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Rabenherz (Die Macht der Krokaren)

von

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Das Mädchen im Knabenmantel

Die Sonne schien verführerisch am Himmel über Felic. Es war einer der letzten schönen Tage im Jahr, denn die Sommerzeit neigte sich langsam dem Ende zu, doch unter dem Schloss von König Danilo dachte niemand an eine Pause im Gasthaus oder einen langen Waldspaziergang. Gearbeitet wurde, trotz des verlockenden Wetters und der ewigen gegnerischen Zurückhaltung, mit größter Sorgfalt.

Ray lag bäuchlings in der engen Kammer seines Postens und spähte durch ein kleines Loch im Mauerwerk. Der kalte Stein berührte seinen Rücken und seine Schultern, die Stiefelspitzen bohrten sich sachte in die Rillen des hinteren Walls und vor seinen Augen erstreckte sich das weitläufige Tal von Felic. Die idyllische Stadt mit seinen schmalen Sandwegen wurde eingekesselt von umliegenden Bergen, die bedeckt waren mit dichtem Buschwerk und die Senke erst zu einem Tal formten. An den gegenüberliegenden Hängen weidete das Vieh der Bauern, hier und dort konnte man zwischen abgeernteten Getreidefeldern ein paar der Clangüter erkennen und trotzdem waren noch etliche Flächen unbenutzt. Wirklich nicht zu vergleichen mit dieser Steinzelle, dachte Ray, schob seine Nase bis zu der kleinen Öffnung in der Wand vor und atmete tief ein, in der Hoffnung ein wenig der frischen Luft erhaschen zu können. Er begann jedoch sofort zu husten und Sand zu spucken, den er versehentlich vom Boden eingeatmet hatte. Sein Brustkorb presste ihn dabei ein paar Mal gegen die Decke und verschlimmerte das Keuchen, das aus seinen Lungen drang.

„Hey, Ray! Wehe, du erstickst mir da drin.“, ertönte eine gedämpfte Stimme zu seiner Linken, „Ich komme dahinter, wenn du dich vor der Arbeit drücken willst.“

„Das würde ich auf jeden Fall nicht-“, er hustete ein letztes Mal laut, „-so machen, Paride. Dafür bin ich zu schlau.“ Er lächelte und schaute noch einmal durch sein Guckloch, doch in seinem Blickfeld regte sich immer noch noch nichts. „Heute scheint sich wirklich nichts zu tun.“

„Heute? Den ganzen Sommer hat sich schon nichts getan! Und trotzdem lässt uns Ivano stundenlang im Staub herum kriechen. Ich hätte lieber die Stadtwache übernommen, aber die hat sich natürlich unser allerliebster Adamo reserviert.“, erwiderte Paride verärgert.

Ray seufzte. Assassine Adamo war wirklich nicht beliebt unter den Fratern, aber er verrichtete seine Arbeit sorgfältig und das war das einzige, das ihn als sein Kamerad interessieren sollte – nicht ob ihn der Matador vorzog oder nicht.

„Lass ihn in Ruhe, Paride.“, entgegnete der junge Mann angesichts des angriffslustigen Tons, der in der Stimme seines Freundes mitschwang und den er nicht weiter reizen wollte, indem er meinte, dass er den älteren Mann zwar ziemlich unsympathisch fand, aber seine Art die Dinge anzugehen durchaus billigte. Auf der anderen Seite ertönte ein unzufriedenes Grummeln, eine Pause folgte.

„Ich finde es einfach nur ungerecht.“, nahm sein Nachbar den Gesprächsfaden kleinlaut wieder auf.

„Ich verstehe dich doch, aber wir können nichts daran ändern.“, antwortete Ray verständnisvoll, während er erneut nach draußen spähte. Außer einigen Kindern, die mit langen Stöcken Schwertkämpfe imitierten, war nichts zu sehen. „Wie lange die Schicht wohl noch dauert? Ich hätte nichts dagegen mir mal wieder die Beine zu vertreten. Und vielleicht etwas zu essen. Natürlich nur, falls es den anderen nichts ausmacht, wenn ich nach 5 Stunden an meinem Posten in die Küche schleiche und etwas außerhalb der Mahlzeiten zu mir nehme.“

Paride antwortete nicht. Ihm entfuhr nur ein leises „Psst“, das Ray beinahe entgangen wäre. Skeptisch spitzte er seine Ohren und konzentrierte sich auf die Geräusche außerhalb der Kammern. Der Klang von Lederstiefeln, die auf Stein traten schallte ihm entgegen.

