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Endspiel

von

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Fireball verschloss müde die Eingangstür seines Hauses an der Grenze zum Königreich Jarr hinter sich. Er warf den Schlüssel achtlos auf den Glastisch, danach entledigte er sich seiner Schuhe, der Krawatte und öffnete die obersten Knöpfe seines Hemdes. Die Anzugjacke war er schon lange losgeworden. Trotzdem hatte er immer noch das Gefühl gehabt zu ersticken und deswegen bei der erstbesten Möglichkeit die Siegesfeier verlassen. Der Tag gehörte ohnehin Tony, dem jüngsten, aber mit Abstand besten Fahrer seines Teams.

Er schlurfte in die elegant in weißem Marmor gehaltene Küche und begutachtete lustlos den den Inhalt seines prall gefüllten Kühlschrankes. Er fand nichts, was seinen Appetit wecken konnte und so knallte er die Tür wieder zu und ging weiter ins Wohnzimmer. Er warf sich auf die Couch und flegelte die Füße auf den Glastisch, schnappte sich die Fernbedienung und ließ das Gerät dann doch aus.

Stattdessen neigte er lauschend den Kopf.

Die Stille hing überall im Haus, erdrückend und unangenehm. Er war vor dem Lärm der Siegesfeier geflüchtet, aber hier in seinen eigenen vier Wänden wurde es auch nicht besser. Im Gegenteil, hier fühlte er sich unendlich allein.

Da war niemand, der auf ihn wartete, niemand zum reden.

Was nützte der ganze Erfolg, wenn es niemanden gab, mit dem er ihn teilen konnte?

Er seufzte laut auf und schloss die Augen, den Kopf angelehnt. Aber es war keine Entspannung in seiner Haltung, seine Gedanken ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Dieses Haus ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Das Haus war ihr Traum, nicht seiner. Alles war nach ihren Vorstellungen eingerichtet, so wie sie es sich in ihren Gedanken immer vorgestellt hatte.

Sie verfolgte ihn, seit Jahren schon.

Aber sie war nicht hier. Sie war noch nie hier gewesen und würde auch nie hier sein.

Dennoch hielt er an diesem Haus fest. Es war beinahe so, als band eine Art Hassliebe ihn an dieses Gemäuer. Er liebte es, weil er es für sie gebaut hatte und er hasste es, weil sie es nie erfahren würde.

Dieser Ort war mehr ihr Zuhause als seines, aber trotzdem sein Rückzugsgebiet, welches niemand außer ihm bisher je von innen zu Gesicht bekommen hatte. Sie sollte es als Erste sehen und da dies nie geschehen würde, blieb sein Haus sein Geheimnis. Dabei hasste er Geheimnisse, denn sie machten alles kaputt.
 

Fireball riss die Augen auf und sprang hoch. Er rannte beinahe ins Bad, riss sich die Kleidung vom Leib und stellte sich unter die eiskalte Dusche.

Fünfzehn Minuten später hatte er den Kopf wieder klar und schlenderte, nur mit einem Handtuch um die Hüften ins Schlafzimmer, während er überlegte, ob er nicht zu seinem schwarzen Büchlein greifen sollte. Bestimmt fand sich da jemand, der ihm den Rest des Tages versüßen würde, der die unangenehmen Gedanken vertrieb.

Heute war ein Festtag. Endlich hatte sein Team die Meisterschaft gewonnen, sie waren die Champions des Neuen Grenzlandes.

Oder sollte er Colt anrufen?

In den letzten Jahren war ihr Kontakt deutlich seltener geworden, aber auch wenn sie sich manchmal wochen- oder monatelang nicht hörten, ihre Freundschaft blieb unangetastet.

Nein, der Cowboy war keine Option gegen die Einsamkeit. Er würde sofort merken, dass etwas nicht stimmte, und Fireball konnte und wollte nicht darüber sprechen.
 

Das Schrillen des Hypercoms riss in aus seinen Gedanken, und der Name seines besten Freundes stand auf dem Display. Fireball sah sich verstohlen um, ob Colt nicht vielleicht doch irgendwo Kameras versteckt hatte, denn sein Timing war so treffsicher, dass es beinahe unheimlich wurde.

„Unsinn!“ Es war einfach nur Zufall.

Er setzte sich aufs Fußende des Bettes und nahm die Verbindung entgegen.

„Du kannst wohl Gedanken lesen?“, begrüßte er den Cowboy, als dessen grinsendes Gesicht auf dem Display erschien.

„Das auch“, erwiderte der belustigt. „Aber eigentlich wollte ich dir zu deinem Erfolg gratulieren. Wir haben es gerade in den Nachrichten gesehen. Also, Bilder von der Siegesfeier und da du nicht mehr anwesend warst, dachte ich mir schon, dass ich dich Zuhause erreiche.“

„Danke!“ Fireball war froh, seinen Freund zu sehen, andererseits jedoch auch dankbar. Wenn Colt ‚wir‘ sagte, dann hieß dies, dass er seinen Jungen bei sich hatte und an solchen Wochenenden konnte er nicht mit ihm auf Siegestour durch die Bars von Yuma- City gehen. Der Cowboy war aber auch rücksichtsvoll genug, das Kind nicht mit zu ihm zu bringen oder gemeinsame Unternehmungen vorzuschlagen. „Es war ein hartes, aber erfolgreiches Jahr und Tony hat es verdient. Er hat schwer trainiert.“ Fireball rieb sich den Nacken. „Jetzt ist erst einmal Sommerpause, also Sommer, Sonne und Erholung angesagt.“

Colt nickte zustimmend. „Das hast du auch dringend nötig, Amigo. Du siehst furchtbar aus.“

Fireball unterdrückte ein Seufzen. Der Cowboy sah aber auch alles. „Wie gesagt, es war ein hartes Jahr“, wiederholte er.

