinlich gingen ihm in diesem Moment tausend Gedanken durch den Kopf. Vielleicht aber war er momentan nicht fähig, überhaupt an etwas zu denken. Er war wie erstarrt und begriff offenbar nicht so wirklich, was eigentlich passiert war. Und so ganz konnte er es auch nicht glauben. „Du musst dich irren“, sagte er schließlich und fand seinen kühlen und autoritären Ton wieder. „Nach allem, was ich dir angetan habe, kannst du doch unmöglich so etwas für mich empfinden.“

„Das hat mich ja auch verwundert. Aber Gefühle sind nun mal irrational und können nicht logisch erklärt werden. Zumindest nicht zu hundert Prozent. Und die Symptome lassen einfach keinen anderen Schluss zu. Ich habe mich in dich verliebt, trotz allem was passiert ist.“

„Aber warum?“

„Vielleicht, weil ich dein Licht gesehen habe, das du in dir trägst. Ich habe mich irgendwie so… so gut gefühlt, als ich es gesehen habe. Ich weiß auch nicht, wie ich es beschreiben soll und was das für ein Gefühl war. Es war so, als bräuchte ich keine Angst mehr zu haben und als würde mir aller Schmerz genommen werden.“ Jeremiel versuchte angestrengt, das richtige Wort dafür zu finden und ging noch mal alles durch, was er gelesen hatte und welche Empfindungen mit bestimmten Gefühlen verbunden wurden. Dann aber hatte er wohl nach einer Weile das richtige Wort gefunden. „Ich… ich habe mich sehr geborgen gefühlt in deinem Licht.“ Immer noch war Liams Gesicht unbewegt und er begriff anscheinend noch nicht so ganz, dass das hier gerade wirklich passierte. Er hatte Jeremiel eine Fußkette angelegt und ihn im Zimmer eingesperrt, er hatte sich so eiskalt ihm gegenüber verhalten und ihn dann auch noch zum Sex genötigt und ihm dabei so wehgetan. Wieso nur? Wieso hasste er ihn denn nicht? Das begriff der Unvergängliche einfach nicht, aber dennoch kam ihm das so bekannt vor. Nikolaj… Er hat sich damals auch nicht von meiner Art abschrecken lassen. Obwohl ich versucht habe, die ganze Welt auszuschließen, weil sich sowieso alle vor mir gefürchtet haben, ist er nicht gegangen. Nein, je mehr ich ihn von mir weggestoßen habe, desto näher kam er mir. Und jetzt geschieht das alles ein zweites Mal. All diese Gefühle und dieses Durcheinander. Hatte Eva vielleicht gewusst, dass es erst zur Eskalation kommen muss, damit wir beide zueinander finden und hat sie deshalb den Part übernommen, Jeremiel die Wahrheit zu sagen? Einfach aus dem Grund, damit ich das nicht tun musste und damit ich stattdessen auf ihn zugehen und mit ihm ins Gespräch kommen konnte? Kann es sein, dass ich meine Schwester doch irgendwie falsch eingeschätzt habe? Liam sah Jeremiel an, der sich offenbar wirklich Mühe gegeben hatte, seinen Gefühlen irgendwie Ausdruck zu verleihen. Und für so einen unerfahrenen Menschen wie ihn war das wirklich ein gewaltiger Fortschritt. Schließlich erhob er sich und sah auf Jeremiel herunter, der gut und gerne 15 Zentimeter kleiner war, da Liam schon fast an die zwei Meter heranreichte. Sanft strich er über die Wange des 25-jährigen und sah ihm tief in die Augen. „Und du bist dir wirklich sicher? Gefühle kann man falsch verstehen und ich will nicht, dass du dich meinetwegen wieder so schlecht fühlst. Ich will dir nicht wehtun, nicht noch einmal. Bevor das passiert, begrabe ich lieber meine Gefühle für immer und lasse dich gehen. Und außerdem hast du doch selbst gesagt, dass es unnatürlich ist, wenn zwei Männer sich lieben.“

„Das schon, aber Delta hat mir erklärt, dass ich mich geirrt habe. Man liebt, wen man liebt und daran ist nichts falsch. Und du sagtest doch selbst: wo Dunkelheit ist, wird es auch Licht geben. Und deshalb wird es zu allem was existiert, immer ein äquivalentes Gegengewicht geben. Also ist es doch nicht unnatürlich, wenn ich dich liebe.“ Einen Augenblick zögerte Liam noch, aber dann schloss er den 25-jährigen in seine Arme. Er drückte ihn fest an sich und Jeremiel spürte, wie der Unvergängliche zitterte. Er kämpfte immer noch mit seinen Emotionen und brach schließlich in Tränen aus. Zuerst war Jeremiel unsicher, was er jetzt genau tun sollte, aber dann entschied er sich einfach dazu, die Umarmung zu erwidern. So lagen sie sich eine Zeit lang in den Armen und sagten nichts. Wieder schlug sein Herz wie verrückt und er wurde irgendwie von diesem leisen Wunsch ergriffen, dass dieser Moment nicht aufhören würde. Doch dann löste sich Liam sofort wieder von ihm und zuerst war Jeremiel verwirrt und dachte zuerst, er hätte irgendetwas falsch gemacht, aber dann sah er die Angst in Liams Augen. Aber wovor hatte er denn Angst? Es gab doch keinen Grund, oder etwa doch? „Tut mir leid, aber… es geht nicht.“ Jeremiel war verwirrt und verstand nicht wirklich, was das zu bedeuten hatte. Er war ratlos und versuchte das für sich irgendwie zu erklären. Wieso nur wies Liam ihn zurück, obwohl er ihn liebte? Das war doch widersprüchlich. „Warum nicht?“

„Versteh mich nicht falsch. Ich liebe dich wirklich und ich würde wirklich alles für dich tun. Aber… ich habe etwas getan, was unverzeihlich war. Ich habe dich zu etwas gezwungen, was du nicht wolltest. Ich will dich beschützen, aber es hat sich gezeigt, dass ich die wohl größte Gefahr für dich bin. Deshalb ist es besser, wenn wir uns voneinander distanzieren.“ „Liam…“

„Nein! Es geht einfach nicht. Akzeptier das bitte und geh.“ Jeremiel versuchte noch, mit Liam zu reden, doch es hatte keinen Zweck. Er blieb hartnäckig und so blieb ihm nichts anderes übrig als zu gehen. Doch so wirklich schlauer als vorher war er auch nicht. Nur noch verwirrter. Er hatte irgendwie gedacht, dass sich jetzt alles klären würde. Aber stattdessen hatte es damit geendet, dass Liam ihm jetzt aus dem Weg ging. Das machte in seinen Augen einfach keinen wirklichen Sinn. Nachdenklich durchstreifte Jeremiel das Haus und traf schließlich auf Johnny, der ein wenig verstimmt aussah. Offenbar war der Streit mit Gishi irgendwie nicht so gut verlaufen. Als der Informant aber sah, wer da kam, da schwand sein missmutiges Gesicht und er setzte ein Lächeln auf. „Hey Jerry, wie geht’ wie steht’s?“

„Es geht. Irgendwie habe ich das Gefühl, als würde alles nur noch unverständlicher werden. Und was ist mit dir? Bist du wegen Gishi verstimmt?“

„Ach nein! Es ist nichts Besonderes. Weißt du, es sind nur ein paar Kleinigkeiten aber das renkt sich schon wieder ein.“ Johnny log, das merkte Jeremiel sofort. Für gewöhnlich, wenn dieser die Wahrheit sagte, war er ein unausstehlicher Mistkerl, vorlaut und respektlos. Aber Delta sagte mal, dass Johnny viel freundlicher wurde, wenn er log. „Was ist wirklich passiert?“ Johnny seufzte und kratzte sich dabei am Kopf. „Ach diese ganze Beziehungskiste finde ich einfach zum Kotzen.“ Er ging zusammen mit Jeremiel nach draußen auf die Terrasse, wo es zum Glück nicht ganz so heiß war. Der Himmel war bewölkt und ein kühler Wind wehte. Sie setzten sich in eine schattige Ecke und Johnny legte seine Beine auf dem Tisch ab. „Manchmal verstehe ich Delta nicht. Er ist ein totaler Nymphomane, der mit jedem in die Kiste steigt. Das weiß ich ja und ehrlich gesagt ist es mir scheißegal. Aber mir geht diese Dreieckskiste mit Marcel so auf den Senkel. Dieses ewige hin und her ist total anstrengend und nach über 400 Jahren, wo wir schon leben, müssten doch manche Dinge wenigstens halbwegs normal und geregelt ablaufen können. Ja ich gebe es zu, ich liebe es, Delta auf die Palme zu bringen. Er lässt sich nun mal so hervorragend ärgern und es wäre mir auch sonst zu langweilig. Ich hab ja auch kein Problem damit, dass er neben mir noch zig andere Typen hat. So eine einfache Beziehung ist nun mal nichts für ihn, aber ich finde es einfach ätzend, dass es sich auch mit den Gefühlen nicht anders verhält. Weißt du Jerry, es gibt ja tatsächlich so offene Beziehungen wo Paare dann einfach mal mit anderen schlafen, aber sie lieben sich immer noch. Aber Delta ist so flatterhaft, dass man nie wirklich weiß, ob er jetzt gerade mit jemandem herumvögelt, weil er mal wieder Notstand hat oder weil da auch Gefühle im Spiel sind. Zuerst fickt er stets und ständig mit Marcel, obwohl er ihn hasst und mich behandelt er wie einen Fußabtreter. Und kaum, dass du dazu kommst und Delta sich wie die reinste Glucke aufführt, da stürzt er sich wieder wie ein Liebestoller auf mich.“

„Ich bin schuld?“

„Das habe ich jetzt nicht gesagt. Aber es ist nun mal so, dass Delta und ich von Liam die Bitte erhalten hatten, uns gut um dich zu kümmern und dir so gut es geht zu helfen. Wir haben das gerne gemacht und dadurch, dass wir gemeinsame Interessen verfolgten, sind wir uns wieder näher gekommen und jetzt muss ich wieder damit rechnen, dass Delta sich wieder an Marcels Hals wirft und ich wieder der Mann auf der Ersatzbank bin. Ich sag’s dir, Jerry: Liebe macht nicht blind, sie ist geisteskrank!“ Jeremiel betrachtete Johnny, der aus den unzähligen Innentaschen seines Mantels eine Zigarettenschachtel herausholte und dann eine Zigarette anzündete. Schließlich aber hatte der 25-jährige eine Idee und fragte „Und wenn du einfach mal mit Delta Klartext redest? Ich meine, wenn es dir so missfällt, dann ist es doch das Beste, wenn du mit ihm darüber sprichst und ihm klar machst, dass du keine – wie du es gerade bezeichnest – Fußmatte bist. Wenn du deine Provokationen lässt und mal ernsthaft mit ihm redest, wird sich vielleicht eine Lösung finden.“

„Kann sein. Ich werde mal schauen, was ich mache. Aber was ist mit dir? Wie ich gehört habe, hast du schon mit Liam geredet. Habt ihr alles klären können?“ Jeremiel schüttelte den Kopf und erzählte von dem Gespräch mit Liam und dem etwas merkwürdigen Ausgang. Johnny hob erstaunt die Augenbrauen als er hörte, dass Jeremiel Liam seine Liebe gestanden hatte und wie Letzter ihn in den Arm genommen und dann geweint hatte. „Meine Fresse“, murmelte Johnny schließlich und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und blies einen Rauchkringel. „Das mit euch ist ja fast genauso abgefuckt kompliziert wie bei mir und Delta oder Delta und Marcel.“

„Ich verstehe nicht, wieso Liam mich auf einmal wegstößt, obwohl er mich doch liebt.“

„Na weil er Schiss hat. Was er mit dir gemacht hat, war ja quasi eine Vergewaltigung und vergiss nicht die Nummer mit der Fußkette. Für gewöhnlich bringt ihn rein gar nichts aus der Ruhe und wenn ihn irgendetwas beschäftigt, zeigt er es nie und meist macht er dann genau das, was er eigentlich nicht tun wollte. Und er denkt, dass er eine Gefahr für dich ist. Immerhin ist er Mafiaboss, ein Unvergänglicher mit gottesähnlichen Kräften wenn man bedenkt, dass er über Leben und Tod bestimmen kann, und er besitzt nicht gerade viel Feingefühl. Ach was heißt nicht viel? Der Kerl ist im Grunde wie ein Stachelschwein.“

„Wie ein Stachelschwein?“ fragte Jeremiel und runzelte die Stirn. „Sprichst du damit auf das Stachelschweinbeispiel von Arthur Schopenhauer an?“

„Ganz genau. Wenn Tiere frieren, rücken sie zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen. Aber Stachelschweine würden sich gegenseitig verletzen, wenn sie sich zu nahe kommen. Deshalb müssen sie einen geeigneten Abstand zueinander finden, damit sie sich einerseits wärmen, sich aber andererseits auch nicht verletzen können. So verhält es sich mit Liam. Er glaubt, dass er dich nur wieder verletzen würde, wenn er sich auf die Beziehung mit dir einlassen würde. Er ist nun mal ein dominanter Typ, da ist es auch ein wenig schwierig mit ihm.“

„Aber in meinem früheren Leben als Nikolaj habe ich es doch auch geschafft, oder etwa nicht? Also was soll ich am besten tun, Johnny?“

„Bleib einfach hartnäckig und lass dich nicht unterkriegen. Liam ist ein alter Dickschädel und denkt manchmal nicht richtig darüber nach, was er tut. Aber wenn du dran bleibst und genau weißt, was du willst, dann dürfte es schon gehen.“ Na hoffentlich behielt Johnny auch Recht. Denn Jeremiel war sich jedenfalls nicht sonderlich sicher, was er jetzt tun sollte. Aber eines wusste er jetzt schon: einfach so aufgeben war keine wirkliche Option.