„Schichtwechsel!“ Der allseits bekannte Wärter pfiff leise vor sich hin und schob sorgsam die erste der zehn Luken auf, die den Gang entlang in die Wand eingelassen waren. Sofort war zu hören, wie die erste Wache sich nach draußen schob. Endlich hier raus!

„Ich glaube, du wirst früher als gedacht zu deinem Essen kommen.“, meinte sein Freund amüsiert, doch er hörte ihm schon kaum mehr zu. Ein letztes Mal schenkte er der vertrauten Umgebung außerhalb der Schlossmauern einen wachsamen Blick – nichts zu sehen – dann wartete er geduldig. Die Schritte hallten immer lauter zu ihm hinüber und endlich rutschte Paride neben ihm über den Boden hinaus.

Ray hörte nun wie ohne Umschweife der Zugang zu seiner Kammer geöffnet wurde, spürte ein Hand, die sich um sein Fußgelenk legte und ihn nach draußen zog. Um es dem Aufseher nicht noch schwerer zu machen, legte er die Handflächen auf den Steinboden unter ihm und drückte sich ebenfalls nach hinten, ein paar Sekunden geringen Kraftaufwands und er war endlich befreit. Der junge Mann blinzelte kurz im Licht der flackernden Fackeln bevor er sich aufrichtete, schließlich klopfte ihm der Wärter Arigo auf die Schulter und bedachte ihn mit einem höflichen Kopfnicken, bevor er weiter zog.

Paride hatten sich unterdessen zu seinem Freund gesellt und reckte sich genüsslich. Er wirkte etwas blass und kränklich, was am stundenlangen Lichtentzug liegen könnte, schien jedoch auch an Gewicht verloren zu haben. Sein blaues Kämpfergewand und die helle Baumwollhose hingen schlaff an seinem Körper, in den Gürtel hatte er neue Löcher stechen müssen, die Schafte seiner Stiefel schlackerten bei jedem Schritt.

„Sag mal, ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte Ray unsicher, „Du siehst ziemlich.. krank aus.“

Paride sah ihn zunächst etwas zweifelnd an. Er schien mit sich zu ringen, ehe er bestimmt seinen blonden Kopf schüttelte. „Nein, Nein. Mach dir keine Sorgen, mir geht es gut. Ich musste nur herausfinden, dass meine Tochter mit ihrem Liebhaber nach Kyvarla durchgebrannt ist. Das macht mir immer noch zu schaffen. Die Gesetze sind dort bezüglich den Liebesbekanntschaften und der Ehe vielleicht nicht so streng, aber die Gefahr eines Betrugs ist doch dadurch gleich viel größer! Ach, Ray. Sei einfach froh, dass du noch keine Kinder hast.“

Ein Stich der Wehmut durchfuhr den jungen Mann und ließ ihn zusammen zucken. Ich hätte einmal beinahe eine Frau gehabt. Und Kinder hätten bestimmt auch nicht lange auf sich warten lassen.

Paride hatte offenbar nichts bemerkt, denn er blickte sich im Gang um und seinem Freund darauf hin erwartungsvoll in die Augen. „Was machen wir jetzt?“

„Etwas essen?“

Er lachte. „Eigentlich hätte ich es mir denken können! Nun gut, auf in die Küche, aber lass uns leise sein. Du weißt wie sauer die Frauen werden, wenn wir uns vorm Abend bei ihnen herum treiben.“

„Auch, wenn sie es immer in den falschen Hals bekommen.“, entgegnete Ray kopfschüttelnd.