„So wie das Jahr davor und das davor und das davor auch. Es wird immer ein hartes Jahr sein und es wird nie aufhören, solange du nicht zu einem Abschluss kommst.“ Colt konnte es nicht lassen. Er schien intuitiv zu wissen, was Fireball beschäftigte und anstatt diskret darüber hinweg zu sehen, drehte er das Messer in der Wunde noch einmal herum.

„Lass es gut sein, Alter!“ Fireballs Stimme klang unheilverkündend. „Heute sollte ein Freudentag werden, also verdirb mir den nicht.“

„Hast du doch schon selbst“, erwiderte Colt unbekümmert. „Aber wie du willst, es ist deine Beerdigung. Ich freu mich auf jeden Fall für dich und dein Team. Intergalaktische Meisterschaften gewinnt man ja immerhin nicht jeden Tag. Wann wollen wir uns wieder mal treffen, damit du mich gebührend zu diesem Anlass einladen kannst?“ Der ehemalige Starsheriff hatte seine Unbekümmertheit schon wiedergefunden.

„Wann hast du Zeit?“, stellte Fireball die Gegenfrage, wohl wissend, dass Colt verstand.

„Heute in zwei Wochen. Es sind Ferien, schon vergessen?“, kam auch die prompte Erwiderung.

„Dann ist es abgemacht“, beschloss Fireball. „Wir sehen uns in zwei Wochen. Jetzt muss ich aber los. Wie du siehst hast du mich unter der Dusche vorgeholt und von einem heißen Date abgehalten.“ Fireball hatte genug von dieser Unterhaltung und seiner Meinung nach waren sie schon wieder viel zu tief in gefährliches Fahrwasser geraten. Jetzt wollte er nur noch seine Ruhe haben und griff daher zu einer mittleren Notlüge.

„Oho, na dann will ich mal nicht weiter stören.“ Colt sah ein wenig überrascht aus, aber nahm seine Worte so hin. „Amüsier dich, aber heb dir das Beste dann für unser Wochenende auf“, grinste er noch und der Bildschirm wurde schwarz.

Fireball warf das Hypercom auf den Boden, ließ sich zurück aufs Bett sinken und schloss die Augen. Minuten später war er eingeschlafen, aber es war kein erholsamer Schlaf, denn in seinen Träumen suchte sie ihn regelmäßig heim.
 

*****
 

Eine Woche später
 

Der Morgen graute, als eine Explosion im Zentrum des Kavallerie-Oberkommandos die Anwohner von Yuma-City aus dem Schlaf riss. Der ersten folgten weitere und es dauerte nicht lange, bis die komplette Stadt in schwarzem Rauch lag, während Sirenen unaufhörlich hallten und man die Martinshörner von Feuerwehren und Krankenwagen in den Straßen hörte.

Die Lage in der Stadt war chaotisch. Aufgeregte Einwohner rannten panisch auf die Straßen, um herauszufinden, was los war.

In diesem Moment begann der eigentliche Angriff. Wie ein Heuschreckenschwarm fielen die Hyperjumper der Outrider über die Stadt her und schossen auf alles, was sich in den Straßen bewegte.

Ganze Häuserzeilen gingen in Flammen auf, während die Menschen um ihr Leben rannten und in Gebäude sowie die unterirdischen U-Bahn- Stationen flüchteten. Panik brach aus, ängstliche und hysterische Menschen schubsten sich gegenseitig aus dem Weg, rempelten sich gnadenlos um und wer hinfiel, war verloren.

Über fünfzehn Jahre nach Beendigung des zweiten großen Krieges gegen die Phantomwesen wurden die Einwohner der Stadt vom Angriff der Bewohner der anderen Dimension völlig überrascht und hilf- und wehrlos überrumpelt.

Fabriken und Industrieanlagen wurden genauso zerstört wie der ansässige Vergnügungspark, Schulen und andere öffentliche Einrichtungen.

Das Oberkommando der Kavallerie, das Hauptziel der ersten Explosionen, war nicht in der Lage, den Angriff der Phantomwesen entsprechend zu erwidern. Man war nicht vorbereitet und die Zerstörung in der Zentrale der Kavallerie war so erheblich, dass der etwa dreißigminütige Angriff der Outrider auf die Hauptstadt des Neuen Grenzlandes nahezu ohne jede Gegenreaktion erfolgen konnte.
 

Die vom Planeten Alamo entsandte Flotte erreichte die Hauptstadt Yumas, als die Outrider sich schon wieder in ihre Dimension zurückgezogen hatten.

Sie fanden ein Meer der Verwüstung vor. Yuma-City war nahezu vollständig zerstört, das Gelände des Kavallerie-Oberkommandos glich einem Trümmerfeld aus eingestürzten Gebäuden und brennenden Raumgleitern und Fahrzeugen.

Überall irrten verwirrte und verletzte Überlebende auf der Suche nach Rettung oder Hilfe durch die zerstörten Straßenzüge.
 

*****
 

Am Tag nach dem Angriff
 

„Yuma City liegt in Schutt und Asche. Unser Reporter im Kriegsgebiet berichtet von massiven Zerstörungen und tausenden Toten und Verwundeten.“
 

Ungläubig saß Fireball in seinem Hotelzimmer auf dem Planeten Funorama und starrte auf den Bildschirm.
 

„Die Verletzten werden mittlerweile mit Sonderschiffen auf Außenstationen angrenzender Planeten gebracht. Was aber wird aus jenen Menschen, die bei dem Angriff alles verloren haben?“
 

Die Kamera schwenkte auf das, was vom Raumhafen der Hauptstadt des Neuen Grenzlandes übrig war. Panisch aussehende, oft auch weinende Menschen drängten sich auf engstem Raum um die teilweise beschädigten Abflugterminals und versuchten, eine Möglichkeit zu finden, den Planeten zu verlassen und sich in Sicherheit zu bringen.
 