Ein offenes Gespräch

In den nächsten drei Tagen versuchte Jeremiel noch mehrmals, mit Liam zu sprechen, doch dieser war entweder nicht da oder er war beschäftigt und hatte keine Zeit. Natürlich war Jeremiel nicht blöd und hatte schon längst gemerkt, dass Liam ihm absichtlich aus dem Weg ging. Und so langsam wurde das einfach unerträglich für ihn. Das schlug sich auch schnell auf seine Laune nieder. Meist saß er in seinem Zimmer und las Bücher oder löste Rubrikwürfel oder ähnliche Rätselspiele, er verlor jeglichen Appetit und war zudem auch ziemlich niedergeschlagen. Natürlich blieb das nicht unbemerkt. Johnny versuchte ihn irgendwie auf andere Gedanken zu bringen, wenn er nicht gerade beschäftigt war, sich um Mr. Fincher und Norman zu kümmern, die da schon seit Tagen im Keller eingesperrt waren und immer noch für ihr Vergehen büßen mussten. Auch Delta gab sein Bestes um „Engelchen“ irgendwie aufzumuntern, aber nichts wollte wirklich klappen. Schließlich setzten sich die beiden Unvergänglichen zusammen um zu beratschlagen, was sie tun sollten. „Ach Mensch Darling, so langsam weiß ich wirklich nicht mehr weiter. Egal was wir machen, Engelchen ist vollkommen depressiv und lässt sich einfach nicht mehr aufmuntern. Und Liam sieht auch immer unglücklicher aus.“

„Jerry hat nun mal Liebeskummer, wundert dich das? Wenn Liam nicht so einen verdammten Stock im Arsch hätte, dann bestünde dieses Problem jetzt nicht. Er hat einfach zu viel Schiss, dass er Jerry noch mal was antun könnte, dass er sich so dämlich anstellt.“

„Naja verübeln kann man es ihm ja nicht, oder? Immerhin hat er schon Nikolaj verloren und Engelchen ist nur ein Mensch.“

„Stimmt. Wenn Liam für immer mit ihm zusammen bleiben will, dann muss er ihn zu einen von uns machen. Und ich glaube, dass er das nicht will. Zumindest nicht ohne Jerrys Einverständnis.“

„Eine wahre Tragödie. Ich kann mir schon vorstellen, dass er Angst hat, dass er sich emotional zu sehr an Engelchen bindet und dann noch so wird wie Eva. Solange er eine emotionale Distanz zu den Menschen wahren konnte, hat er unter ihnen leben und seine Bürde als Unvergänglicher tragen können. Aber wir wissen ja, wie das mit Eva ausgegangen wäre, wenn Liam sie damals nicht aufgehalten hätte.“

„Erinnere mich bloß nicht daran. Ich hab schon immer gewusst, dass die Alte einen Dachschaden hat.“

„Eva liebt die Menschen zu sehr. Das ist das Verhängnisvolle und Liam fürchtet sich davor, auch Engelchen zu sehr zu lieben. Und er will ihm auch nicht die Chance nehmen, ein normales Leben zu führen. Immerhin wäre Engelchen zu einem ewigen Leben gezwungen und das kann man nicht wirklich von ihm verlangen.“ Stimmt, dachte Johnny und schob sich einen Streifen Kaugummi in den Mund. Sonst wird der arme Kerl noch genauso bescheuert wie wir. Da kann man Liam schon verstehen, dass er ihm das ersparen will. Aber so wie jetzt kann es auch nicht weitergehen. Schön und gut dass ich das wenigstens jetzt mal mit Delta geklärt habe, aber mit Jerry und Liam müssen wir uns echt was einfallen lassen. „Und wenn du Liam mal den Kopf wäschst? Immerhin ist das dein Job!“

„Ich weiß, aber du kennst ihn doch, Darling. Er ist so ein verdammter Sturkopf, mit dem kann man einfach nicht vernünftig reden. Ich überlege echt schon, ob wir nicht vielleicht Eva kontaktieren und sie fragen sollten.“ Sie grübelten die ganze Zeit, ohne auf eine Lösung zu kommen. Da die Rumsitzerei zu nichts führte, beschloss Johnny, sich wieder den V.I.P.s zu widmen und ihnen mal wieder zu zeigen, wo der Hammer hing. Delta hingegen beschloss, es noch mal mit einem Gespräch mit Liam zu versuchen in der Hoffnung, dass dieser mal endlich von seinem Dickschädeltrip herunterkam und vernünftig mit sich reden ließ. Denn so konnte es auf Dauer wirklich nicht weitergehen und Delta konnte auch nicht mit ansehen, wie Liam und Jeremiel so vor die Hunde gingen, nur weil sich dieser Idiot so verdammt stur stellte und sich sein eigenes Glück verbaute.

Er traf den Mafiaboss in seinem Zimmer, wo er gerade dabei war, ein paar Röntgenaufnahmen zu studieren. „Schon wieder einen Patienten?“

„Ein 12-jähriges Mädchen, das einen Hirntumor hat. Ihre Eltern sind gestorben, die Großeltern mittellos. Wenn der Tumor nicht entfernt wird, stirbt sie garantiert. Und dann habe ich noch einen Familienvater, der dringend eine Spenderniere braucht. Die Niere wäre da, aber er hat kein Geld für die Transplantation. Also werde ich das übernehmen.“ „Das sind die Seiten an dir, die ich am meisten an dir liebe, Herzchen. Du hast wirklich ein gutes Herz.“

„Sag schon was du willst.“ Liam war schon so gereizt, seit er Jeremiel zurückgewiesen hatte und das bekamen insbesondere seine Leute zu spüren, weil er nun noch kaltschnäuziger war als ohnehin schon. Der Kimonoträger setzte sich zu ihm hin und überkreuzte die Beine, wobei er auch die Arme verschränkte und ihn mit einem strengen Lehrerblick anfunkelte. „Herzchen, wir müssen mal ernsthaft miteinander reden. So kann das doch echt nicht weitergehen. Ich sehe doch, dass du total unglücklich bist und Engelchen leidet auch wie ein Schlosshund. Was hält dich davon ab, es mit Engelchen zu versuchen? Er hat dir doch seine Liebe gestanden und wenn du endlich mal diesen blöden Stock aus deinem Arsch ziehen und endlich mal Eier in der Hose haben würdest, dann würdest du dich nicht so anstellen. Meine Güte, du wolltest seine Liebe doch, oder etwa nicht? Wovor fürchtest du dich denn so? Etwa davor, dass du ihm wehtun könntest? Oder hast du Angst, ihn zu verlieren? Wenn es das ist, dann kann ich dich nur beglückwünschen: du bist nämlich auf dem besten Weg dahin.“ Liam legte die Aufnahmen beiseite und wirkte sichtlich gereizt. Aber Delta merkte schon, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. Schließlich aber senkte Liam geschlagen den Blick und erklärte „Ich könnte es nicht ertragen, ihm noch einmal so wehzutun wie an dem einen Abend. Ich will ihn beschützen, auch vor mir selbst.“

„Weißt du eigentlich, was für eine gequirlte Scheiße du da redest? Du tust ihm weh, wenn du ihn einfach zurücklässt. Wofür war das dann eigentlich alles? Engelchen hat sich solche Mühe gegeben, dich Hornochsen endlich mal zu verstehen und hat es sogar geschafft, seine Gefühle für dich zu erkennen und dir sogar seine Liebe zu gestehen. Deine Zurückweisung verunsichert ihn doch total und nun leidet er. Was soll er denn jetzt tun, hm? Er ist doch total auf dich fixiert wie ein kleines Hündchen. Johnny und ich sind zwar seine Freunde, aber wir können ihm nicht das geben, was du ihm geben kannst. Er wird nur noch unglücklicher werden, wenn du nicht endlich aufhörst zu denken, du wärst eine Gefahr für ihn.“

„Bin ich es denn nicht? Delta, wir sind eine Mafiaorganisation, schon vergessen? Das ist nicht seine Welt und ich will ihn nicht in Gefahr bringen.“

„Daran hättest du mal vorher denken können, bevor du und Eva ihn wiederbelebt und sein wahres Ich erweckt habt. Warum hat er wohl keine Erinnerungen, hä? So langsam glaube ich nämlich, dass Eva absichtlich seine Erinnerungen gelöscht hat, damit es ihm leichter fällt, sich für ein Leben an deiner Seite zu entscheiden. Er hat doch sonst niemanden außer uns. Sprich doch mit ihm, verdammt.“

„Er hat einen Bruder und ich will ihm nicht die Chance nehmen, ein normales Leben zu führen. Und ich habe begriffen, dass eine Liebe zwischen Menschen und Unvergänglichen nicht möglich ist. Es tut mir leid für Jeremiel, aber es ist das Beste für ihn und eines Tages wird er das auch verstehen.“ Doch Delta schüttelte verständnislos den Kopf und hätte Liam am liebsten eine reingehauen. Dieser verdammte Vollidiot, dachte er und musste sich wirklich zusammenreißen, um nicht noch lauter zu werden. „Du kannst hier nicht entscheiden, was das Beste für ihn ist und was nicht. Das ist immer noch seine Entscheidung, also lass ihn doch entscheiden und hör auf, dich die ganze Zeit so verrückt deswegen zu machen.“ Liam wandte den Blick ab und schwieg. Delta hatte ja schon Recht, aber trotzdem konnte er sich einfach nicht überwinden. Der Kimonoträger schüttelte den Kopf und gab ihm dann einen Klaps auf den Hinterkopf. „Du bist ein unverbesserlicher Idiot, weißt du das? Mensch, du machst dir alles manchmal viel komplizierter als nötig. Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass Engelchen auch ein Wörtchen mitzureden hat? Also jetzt steh verdammt noch mal auf und rede mit ihm, oder ich trete dich zur Tür raus!“ Und damit zerrte Delta ihn vom Stuhl hoch und ging mit ihm zur Tür. Widerwillig folgte Liam ihm und als sie schließlich Jeremiels Zimmer erreichten, da stieß Delta ihn einfach hinein und schloss die Tür ab. „So Herzchen, ich lass dich erst raus, wenn ihr das geklärt habt. Und wenn du versuchen solltest, die Tür aufzubrechen, dann werde ich noch schwerere Geschütze auffahren. Und glaub mir: das willst du sicherlich nicht erleben!“ „Alter Schwede“, bemerkte Johnny, der gerade hinzugekommen war. „Das war ja mal der Oberhammer. Und was jetzt?“

„Aufpassen, dass er nicht tatsächlich versucht, die Tür aufzubrechen. Durchs Fenster wird er wohl kaum türmen, das wäre echt zu kindisch. Aber wer nicht hören will, der muss fühlen. Und die Kinderstunde ist vorbei.“

„Du bist echt der Teufel, Delta.“
 

Jeremiel hatte gar nicht so wirklich registriert, was denn eigentlich passierte. Er hatte gerade an einem Tisch gesessen und ein Kartenhaus gebaut, doch da hatte plötzlich Delta die Tür geöffnet und Liam ins Zimmer hineingestoßen. Dieser versuchte erst die Tür zu öffnen, welche jedoch abgeschlossen war und schlug gegen die Tür wobei er gereizt rief „Delta, hör sofort auf mit dem Blödsinn und lass mich sofort hier raus!“ Doch das hatte keinen Sinn. Delta wollte ihn nicht rauslassen und sich mit Gewalt befreien wollte Liam auch nicht so wirklich. Das würde wahrscheinlich nur noch mehr Stress mit ihm geben. Also gab er es auf und seufzte geschlagen. Er wandte sich Jeremiel zu, der mit seiner Arbeit aufgehört hatte und ihn fragend ansah, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Man sah auch, dass er kaum geschlafen hatte. Er hatte leichte Augenringe, war blass und abgebaut hatte er auch. Und das alles nur meinetwegen, dachte Liam als er ihn so sah. Ihn plagte schon das schlechte Gewissen, doch so wirklich zeigen konnte er das nicht. Aber Jeremiel sah es schon längst. Und anstatt, dass er mit irgendwelchen Vorwürfen kam oder sagte, wie schlecht es ihm ging, fragte er besorgt „Alles in Ordnung mit dir?“ Liam blieb stehen und zögerte erst, näher zu kommen. „Delta spinnt rum, das ist alles…“ „Bist du dir sicher?“ hakte der 25-jährige nach und erklärte „Du siehst ziemlich blass aus. Geht es dir nicht gut?“

„Du solltest dir mal mehr Sorgen um dich machen. Hast du dich mal im Spiegel angesehen?“ Jeremiel senkte den Blick und schwieg. Er machte zuerst einen verschüchterten Eindruck, aber in Wahrheit war er vollkommen niedergeschlagen, ohne es wahrscheinlich selbst zu verstehen. Ihn so zu sehen ließ Liams Vorhaben vergessen und er ging zu ihm hin. Obwohl er vehement Distanz zu ihm wahren wollte, weil er es als das Beste für alle Beteiligten erachtete, verringerte er nun den Abstand und blieb dann direkt vor ihm stehen. Und es kostete ihn eine enorme Willenskraft, ihm nicht noch näher zu kommen. „Ich hatte geschäftlich viel zu tun und musste einige Operationen durchführen“, erklärte er, um Jeremiels Frage zu beantworten. Natürlich war das gelogen. Wegen so etwas würde er gewiss nicht so aussehen. Aber er wollte einfach nicht, dass Jeremiel etwas merkte und dann die Wahrheit wusste. Doch immer noch sah dieser ihn mit fragendem Blick an und schien wohl nicht so ganz zu glauben, was Liam da sagte. Es herrschte ein unangenehmes Schweigen zwischen ihnen und der Mafiaboss überlegte schon, ob er nicht vielleicht doch das Risiko eingehen und einfach die Tür eintreten sollte. Aber gleich schon, als er diesen Plan tatsächlich in die Tat umsetzen wollte, da stand Jeremiel auf und hielt ihn am Arm fest und fragte ganz direkt und beinahe schon mit der unwissenden Unschuld eines Kindes „Warum gehst du mir immer aus dem Weg, Liam? Wovor hast du Angst?“ „Ich hab keine Angst“, erklärte dieser gereizt und riss sich los, wobei er aber Jeremiel so unglücklich stieß, dass dieser den Halt verlor, gegen den Tisch prallte und sich beim Sturz den Kopf anschlug. Er stürzte zu Boden und sofort war Liam bei ihm. „Hey, geht es dir gut?“ Er kniete sich neben ihn hin und sah sich die Verletzung an. Zum Glück war es nichts Ernstes, aber im Grunde bestätigte dieser Vorfall ihn wieder genau darin, was ihm keine Ruhe ließ: er war eine Gefahr für ihn. „Siehst du es jetzt?“ fragte er und senkte den Blick. „Egal was ich auch mache, ich werde dir immer nur wehtun, obwohl ich dich doch nur beschützen will.“