„Eine Liebeserklärung?“

„Schon wieder.“

Sie lachten und machten sich munter plaudernd auf den Weg zur Treppe. Sie führte sie direkt hinauf in den Korridor im Erdgeschoss des Schlosses, der durch schmale Durchgänge in der Mauer und gläserlose Fenster in den ausgedehnten Haupthof mündete. Hier trainierten an normalen Tagen auf aneinander gereihten Sandplätzen die Schüler, oder auch Tiros, der Tutoren. Meistens wurden für einfache Stichtechniken eigens hergestellte Strohpuppen in der Mitte platziert, doch für kompliziertere Täuschungsmanöver mussten auch schon mal die Dienstboten herhalten. Zitternd und mit gezogenem Schwert standen sie dann dem Schüler gegenüber. Es war immer wieder lustig mit anzusehen, wie leicht ein 15-Jähriger Knabe einen erwachsenen Mann innerhalb von Sekunden zu Boden fallen lassen konnte - wenn er wollte. Es kam jedoch öfters vor, dass sie sich einen Spaß daraus machten und mit gelangweiltem Blick die Schweißperlen beobachteten, die sich immer massiger auf der Stirn des Dieners bildeten, je länger der Tiro ihn schmoren ließ. Und dann schlugen sie mit einem Mal zu.

Heute allerdings war der einzige freie Tag, den die Schüler im Monat für sich selbst oder ihre Familie übrig hatten, während sie in der Fraternitat ihrer Ausbildung nachgingen. Somit konnte logischerweise auch kein Training statt finden. Einzig drei Tutoren waren auf den Sandplätzen zu sehen, wie sie die Strohpuppen auf Belastbarkeit prüften und in der Praxis neue Übungen entwickelten. Ray und Paride beachteten sie nicht weiter, bestimmt würden sie sich nur damit unbeliebt machen einen Tutor aus dem Konzept gebracht zu haben.

Stattdessen setzten sie ihren Weg in die Küche fort. An der nächsten Ecke liefen sie links herum und zwei weitere Treppen hinauf, die sie auf einen langen Gang führten. Die Fackelhalter hier waren leer und der edle, rote Teppich, der sonst den Schmutz vom Stein fernhalten sollte, verschwunden. Die Tiros nahmen nämlich besonders die Sauberkeit ihrer Stiefel nicht sonderlich ernst und hatten damit in früherer Zeit die Angestellten regelrecht in den Wahnsinn getrieben. Das Auslegen eines leicht entfernbaren Teppichs war die beste Lösung des Problems gewesen und war es bis zum heutigen Tag geblieben. Er wurde an den freien Tagen vom Schmutz befreit.

Die Frater gingen ein paar Schritte, ehe ein Bote ohne Vorwarnung aus der nächstgelegenen Tür gestolpert kam. Er prallte ungehindert mit Paride zusammen, der noch schnell genug von Ray festgehalten werden konnte. Der junge Angestellte war jedoch ungebremst auf den Steinboden gefallen und rieb sich nun mit verzerrter Miene den hinteren Teil seines Schädels. Als er ihnen das Gesicht zuwandte und sein Blick an ihren Gewändern hängen blieb, rappelte er sich hastig hoch und verbeugte sich mit hochrotem Kopf.

„Schon gut.“, beschwichtigte Ray, „Ist alles in Ordnung mit dir?“

„J-ja. Danke“, erwiderte er stotternd, „I-ich habe eine Nachricht vom M-matador für euch. Er w-wünscht euch zu sehen.“

Der junge Mann nickte und ließ seine Finger in der Luft nach vorn schwingen, worauf hin der Bedienstete sich abermals hastig verbeugte und davon eilte. Paride blickte ihm mit einem Kopfschütteln hinterher und schnalzte abschätzig mit der Zunge. „Geht dir dieses unterwürfige Verhalten nicht langsam ganz schön auf die Nerven? Also mir schon.“

„Bei uns zu Hause war das nicht anders. Ich weiß mittlerweile, wie ich mit ihnen umgehen muss ohne mich unwohl zu fühlen.“, erwiderte der junge Mann achselzuckend und fuhr ohne Umschweife fort, „Begleitest du mich zu Ivano?“

Paride legte die Hand in sein Kinn und schielte zur Unterstreichung seiner nachdenklichen Haltung zur Decke. „Hmmmm..“, brummte er, „Gehe ich mit dir zu Ivano und greife wohl möglich noch ein wenig Tee und Gebäck ab oder lasse ich mich in der Küche von Marga mit einer Bratpfanne verprügeln?“ Er löste die Hand von seinem Kinn und blickte seine kichernden Freund gespielt vorwurfsvoll an. „Du hast doch nicht wirklich gedacht, dass ich mich da ohne dich rein traue, oder?“

„Nein, du hast recht.“, prustete er und wischte sich eine Träne aus den Augenwinkeln. Dann zog er Paride am Handgelenk mit sich – vor allem um seine Belustigung darüber zu verbergen, dass er immer noch eine Heiden Angst vor der Küchenmagd Marga hegte.