„Die Angst ist allgegenwärtig. Yuma besitzt keine Möglichkeiten mehr, sich zu verteidigen denn das Zentrum des Kavallerie-Oberkommandos wurde vollständig zerstört.“
 

Nun wurden Bilder gezeigt, die die Ruinen der Gebäude des Oberkommandos zeigten. Rauch stieg aus den Trümmern auf und noch immer waren Feuerwehrleute und Armeeangehörige damit beschäftigt, die Brände zu löschen und Opfer zu bergen. Die Bilder waren ganz offensichtlich mit einer älteren Kameradrohne aufgenommen worden. Aber obwohl sie unscharf und verwackelt waren, zeigten sie die grausame Realität immer noch viel zu deutlich. Viel zu viele Tote lagen, bedeckt mit weißen Tüchern, auf einem Platz, welchen Fireball nur mühsam als ehemaligen Landeplatz vor Hangar Drei identifizieren konnte. Wie viele seiner Freunde und Bekannten lagen darunter?
 

Er schüttelte fassungslos den Kopf und die Tränen stiegen ihm in die Augen.

Gestern war die Welt noch in Ordnung gewesen und heute herrschte Krieg. Wie war das passiert?

Vierundzwanzig Stunden waren seit dem Angriff vergangen und seitdem gab er sein Bestes, irgendeine Verbindung oder einen Flug zum Planeten Yuma zu bekommen, denn viele seiner Freunde lebten da. Aber vergeblich – sämtliche Raumflüge waren ersatzlos gestrichen, im gesamten Grenzland war der Notstand ausgerufen worden, es herrschte Alarmzustand. Niemand wusste, ob der Angriff auf das Herz des Neuen Grenzlandes ein einzelnes, furchtbares, vernichtendes Ereignis gewesen war, oder ob noch weitere Überfälle drohten. Im Fernsehen brachten sie bisher nur eine Dauerschleife mit Bildern über das Ausmaß des Angriffs. Bilder, die er in den vergangenen Stunden oft gesehen, jedoch immer noch nicht realisiert hatte.

Auf Funorama selbst waren überall Straßensperren errichtet worden, die Polizei kontrollierte den gesamten Verkehr, ab zwanzig Uhr herrschte Ausgangsverbot. Des Weiteren wurden die Menschen über Lautsprecherdurchsagen auch am Tag angehalten, die Gebäude möglichst nicht zu verlassen. Fireball wusste, dass in den übrigen Siedlungen und Städten des Neuen Grenzlandes ganz ähnlich verfahren wurde.

Weil er den Militärdienst schon vor Jahren quittiert hatte, stand ihm auch keine Sonderbehandlung mehr zu, er musste sich genauso wie alle anderen gedulden und auf neue Nachrichten seitens des Oberkommandos warten. Dennoch hatte er versucht, an der Rezeption über das Hotelpersonal und die Sicherheitskräfte etwas zu erreichen, hatte seinen Status als ehemaliger Starsheriff geltend machen wollen. Aber die Mitarbeiter hatten nur freundlich mit dem Kopf geschüttelt und ihm genau das gleiche wie den anderen besorgten Gästen gesagt, man könne im Moment nichts anderes tun als zu warten und man bitte die Leute darum, Ruhe zu bewahren und nach Möglichkeiten auf ihren Zimmern zu bleiben.

Er hatte mit dem Gedanken gespielt, sich an den Manager oder Inhaber des Hotels zu wenden, aber außer das er ein ehemaliger Starsheriff war, unterschied er sich nicht von den anderen Gästen. Sie würden wegen ihm das Flugverbot nicht aufheben und so blieb ihm seit einer gefühlten Ewigkeit nichts weiter übrig, als in seinem Zimmer zu hocken und zu warten, zu hoffen und zu grübeln.
 

„Aus unbestätigten Quellen erfahren wir gerade, dass auch der legendäre Saber Rider, ehemaliger Starsheriff und jetziger Kommandant des Kavallerie-Oberkommandos ein Opfer dieses furchtbaren Outriderüberfalls geworden ist.“
 

Fireball fuhr wie elektrisiert hoch und starrte auf das Gesicht des Reporters. Schock und Entsetzen stand in den Augen des Mannes und der ehemalige Pilot des Starsheriff Teams dachte flüchtig, dass er vermutlich gerade den gleichen Ausdruck zeigte.
 

„Unsere Quellen informierten uns, dass Commander Rider sich zum Zeitpunkt des Angriffs in seinem Büro befand und man immer noch versuche, ihn in den Trümmern zu finden.“
 

„Saber!“ Fireball stöhnte auf. Sein ehemaliger Vorgesetzter im Ramrodteam, einer seiner ältesten und besten Freunde, war verletzt, möglicherweise auch Schlimmeres und er hing hier fest. Er wollte gar nicht wissen, was seine Familie jetzt durchmachte.

‚April!‘‘ Wie es ihr wohl ging? Gleich zwei solcher Schicksalsschläge direkt hintereinander.

Fieberhaft wählte er auf seinem Hypercom ihre Nummer. Vergeblich, immer wieder kam nur die Nachricht, dass eine außerplanetarische Verbindung im Moment nicht möglich sei. Er konnte weder Colt noch seine ehemalige Kollegin, Sabers Ehefrau, erreichen.

Er begann im Zimmer hin und her zu tigern. Es musste doch eine Möglichkeit geben, von hier weg zu kommen. Wenn er doch nur irgendwem gesagt hätte, dass er sich eine Auszeit über einige Tage gönnen wollte. So aber hatte er auch noch unter falschem Namen hier im Hotel eingecheckt. Selbst als er dies bei den Rezeptionsmitarbeitern richtiggestellt hatte, konnten diese ihm nur bedauernd sagen, dass es im Moment einfach unmöglich sei, irgendeine Verbindung nach Yuma herzustellen.

Tatsache war, er saß hier fest, bis die Lage unter Kontrolle gebracht worden war und die Kommunikation wieder funktionierte.

Verdammt zur Untätigkeit konnte er nur hoffen, dass dies bald soweit sein würde.
 

Zwei Stunden und keine Neuigkeiten später riss ihn unerwartet ein Klopfen aus seinen fieberhaften Überlegungen wie er nach Yuma gelangen konnte.