„Aber es ist doch nichts passiert und es war doch ein Versehen“, wandte der 25-jährige ein und stand wieder auf, wobei er vorsichtig die Stelle an seinem Kopf betastete und vor Schmerz das Gesicht leicht verzerrte. „Du musst mich doch nicht stets und ständig beschützen. Ich bin doch nicht aus Glas und kann schon was aushalten.“

„Das hat mir aber bei deiner Entführung ganz anders ausgesehen. Schon mal darüber nachgedacht, was dir noch geblüht hätte, wenn Delta, Johnny und ich dich nicht befreit hätten? Dieser Fincher hätte dich nicht bloß zu seinem Sexsklaven abgerichtet, der hätte dich so verstümmelt, dass von dir kaum noch etwas übrig geblieben wäre. Dich kann man kaum alleine lassen, ohne dass du dich in Schwierigkeiten bringst. Und ich könnte es einfach nicht ertragen, dich noch einmal zu verlieren!“ Wieder sah Jeremiel ihn schweigend an und war sich offenbar nicht sicher, was er tun sollte. Dann aber nahm er Liams Hand, hielt sie fest und sah ihm tief in seine dunkelroten Augen. „Was kann ich denn tun, damit du keine Angst mehr haben musst? Ich kenne mich leider überhaupt nicht mit solchen Dingen aus und weiß deshalb nicht, was ich tun kann. Wenn du einen Weg weißt, dann sag es mir.“ Doch Liam schüttelte den Kopf und sagte nur „Ich kann das nicht von dir verlangen, Jeremiel.“ Aber der 25-jährige ließ einfach nicht locker und sah ihn fragend und mit einem fast schon unglücklichen Blick an. „Was ist es denn? Ist es etwa so schlimm?“

„Ist dir denn nicht klar, dass wir beide in verschiedenen Welten leben?“ rief Liam und erschrocken zuckte Jeremiel zusammen, da er mit diesem plötzlichen Ausbruch nicht gerechnet hatte. Doch er wich nicht vor ihm zurück oder hatte Angst. Er wartete einfach darauf, dass Liam endlich sagte, was das Problem war. „Ich bin unvergänglich, genauso wie meine Familie. Johnny, Delta und Marcel sind aus Fragmenten meines Bewusstseins erschaffen worden, weil ich sonst niemanden hatte. Wir hören niemals auf zu existieren und deshalb werde ich dich wieder verlieren, weil du nur ein Mensch bist. Im Grunde ist das Ganze doch von vornherein zum Scheitern verurteilt. Ich kann nichts dagegen tun, dass ich unvergänglich bin. Der einzige Weg, dass wir für immer zusammenbleiben können wäre, wenn du ebenfalls zu einem Unvergänglichen wirst. Und das würde bedeuten, dass du dieselbe Bürde tragen musst wie ich und die anderen. Du könntest kein normales Leben führen wie andere Menschen und würdest jeden auf der Welt irgendwann sterben sehen. Das kann ich nicht von dir verlangen.“ Damit wollte Liam nun endlich gehen, denn für ihn hatte sich damit das Thema erledigt. Was sollten sie denn auch sonst noch besprechen? Jeremiel würde selbst sagen, dass er das nie und nimmer wollte. Es hatte einfach keinen Sinn. Es war eine absolut unmögliche Geschichte wie bei… wie bei… na Romeo und Julia! Zwei verschiedene Welten mit einer unglücklichen Romanze und einem absolut beschissenen Ende. Nie und nimmer wollte er Jeremiel so etwas antun und ihm sein Leben als normaler Mensch nehmen. Aber dann sagte der 25-jährige etwas, das ihn nun völlig aus der Bahn warf und ihn so überraschte, dass er gar nichts mehr sagen konnte. „Aber wenn man bei dem ist, den man liebt, dann… dann ist es doch nicht so schlimm wie du sagst. Ich habe keine Erinnerungen an mein altes Leben. Ich kann nicht sagen, ob ich als normaler Mensch glücklich sein kann oder nicht. Das Einzige, was ich vielleicht will ist, meinen Bruder kennen zu lernen. Und wie ich erfahren habe, so habe ich nie wirklich gelebt. Ich war nie glücklich oder traurig und hatte nichts und niemanden. Im Grunde sind du, Delta und Johnny die Einzigen, die mir nahe stehen. Deshalb denke ich nicht, dass es mir so viel ausmachen würde, als Unvergänglicher bei dir zu bleiben.“

„Das sagst du jetzt. Aber spätestens wenn du deinen Bruder triffst oder einen anderen Menschen findest den du sehr gerne hast, dann wirst du dich dagegen entscheiden. Glaub mir!“

„Warum lassen wir es dann nicht auf einen Versuch ankommen?“ fragte Jeremiel ganz einfach und sein Verhalten gab Liam, der seinerseits immer heftiger reagierte, immer mehr Rätsel auf. „Wieso machen wir es nicht einfach so: ich werde meinen Bruder treffen und dann entscheiden, welches Leben ich mir besser vorstellen kann. Ein Leben mit dir oder ein Leben als normaler Mensch.“ Eigentlich war das ja ein guter Vorschlag, gegen den man nichts einwenden konnte. Aber dennoch war Liam skeptisch. „Wenn du zu deinem Bruder gehst, dann… dann wirst du nicht mehr zu mir zurückkehren wollen. Ich kann dir das auch nicht verübeln. Nach allem, was ich dir angetan habe… wer würde denn freiwillig zurückkommen?“ Da Worte offenbar nichts brachten, entschloss sich Jeremiel kurzerhand für etwas anderes. Also stellte er sich auf die Zehenspitzen und küsste Liam. Dabei dachte er sich nicht viel. Er sah es einfach als die wohl beste Methode an, um endlich dieses ganze Hin und Her und Wenn und Aber aus der Welt zu schaffen. Er ließ sich einfach mal von seinem Gefühl leiten. „Ich bin schon ein Mal zu dir zurückgekehrt“, erklärte er und umarmte den Unvergänglichen. „Und deshalb werde ich auch dieses Mal wieder zu dir zurückkehren. Ich liebe dich und ich bin dir auch nicht böse deswegen, was passiert ist. Es war eine Verkettung unglücklicher Umstände gewesen und du hast mir ja nicht aus böser Absicht wehgetan. Zwar mag es sein, dass du ein Mafiaboss bist und kriminelle Geschäfte am laufen hast, von denen ich besser nichts wissen sollte. Und es mag wohl sein, dass das nicht meine Welt ist, weil ich mit Verbrechen nichts zu tun haben will. Aber ich weiß, dass du auch ein gutes Herz hast, selbst wenn du kriminelle Geschäfte machst. Du hast mich gerettet und du operierst Menschen, die mittellos sind und Hilfe brauchen. Mag sein, dass in deinem Herzen eine große Finsternis existiert. Wir waren ja dort in dieser dunklen Stadt. Du hast dein Licht komplett verschlossen und ich dachte mir: wenn du dein Licht nutzt, um die Stadt zu erleuchten, dann wird die Finsternis nicht mehr ganz so stark sein wie vorher. Und dann gäbe es überall etwas Licht. Solange du dieses Licht in dir drin nicht verwirfst, habe ich doch gar keinen Grund dazu, nicht mehr zu dir zurückzukommen.“

„Du hast dich wirklich nicht verändert“, seufzte Liam geschlagen und erwiderte die Umarmung. „Obwohl seit damals über 400 Jahre vergangen sind und du dich nicht an dein altes Leben erinnerst, sagst du noch genau die gleichen Worte zu mir wie damals. Als würde in diesem Moment die Zeit wieder zurückgedreht werden…“

Liam hielt ihn fest an sich gedrückt, als wolle er ihn nie wieder loslassen und Jeremiel spürte die tief verborgenen Emotionen. Aber nun verstand er wenigstens, was da die ganze Zeit zwischen ihnen gestanden hatte. Liam wurde von Ängsten und Zweifeln geplagt. Angst davor, dass er die Person verletzen oder verlieren könnte, die er liebt und Zweifel davor, ob er der Richtige war. Zwar konnte Jeremiel auch nicht wirklich die Ideallösung präsentieren, denn er war ja selbst recht überfragt mit der ganzen Situation, aber er glaubte, dass er mit seinem Vorschlag doch eigentlich eine ganz gute Lösung gefunden hatte. So konnte er für sich die beste Entscheidung treffen und auch Liam Gewissheit geben. Natürlich wollte er nach wie vor unbedingt seinen Bruder L kennen lernen und mehr über ihn und sich selbst wissen. Auch wenn sein Leben bis vor seiner Amnesie nicht gerade eines gewesen war, auf das man hätte stolz sein können. Und er wollte ja auch gerne bei Liam bleiben. Er verstand sich auch wunderbar mit Johnny und Delta und hatte die beiden richtig gern. Und er konnte auch seine Gefühle für Liam nicht verleugnen. Er sah auch keinen Grund dazu, es zu tun. Egal was auch kam, er würde sein Versprechen halten und zu ihm zurückkehren.

Schließlich, nachdem sie sich so eine Weile in den Armen lagen, da löste sich Liam ein wenig von ihm und strich sanft über seine Wange. Etwas Seltsames lag in seinem Blick. Es war nicht mehr dieser kühle Ausdruck wie sonst. Nein, er wirkte viel wärmer und emotionaler als sonst. Als würde er nun endlich damit beginnen, ihm auch sein Herz zu öffnen, nachdem die letzten Zweifel beseitigt waren. Und dennoch klang er fast schon unsicher, als er fragte „Darf ich dich berühren?“ Einen Augenblick ließ sich Jeremiel noch Zeit mit der Antwort, denn er wusste, was folgen würde, wenn er sein Einverständnis gab. Aber es war nicht so, dass er es überhaupt nicht wollte. Er war nur nervös und hatte auch ein Stück weit Angst. Aber er vertraute Liam und sagte „Wenn du mir versprichst, mir nicht wehzutun…“

„Das werde ich nicht. Dieses Mal nicht… versprochen.“
 

Delta hatte sein Ohr gegen die Tür gedrückt, während Johnny neugierig durchs Schlüsselloch lugte und sah, was da drinnen vor sich ging. Zwischendurch hatten sie ja echt befürchtet gehabt, dass Liam gleich die Tür aufbrechen und ihnen beiden noch das Fell über die Ohren ziehen würde, aber anscheinend hatte die Methode „Im Raum einschließen und erst rauslassen, wenn alle Konflikte behoben sind“ echt gut gewirkt. Tja, Delta wusste eben, was am Besten in so einer Situation half. Als sie dann aber merkten, dass es langsam interessant wurde, da zerrte Delta Johnny vom Schlüsselloch weg und grinste breit. „Oh ich glaube jetzt wird es richtig heiß!“ „Ja und genau jetzt wäre der passende Zeitpunkt, die beiden in Ruhe zu lassen.“ Damit zog Johnny den Kimonoträger am Ohr von der Tür weg. Dieser zog eine Schmollmiene und jammerte „Ach komm schon, Darling. Jetzt tu doch nicht so, als würdest du das nicht auch gerne sehen.“

„Ja schon, aber denk mal nach, was uns blühen wird, wenn Liam davon spitzkriegt. Der wird uns den Arm abreißen und uns so tief in den Arsch reinrammen, dass wir uns von innen den Hals kratzen können. Und darauf habe ich keine Lust. Und überhaupt: Jerry ist ein guter Freund und da bin ich nicht sonderlich erpicht darauf, ihm und Liam zuzuschauen. Ist ja nicht jeder so versaut und pervers wie du!“

„Ja und? Ich liebe es nun mal Erotisch.“

„Du bist einfach bloß sexsüchtig, das ist alles… Echt unglaublich dass ausgerechnet ich das mal sage: es gibt auch mal Grenzen! Also lass den beiden die Privatsphäre.“

„Nun gut, aber dafür hast du einiges wieder gutzumachen, Darling!“

Angst und Vertrauen

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Ein kleiner Spaziergang

Am nächsten Morgen wachte Jeremiel mit deutlich besserer Laune auf und merkte auch, dass es ihm auch körperlich nicht so schlecht ging wie nach dieser einen Nacht, als Liam das erste Mal mit ihm geschlafen hatte. Womöglich lag es ja daran, dass er dieses Mal deutlich mehr aufgepasst hatte und auch viel rücksichtsvoller gewesen war, sodass Jeremiel nicht solche Schmerzen erdulden musste. Aber auch psychisch ging es ihm erheblich besser und das merkte sogar er! Er war nicht mehr so lustlos und niedergeschlagen, sondern hatte deutlich mehr Energie als vorher. Sicherlich, weil es daran lag, dass er sich mit Liam endlich ausgesprochen und alle Probleme geklärt hatte. Gleich schon, als er in Richtung Salon ging, traf er auch schon auf Liam, der gerade dabei war, etwas zu lesen. Als er aufschaute und den 25-jährigen sah, da blieb sein Gesicht unbewegt, aber er zog leicht die Augenbrauen zusammen und fragte „Wo willst du denn hin?“

„Raus. Ich wollte etwas von Boston sehen.“ „Aha“, murmelte der Mafiaboss und sein Gesicht verdüsterte sich. Offenbar dachte er wieder an die Entführung und machte sich Sorgen. „Wenn du gehst, möchte ich, dass du Johnny bei dir hast. Du hast immer noch keine Erinnerungen und würdest dich verlaufen und es gibt genug Mafiaterritorien in dieser Stadt. Du könntest wieder in die Fänge dieser Menschenhändler geraten, wenn du nicht aufpasst. Deshalb hätte ich es lieber, wenn Johnny dich begleitet.“ Nun gut, eigentlich hatte er ja Recht und man hatte ja gesehen, was passiert war, weil Jeremiel einfach nicht imstande war, verdächtige Situationen sofort zu erkennen oder Misstrauen gegen dubiose Gestalten zu hegen. Aber dennoch war ein Teil von ihm der Ansicht, dass das unnötig war und er auch ohne einen Aufpasser klar kam. Um Liam zufriedenzustellen und ihm auch ein Stück weit die Sorge zu nehmen, es könnte wieder irgendetwas passieren, erklärte sich der 25-jährige einverstanden und so gingen sie Johnny suchen. Dieser war sich mal wieder mit der Mechanikerin am Streiten und machte mit seinen Provokationen alles nur noch schlimmer. Wahrscheinlich wären sie noch aufeinander losgegangen, denn die Madonna mit den Schraubenschlüsseln hatte einen besonders großen gepackt und wollte damit schon auf Johnny losgehen, da ging Liam dazwischen und trennte die beiden Streithähne voneinander. „Jetzt ist aber mal gut hier. Das ist kein Kindergarten und wenn ihr euch die Schädel einschlagen müsst, dann macht das woanders. Johnny, du hast folgenden Auftrag: du begleitest Jeremiel und passt auf, dass er sich nicht schon wieder in Schwierigkeiten bringt. Gishi, die Sportwagen, die eingetroffen sind, müssen umlackiert werden. Kennzeichen und Seriennummern entfernen und dann transportbereit machen. Und kontaktiere Mr. Smith mit der Mitteilung, wenn die Ware abholbereit ist.“