Der kleine Raum, in dem der Matador Besucher empfing und gelegentlich seinen Tee zu sich nahm, befand sich am Ende des langen Korridors im zweiten Stock. Die Tür war reichlich verziert und dadurch nicht unschwer von den anderen zu unterscheiden, die im Vergleich zu ihr karg und öde da standen. Allerdings kannte Ray diesen Eingang zu genüge aus seiner Zeit als Tiro und musste den Gang somit nicht nach dem richtigen Holzbrett absuchen; voller Erwartung kam er mit Paride instinktiv vor der zehnten Tür zum Stehen und klopfte vorsichtig an.

Augenblicklich drehte sich der abgenutzte Knauf und das schwere Eichenholz schwang nach innen auf. Hinter der Tür lugte ein gepflegt wirkender Diener hervor, der die beiden Frater mit einer ausholenden Armbewegung herein bat. Er schloss das Brett hinter ihnen, als sie durch den Rahmen schritten und trat mit einer Verbeugung durch eine unscheinbare Nebentür hinaus. Ist nur mir so oder war er ziemlich in Eile?

Ein Räuspern in Richtung des schweren Schreibtisches, der den bescheidenden Raum beherrschte, ließ ihn seine Aufmerksamkeit wieder auf Ivano lenken. Der Matador hatte es sich auf einem einfachen Holzstuhl bequem gemacht und beobachtete die beiden Frater aus klaren, blauen Augen. In seine blonden Haare hatten seit dem letzten Mal, als sie sich gesehen hatten, noch mehr graue Strähnen geschlichen. Die Arme hatte er, wie im Trotz, vor der Brust verschränkt, doch ein kleines Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Mit einem kaum sichtbaren Kopfnicken bedeutete er ihnen, auf den beiden Sessel vor seinem Tisch Platz zu nehmen. Ray ließ seinen Blick ebenso sehr auf ihm ruhen wie Paride, während sie sich in den weichen Stoff sinken ließen und langsam ihre Muskeln entspannten. Ivano ließ seine Augen kurzzeitig zwischen den Beiden hin und her huschen, dann schlug er die Lider nieder und löste sich aus seiner beinahe anklagenden Körperhaltung, in dem er die Arme vor sich auf dem Schreibtisch ablegte.

„Frater Ray, ich habe nur nach euch geschickt und nicht nach Frater Paride-“

„Ist es ein Problem, dass ich hier bin? Ich kann auch wieder gehen, wenn ihr das wünscht.“, fiel ihm der junge Mann eifrig ins Wort und war schon dabei sich zu Erheben, als der Matador den Kopf schüttelte.

„Nein, Nein. Es ist nichts geheimes.“, sagte er leise lachend, „Ich wollte euch, Frater Ray, nur darum bitten, dass ihr bitte die Stadtwache für Frater Adamo übernehmt. Ich weiß, ihr habt gerade eine 3-stündige Schicht im Beobachtungsposten hinter euch, aber eben so weiß ich, dass ihr den ganzen Sommer über im Schloss bleiben musstet und es sicher eine willkommene Abwechslung für euch wäre.“

Ray lächelte glücklich und neigte dankbar den Kopf. „Danke, Matador Ivano! Es wird schön sein den letzten Sommertag in der Stadt zu verbringen, aber eines ist mir noch unklar. Weshalb kann Frater Adamo die nächste Stadtwache nicht übernehmen?“

„Er ist leider durch eine außer planmäßige Mission verhindert.“, erklärte Ivano. Seine blauen Augen blitzten vergnügt auf. Wahrscheinlich hat er es sogar so geplant, damit ich endlich mal wieder hinaus komme, bevor der Sommer sich endgültig verabschiedet, schoss es ihm durch den Kopf. Doch der erfreuliche Gedanke an die Hilfe des weisen Matadors wurde von einem gewissen Schuldbewusstsein verdrängt. Genau, was war mit Paride?