Zimmerservice? Nein, konnte nicht sein, denn er hatte nichts bestellt und das Hotel hatte den Zimmerservice auf Notfälle beschränkt und alle anderen Mitarbeiter nach Hause geschickt. Er stürmte zum Eingang seiner Suite und riss die Tür auf.
 

„Du bist schwer zu finden, Amigo. Wie schnell kannst du packen?“ Colt, in voller Rüstung und bewaffnet, stand vor der Tür. Seine ganze Körperhaltung drückte Anspannung, Ungeduld und Eile aus, aber er war hier.

Der Cowboy nahm sich nicht die Zeit, das Zimmer zu betreten, sondern hielt ihm nur einen Sonderausweis des Oberkommandos hin und Fireball verstand. Eile war geboten, sie wurden gebraucht.

„Du hast dir reichlich Zeit gelassen. Ich hatte schon eher mit dir gerechnet.“ Fireball ergriff die kleine Ausweiskarte, schnappte sich sein Hypercom vom Tisch und folgte dem Cowboy dann aus dem Zimmer und aus dem Hotel. Angesichts des bewaffneten und finster blickenden Cowboys in voller Rüstung, traute sich im Foyer niemand der Anwesenden, sie aufzuhalten.

Sie vernahmen nur einzelne Zurufe oder Nachfragen zur aktuellen Lage. aber Colt reagierte nicht und Fireball folgte seinem Beispiel. Er war nun nicht länger Zivilist, sondern wieder Mitglied des Kavallerie-Oberkommandos.
 

*****
 

„Wo kommst du her?“

Colts Gleiter, ein verbesserter Nachfolger des Broncobusters, war kaum in der Luft, als Fireball die Ungewissheit um die Ereignisse auf Yuma nicht länger aushielt.

„Ich habe meine Familie in Sicherheit gebracht“, erwiderte der Cowboy knapp. „Danach war ich einige Stunden auf Yuma, wo ich den Befehl erhalten habe, dich zu finden und hinzubringen. Zivilist hin oder her, das Oberkommando braucht im Moment jeden, der irgendwie in der Lage ist, zu kämpfen oder Kampferfahrung vorweisen kann. Wir wissen bis jetzt nur, dass es Outrider waren, das ist aber auch schon alles.“

Fireball ließ die Worte auf sich wirken. Die nächste Frage traute er sich kaum zu stellen.

„Colt … stimmt das mit Saber?“

Colt atmete tief durch, dann nickte er.

„Er war zum Zeitpunkt des Angriffs in seinem Büro“, wusste er zu berichten. „aber entgegen den Meldungen der Medien wurde er schon gefunden. Saber ist verletzt, Fireball. Richtig verletzt, nicht nur ein bisschen. Im Moment kann keiner sagen, ob er überlebt oder nicht und wenn er es schafft, was von ihm übrig bleiben wird.“

Fireball schwieg entsetzt und auch Colt hatte nichts mehr zu sagen. Die Nachrichten, die er übermittelt hatte, waren schlimm genug gewesen. Auch er hatte Zeit gebraucht, dies zu verarbeiten. Der Flug von Funorama nach Yuma dauerte einige Stunden und bis dahin hatte Fireball Zeit seine Gedanken zu ordnen, Fragen zu stellen und die ersten Eindrücke zu verarbeiten. Dann mussten sie beide sich zusammenreißen und einsatzbereit sein.
 

******
 

„Willkommen im neuen, vorläufigen Hauptquartier!“

Colt landete unbehelligt auf dem Flugfeld einer kleinen, jetzt gut gesicherten Anlage des Kavallerieoberkommandos, einige Kilometer außerhalb Innenstadt. In den wenigen Gebäuden wurden seit Jahren nur Akten archiviert und da sie nicht im Zentrum der Hauptstadt befanden, waren sie vom Angriff verschont geblieben.

Fireball verließ den Raumgleiter und sah sich suchend um. Außer einigen Wachen konnte er jedoch kaum eine Menschenseele ausmachen.

„Wo sind die alle?“, wollte er wissen. „Beratungen in Sachen Verteidigung?“

Colt sah ihn ernst an. „Die meisten Mitglieder des Stabs sind tot oder verwundet, der Sicherheitsrat existiert nicht mehr“, erklärte er dann. „Im Moment ist die Kavallerie sozusagen nahezu führerlos, aber wir arbeiten daran, dies wieder zu ändern.“ Er warf Fireball einen seltsamen Blick zu.

„So schlimm ist die Lage?“ Damit hatte der ehemalige Rennfahrer nicht gerechnet. Sicher, Chaos und Verwüstung, Tote und Verwundete waren schon schlimm genug, aber das keiner der Kommandanten und Generäle übrig geblieben sein sollte, war für ihn unvorstellbar.
 

„Aus diesem Grund hat Colt sich ja auf die Suche nach dir gemacht“, mischte eine weibliche Stimme sich ein und Fireball fuhr herum. „April!“

Die Blondine stand im Eingang des Gebäudes, flankiert von zwei Wachen und schien auf ihn gewartet zu haben. Fireball, der sie wegen des umherziehenden Rennzirkus' während der Saison seit der Beerdigung ihres Vaters vor einigen Monaten nicht gesehen hatte, musterte sie. Die blonden Haare reichten ihr jetzt nur noch knapp über die Schultern, ihre blauen Augen wirkten müde und sie sah insgesamt sehr zerbrechlich aus. Aber jetzt, wo ihre beiden ehemaligen Kollegen eingetroffen waren, gönnte sie ihnen merklich erleichtert ein kurzes, kaum sichtbares Lächeln und wandte sich dann wieder nach drinnen, noch ehe Fireball weiter auf die ungewohnt kühle Begrüßung reagieren konnte. „Kommt mit!“

Fragend sah der Rennfahrer seinen Freund an.

„Das ist ihr Versuch, nicht zusammenzubrechen“, versuchte dieser Aprils Verhalten zu erklären, aber er klang keineswegs überzeugt davon, dass ihr dies sonderlich gut gelang.