„Verstanden, Chef!“ Damit ging die Asiatin mit den türkis gefärbten Haaren und steckte den Schraubenschlüssel wieder ein. Johnny blickte ihr noch nach und grinste. „Meine Güte, die Madonna ist ja ne richtige Kampfhenne.“ Liam gab ihm einen strafenden Klaps auf dem Hinterkopf und war sichtlich genervt. „Warum musst du auch immer die Leute so provozieren?“ „Hey, ich bin höflich, wenn ich wenigstens mal lügen dürfte.“

„Vergiss das mal lieber. Wir haben alle zu spüren bekommen, was deine verdammten Lügen alles anrichten können.“

„Was kann ich denn dafür, dass die alle plötzlich Paranoia schieben und das Geld von den Banken abheben, woraufhin gleich die ganze Wirtschaft zusammenbricht, nur weil ich das Gerücht verbreitet habe, die Bank wäre zahlungsunfähig geworden?“

„Du hast es doch darauf ankommen lassen und deinetwegen haben wir ebenfalls Riesenverluste gemacht. Ich diskutiere nicht mit dir und fertig aus.“ Doch das schien Johnny auch nicht sonderlich zu jucken und er zuckte gleichgültig mit den Achseln, dann wandte er sich Jeremiel zu. „So, wollen wir zwei Hübschen dann?“ Damit ging Johnny voran und pfiff wieder die Melodie aus Kill Bill, während Jeremiel ihm folgte. Draußen war es irgendwie kühl und bewölkt, allerdings änderte das rein gar nichts an Johnnys guter Laune. Während sie so die Straßen entlanggingen, fragte er direkt „Hab schon gehört, dass da zwischen euch zwei Turteltäubchen alles paletti ist und ihr offenbar euren Spaß im Bett hattet. Und wie geht’s weiter?“

„Wo… woher weiß du…“

„Ich bin Informant, schon vergessen? Ich kenne jedes schmutzige Geheimnis. Also erzähl schon, wie läuft das jetzt zwischen euch weiter?“

„Nun, ich möchte mit meinem Bruder Kontakt aufnehmen und ihn näher kennen lernen. Und dann werde ich mich entscheiden, ob ich zu einem von euch werde, oder ob ich lieber ein normales Leben führen möchte.“ Johnny steckte seine Hände in die Manteltaschen und nickte bedächtig. Es war schon ein Wunder, wie ihm in den Klamotten nicht heiß wurde… „Ist eigentlich die vernünftigste Lösung. Nun gut, es wäre nicht unbedingt unumkehrbar, wenn Liam dich nicht mehr altern lassen würde. Du könntest dich dann immer noch für ein Leben als normaler Mensch umentscheiden. Genauso umgekehrt, wenn du es zumindest noch vor deinem Tode sagen würdest. Trotzdem ist das keine einfache Entscheidung. Denn ein Leben als nicht Alternder würde man schnell Gefahr laufen, komplett abzudriften und zum größten Arsch aller Zeiten zu werden. Dorian Gray ist immer noch das beste Beispiel dafür, dass ewiges Leben nicht immer Glück mit sich bringt. Und man beginnt sich auch irgendwann zu langweilen. Also muss man sich einen guten Zeitvertreib suchen. Delta hat ein ausschweifendes Liebesleben, Marcel hat seine Zahlen und Finanzen und ich hab meinen Spaß, wenn ich mit meinen Lügen und Intrigen ein schönes Chaos anrichten kann. Und Liam hat auch vielfältige Tätigkeiten.“

„Wie ist er eigentlich auf die gekommen, Mafiaboss zu werden?“

„Er sagte mal: Die Gier ist das Einzige, was die Menschen vorantreibt. Geld ist zwar nicht alles, aber es ist das meiste und reicht, um Macht über andere zu haben. Es ist nicht der Mensch, der über den Menschen herrscht, sondern nur seine eigene Habgier und die Materie. Er wollte die Menschen auf seine Weise manipulieren, kontrollieren und beherrschen. Nämlich indem er sie mit ihren eigenen Waffen schlägt und das ist das Geld. Für Geld tun die Menschen einfach alles. Das ganze Leben dreht sich darum, sie verkaufen sogar ihren eigenen Körper oder andere Menschen, nur um daran zu kommen. Wer das Geld hat, der macht auch die Regeln. Und da Geld nicht verboten ist und die Menschen alle ihren Preis haben, hat sich Liam dafür entschieden. Natürlich hätte er genauso gut ins Drogengeschäft einsteigen können, aber das war ihm auf Dauer zu riskant.“ Nun gut, Jeremiel hatte ja gewusst, dass Liam ein gefährlicher Kerl war, denn mit der Mafia war nicht zu spaßen. Und im Hotel hatte er auch gesehen, dass Johnny und Delta nicht zu unterschätzen waren. Sie waren beide Killer, die ohne zu zögern jeden töten würden, der eine Bedrohung darstellte. Aber im normalen Alltag waren sie eigentlich recht umgänglich. „Und wie kam er dazu, mittellose Menschen zu operieren, wenn er doch eigentlich im organisierten Verbrechen tätig ist?“

„Nun, das ist auf deine oder besser gesagt auf Nikolajs Kappe gewachsen. Weißt du, damals war Liam noch ein ganz anderer Typ gewesen. Er war ein echter Tyrann und wir haben in seinem Auftrag auch viel Unheil verursacht. Aber als er dann Nikolaj kennen lernte, da hat er sich schon verändert. Und Nikolaj meinte, dass er auch wenigstens etwas Gutes tun könnte, wenn sein Herz nicht vollkommen schwarz wäre. Und weil der Gute auch gesagt hatte, dass er immer zu Liam zurückkehren würde, wenn er seine nette Seite nicht verlieren würde, hat er sich etwas gesucht. Und da insbesondere während der ganzen Kriege Menschen verletzt wurden und keine Hilfe bekamen, da hat er eben einen auf Chirurg gemacht. Ich denke, er hat diese Tätigkeit ein Stück weit auch beibehalten, weil er für sich selbst die Bestätigung haben wollte, dass Nikolaj Recht hatte und ihn ihm etwas Gutes steckt.“ Also habe ich in meinem letzten Leben vor über 400 Jahren wohl so einiges bewirkt. Insbesondere bei Liam. „Johnny, kannst du mir vielleicht helfen, etwas für Liam zu finden? Ich wollte ihm etwas schenken, damit er nicht mehr bloß ein altes Andenken von Nikolaj hat.“

„Klar doch. Ich denke, wir finden schon was.“ Also begannen sie sich gemeinsam in den Läden umzusehen und Johnny hatte so einige Tipps, aber Jeremiel war nicht immer so hundertprozentig überzeugt. Schließlich, als sie sich dann eine Pause gönnten und in ein Cafe gingen, fragte der 25-jährige so nebenbei „Wie hast du das eigentlich jetzt mit Delta geklärt?“ Johnny, der sich einen Erdbeermilchshake bestellt hatte, setzte sich und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Nun, wie will man etwas mit so einem durchgeknallten Sexsüchtigen wie ihm klären? Wie ich schon mal sagte, er hat an monogamen Beziehungen null Interesse. Dagegen hab ich ja auch nichts, weil ich ja weiß, wie er gestrickt ist. Aber zumindest hat es jetzt den Anschein, als wäre ich jetzt wieder seine Nummer 1. Wollen wir nur mal hoffen, dass das auch so bleibt, denn ich hab nicht sonderlich Lust, wieder der Idiot auf der Ersatzbank zu sein. Und so langsam scheint er wohl auch eingesehen zu haben, dass dieses ganze Hin und Her totaler Bockmist ist. Ich hatte sowieso eher das Gefühl, dass er nur deshalb mit Marcel die ganze Zeit so rumgemacht hat, weil er mich eifersüchtig machen wollte. Im Grunde gehört das ja auch irgendwie zu seinem Spiel dazu.“ Irgendwie ist das mit denen echt kompliziert, dachte Jeremiel und sah Johnny ein wenig ratlos an. Oder liegt es an mir? Als würde der Unvergängliche seine Gedanken lesen könnten, sagte er mit einer abwehrenden Handbewegung „Zerbrich dir deswegen mal nicht so den Kopf, Jerry. Selbst Liam blickt da nicht so wirklich durch, was zum Teufel mit Delta los ist. Und wenn der das nicht schnallt, dann erst recht du nicht. Ich glaub, Delta muss man auch nicht verstehen. Er ist halt eine Nummer für sich.“ Nachdem sie ihre kleine Zwischenpause beendet hatten, gingen sie weiter und sogleich, als sie um eine Ecke bogen, da ergriff Johnny plötzlich seinen Arm, zog ihn in eine kleine Seitengasse und versteckte sich mit ihm. Der 25-jährige war verwundert und fragte „Was ist los?“ „Da kommt gleich ein „Bekannter“ deines alten Ichs.“ Jeremiel versuchte da jemanden zu erkennen und tatsächlich entdeckte er einen gebeugt gehenden schwarzhaarigen Mann in seinem Alter. Und der ähnelte seinem Bruder fast bis aufs Haar. Nur seine rot leuchtenden Augen wirkten irgendwie gruselig. „Wer ist das?“ „Beyond Birthday, der Lover deines Bruders. Ist auch gerade kein Unschuldsengel. Er hat drei Menschen getötet und kam auch ins Gefängnis. Er ist aber ausgebrochen und seitdem lebt er bei deinem Bruder.“

„Mein Bruder lässt einen Mörder bei sich leben? Wieso denn?“

„Na weil es zwischen denen echt gefunkt hat. Weißt du, eigentlich waren die beiden Erzfeinde und Beyond hat L bis aufs Blut gehasst, weil er ihm die Schuld an den Tod von Andrew gegeben hat. Dieser wurde durch die Gedankenschaltkreistechnologie zurückgeholt und sowohl Beyond als auch L haben sich miteinander vertragen und die beiden lieben sich heiß und innig. Allerdings ist der gute Beyond ein absoluter Menschenhasser und ich will lieber nichts riskieren, wenn er dich alleine und ohne L hier sieht. Nicht, dass er noch die Beherrschung verliert, denn dann kann er ziemlich ungemütlich werden.“ So, dann ist das also Beyond, der Partner meines Bruders? Die sehen sich echt ähnlich… „Aber wenn er mit L zusammenlebt, könnte es doch Probleme geben, wenn ich dort auftauche, oder?“

„Das kann ganz gut möglich sein. Ist sogar sehr wahrscheinlich, aber L hat ihn ganz gut im Griff. Wenn er dabei ist, sollte eigentlich nichts passieren. Liam weiß das, sonst würde er dich kaum einfach so gehen lassen.“ Schließlich blieb Jeremiel vor einem Laden stehen, als ihm etwas ins Auge fiel. „Johnny, meinst du, Liam würde so etwas mögen?“

„Ich glaub, der würde sogar ein rosa Tutu annehmen, wenn es von dir käme. Aber ich denke, das wird ihm tatsächlich gefallen. Okay, dann nehmen wir es gleich mit.“ Johnny ging rein und kam kurz darauf mit dem Geschenk zurück und drückte es Jeremiel in die Hand. „Du scheinst ja langsam immer besser zu werden, was das Zwischenmenschliche angeht. Offenbar lernst du ziemlich schnell.“

„Nun ja, ich finde es irgendwie spannend mich mit allem zu beschäftigen, was man irgendwie mit Emotionen verbindet. Ich weiß auch nicht wieso.“

„Scheint so, als hättest du noch ein paar alte Gewohnheiten von Sam Leens beibehalten. Er war auch besessen davon, alles über Emotionen zu lernen. Nur mit dem Unterschied, dass es bei ihm rein gar nichts gebracht hat und er auch nicht mal vor Mord zurückschreckte. Ich fand den Typen schon immer widerlich, jetzt nichts gegen dich. Als Mensch bist du echt in Ordnung und ich mag dich auch echt.“

„Magst du die Menschen etwa nicht?“

„Nun, gegen die Menschheit hab ich ja nichts. Es ist nur der Mensch selbst und an sich, den ich nicht mag. Im Grunde ist sie eine zerstörerische und dumme Rasse, die eigentlich nichts Weiteres sind als Parasiten. Sie sind die einzigen, die aus niedrigen Beweggründen töten. Tiere töten um zu überleben oder um ihre Artgenossen zu beschützen. Es widert mich einfach an, dass sie so verlogen, habgierig und egoistisch sind und nicht mal davor zurückschrecken, andere zu verletzen, zu hintergehen und zu töten, wenn es ihnen persönlich Vorteile bringt.“

„Aber bist du nicht du nicht die verkörperte Lüge?“ Johnny blieb stehen, steckte die Hände in die Manteltasche und sah Jeremiel mit einem fast schon lauernden Blick an. Er lächelte und erklärte „Stimmt ja auch eigentlich. Delta, Marcel und ich verkörpern die wohl schlechtesten Angewohnheiten der Menschheit: Gier, Versuchung und Unaufrichtigkeit. Ich gebe auch zu, dass ich gerne lüge und damit Steine ins Rollen bringe, die dann irgendwann Katastrophen auslösen. Ich denke mir einfach: die Welt will betrogen werden, also soll sie auch betrogen werden. Und mir ist es auch herzlich egal, was meine Lügen anrichten. Immerhin lügen die Menschen doch allesamt auch, also brauchen sie sich doch nicht wundern, wenn sie ebenfalls belogen werden. Aber meine Familie belüge ich nicht gerne, auch wenn es heißt, dass sie mit meiner schamlosen Ehrlichkeit nicht klar kommen.“