„Matador Ivano?“, fragte er sorgsam, mit einem Seitenblick auf seinen Freund, der inzwischen mutlos in seinem Sessel zusammen gesunken war. „Könnte ich Frater Paride zur.. Unterstützung mitnehmen? Zwei Augenpaare sind bekanntlich besser als eins und zusammen könnten wir sicher auch böse Machenschaften schneller und effektiver unterbinden.“

Er wusste genau, was Ray bezwecken wollte, er war nicht dumm. Doch zu seinem Erstaunen vertiefte sich das Lächeln um die Gesichtszüge des alten Mannes. „Ich denke, das wird sich einrichten lassen, Frater Ray.“
 

Es war ein schönes Gefühl durch das große Haupttor nach draußen gelassen zu werden. Ein leichter Windhauch strich Ray über das Gesicht und ließ im Gehen den dünnen schwarzen Mantel, den er sich über sein Kampfgewand geworfen hatte, sachte um seine Beine streichen. Er blinzelte im fahlen Sonnenlicht, das schon beinahe den Berg auf der gegenüberliegenden Seite des Tals schnitt und atmete tief ein. Seine Lungen füllten sich augenblicklich mit frischer, klarer Luft.

„Danke noch mal.“, sagte Paride, während die Freunde langsam den Pfad zur Stadt hinunter liefen, der in den Berg gehauen worden war. Von dort aus konnte man schon vom weitem die unversehrten Mauern aus hellrotem Ziegelstein erkennen, die die kleinen gemütlichen Häuser umgaben und die Grenze zum großen Wohn – und Handelsviertel markierten.

„Keine Ursache. Ich finde es alleine sowieso viel zu langweilig.“, erwiderte Ray und rückte die Kapuze in seinem Nacken zurecht. Sie verfielen abermals in ein angenehmes Schweigen, während sie weiter den Weg hinunter marschierten. Der harte Boden verlief sich nach einer Weile in einem zertretenen Sandweg und es wurde zunehmend schwieriger schnell voran zu kommen, denn die Lederstiefel sanken mit ihrer dünnen Sohle tief in die Erde ein. So kamen sie schließlich keuchend vor dem geöffneten Eisentor zum Stehen, das sie freundlich in die Stadt geleitete, und atmeten einige Male tief durch, bevor sie ihre Kapuzen überzogen. Mit der angelegten Kopfbedeckung konnten sie problemlos ihre Gesichter vor den Dorfbewohnern verbergen, um späteren Racheakten zu entgehen, sollten einige informierte Komplizen noch auf freiem Fuß sein. Spätestens nachdem Frater Doan am Morgen nach der Wache nackt im Wald aufgewacht war – wahrscheinlich war Schlafmittel in seine Mahlzeit gemischt worden – wurde diese Vorsichtsmaßnahme zu einer bevorzugten Gepflogenheit.

Ray schritt neben Paride zunächst durch die ruhigeren Wohngebiete der Stadt. Ab und zu kamen ihnen kleine Gruppen von Einwohnern entgegen, die freundlich grüßten und danach wieder ihrer Wege gingen, aber im allgemeinen war es sehr ruhig. Erst, als sie den Marktplatz erreichten wurde es etwas interessanter. Sie mussten die Stände und ihre Waren überprüfen, wobei sie sich besonders gerne beim Schmied aufhielten und sich für ihren nächsten Einkäufe ein paar Waffen empfehlen ließen. Am Ende legte der Verkäufer für Ray einen Dolch mit gebogener Klinge und braunen Lederriemen zur Seite, für Paride eine Scheide aus gehärtetem Stoff, die mit etlichen Eisenringen verziert wurde.

„Wird das nicht ziemlich schwer?“, meinte sein Freund, als sie sich vom Schmied entfernten und auf einen breiten Seitengang zusteuerten, der vom Marktplatz wegführte.

Er zuckte nur mit den Achseln. „Sicher, aber es sieht doch ziemlich gut aus. Bestimmt kann man ein paar der Eisenringe auch entfernen.“

Ray schüttelte lächelnd den Kopf und ließ seinen Blick über sein Umfeld schweifen. Dann blieb er mit einem Ruck stehen. Er hob einen Arm vor Parides Körper, um ihn davon abzuhalten weiter zu laufen, spitzte die Ohren und horchte in die Gasse hinein, die sich vor ihnen ausbreitete. Hatte er da gerade nicht etwas gehört? Eine Art Jubelschrei? Der Frater legte eine Hand um sein Ohr um die Geräusche besser auffangen zu können und drehte sich einmal um die eigene Achse. Nichts. Wahrscheinlich habe ich mich geirrt.