Die beiden Männer folgten ihr ins Gebäude, einige Gänge entlang bis in ein kleines Konferenzzimmer.

Die Wachen schlossen die Tür und postierten sich anschließend davor. Nun waren sie allein und sie würden auch nicht gestört werden.

„April, es tut mir so leid!“ Fireball ging auf sie zu, aber die Blondine hob abwehrend die Arme und trat einen Schritt zurück.

„Nicht, bitte nicht anfassen! Ich kann das jetzt nicht ertragen und er lebt“, murmelte sie und ließ sich am Tisch nieder. „Wir müssen reden und wir müssen handeln. Eile ist geboten.“

Der ehemalige Rennfahrer verstand. Nach der Trennung hatte er körperliche Nähe oder Mitleid auch kaum ertragen können.

„Was wisst ihr genau? Was ist passiert?“, wollte er nun wissen.

„Immer noch viel zu wenig“, bekannte April. „Saber bekam vorgestern einen Anruf. Danach ist er sofort ins Oberkommando gefahren und hat den Stab zusammengerufen. Es gab wohl Hinweise, dass von Revolutionären ein Anschlag auf den Planeten Alamo verübt werden sollte und daraufhin wurde dort die ganze Flotte stationiert und in Alarmzustand versetzt.“ Sie rieb sich mit der Hand müde über die Stirn. „Richard und der Sicherheitsrat sind hier geblieben. Er wollte nach Alamo reisen, aber seine Berater hatten davon abgeraten, zu seiner eigenen Sicherheit. Sie saßen die ganze Nacht über den Verteidigungsplänen und Beratungen und sie waren auch noch da, als die erste Bombe explodierte. Direkt unter seinem Büro. Wir wissen nicht, wer sie dort deponiert hat, denn die Überwachungsanlagen sind zerstört, alle dazugehörigen Daten vernichtet.“

Colt presste zornig die Lippen zusammen, er kannte die Geschichte schon. Aber für Fireball waren die grausigen Einzelheiten neu und seine Emotionen wankten irgendwo zwischen Fassungslosigkeit, Schock und morbider Faszination angesichts dieser Perfektion in der Planung. Die Einzigen in der Phantomzone, denen er solch ein ausgeklügeltes Komplott zugetraut hätte, waren Jesse Blue und Nemesis gewesen, aber beide waren tot.

„Keiner hat geahnt oder erwartet, dass diese Stadt einmal Ziel eines so massiven Angriffs werden könnte. Und niemand hat mit den Outridern gerechnet, nicht mehr nach so langer Zeit. Danach ging es Schlag auf Schlag. Erst die Bombenanschläge, danach der Angriff. Sie haben als erste Ziele natürlich das Oberkommando selbst und die Raumhäfen und Kommunikationseinrichtungen der Stadt platt gemacht, mitsamt den meisten Schiffen. Danach waren Parkhäuser und Tiefgaragen ihr Ziel. Wir kamen überhaupt nicht zum Reagieren, weil es fast keine funktionierenden Raumgleiter oder Autos mehr gab. Als die Flotte von Alamo eintraf, war alles schon zu spät.“

„Und wer genau führt das Neue Grenzland jetzt?“, wollte Fireball wissen, der seinen Ohren nicht traute. Die Bilder im Fernsehen zu sehen war das eine, jetzt saß er mittendrin in der Realität.

„Die Alamo Flotte ist geblieben und hat damit begonnen, Schiffe als Transporter für die vielen Verletzten einzuteilen. Einer der Captains hat das Kommando darüber übernommen und erstattet Colt oder mir stündlich Bericht. Sobald dies erledigt ist, wird die Bevölkerung der Stadt evakuiert. Einen großen Teil werden wir in die umliegenden Orte hier auf Yuma bringen können, aber nicht alle. Die Infrastruktur liegt am Boden, viele Versorgungsbetriebe für den gesamten Planeten sind zerstört, es wird bald an Nahrungsmitteln, Strom und Wasser fehlen. Außerdem funktioniert die Hauptwetterkontrollstation nicht mehr, also wird sich auch das Wetter in einigen Stunden ändern. Ein Meteorologe erklärte mir, dass wir dann mit heftigen Unwettern zu rechnen hätten.

Wir müssen sehen, dass wir die Menschen schnell in Notunterkünfte umsiedeln, zumindest vorübergehend. Aber schnell wird schwierig werden, weil wir unsere Außenposten oder andere Planeten nicht erreichen, da wir wie gesagt keine Möglichkeit der Kommunikation haben. Die Satelliten sind vermutlich auch im Nirwana gelandet. Uns stehen im Moment hier nur sehr wenige Schiffe zur Verfügung. Die Außenposten ihrerseits warten mit Sicherheit auf Befehle von Yuma, so dass sie von sich aus kaum handeln werden, da sie die Lage nicht einschätzen können. Ich habe einen Gesandten zu König Roland nach Jarr geschickt. Ich hoffe, dass wir bald Antwort auf unser Hilfegesuch haben werden.“

„Du führst also im Moment das Kavallerie Oberkommando“, stellte Fireball fest und April nickte zögernd.

„Colt und ich“, stellte sie leise richtig. „Es blieb uns nichts anderes übrig. Seit Daddy’s Tod …“ Sie konnte einen Moment lang nicht weitersprechen. „Bis Saber wieder einsatzfähig ist, vertrete ich ihn sozusagen. General Whitehawk kann uns leider auch nicht helfen, sein Gesundheitszustand ist nicht sehr gut. Saber hat sein Bestes gegeben, aber die Informationen kamen fehlerhaft und viel zu spät. Er ist ihnen direkt in die Falle gegangen, genau wie sein Stab. Und nun liegt er auf der Intensivstation und ich kann nichts für ihn tun. Hier braucht man mich. Ich kann nicht einfach untätig herum sitzen, während diese Outridermistkerle meine Heimat zerstören.“

Fireball griff nun über den Tisch hinweg nach ihrer Hand und hielt sie fest.