„Aber nicht alle Lügen sind schlecht.“ Sie gingen schließlich weiter und die Sonne schien hell, nachdem sich der Himmel etwas gelichtet hatte. Auch von Beyond Birthday war keine Spur mehr zu sehen, weshalb auch Johnny keine Gefahr mehr sah. „Ich weiß. Nicht umsonst heißt es: im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist. Ohne Höflichkeitslügen würden sich noch alle gegenseitig an die Gurgel gehen. Dennoch ändert es nichts daran, dass die Menschheit eine verlogene und selbstsüchtige Rasse ist. Für meine Meinung wurde ich schon oft als menschenhassendes, selbstverliebtes und zynisches Arschloch bezeichnet.“

„Und was sagst du dazu?“

„Dass ich ein misanthrophischer egozentrischer Zyniker mit einem gewissen Hang zu Narzissmus bin. Das ist ein himmelweiter Unterschied!“

„Keine sonderlich guten Eigenschaften, oder?“ Doch Johnny zuckte nur gleichgültig mit den Achseln und schien sich nicht sonderlich darum zu kümmern. „An sich gibt es weder gut noch böse. Erst das Denken macht es dazu und ich war ohnehin schon immer der Ansicht gewesen, dass diese subjektive Einteilung der Dinge in Richtig oder Falsch eine weitere stupide Erfindung der Menschen war. Genauso stupide wie das Geld. Aber die Menschen, die ich am allerwenigsten leiden kann sind Ärzte. Sie nennen sich selbst die Götter in weiß und es stimmt ja auch. Sie sind es, die oft über Leben und Tod herrschen und das Schicksal von Menschen in Händen halten. Deshalb sind sie entweder überheblich oder selbstsüchtig, oder Leben und Tod anderer Menschen geht ihnen am Arsch vorbei. Manchmal trifft sogar alles zu. Mag ja sein, dass es auch Ärzte gibt, die sich ihre Ideale bewahrt haben, aber meist sind es genau die, die dann entweder an der Flasche hängen oder haufenweise Antidepressiva schlucken und selbst vor die Hunde gehen. Nenn mich ruhig einen Pessimisten, was solche Dinge betrifft. In gewisser Hinsicht stimmt das ja auch. Ein Pessimist ist ein Optimist mit Erfahrung und der Vorteil eines Pessimisten ist, dass er immer wieder positiv überrascht werden kann.“ Jeremiel hätte nicht gedacht, dass Johnny eine so schlechte Meinung von den Menschen hatte. Er wirkte gar nicht danach, als würde er so abschätzig über sie denken. Vor allem, weil sie beide sich doch so gut verstanden. Als der Unvergängliche bemerkte, was Jeremiel durch den Kopf ging, klopfte er ihm auf die Schulter und sagte „Jetzt mach dir mal keine Sorgen. Du bist die ganz große Ausnahme. Und weißt du: wenn man schon so lange lebt, dann beginnt man irgendwann alles zu hassen. Ganz egal ob es die Deutschen, die Russen, die Mexikaner, die Amerikaner, die Araber oder die Schlitzaugen sind. Irgendwann ist jeder mal das große Arschloch der Menschheitsgeschichte. Die einen öfter, die anderen eher weniger.“ Jeremiel dachte nach und überlegte, ob er irgendwann auch so zynisch wurde wie Johnny, wenn er tatsächlich so lange leben sollte. Nun ja, er hatte ja noch Zeit, sich das Ganze zu überlegen und zuerst wollte er ja noch seinen Bruder kennen lernen. Aber es stellte sich natürlich die Frage, ob L ihn auch wirklich mit offenen Armen aufnehmen würde, wenn doch bekannt war, dass Jeremiel vor seiner Amnesie Sam Leens war und viele furchtbare Dinge getan hatte. Was, wenn es zur Katastrophe kommen und L ihn hassen würde? „Johnny, was meinst du? Wird es überhaupt gut gehen, wenn ich meinen Bruder treffe?“ Der Unvergängliche dachte kurz nach und legte den Kopf zurück, wobei er ein lang gezogenes „hm…“ von sich gab. Dann aber schien er sich seine Antwort zurechtgelegt zu haben. „Es wird schon schwierig werden, vor allem weil Beyond nicht gerade erfreut sein wird, dich zu sehen. Aber L kennt die Umstände und weiß auch, wieso du so warst, wie du warst. Und er weiß auch, dass Beyond dir sein Leben zu verdanken hat. Zwar wird er dem Braten wohl erst nicht wirklich trauen, aber er wird dir schon eine Chance geben. Wichtig ist nur, dass du dich nicht unterkriegen lässt und auch nicht so schnell aufgibst. Aber wenn du schon Liam auf die Spur bringen konntest, sehe ich hierin eigentlich kaum ein Problem. Wenn es allerdings Probleme geben sollte, kannst du dich jederzeit an uns wenden. Vergiss nicht, wir sind Freunde. Und da werden wir immer sofort zur Stelle sein, wenn du in der Klemme stecken solltest.“ Nachdem sie noch eine Weile spazieren gegangen waren, kehrten sie wieder zurück zu Liams Anwesen. Der Hausherr war gerade nicht da und so wie sie erfuhren, war er gerade mitten in einer Operation. Einem allein stehenden Familienvater musste ein Hirntumor entfernt werden, ansonsten würden seine beiden Kinder bald zu Vollwaisen werden. Dafür aber fanden sie Delta, der mal wieder mit Marcel am Streiten war. Es endete damit, dass er versuchte, den Buchhalter mit einem Stahlfächer zu attackieren, aber der konnte sämtliche Angriffe mühelos abwehren und zeigte sich auch nicht sonderlich beeindruckt. Er sagte nur „Delta, es kostet nur unnötig Energie, wenn du dich so aufregst. Spar dir das doch für deine Schäferstündchen mit Johnny auf.“

„Du bist doch bloß eifersüchtig, weil ich mit dir Brillenschlange Schluss gemacht habe.“

„Wie kannst du Schluss machen, wenn wir nicht mal zusammen waren?“ Johnny seufzte und schüttelte den Kopf. „Gishi hat es wirklich treffend beschrieben: wer schon so lange lebt, der hat irgendwann einen Knacks im Oberstübchen.“ Aber Jeremiel kümmerte dieses Gezanke nicht sonderlich. Mochte ja sein, dass Delta und die anderen schräg sein konnten, aber sie hatten auch ein gutes Herz und allein darauf kam es an. Um den Zoff zu beenden, kam er schließlich mit dem Vorschlag „Warum setzen wir uns nicht einfach nach draußen und trinken einen Tee?“ Und tatsächlich war der Streit erst einmal beendet und so setzten sie sich in aller Ruhe nach draußen auf die Terrasse, woraufhin die Gemüter auch wieder deutlich beruhigt wurden. Und natürlich musste Delta auch gleich fragen „Na, Engelchen? Wie war denn die Nacht mit Liam? Erzähl mir am besten alle schmutzigen Details!“ Der Blondschopf sah ihn erst ratlos an und verstand gar nicht, was denn mit „schmutzigen Details“ gemeint war. Aber als der Crossdresser ihm ein wenig auf die Sprünge half, da spürte Jeremiel, wie er im Gesicht rot wurde und er wusste nicht, was er dazu denn sagen sollte. Doch da kam Johnny schon zur Hilfe und ging dazwischen. „Du brauchst nichts zu sagen. Delta ist eben pervers und verdammt neugierig. Ich hab ihn auch nur mit roher Gewalt von der Tür wegbekommen, weil er unbedingt durchs Schlüsselloch gucken musste.“

„Ich freu mich eben für Engelchen, dass es bei ihm und Herzchen endlich läuft, Darling! Also lass mich doch!“

„Sei froh, dass ich Liam nicht verraten habe, dass du spannen wolltest, sonst hätte er dir noch richtig den Marsch geblasen. Und damit meine ich nicht das, was du dir schon wieder in deinem perversen Hirn zusammenspinnst.“ Doch der Kimonoträger streckte nur beleidigt die Zunge raus und trank einen Schluck Tee. „Du denkst auch immer nur das Schlechteste von mir, oder?“ „Wenn es doch stimmt?“ Offenbar gehört diese Art der Streiterei auch zu ihrer komischen Beziehung dazu. Naja, versteh mal einer die Leute, dachte sich Jeremiel, während er die beiden so beobachtete. Ob mein Bruder auch so drauf ist?

Der letzte Abend

Am Abend saß Jeremiel noch auf der Terrasse und las „Romeo und Julia“ und war gerade an der Stelle angelangt, wo sie sich heimlich getraut hatten, da kam Liam ein wenig abgekämpft und müde mit einer Flasche Bier und setzte sich auf einen der Stühle. Der 25-jährige sah ihn mit einem unbestimmten Blick an und fragte sich, ob der Unvergängliche bis gerade eben noch mit der Operation beschäftigt gewesen war. „Alles gut gelaufen?“ „Ja. Mr. Parker wird es überleben.“ „Das ist schön zu hören. Für die Kinder wäre es sicher sehr schlimm, ohne Vater aufzuwachsen und keine Familie zu haben.“ Liam trank einen Schluck und rieb sich ein wenig müde die Augen. Ihm war deutlich anzusehen, dass er wohl viel Stress gehabt und wohl auch ziemlich unter Anspannung gestanden hatte. Es war ja auch einiges passiert und da konnte man ihm nicht verdenken, dass er erschöpft war. „Du hattest sicher viel zu tun, oder?“

„Kann man wohl sagen. Nicht nur, dass wir einen Kunden aufspüren mussten, der sich mit einem Haufen Schulden klammheimlich aus dem Staub machen wollte, wir müssen auch noch einen Verkauf von knapp 200 Sportwagen über die Bühne bringen. Und bei der Menge ist immer Vorsicht geboten. Und ich hatte heute noch einige Operationen nebenbei. Neben Mr. Parker noch ein kleines Mädchen, das eine Nierentransplantation braucht und dann noch eine Mutter, die am Herz operiert werden musste. Spätestens dann merkt man, dass ein menschlicher Körper selbst dann irgendwann an Grenzen stößt, wenn man ihn schon den eigenen Ansprüchen angepasst hat. Deshalb sind solche ruhigen Abende eigentlich gar nicht mal so schlecht. Und? Wie war dein Stadtbummel mit Johnny?“ Ohne direkt zu antworten, holte Jeremiel sein Geschenk hervor und überreichte es dem Unvergänglichen. Es war ein Lederarmband mit einem kleinen Stahlschild und einer Gravur: יְרַחְמְאֵל Die hebräische Schreibweise von „Jeremiel“. Der 25-jährige beobachtete genau die Reaktion von Liam, konnte aber nicht genau einschätzen, wie dieser sich fühlte, denn der Blick könnte als Erstaunen, Fassungslosigkeit oder auch Entsetzen gedeutet werden. Fragend schaute er ihn an und schwieg. Als er dann aber das Lächeln sah, da wusste er, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Liam legte das Armband an, dann stand er auf und ging zu ihm hin, woraufhin er ihn küsste. „Dankeschön, das ist ein wirklich schönes Geschenk.“ In diesem Moment begann Jeremiels Herz wieder wie verrückt zu schlagen. Sein Gesicht begann zu glühen und obwohl sein Gesichtsausdruck unverändert blieb, als hätte er irgendeine Lähmung, sah man ihm schon an, dass Liams Kuss ihn völlig aus der Bahn warf. Er senkte etwas verlegen den Blick und verstand auch nicht, wieso sein Körper jetzt wieder heftig reagierte, obwohl es doch nur ein Kuss war. Es würde wirklich noch eine lange Zeit brauchen, bis er sich an diese Situation gewöhnt hatte und wo er endlich verstand, was da eigentlich mit ihm los war. Und auch Liam schien wohl nicht immer ganz zu verstehen, was da gerade in Jeremiel vorging. Nun, da dieser auch nicht gerade der wortgewandteste und expressivste Mensch war, kamen nun mal so gewisse Schwierigkeiten, ihn zu verstehen. Insbesondere, wenn sein Gesicht immer so nichts sagend aussah und er wirklich nur dann Gefühle zeigte, wenn es schon zu viel für ihn war. Und auch jetzt wurde der Unvergängliche noch nicht ganz schlau daraus, was in ihn wohl so vor sich ging. „Alles in Ordnung mit dir?“ „I-ich weiß nicht. Mein Herz rast wie wild und irgendwie bin ich ganz rot im Gesicht.“

„Das ist normal, wenn man verliebt ist. Und ich…“ Liam hielt inne und sah auf, da er eine Bewegung wahrnahm. Und tatsächlich erkannte er Delta, der da versuchte, heimlich durch die Fenster zu schauen. Als er bemerkte, dass er aufgeflogen war, versuchte er sich noch schnell zu verstecken, doch dafür war es schon zu spät. Liams Gesicht wurde so düster wie noch nie und er funkelte den Crossdresser mit einem schon fast todbringenden Blick an. „Verschwinde Delta, aber dalli oder ich zieh dir das Fell schön verkehrt herum an!“ Schon kurz darauf kam Johnny, schnappte sich den Kimonoträger und ging mit ihm davon. Liam war sichtlich genervt und die Stimmung, die gerade noch da gewesen war, war natürlich ruiniert. Und das alles war nur Deltas Schuld. „Langsam frage ich mich echt, was bei dem kaputt ist. Der muss dringend mal zum Seelenklempner hin…“

„Er ist sehr neugierig, oder?“

„Es ist echt furchtbar mit ihm. Wenn ich ihn nicht langsam mal in die Schranken weise, wird der noch mit irgendwelchen dämlichen Ideen ankommen. Aber lass uns jetzt nicht mehr die ganze Zeit über Delta reden. Es gibt noch andere Dinge, über die ich mit dir sprechen will.“