Merkwürdig enttäuscht ließ Ray die Arme wieder sinken. Aus den Augenwinkel fing er den Blick von seinem Freund auf, der ihm forschend ins Gesicht sah.

„Tut mir leid, Paride.“, sagte er entschuldigend und seufzte, „Ich dachte ich hätte etwas gehört, aber das war wahrscheinlich nur Einbildung.“

„Oh.“, entfuhr es ihm, „Ich denke nicht, dass es sein kann, dass wir uns beide gleichzeitig etwas einbilden. Das wäre für mein Verständnis ein zu großer Zufall.“

„Dann lass uns der Sache doch mal nachgehen.“, erwiderte der junge Mann belustigt und eilte weiter. Die Gasse, in der sie sich befanden, mündete in einen kleinen Hinterhof, aus der begeisterte Rufe zu ihnen hinüber drang. Sie lugten um die Ecke und erspähten eine große Ansammlung an Menschen, die einen Kreis um zwei Männer gebildet hatten. Die beiden – höchstwahrscheinlich Kaufleute, wie Ray wegen den üppigen Gewändern annahm – hatten eine Prügelei begonnen und wälzten sich auf dem gepflasterten Boden herum. Der Kleinere hatte gerade die Oberhand gewonnen und rammte dem Mann unter ihm mehrere Male seine Faust ins Gesicht, der fasste ihn allerdings bei den Handgelenken und drückte ihn von sich. Dann schlug er seinem Gegner so kraftvoll in den Magen, dass er auf keuchte und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Bauch hielt.

„Das kann doch nicht wahr sein“, flüsterte Ray aufgebracht – mehr zu sich selbst als zu Paride - als er ein Messer in seiner Hand aufblitzen sah. Jegliche Erheiterung der letzten Sekunden war wie auf einen Schlag verflogen. Der junge Frater füllte seine Lungen mit Luft um die Stimme zu erheben, doch sie versagte. Eine großgewachsene Gestalt in einem schwarzen Mantel war zu der Menge hingetreten und hatte dem Mann mit dem Messer mit geschickten Handgriffen die Arme auf den Rücken gedreht. Sie hatte die Kapuze übergezogen und unter ihrem Mantel blitzte ein rotes Kämpfergewand hervor. Sie zog ihn hoch und erlaubte dem Kleineren der beiden somit aufzustehen. Er rappelte sich auf und schien Worte des Dankes zu stammeln, denn er verbeugte sich einige Male hastig. Der Unbekannte blieb jedoch unbeeindruckt und schickte ihn mit einer entschiedenen Handbewegung fort. Dann entzog er dem Mann sein Messer.

„Komm, Ray. Näher heran.“, flüsterte Paride neben ihm und zog ihn mit sich. Die Gestalt hatte die Klinge zur Kehle des Händlers rutschen lassen und redete leise auf ihn ein. Als die Freunde sich näher heran pirschten, konnten sie die Worte deutlich verstehen.

„.. und wirst niemanden mehr bedrohen? Ich weiß, dass dein Prügelknabe aus Notwehr gehandelt hat. Du jedoch wolltest ihn töten. Versprichst du es?“ Die Stimme klang tief und bedrohlich.

„Ja! Ja!“, rief der Mann im Griff der Gestalt und versuchte sich zu entziehen. Sie blieb jedoch erbarmungslos.

„Dann lasse ich dich laufen. Aber merke dir eins: Wirst du noch einmal einen unschuldigen Menschen bedrohen, werde ich es wissen. Und dann töte ich dich.“ Sie löste sich aus ihrer angespannten Haltung und ließ ihn vorwärts stolpern. Er rappelte sich aus dem Dreck auf und rannte davon, in wenigen Sekunden war er hinter der nächsten Mauer verschwunden.

Erst jetzt bemerkte Ray, dass die Anfeuerungsrufe verebbt waren. Die Leute blickten nervös hin und her und wichen entsetzt rückwärts. Nur er und Paride blieben zurück und rührten sich nicht von der Stelle.