„Das werden sie nicht schaffen!“, erklärte er mit harter, wütender Stimme. „Wir werden aufräumen und uns wieder aufrappeln und dann werden wir zurückschlagen. Damit werden die Phantomwesen nicht durchkommen.“

April nickte dankbar, dann aber entzog sie ihm ihre Finger und stand auf.

„Fireball, ich, oder eigentlich wir, haben eine Bitte. Deswegen wollten wir dich auch hier haben.“

„Ja?“ Fragend sah er sie an und bemerkte den Blick, den Colt und sie austauschten. „Was gibt’s denn noch? Schlimmer kann es ja nicht mehr werden.“

„Wir brauchen im Moment alle Führungskräfte, die wir bekommen können. Deswegen bitte ich dich, kehre zurück und tritt wieder ins Oberkommando ein. Dieses Mal allerdings ohne den Stern, sondern gleich als Kommandant.“

Ein wenig überrumpelt war er schon, aber nickte ohne zu Zögern. „Sicher, ich wollte sowieso meine Hilfe anbieten und wenn ich euch so helfen kann, dann bin ich dabei. Fast wie in alten Zeiten.“

„Noch etwas!“, mischte sich Colt da unvermittelt ein. „Bevor du vorschnell zustimmst, kommt jetzt noch die Bedingung oder der Haken, wie man so schön sagt. Mandarin ist eines der wenigen überlebenden Führungsmitglieder des Oberkommandos und sie brauchen wir genauso. Wir alle wissen, dass ihr euch aus dem Weg geht und du ihretwegen ganz von Yuma geflüchtet bist. Aber wenn du den Job haben willst, dann müsst ihr miteinander klarkommen und vernünftig miteinander arbeiten. Denk gut darüber nach, ob du das kannst. Für eure Streitereien und Diskussionen ist hier kein Platz, wir haben größere Probleme.“

Das war wie ein Schlag in den Magen, aber eigentlich hätte er es wissen müssen. Seine Exfreundin war beim Oberkommando geblieben, wenn auch nicht im aktiven Dienst. Sie hatte stattdessen als Oberärztin der Chirurgie im Militärkrankenhaus auf Yuma gearbeitet und natürlich lag es nahe, sie jetzt in den provisorischen Führungsstab des Oberkommandos zu holen. Da sie nicht anwesend war, ging Fireball davon aus, dass sie im Krankenhaus war und alle Hände voll zu tun hatte. Also blieb ihm noch etwas Zeit bis zur Konfrontation.

„Ich bleibe bei meiner Entscheidung“, brachte er dann heraus. „In dieser Situation ist es völlig egal, was mal war. Von meiner Seite her wird es keine Probleme geben. Die Vergangenheit ist vorbei und wenn das für Mandarin in Ordnung geht, dann für mich auch.“

April nickte zufrieden. Colt sah ihn ein wenig misstrauisch an, aber akzeptierte seine Worte vorerst. Dem Cowboy würde er später noch Rede und Antwort stehen müssen, Fireball sah es in seinem Blick.

„Also, willkommen im Team! Machen wir uns an die Arbeit, es gibt viel zu tun. Ich informiere die Führungsoffiziere über deine Ankunft und deinen Status. Colt hat dir bestimmt einen groben Überblick über unsere aktuelle Lage gegeben, aber am Besten wäre es, wenn du dich selbst mit den Offizieren unterhältst, dir ein Urteil bildest und dich dann mit Colt und mir über unsere weiteren Schritte abstimmst“, bestimmte die Blondine und ging damit wieder zu der Tätigkeit über, welche sie auch schon vor Ankunft der beiden Männer ausgeübt hatte.
 

Einige Stunden und viele Tassen Kaffee später hatte sich Fireball eingehend über die Lage in der Stadt informiert und gemeinsam mit Colt und April erste, wirkungsvolle Maßnahmen geplant und teilweise schon angeordnet oder eingeleitet.

Das blaue Geschwader, jenes, welches Mandarin in ihrer Zeit als Captain kommandiert hatte, war zum Zeitpunkt des Angriffs zum Glück auf dem Planeten Alamo stationiert gewesen.

Alamo hatte die Schiffe umgehend nach Yuma zurück geschickt, nachdem sich auf verheerende Weise herausgestellt hatte, dass nicht Alamo, sondern Yuma-City das Ziel der Outrider gewesen war.

Nun waren die Schiffe mehr oder weniger provisorisch stationiert. Außerdem wurden viele Reservisten wieder in den aktiven Dienst gestellt und gemeinsam mit dem Katastrophenschutz der Stadt versuchten sie, in den Trümmern verschüttete Opfer zu bergen; das würde noch Tage dauern.

Parallel dazu begannen Techniker damit, die interplanetarische Kommunikation, sowie die Verbindung zu Außenstationen und anderen Orten des Planeten Yuma wieder herzustellen. Nachrichtendrohnen der Massenmedien wurden zu diesem Zweck konfisziert und umgerüstet.

Die Menschen aus den Nachbarorten waren mit Baggern und Grabwerkzeugen, teilweise bewaffnet und teilweise auch einfach nur mit bloßen Händen ihrer Hauptstadt zu Hilfe geeilt. Frauen verteilten selbst gekochtes Essen und warme Decken an die Leute, die sich ängstlich und besitzlos an den vielen ehemaligen Bahnhöfen und öffentlichen Plätzen versammelt hatten und nicht mehr wussten, wohin. Diese Helfer ließen sich auch von der weiterhin drohenden Gefahr eines erneuten Angriffs nicht davon abhalten, sich um die Überlebenden zu kümmern. Und die traumatisierten Einwohner der am Boden liegenden Stadt waren für jede helfende Hand dankbar. Zusammen mit der Polizei sorgte nun das Oberkommando unter der Führung der drei ehemaligen Starsheriffs dafür, die Menschen dort einzuteilen, wo es am Sinnvollsten war und wo sie vor allem von Teilen der Kavallerie beschützt werden konnten.
 