„Und die wären?“ Liam setzte sich und wurde ernst. Auch verdüsterte sich sein Blick deutlich, was darauf schließen ließ, dass es wohl um etwas ging, was sie beide betraf. Denn wenn er so aussah, dann war das ein Zeichen für Verunsicherung bei ihm. „Ich habe die Adresse deines Bruders. Es war nicht gerade einfach sie herauszufinden, aber ich könnte dich morgen zu ihm hinbringen, wenn du willst.“ Jeremiel sah ihn immer noch mit diesem Gesicht an, welches weder Begeisterung, noch Nervosität oder Skepsis zeigte. Doch an seinen Augen ließ sich ganz deutlich erkennen, dass er fürchterlich nervös war. Immerhin würde er endlich seinen jüngeren Zwillingsbruder L kennen lernen! Und natürlich wusste er auch, dass dies insbesondere für Liam schwer war, denn er schien wohl immer noch in diesem Glauben gefangen zu sein, dass er den Menschen verlieren würde, den er über alles liebte. Er hatte Angst davor, ihn gehen zu lassen und wahrscheinlich hätte er ihn am liebsten aufgehalten oder sogar im Zimmer eingesperrt, aber das wäre falsch gewesen. Diesen Fehler hatte er schon begangen und ohne Evas etwas zweifelhafte Eigeninitiative und Deltas Engagement wäre es nie zu einer Annäherung gekommen. Aber er wurde einfach von dieser entsetzlichen Angst beherrscht, nach Nikolaj auch noch Jeremiel zu verlieren. Damals hatte er Nikolaj gehen lassen in dem Vertrauen, dass ihm bei Eva nichts passieren konnte. Aber er hatte sich geirrt und Nikolaj war auf grausame Art und Weise gestorben. Im Haus lebendig verbrannt, zusammen mit Dimitrij, während der Rest von Evas Familie von den Opritschnina grausam abgeschlachtet worden war. Ihm war nichts als Trauer und Wut geblieben und diese entsetzliche Leere in seinem Herzen. Er wollte das nicht noch mal erleben und Jeremiel verlieren, weil er ihn einfach so gehen ließ. Natürlich ließ er sich seine Angst um ihn nicht einfach so anmerken. Es war einfach nicht seine Natur, so emotional zu werden und Schwäche zu zeigen. Stattdessen versuchte er dies mit aller Macht zu verbergen, aber das hatte dann zur Folge, dass er kaltschnäuzig und rücksichtslos erschien. Und dann tat er auch Dinge, die die Menschen um ihn herum verletzten. Diese eine Nacht, als er Jeremiel so wehgetan hatte, dass dieser schließlich in Tränen ausgebrochen war, hatte ihm endgültig die Augen geöffnet. Wenn er ihn nicht verlieren wollte, dann musste er ihn gehen lassen, so widersprüchlich das auch klang. Aber wenn das der einzige Weg war, damit sie eine Zukunft hatten, dann würde er es tun. „Wenn du zu L gehst, musst du mir ein paar Dinge versprechen.“

„Die wären?“

„Du meldest dich sofort, wenn irgendetwas sein sollte und ich möchte auch, dass du dich zwischendurch mal meldest. Egal ob bei mir, Delta oder Johnny. Und ich möchte dich bitten, dass du in L’s Gegenwart über mich schweigst. Er muss nicht unbedingt von mir wissen und ich habe auch keine große Lust, hinterher noch in sein Visier zu geraten. Das Letzte, was ich gebrauchen kann, ist so ein verdammter Detektiv, der Ärger macht.“

„Okay, das verspreche ich! Aber ich möchte dich dann auch bitten, dass du L und Beyond nichts tust, wenn es Schwierigkeiten mit ihnen geben sollte. Ich meine, man kann es ihnen nicht verübeln, wenn sie mir misstrauen. Immerhin bin ich Sam Leens gewesen und als solcher habe ich unverzeihliche Dinge getan und deshalb habe ich auch Verständnis dafür, wenn sie mich dafür hassen.“ Liam gab ihm sein Ehrenwort und somit war das geklärt. Sie saßen eine ganze Zeit schweigend zusammen und dachten über verschiedene Dinge nach. Jeremiel blieb nicht verborgen, dass Liam sich immer noch große Sorgen machte. Aber wie konnte er ihm helfen? Er dachte nach, was er in seinen Büchern gelesen hatte und was dort für hilfreiche Tipps genannt wurden. Daraufhin versank er in ein noch tieferes Schweigen und legte dabei sein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. Schließlich aber hatte er doch was gefunden, stand daraufhin auf und zog Liam mit sich zu einem der Gartensofas und setzte sich dort mit ihm hin. Dann lehnte er sich bei ihm an und legte seinen Kopf auf dessen Schulter ab. Der Unvergängliche war ein wenig verwundert und fragte „Was ist denn mit dir los?“ „Ich habe in meinem Beziehungsratgeber gelesen, dass es sehr hilfreich ist, dem Partner körperliche Nähe und Zuwendung zu geben. Damit vermittelt man ihm das Gefühl, dass man für ihn da ist. Und ich mag es nicht, dich so zu sehen.“

„Du liest Beziehungsratgeber?“ Jeremiel nickte und erklärte „Ich weiß rein gar nichts über Gefühle und wie man sich anderen Menschen gegenüber korrekt verhält. Das ändert sich ja je nach Gefühlslage und da ist es auch eben ziemlich schwierig für mich. Deshalb sind solche Beziehungsratgeber und Psychologiebücher eigentlich sehr hilfreich. Und wenn ich trotzdem nicht klar komme, frage ich eben Delta und Johnny. Trotzdem wird das noch dauern, bis ich verstehe, wieso Menschen wütend werden oder lachen, wieso sie einander wehtun und warum sie sich wie verhalten. Und vor allem möchte ich alles über Beziehungen lernen, weil es mir wichtig ist, dich glücklich zu sehen.“

Als der Unvergängliche das hörte, konnte er einfach nicht anders als zu schmunzeln. Er legte einen Arm um Jeremiel und küsste ihn. Dieser erwiderte nach kurzem Zögern den Kuss. Mit einem Mal war diese bedrückte Atmosphäre weg und auch gefühlsmäßig vollkommen unerfahrene 25-jährige merkte, dass Liam etwas entspannter war als gerade eben noch. Offenbar habe ich da doch alles richtig gemacht, dachte er sich. Na wenigstens ist er jetzt nicht mehr so bedrückt, weil ich morgen meinen Bruder aufsuchen gehe. Ich mag es ja auch nicht sonderlich, wenn ihn irgendetwas bedrückt. Schließlich aber kam ihm noch ein Gedanke und er löste sich kurz, wobei er in diese tief roten Augen mit dem goldenen Ring in der rechten Iris blickte. „Liam, kannst du nicht noch mal mit deiner Schwester reden und ihr endlich verzeihen?“

„Was?“ fragte er stirnrunzelnd und löste sich von dem Blondschopf, wobei sein Gesichtsausdruck sich sogar noch mehr verdüsterte als vorher. Dieses Mal war es aber keine Verunsicherung, sondern der tief liegende Groll gegen Eva, der selbst nach über 400 Jahren nicht erloschen war. „Du willst, dass ich ihr verzeihe? Ist dir eigentlich klar, was sie getan hat und vor allem was du ihretwegen durchgemacht hast? Wenn sie nicht gewesen wäre, dann hätte „Sam Leens“ niemals existiert und du hättest wahrscheinlich mit deinem Bruder ganz normal aufwachsen können!“

„Ich weiß. Aber ich habe auch darüber nachgedacht, warum alles so passiert ist. Es mag sein, dass Eva viele Fehler gemacht hat, aber sie wollte doch eigentlich nichts Böses. Ich meine, wenn ich nicht als Sam Leens gelebt hätte, dann hätte ich Beyond nicht helfen können und wir beide hätten uns wahrscheinlich auch nie getroffen.“

„Du bist damals ihretwegen erst gestorben, obwohl sie dich beschützen sollte! Sie hat mir die Person genommen, die ich über alles geliebt habe. Wieso sollte ich ihr das verzeihen?“

„Weil sie doch auch ihre Familie verloren hat“, erklärte Jeremiel ruhig, während Liams Ton immer bedrohlicher wurde und spätestens jetzt hätte jeder normale Mensch sofort die Flucht ergriffen aus Angst, er könnte gleich zu Hackfleisch verarbeitet werden. Doch der Blondschopf hatte keine Angst vor Liam und blieb standhaft. „Als Nikolaj gestorben ist, da hattest du doch noch Johnny, Delta und Marcel. Aber Eva hatte niemanden mehr. Sie war ganz alleine und auch jetzt ist sie furchtbar einsam. Wen hat sie denn noch außer ihrem Bruder? Ihre Familie lebt ohne sie weiter und sie hat sich Mühe gegeben, um dir zu helfen. Sie war so traurig, als sie gegangen ist und auch wenn ich selber verärgert bin, dass sie zugelassen hat, dass ich zum Mörder wurde, so denke ich einfach: vielleicht hatte alles einen Grund. Wer weiß, vielleicht wäre alles noch viel schlimmer geworden, wenn es nicht so gekommen wäre. Beyond wäre gestorben, genauso wie Andrew und mein Bruder wäre ganz alleine gewesen. Vielleicht hätte er diesen Kira-Fall auch nicht überlebt. Vielleicht musste ich diese Zeit durchmachen, damit die anderen gerettet werden konnten. Das ist ja auch möglich. Und wichtig ist doch, dass es nicht endgültig zu spät ist. Ich lebe und bin jetzt der Mensch, der ich eigentlich sein sollte. Vielleicht habe ich ja Glück und L gibt mir eine Chance, wenn er erkennt, dass ich nicht Sam Leens bin. Ich muss es einfach versuchen.“

„Du bist echt unglaublich, weißt du das? Dass du so etwas sagst, wo du doch so am Boden zerstört warst, als du die Wahrheit herausgefunden hast. Aber weißt du, selbst wenn du es nicht schaffen solltest und du scheiterst, kannst du jederzeit zu mir zurückkommen.“ Das war ja zumindest ein Hoffnungsschimmer. Dann brauchte er sich wenigstens keine Sorgen zu machen, dass er dann ganz alleine war und nicht wusste, wohin er gehen sollte. Nun gut, er hatte immer noch ein wenig damit zu kämpfen, dass er ein Mörder war, aber inzwischen hatte er auch selber eingesehen, dass das nicht er gewesen war, sondern eine andere Person. Er war nicht Sam Leens und sowohl das als auch Deltas, Liams und Johnnys Beistand halfen ihm, darüber zu stehen. Liam hielt seine Hand fest und man sah ihm an, dass er sich immer noch Sorgen machte. Nicht, weil Jeremiel irgendetwas körperlich zustoßen könnte oder dass er nicht zurückkehren würde. Sondern, dass er vielleicht enttäuscht werden könnte. Liam war für gewöhnlich nicht so, dass er sich wegen jeder Kleinigkeit so dermaßen den Kopf zerbrach und sich so schnell Sorgen machte. Aber Jeremiel war die große Ausnahme, eben weil er ihn so sehr liebte. Und wahrscheinlich half ihm auch dies, Eva zu verstehen. Denn sie liebte auch ihre Familie und war dafür sogar bereit gewesen, andere Leben zu opfern, um sie zu retten. Das Gleiche machte ja auch Liam oder zumindest würde er es tun. Doch so ganz überzeugt war er noch nicht und er schüttelte den Kopf. „Du hast doch keine Ahnung, was Eva getan hat. Sie hat damals versucht gehabt, die ganze Welt unvergänglich zu machen und niemanden mehr sterben zu lassen. Kannst du dir vorstellen, was das für ein Chaos gegeben hätte? Sie hätte nicht nur das Gleichgewicht durcheinandergebracht, sondern es hätte zum Kollaps führen können!“

„Aber sie hat es doch nicht aus böser Absicht getan. Sie war verzweifelt und hat es nicht ertragen, all jene sterben zu sehen, die sie ins Herz geschlossen hatte.“

„Sie ist wie ein dummes und naives Kind, das einfach nicht über die Konsequenzen nachdenkt. Sie denkt immer nur an sich und sie hat mich einfach im Stich gelassen, als ich sie gebraucht habe. Also warum sollte ich denn jetzt für sie da sein, wenn sie nie für mich da war?“

„Weil ihr euch dann immer streiten werdet, wenn sich nichts ändert. Und so kann es doch auch nicht für immer weitergehen. Ich habe in meinen Büchern gelesen, dass es wichtig ist, wenn man sich ausspricht und vor allem über seine Gefühle redet, wenn es Differenzen gibt. Wir beide haben doch auch auf diese Weise gelernt, einander zu verstehen, weil wir offen über alles geredet haben. Also ist es jetzt an der Zeit, dass du dich mit Eva vernünftig aussprichst und dich mit ihr verträgst. Ich mag es doch auch nicht zu sehen, wie du immer wieder so wütend wirst, wenn sie da ist oder wenn man allein nur ihren Namen ausspricht. Man kann jemanden doch nicht bis in alle Ewigkeit so sehr hassen.“ Wenn es nach Liam gegangen wäre, dann hätte er seine Schwester tatsächlich für immer so gehasst und verachtet für all das, was sie getan hatte. Immerhin hatte sie zugelassen, dass Jeremiel als Sam Leens Menschen tötete und 25 Jahre lang nicht er selbst war. Sie hatte Nastasja Kasakowa, Henry Lawliet und die Kinder im Norington Waisenhaus geopfert, um ihre Familie zusammenzubringen und das war unverzeihlich. Aber… sie hatte es aus Liebe getan. Sie liebte ihre Familie einfach zu sehr und das war das Fatale. Sie machte dann wieder irgendeine Dummheit und unschuldige Menschen mussten dafür bezahlen. Anstatt, dass sie sich endlich mal den Menschen anpasste, setzte sie leichtfertig ihre Kräfte ein. Das konnte er einfach nicht verzeihen. „Eva weiß sich nicht anders zu helfen, weil sie ganz alleine ist und niemanden hat. Wenn du sie in deine Familie aufnehmen würdest, dann hätte sie doch keinen Grund mehr dazu und sie wäre dann auch nicht so alleine.“ Liam schwieg und dachte nach, wobei sein Gesicht immer noch so unendlich düster wirkte. Dann aber seufzte er geschlagen und nickte. „Also gut, ich werde mit meiner Schwester sprechen. Wenn es dir so wichtig ist, dann werde ich es tun.“