„Unbekannter. Wie ist euer Name?“, rief Paride aus einigen Metern sicherer Entfernung.

„Wer fragt das?“, erwiderte die ummantelte Gestalt und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Kapuze war so weit ins Gesicht gezogen, dass Ray durch den Schatten allein den Ansatz eines Kinns erkennen konnte.

„Ich bin Frater Paride und das ist Frater Ray.“, erklärte sein Freund bestimmt, „Ich danke euch dafür, dass ihr uns die Arbeit abgenommen habt.“

„Das, was ich getan habe, ist meine Aufgabe.“

„Nun, eigentlich wäre es unsere Aufgabe gewesen, aber es tut nichts zur Sache. Habt ihr eine Kämpferausbildung?“

Die Gestalt zögerte kurz. „Ja, aber das haben alle männlichen Clanmitglieder. Das ist nicht außergewöhnlich.“

Ray bemerkte, wie Paride unschlüssig den Mund öffnete und ihn gleich darauf wieder schloss. Er konnte dem Unbekannten nicht von der Fraternitat des Königs erzählen. Die Organisation wurde seit ihrer Gründung von den Mitgliedern und Angestellten geheim gehalten. Die Einwohner von Felic wussten nichts von ihr und sollte ihr Gegenüber sich dazu entschließen zu fliehen, würde es bestimmt innerhalb von Stunden bekannt sein.

„Ich wundere mich nur-“, begann er, „-dass sich ein so guter Kämpfer außerhalb unserer Reihen aufhält.“ Er deutete auf sich selbst und Ray.

„Eure Reihen? Was meint ihr?“

„Kommt mit uns und ihr werdet es erfahren.“

„Tut mir leid.“, entgegnete die Gestalt reserviert, „Mein Zuhause und meine Leute sind hier. Ich bin nicht so dumm, blind Fremden zu vertrauen.“

Sie wandte sich ab und wollte in einem Seitengang verschwinden, als Ray ein Gedanke durch den Kopf schoss. Lass ihn nicht einfach so gehen. Wir können jede Unterstützung gebrauchen! Mach ihm klar, dass er selbst als Assassine seine Leute beschützen kann.

„Wartet doch!“, rief er deshalb und sprintete vor. Er versuchte verzweifelt den Zipfel des Mantelärmels zu fassen zu bekommen, doch stattdessen griff er nach der weiten Kopfbedeckung. Wahrscheinlich war es unhöflich ein Gesicht, das unter einer Kapuze verborgen war, zu entblößen, aber es war für Ray die einzige Möglichkeit den Fremden zum Stehen blieben zu bewegen.

Als der schwarze Stoff den Kopf herunter rutschte, hielt er tatsächlich erschrocken inne und griff mit beiden Händen nach seinem Schädel. Doch Rays Augen erwarteten keine kurzen dunklen Haare, als sie sie endlich zu Gesicht bekam. Sie waren lang und blond. Und, als der Fremde schließlich zu ihm herumwirbelte, war es noch nicht einmal ein Männergesicht, das ihn erschrocken anblickte.

„Eine Frau.“, flüsterte er heiser, „Ihr seid eine Frau!“

Er griff nach ihrem rechten Arm und legte fest seine Finger darum. Auf der anderen Seite hielt sie Paride fest, der sich erst aus einer Starre lösen musste, bevor er zupacken konnte. Er schob blitzschnell seinen Fuß hinter ihr Bein und ließ sie zu Boden fallen. Sie wehrte sich verzweifelt, doch Ray legte nur seinen scharfen Dolch an ihre Kehle, um sie dazu zu bringen still zu halten.

„Wir bringen euch jetzt erst einmal hier weg. Ihr könnt uns später erklären, weshalb du ein Kämpfer bist.“, sagte er an sie gewandt und half seinem Freund ihre Arme und Beine zu fesseln, „Es wird auch nicht lange dauern.“ Wenigstens ist sie so schlau nicht zu schreien ,um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Damit band er ihr seine beiden Tücher über Augen und Mund zusammen, wuchtete sie unsanft auf seine und Parides Schultern und machte sich leise ächzend auf den Weg zum Schloss.



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