Nachdem die wichtigsten Punkte geklärt waren, zwangen Colt und Fireball ihre Freundin dazu, sich endlich einmal einige Minuten Pause zu gönnen.

Fireball drückte ihr ein Sandwich in die Hand und gemeinsam warteten sie, bis April wenigstens die Hälfte davon aufgegessen hatte und sich dann müde zurücklehnte.

„Willst du nochmal zu Saber?“, fragte der Cowboy sie dann, aber April schüttelte den Kopf. „Sie schicken nach mir, sobald sich sein Zustand ändert“, erwiderte sie.

Fireball wurde nicht recht schlau aus ihren Sätzen. War es nicht ein wenig unnormal, dass sie nicht bei ihrem Mann sein wollte? Fragend sah er Colt an.

„Saber liegt ihm Koma“, teilte ihm der Scharfschütze ausdruckslos mit. „Wenn man so ein Optimist wie sein Arzt ist, hatte er Glück im Unglück, dass die Bombe nicht direkt unter ihm hochgegangen ist. So lebt er wenigstens noch. Er wurde durch den gesamten Raum bis gegen die Wand des Nachbarzimmers geschleudert und dann von einstürzenden Teilen der Decke begraben.“

Eine einsame Träne rann bei Colts Worten über Aprils Wange, aber ansonsten zeigte sie keinerlei Gefühle. Sie stand immer noch unter Schock, erkannte Fireball. Plötzlich erhob sie sich, entschuldigte sich mit den kurzen Worten und verließ fluchtartig den Raum.
 

Zurück blieben die beiden besten Freunde.

„Wie schlimm steht es um ihn?“, fragte Fireball. „Die Wahrheit, Colt!“ Aus Rücksicht auf April hatte der ehemalige Rennfahrer bisher auf detaillierte Fragen zum Gesundheitszustand seines Freundes geschwiegen.

„Der Schädelbasisbruch ist die harmloseste seiner Verletzungen.“ Colt stützte die Ellenbogen auf den Knien ab und rieb sich das Gesicht mit den Händen, ehe er wieder zu Fireball sah. „Mit der linken Körperhälfte ist er gegen die Wand geknallt und er hat mehr gebrochene als ganze Knochen im Leib. Außerdem haben die Ärzte einen Teil seines rechten Beines nicht retten können und ob er seine Hand behält ist fraglich, von diversen inneren Verletzungen fang ich besser gar nicht an. Es geht schneller, wenn du nach den Körperteilen fragst, die noch ganz sind, denn da ist die Antwort leicht. Nichts, einfach nichts. Er wird beatmet und die Hirnströme auf dem EKG zeigen etwas an, aber das ist auch schon alles. Wenn du mich fragst, ist das nicht Glück gehabt, sondern das ganze Gegenteil. Wenn er je wieder aus dem Koma erwacht, dann ist unsicher, ob er geistig noch beieinander ist oder sich zum sabbernden Kleinkind zurückentwickeln wird. Lassen wir es mal positiv für seinen Dickschädel ausgehen, mit den Verletzungen wird er die nächsten Jahre unter qualvollen Schmerzen in irgendwelchen Reha-Kliniken zubringen und sein altes Leben kann er vergessen, kein Fechten mehr, kein Kämpfen, keine Marathons und Wandertouren mehr. Daran wird er nie wieder anknüpfen können.“ Colt schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht Turbo, ich glaube, ich würde so nicht leben wollen.“

Fireball wusste nicht, was er sagen sollte. Das Ausmaß von Sabers Verletzungen hatte ihn eiskalt erwischt. Er fragte sich, ob er selbst so leben würde wollen. Wäre er dankbar, dass er überlebt hätte oder würde er daran verzweifeln?

Er fand für den Moment keine Antwort darauf.

„Und April?“, fragte er stattdessen weiter.

Colt zuckte die Achseln. „Du hast es selbst gesehen. Sie hält durch, aber ich weiß nicht, wie lange noch. Vermutlich gehen ihr die gleichen Fragen wie uns durch den Kopf, aber anstatt sich damit auseinanderzusetzen, vergräbt sie sich in Arbeit. Das war vor dem Anschlag schon so, eigentlich seit dem Tod ihres Vaters, aber jetzt ist es noch schlimmer geworden.“ Colt warf einen Blick auf die geschlossene Tür. „Saber hat sich große Sorgen um sie gemacht und irgendwie kommt es mir gerade so vor, als hätte ich nun diese Last übernommen. Ich warte darauf, dass sie zusammenbricht und weiß dennoch, dass ich nicht derjenige bin, der ihr helfen kann.“

Fireball verstand seinen Freund. „Sie ist nicht allein und egal wie es ausgeht, wir sind beide für sie da“, meinte er und versuchte, sich seine innere Aufgewühltheit nicht anmerken zu lassen. Eigentlich hatte er Saber so schnell wie möglich besuchen wollen, aber nach allem, was er jetzt von Colt erfahren hatte, wusste er nicht, ob der Anblick seines im Koma liegenden Freundes im Moment ertragen konnte. Er versuchte, sich Saber im Krankenbett vorzustellen, aber es gelang ihm einfach nicht. In seinen Gedanken war sein Freund gesund, agil, pflichtbewusst und vor allem in einem Stück. Auch wenn man sich innerlich darauf einstellte, auf den Anblick eines solchen Ausmaßes an Verletzungen war man wahrscheinlich nie genug vorbereitet. Nicht heute, aber bald würde er ihn besuchen, nahm er sich vor. Vielleicht schon morgen.

Colt seufzte tief auf. „Hoffen wir, dass sie unsere Hilfe auch annimmt. Was anderes, kommst du wirklich damit klar?“, wechselte er dann unvermittelt das Thema und Fireball wusste sofort, wovon die Rede war. Colt hatte nicht lange gewartet und die erst beste Gelegenheit zu einem Gespräch unter vier Augen genutzt. Seit Jahren ging er Mandarin nun aus dem Weg und mied sogar den Planeten Yuma, weil er genau wusste, dass sie hier lebte und für das Oberkommando arbeitete.