„Ich denke, dass es nicht nur ihr sondern auch dir gut tun wird, wenn dieser Streit endlich beendet wird.“ Wirklich unglaublich. Der Junge versteht so gut wie gar nichts von Gefühlen und gibt mir noch irgendwelche Tipps. Aber er ist wirklich immer noch derselbe geblieben wie damals. Eva hatte schon Recht. Egal ob er sich an sein altes Leben erinnert oder nicht, er bleibt dennoch derselbe. Und daran wird sich wohl auch so schnell nichts ändern. Liam legte wieder seinen Arm um ihn und wünschte sich insgeheim, dass dieser Tag so schnell nicht enden würde und Jeremiel weiter an seiner Seite bleiben würde. Aber… er würde ja nicht für immer gehen. Über 400 Jahre hatte er gewartet und diese kurze Zeit konnte er auch noch ausharren. Es war ja nicht für immer. „Sag schon, was fühlst du gerade?“ Der 25-jährige betrachtete ihn fragend und neigte den Kopf ein wenig zur Seite. „Ich merke, dass dich irgendetwas beschäftigt, aber ich kann nicht erkennen, was es ist. Bist du verärgert, weil ich dich wegen deiner Schwester angesprochen habe?“

„Nein, das ist es nicht“, erklärte Liam kopfschüttelnd und trank noch einen Schluck Bier. „Es ist nur so, dass ich so lange darauf gewartet habe, dir endlich wieder so nah zu sein wie jetzt. Und nun muss ich dich wieder gehen lassen. Wenn es nach mir ginge, würde ich dich gar nicht erst gehen lassen und dich notfalls sogar abhalten. Aber ich hab auch verstanden, dass ich mich auch mal selber zurücknehmen muss. Ich bin nun mal ein sehr dominanter Charakter und ich lasse mir auch nicht gerne was sagen. Ebenso ungern lasse ich mir auf der Nase herumtanzen und ich bin auch ziemlich besitzergreifend. Das gebe ich zu und ich hasse es auch, wenn es nicht so läuft, wie ich mir das vorstelle. Aber ich weiß auch, dass das vollkommen falsch wäre und rein gar nichts bringt und ich schlimmstenfalls alles nur kaputt machen würde. Ich will dich ja nicht verlieren und dich einzusperren ist sowieso Unsinn. Wir wissen ja beide, wie es ausgegangen ist. Zugegeben, ich bin nicht gerade der Feinfühligste. Ich neige immer dazu, mich durchzusetzen und auch nicht nachzugeben und dabei stoße ich anderen schnell vor dem Kopf und mache Fehler. Deshalb hat Delta ja auch die Aufgabe, mir auch klar zu sagen, wenn irgendetwas schief gelaufen ist. Er mag zwar durchgeknallt sein, aber er lässt sich auch nicht die Butter vom Brot nehmen und hat das Herz am rechten Fleck. Im Grunde verkörpern er und die anderen nicht nur die negativen Seiten der Menschen, sondern auch teilweise meine persönlichen Eigenschaften. Marcel ist der eiskalte Geschäftsmann, dem das Leben und das Schicksal anderer egal ist, weil er nur an seine persönlichen Vorteile denkt. Johnny ist der Unruhestifter, der es liebt, Böses zu tun und Chaos zu verbreiten. Delta hingegen ist der Leidenschaftliche, der immer mit dem Herzen dabei ist und trotz seines durchgeknallten Charakters immer sehr mitfühlend ist und sich um die anderen kümmert.“ Jeremiel betrachtete ihn und strich ihm schließlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann aber küsste er ihn und schloss ihn in den Arm. „Ich werde dich auf jeden Fall besuchen kommen, wenn ich länger wegbleiben sollte. Und… der Tag ist ja noch nicht vorbei.“ Als Liam das hörte, zog er ein wenig die Augenbrauen zusammen. Er schien noch ein wenig mit sich zu zögern, aber dann fragte er „Wollen wir gleich ins Schlafzimmer gehen?“ Der 25-jährige lächelte und nickte. „Klar, können wir gerne machen.“

Der Abschied

Am nächsten Morgen waren sie schon recht früh auf den Beinen. Dass Jeremiel abreisen würde, hatte sich wie ein Lauffeuer im Haus herumgesprochen. Während Marcel der Einzige war, dem das vollkommen egal war (streng genommen war es ihm auch ganz recht so, denn so ließen sich die Kosten senken), war Delta der Emotionalste von allen und hörte gar nicht mehr auf zu weinen. Er wedelte ständig mit seinem Spitzentaschentuch herum, damit sein Make-up nicht verlaufen konnte, während Johnny natürlich bester Laune war und fröhlich vor sich hingrinste. Ihm war anzusehen, dass er wohl irgendetwas ausheckte und mit Sicherheit schon wieder Unheil im Sinne hatte. Aber dann kam überraschend Gishi, die Jeremiel einen freundschaftlichen Klaps auf dem Rücken gab (nun ja, da sie sehr kräftig war, haute es ihn fast von den Füßen!) und sagte „Lass dich ja nicht unterkriegen, Jeremiel. Du weißt: du gehörst zur Familie und wir beschützen uns gegenseitig.“

„Wenn wir uns nicht gerade gegenseitig die Köpfe einschlagen.“

„Halt die Schnauze, Johnny!“ Der Unvergängliche streckte ihr nur provokant die Zunge raus und steckte die Arme in die Manteltaschen. Liam schüttelte genervt den Kopf und seufzte. „Ihr seid echt der reinste Kindergarten. Vertragt euch endlich mal und gebt Ruhe.“ Doch Jeremiel lächelte nur und fand es eigentlich nicht ganz so schlimm. Inzwischen hatte er sich ja daran gewöhnt und er wusste, dass das zum Alltag dazugehörte und es bedeutete ja nicht, dass sie sich alle hassten. Es war eben auch ein Mittel, um sich die Langeweile zu vertreiben, die so ein langes Leben mit sich brachte. Er hatte sich schon längst daran gewöhnt und er hatte sie ja auch so langsam wegen ihres mehr als schrägen Charakters lieb gewonnen. Denn wie Gishi schon sagte: er gehörte zur Familie dazu und deshalb konnte er sich darauf verlassen, dass sie für ihn da sein würden, wenn er sie brauchte. „Ich bin ja nicht für immer weg!“ erklärte er und wandte sich dann an Delta, der laut in Tränen ausbrach und sich Jeremiel direkt um den Hals warf. „Ach Engelchen, ich werde dich trotzdem ganz doll vermissen. Ich hab dich so ins Herz geschlossen und ich finde es wirklich schade, dass du gehen musst. Bitte pass gut auf dich auf, ja? Ach komm her, lass dich umarmen!“ Und der Crossdresser umarmte ihn. Nun, er drückte den armen Jeremiel so fest, dass diesem fast die ganze Luft aus den Lungen gepresst wurde. Liam ging schließlich dazwischen und trennte die beiden noch rechtzeitig. „Jetzt übertreib nicht gleich, Delta. Du brichst ihm noch die Rippen, wenn du ihn weiterhin so zerquetschst.“ Doch er wollte sich einfach beim besten Willen nicht beruhigen und gab dem 25-jährigen noch einen Kuss auf die Wange. Dies war nicht gerade das, was man eine normal freundschaftliche Geste nennen konnte, sondern eher etwas „mütterliches“. Liam sagte dazu nichts, verschränkte aber wortlos die Arme und funkelte den Kimonoträger sehr finster an. „Hast du’s jetzt bald?“ fragte er in einem etwas genervten Ton. Das ließ sich Delta nicht gefallen und strich sich kokett seine langen schwarzen Haare zurück, wobei er das Kinn hob und etwas herablassend „pah!“ rief. „Ich hab unser Engelchen eben sehr ins Herz geschlossen, also habe ich auch das Recht, mich angemessen von ihm zu verabschieden.“ Sie sagten nichts dazu. Schließlich stiegen Liam und Jeremiel in die schwarze Limousine ein. Der Chauffeur fuhr los und erst jetzt schien der 25-jährige so wirklich zu realisieren, dass er tatsächlich seinen Bruder L kennen lernen würde. Sein Herz raste wie verrückt und er war fürchterlich aufgeregt. Er war unruhig und das blieb auch dem Unvergänglichen nicht verborgen, der schließlich einen Arm um Jeremiels Schultern legte. „Mach dir mal keine Sorgen, es wird schon gut werden. Dein Bruder ist ganz in Ordnung und er wird dir schon nicht den Kopf abreißen.“ „Ja, aber mit Sicherheit Beyond Birthday. Grund dazu hätte er jedenfalls.“

„L wird schon dafür sorgen, dass er dir nichts tut. Da mach dir mal keine Sorgen. Ich hab übrigens etwas für dich.“ Liam holte ein Handy hervor und gab es ihm. „Auf diesem Handy sind sowohl meine Privatnummer als auch die von Delta und Johnny eingespeichert. Du meldest dich, wenn irgendetwas sein sollte und du in Schwierigkeiten steckst. Ich verspreche dir, dass ich den beiden nichts tun werde, aber ich werde dich da trotzdem sofort rausholen, wenn es aus dem Ruder laufen sollte.“ Jeremiel nahm es dankend an und steckte es sogleich ein. Trotzdem war er fürchterlich nervös und fragte sich, wie wohl L reagieren würde, ihn zu sehen. Hoffentlich wird er mir glauben, dass ich nicht Sam Leens bin und mir eine Chance geben. Aber selbst wenn er mich verstößt und nichts mit mir zu tun haben will, so habe ich doch immer noch Liam, Johnny und Delta. Ich bin nicht alleine und das ist doch auch was. Egal was passiert, ich habe dennoch ein Zuhause. Er legte schließlich seinen Kopf auf Liams Schulter ab und sah ein wenig nachdenklich aus. Das Ganze war schon irgendwie verrückt, wie es gekommen war. Wenn er bedachte, dass er ein gescheitertes Experiment war und teilweise auch Evas Gene in sich trug und Liam streng genommen ein parasitäres gottesähnliches Bewusstsein war, das sich vor langer Zeit eines menschlichen Körpers bemächtigt hatte… und die Tatsache, dass seine beiden Freunde in Wahrheit lediglich Fragmente von Liams Bewusstsein waren… Das war alles echt zu verrückt um wahr zu sein. Aber dann fiel Jeremiel noch etwas ein, was er Liam unbedingt noch fragen wollte. „Du sag mal, du bist doch in der Lage, deinen Wirtskörper deinen eigenen Wünschen anzupassen und ihn zu verändern, oder? Hast du das auch mit mir gemacht?“ Der Unvergängliche sah ihn an und schwieg einen Moment, dann aber nickte er und antwortete „Ja. Es war nötig, da die Operationsmethoden der Menschen nicht ausgereicht hätten, um dir zu helfen. Und außerdem warst du tot, oder besser gesagt Sam Leens war es. Eva hat dir eine neue Seele konstruieren müssen und ich habe alles andere geregelt. So war es möglich, dich wieder zum Leben zu erwecken und dir ein normales Leben zu ermöglichen. Wir haben aber nichts an deiner Persönlichkeit geändert, sondern lediglich dafür gesorgt, dass du Gefühle und auch körperliche Empfindungen wahrnehmen kannst.“

„Wieso war es Eva, die mir eine Seele gegeben hat?“

„Sie ist darin wesentlich besser als ich. Und außerdem musste es so sein, damit du der Mensch werden konntest, der du eigentlich bist. Denn Nikolaj hatte damals auch erst Gefühle empfinden können, als Eva ihr Herz mit ihm geteilt hat. Seelen zu erschaffen ist für mich zwar möglich, aber du siehst ja, was das bei Delta, Marcel und Johnny ergeben hat. Meine Schöpfungen sind nicht gerade das, was man Vorzeigesubjekte nennen kann.“

„So darfst du das auch nicht sagen. Ehrlich gesagt mag ich sie so wie sie sind.“ Oh Mann, der redet echt ganz schön naiv daher. Dabei müsste er doch eigentlich wissen, wie gefährlich Johnny, Delta und Marcel wirklich sind. Und er hat ja keine Ahnung, was da in unserem Haus wirklich vor sich geht. Nun, wahrscheinlich ahnt er es bereits. Er ist ja nicht blöd und er weiß, dass wir eine Mafiagruppe sind. Und er hat auch gesehen, wozu Johnny und Delta imstande sind. Entweder ist er trotzdem noch zu gutgläubig, oder aber ist von Natur aus jemand, der das Gute in anderen sieht. Tja, in dem Fall ist er wirklich noch ganz der Alte so wie damals. Schließlich hatten sie die Adresse erreicht, wo Jeremiels Bruder L Lawliet lebte. Da Liam nicht gesehen werden wollte, stieg der 25-jährige allein aus, nachdem er sich noch ein letztes Mal mit einem Kuss verabschiedet hatte. Liam wartete noch, bis Jeremiel ins Haus gegangen war, dann ordnete er den Chauffeur an, ihn zum Anwesen zurückzufahren. Er wurde nun sehr ernst und als er zurück war, ging er direkt zu Johnny und Delta hin. „Ich habe einen Auftrag für euch: ihr werdet weiterhin ein wachsames Auge auf Jeremiel haben. Wenn ihm etwas Ernsthaftes zustoßen sollte, werde ich euch persönlich dafür zur Verantwortung ziehen. Aber denkt daran: Evas Familie wird nicht getötet und vermeidet unnötige Gewalt. Oberste Priorität hat Jeremiels Leben.“ Delta und Johnny nickten und gaben ihr Wort, wobei der Kimonoträger ein klein wenig verwundert war. „Sei mir jetzt nicht böse Herzchen, aber hattest du nicht gesagt, dass du Evas Familie selber gerne töten würdest?“

„Jeremiel bat mich, L und Beyond nichts anzutun, egal was passieren sollte. Und ich gehe stark davon aus, dass seine Bitte auch dem Rest von Evas Familie galt.“

„Schon verstanden! Dann machen wir uns an die Arbeit. Nicht wahr, Darling?“

„Yo, dann lass uns mal gehen und alles vorbereiten. Und was hast du jetzt vor?“ Liam lächelte kühl und seine Augen funkelten unheimlich. Er wirkte in diesem Moment mehr als furchteinflößend. „Ich habe ein paar geschäftliche Dinge mit Gerald Fincher und Norman Hayes zu besprechen. Ich hoffe, ihr habt euch gut um sie gekümmert.“

„Klaro, die werden sich nie mehr davon erholen!“ Damit ging Liam in Richtung des Kellers, wo seine beiden Gefangenen schon seit Tagen festsaßen. Fincher war in einem wirklich schlechten Zustand und leichenblass. Die Todesangst stand ihm ins Gesicht geschrieben, ebenso wie Norman. Wie sehr er diese beiden Maden hasste und sie am liebsten unter seinen Schuhsohlen zerquetschen würde wie Ungeziefer. Bislang hatte er sich nicht die Zeit genommen, sich persönlich mit ihnen zu beschäftigen, aber das wollte er jetzt nachholen. Mit einem Messer in der Hand ging er auf die beiden zu, die inzwischen nicht mehr fähig waren, auch nur an Widerstand zu denken. Bei einem muskulösen fast zwei Meter großen Kerl wie Liam wäre das auch sowieso vollkommen zwecklos gewesen. „Ich hoffe, ihr habt meine Gastfreundschaft bis jetzt genossen. Denn jetzt ist es langsam an der Zeit, dass wir uns über geschäftliche Dinge unterhalten.“ Damit ging er zu Norman hin und packte ihn am Kragen, wobei er ihm das Messer gegen die Kehle hielt. „Dein Gesicht will ich hier nie wieder sehen. Ich gebe dir nachher eine Stunde Zeit um zu verschwinden. Danach werden meine Leute dich gnadenlos jagen. Sie werden nicht eher Ruhe geben bis sie dich finden und wenn sie dich gefunden haben, werden sie dir deinen Arsch mit einer Kettensäge aufreißen. Du wirst keine ruhige Minute mehr haben und für den Rest deines erbärmlichen Lebens auf der Flucht vor mir sein und wissen, dass ich dir die wahre Hölle zeigen werde, wenn du dich nicht vor mir verstecken kannst. Und glaub mir: ich werde dich finden und es wird mir ein Vergnügen zu sein, dich zu jagen. Und nun zu dir, Fincher.“ Damit schleuderte er Norman auf den Boden und wandte sich dem Brillenträger zu. Diesem standen das Entsetzen und die Angst ins Gesicht geschrieben und am liebsten hätte er um Gnade gefleht, wenn ihm nicht die Stimme versagt hätte. Liam packte ihn grob an den Haaren, dann stieß er ihm das Messer ins rechte Auge. Und kurz darauf folgte auch das linke. „So wie ich gehört habe, liebst du es, deinen Spielzeugen die Augen auszustechen, ihnen die Stimmbänder und die Achillessehnen durchzutrennen. Und weißt du was, Fincher? Ich kenne da jemanden auf dem Markt, der genauso perverse und kranke Fantasien hat wie du. Nur mit dem Unterschied, dass er die Ware ausschließlich von mir kauft. Du wirst zu seinem Spielzeug werden und eines verspreche ich dir: deine Leute werden genauso dafür büßen wie Normans Komplizen. Eurer kranken Menschenauktionsgesellschaft werde ich endlich ein Ende bereiten. Ihr habt lange genug in meinem Revier herumgewildert, jetzt ist endgültig Schluss und eines verspreche ich dir jetzt schon: es werden Köpfe rollen.“

„Ne-nein bitte… es… es tut mir leid… ich…“ Doch bevor Fincher weitersprechen konnte, trat Liam ihm ins Gesicht und drückte seinen Fuß auf den Kopf des Geblendeten. „Hör auf so herumzuwinseln. Es war ein gewaltiger Fehler gewesen, mir etwas wegzunehmen, was mir gehört.“

„Ich konnte es doch nicht wissen!“ rief Fincher, wobei es sich aber mehr wie ein verzweifeltes und hilfloses Wimmern anhörte. In Liam wuchs die Abscheu und der Hass nur noch, als er ihn sah und lächelte verächtlich. „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Und ich dachte, Johnny hätte dir schon mehr als deutlich klar gemacht, dass ich keine Ratten dulde.“
 

Nachdem Liam sein Werk getan hatte, verließ er den Keller und wischte sich das Blut von den Händen ab. Marcel wartete schon und ein unheimlicher kalter Glanz lag in seinen Augen. „Und?“ „Ruf Mr. R an und sag ihm, er kann sein neues Spielzeug abholen. Norman wird freigelassen. Er hat eine Stunde Zeit, danach wirst du unsere Leute auf ihn ansetzen. Wenn ihr ihn habt, weißt du, was du zu tun hast.“

„Mit dem größten Vergnügen“, antwortete der Buchhalter und er lächelte eiskalt. „Mr. R wird sich sicherlich freuen und eine beträchtliche Summe für ihn zahlen.“

„Wir werden ein Exempel an den Auktionisten statuieren. Jeder, der es wagt, in meinem Revier zu wildern und vor allem Jeremiel auch nur zu nahe zu kommen, dem wird das gleiche Schicksal ereilen. Ganz egal ob es die anderen Clans oder meine eigenen Leute sind. Jedem, der dies wagen sollte, werde ich das Leben zu einer einzigen Hölle machen.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Yo Ladies and Gentlemen, Delta is back!

Ernsthaft, ich liebe ihn einfach und ich hatte totalen Spaß an der Idee, ihn wieder zurückzuholen, nachdem er schon in meinen FFs “Der Trickster” und “Der Aufstand” seinen Auftritt hatte. Er ist einfach ein absolutes Original, anders kann man ihn nicht beschreiben. Seinen Charakter habe ich ein klitzekleines bisschen noch leidenschaftlicher und extravaganter gemacht und ihm eine andere Hintergrundgeschichte gegeben. In den o.g. FFs war er der Anführer der chinesischen Mafiagruppe „Yanjingshe“ gewesen, aber dann hab ich ihn zu Liams bestem Freund und zum Verwalter des Rotlichtviertels gemacht. Da das mit Liam und Jeremiel nicht einfach werden wird, braucht es eben jemanden, der zwischen den beiden eben vermitteln kann und da Eva sowieso mit Liam Schwierigkeiten hat und deshalb nicht viel ausrichten kann, hab ich dann mal eben Delta zurückgeholt, der einen gesunden Ausgleich zu dem eher kühlen und dominanten Liam bildet. Denn er besitzt deutlich mehr Herz und Einfühlungsvermögen und kann somit die einen oder anderen Wogen glätten. Aber alles Weitere wird sich noch zeigen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Tja, das mit dem Thema Beziehung scheint in Liams Haus wohl ein allgemeines Problem zu sein. Nicht nur, dass dieser trotz seiner bedingungslosen Liebe zu Jeremiel urplötzlich einen Rückzieher macht und ihn von sich stößt, auch bei den anderen im Hintergrund läuft es nicht sonderlich einfach zu. Delta hat ein ständiges Hin und Her mit Marcel und Johnny am Laufen und letzterer hat auch keinen Bock mehr darauf und will endlich Klarheit haben. Tja, wie er schon richtig gesagt hat: die Liebe ist geisteskrank.

Und inzwischen haben wir auch Liam mal von einer anderen Seite kennen gelernt. Denn obwohl er eine sehr autoritäre, dominante und kühle Persönlichkeit ist, so ist er tief in seinem Herzen sehr unsicher in Jeremiels Nähe und versucht das auch mit aller Macht zu verstecken. Und leider hat er dabei mehr falsch gemacht als er wollte. Ist also verständlich, dass er jetzt große Angst hat, dass Jeremiel seinetwegen etwas passieren könnte und dass er ihm dann wieder irgendetwas antut. Sein Wunsch, ihn zu beschützen ist im Grunde so groß, dass er sogar seine Gefühle für ihn begraben würde. Bleibt abzuwarten, ob Liam seine Angst und seine Unsicherheit überwinden kann. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Im Epilog wollte ich unbedingt Liams grausame Seite als Mafiaboss zum Vorschein bringen, welche er bis jetzt in Jeremiels Gegenwart versteckt hatte. Es hat mir echt Spaß gemacht, über die Beziehung zwischen Jeremiel und Liam zu schreiben. Denn die beiden sind ganz anders als Beyond x L oder Andrew x Oliver. Dass Liam Jeremiel beim ersten Mal ja quasi vergewaltigt hat, tat mir selbst im Herzen weh, aber ich hatte große Gefühle versprochen und dazu gehört auch Drama! Und dass Liam in einen Gewissenskonflikt gerät und auch glaubt, er und Jeremiel könnten einfach nicht glücklich werden, war ja auch irgendwann vorauszusehen. Am Anfang war er ein absolutes Arschloch, welches man nicht wirklich leiden konnte. Aber so nach und nach hat man doch hinter seine Fassade blicken können und im Grunde genommen hat er sich ja nur so verhalten, weil er verunsichert war und entsetzliche Angst hatte, Jeremiel wieder zu verlieren. Er wollte ihn beschützen, doch leider hat er dabei ziemlich viele Fehler begangen.

Delta und Johnny sind auch meine absoluten Favoriten, insbesondere, weil sie eine echt schräge Dreiecksbeziehung haben. Aber da ich nicht auch noch in einer Extra-FF diesen Beziehungskram schreiben wollte (was ja auch nicht wirklich zum Plot gepasst hätte), habe ich es als humoristische Einlage eingebaut. Genauso wie sich Beyond und L immer zanken. Aber im nächsten Teil geht es wieder um L und Beyond und wie sie darauf reagieren werden, wenn Jeremiel vor der Haustür steht, den sie beide noch als Sam Leens in Erinnerung haben. Ich hoffe, ihr hattet Spaß und ich sehe euch im nächsten Teil wieder! Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (32)
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Von:  San-Jul
2014-12-08T13:53:32+00:00 08.12.2014 14:53
Einfach genial, anders kann man es nicht sagen. Ich liebe ja eh dunkle Charaktere, aber Liam ist ein toll, vor allem zusammen mit Jeremiel (ich finde das hat was von: "Die Schöne und das Biest"). Wirklich eine grandiose Story. Wie kommst du nur immer auf solche sachen?


Antwort von:  Sky-
08.12.2014 15:05
Ich lasse mich von anderen Geschichten inspirieren. Liams Charakterdesign basiert auf Shiki von "Togainu no Chi", allerdings ist er nicht so ein sadistischer Mörder ist. Bei Oliver habe ich mich von Nezumi aus "No.6" inspirieren lassen. Teilweise habe ich auch alte Ideen von meinen Creepypastas aufgegriffen, die man auch ganz gut einbauen konnte bzw. die ich nicht so gut umgesetzt bekam. So stammt die Idee mit Frederica aus einer verworfenen Creepypasta. Sie sollte eigentlich "Eva" sein und stammt aus einer parallelen Dimension, die in eine von ihr erschaffene Zeiitschleife geraten ist. Da keiner in der Lage war, diese Zeitschleife zu beenden, gelang es Frederica, in die andere Dimension zu flüchten und spaltete ihr Bewusstsein in unzählige Fragmente, um ihre Familie zurückzuholen, dabei wurde ihr Körper selbst vollkommen leblos, sodass sie aufhörte zu existieren. So sah die allererste Originalidee aus und ich hab sie eben abgeändert, damit sie besser in die Last Desire Reihe passt. Auch hier habe ich die Idee mit der Zeitschleife, als ich "Mekaku City Actors" geguckt habe. Jeremiel basiert auf Konoha und Ezra (ein Charakter, der in Teil 9.5 eine wesentliche Rolle spielen wird) habe ich mich ein bisschen an Kido orientiert. Wenn mir irgendein Animecharakter gefällt, baue ich ihn weiter aus und verändere ihn immer mehr, sodass er mehr zu meinem Stil passt und eine eigene Geschichte hat.
Antwort von:  San-Jul
08.12.2014 15:07
Interessant zu wissen. Eine Frage hätte ich noch: Was ist ein/eine Creepypasta?
Antwort von:  Sky-
08.12.2014 15:11
Creepypastas sind moderne Horrorgeschichten, die sich auch größtenteils um urbane Internetlegenden drehen. Nicht so altbackene Sachen wie Bloody Mary oder der Candyman, sondern eher verfluchte Videospiele, verlorene Episoden mit verstörenden Inhalten, unheimliche Videospielmythen und Monster. Ich kann dir mal empfehlen, mal einfach die Hörspiele von MeGusta auf Youtube mal anzuhören, der vertont Creepypastas nämlich. Die ersten sind mit unter anderem die besten. Wenn du mal auf Gruseliges stehst, kann ich dir das nur empfehlen.
Antwort von:  San-Jul
08.12.2014 15:13
Danke für die Erklärung und den Tipp. Ich werds mir mal anhören ;)
Von:  pri_fairy
2014-11-09T20:12:48+00:00 09.11.2014 21:12
schönes Kapitel:) hier wurde Liam zwar ganz anders gezeigt aber das fand ich auch recht interessant :)
eine rund um gelungene FF die ich von Anfang bis Ende gerne gelesen habe:) die Charaktere waren spitze besonders Delta und Johnny :D
Freu mich auf den nächsten Teil und drücke Jeremiel schon mal die Daumen :)
Antwort von:  Sky-
09.11.2014 21:20
War auch so beabsichtigt. Denn obwohl er ein gutes Herz haben kann, ist er in erster Linie ein sehr gefährlicher Mafiaboss. Und dass sollte man besser nicht vergessen. Und ich wollte ihn auch mal von dieser Seite zeigen;-)
Von: abgemeldet
2014-11-09T18:19:00+00:00 09.11.2014 19:19
Yaaah das FF war spannend und atemberaubend :3.
ich freue mich schon auf den nächsten Teil. *freu+freu+freu*
Von:  pri_fairy
2014-11-09T17:08:42+00:00 09.11.2014 18:08
super schönes Kapitel !:)
Von: abgemeldet
2014-11-09T14:02:16+00:00 09.11.2014 15:02
Ein starkes Kapitel^^
Von:  pri_fairy
2014-11-09T10:45:21+00:00 09.11.2014 11:45
super Kapitel! :)

Von: abgemeldet
2014-11-09T09:36:44+00:00 09.11.2014 10:36
Ein echt tolles Kapitel^^
Freue mich schon auf das nächste Kapitel :3
Von: abgemeldet
2014-11-06T08:02:40+00:00 06.11.2014 09:02
Kawai^^ :3
Das Kapi war so sweeetttttt^^
*macht eine glückliche Katzenschnute*
Von:  pri_fairy
2014-11-05T21:36:19+00:00 05.11.2014 22:36
richtig süßes Kapitel!:*
bin ich froh, dass die sich vertragen haben :)
*einfach nur glücklich*
Von:  pri_fairy
2014-11-05T21:34:54+00:00 05.11.2014 22:34
schönes Kapitel! <3


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