„Es wird schon gehen. Immerhin sind wir beide erwachsen und ich weiß genau, dass sie eine der Besten ist, die dem Oberkommando noch geblieben sind. Mich wundert sowieso, dass sie nicht auf Sabers Konferenz anwesend war.“ Erst bei diesem Satz realisierte er für sich, dass es sie genau wie Saber hätte erwischen können oder noch schlimmer, dass er sie hätte verlieren können. Sie waren zwar nicht mehr zusammen, aber sie war irgendwie immer noch ein Teil seines Lebens und schon wieder schien sie einer Katastrophe nur knapp entkommen zu sein.

Seit ihrer Trennung, oder besser, seit er ihre Trennung für sich akzeptiert hatte, genügte ihm das Wissen, dass sie lebte, gesund war und offenbar gut zurechtkam. Sie konnten miteinander nicht glücklich werden, aber ein Leben ohne sie er konnte er sich nicht vorstellen.

„Tja, angefordert war sie wohl schon, aber irgendein Notfall in der Familie ist ihr wohl kurzfristig dazwischen gekommen“, erklärte Colt Stirn runzelnd.

Fireball kniff die Augen zusammen. Hörten die schlechten Nachrichten denn im Moment überhaupt nicht mehr auf? Soweit er wusste, waren Mandarins Eltern kerngesund gewesen, aber sie wurden ja schließlich auch nicht jünger. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihm bemerkbar, aber er hatte kein Recht mehr, sich in ihr Leben einzumischen.

„Jedenfalls war sie nicht hier, als der Überfall stattfand. Wir haben bereits jemanden hingeschickt, um sie herzuholen.“

Fireball nickte. Er würde schon damit zurechtkommen. Er würde einfach alles auf rein beruflicher Ebene halten und auf dieser Basis sollte es gehen.

Im Moment hatten sie schlimmere Probleme und es waren schon einige Jahre vergangen, seit sie sich zum letzten Mal gesehen hatten.

Er dachte an April. Sie hatte in den letzten Tagen und Wochen so viel Leid ertragen und stellte die Bedürfnisse der Menschen von Yuma über ihre eigenen Befindlichkeiten, so dass ihm das wohl auch gelingen sollte.
 

In diesem Moment kam die Blondine wieder zurück in den Raum, die Stirn sorgenvoll gerunzelt.

„Was ist passiert?“, fuhr Colt misstrauisch hoch und auch der Rennfahrer trat ihr unwillkürlich entgegen.

„Der Gleiter, der Mandarin holen sollte, ist wieder da, ohne sie.“ April sah von einem zum anderen. „Ihren Eltern geht es gut, es gab da gar keinen Notfall. Sie ist einfach verschwunden. Niemand weiß, wo sie sich aufhält.“

„Ich suche sie“, entschied Fireball sofort, aber Colt hielt ihn am Arm fest, noch ehe er sich bewegen konnte.

„Nein! Du bist keine zwanzig mehr und hast vorhin gerade den Job als Kommandant angenommen. Es ist nicht deine Aufgabe, eine einzelne Person zu suchen, sondern du musst dich jetzt darauf konzentrieren, was das Beste für alle ist.“ Fireball warf seinem Freund einen wilden Blick zu, aber April neben ihm nickte bestätigend.

„Du bist nicht der Einzige, der sich jetzt um sie Sorgen macht“, meinte sie. „Trotzdem, was auch immer da los ist, wir werden jetzt hier nötiger gebraucht. Wir haben die blaue Staffel und die ist einsatzbereit. Schicken wir also jemanden zu ihrer Wohnung und bis dahin warten wir und kümmern uns hier weiter.“

Fireball wollte widersprechen. Sein Verantwortungsbewusstsein rang mit den Gefühlen in seinem Herzen und der Sorge um sie, aber er wusste, dass die beiden Recht hatten. Also nickte er, wenn auch widerwillig. „Ich schicke jemanden los“, entschied er dann und verließ den Raum.

April sah ihm besorgt nach, aber Colt legte ihr eine Hand unters Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. „Er kommt klar und es war die richtige Entscheidung, ihn zu holen.“
 

*****
 

Sie fragte sich immer noch, was genau eigentlich passiert war.

Im einen Moment saß sie in ihrer Wohnung, wartete auf die bestellte Pizza und bereitete sich auf ihre Nachtschicht im Krankenhaus vor, im nächsten erwachte sie mit Brummschädel in einer kleinen Zelle.

Ein Bett, eine Toilette, ein Waschbecken, ein kleines Fenster, ein Pappbecher voll Wasser – das war alles, was sie vorgefunden hatte.

Seitdem wartete sie, angespannt und nervös, die Minuten gingen in Stunden über, die Zeit verging nur quälend langsam.

Was war passiert?

Wer hatte sie betäubt und warum war sie entführt worden? Was erwartete sie? Ihre Gedanken rasten, aber ihr wollte kein Grund einfallen, weswegen irgendjemand Interesse daran hatte, sie zu entführen.

Sie lauschte angestrengt, aber es drangen keinerlei Geräusche von außen in den kleinen Raum und niemand ließ sich blicken. Mandarin musterte ihre Umgebung sehr genau, aber sie konnte weder ein Mikrofon noch eine Kamera entdecken.

Wie lange wollte man sie hier warten lassen?

Ein Blick aus dem kleinen vergitterten Fenster verriet ihr, dass sie immer noch nicht wusste, wo sie sich befand. Alles was sie sah war die Mauer vom Nebengebäude – kalter, grauer Stein. Es gab keine Anhaltspunkte auf ihren Aufenthaltsort.

Vom vielen Grübeln tat ihr Kopf noch mehr weh und sie ging wieder zu dem Bett hinüber, ließ sich darauf sinken und hing ihren Gedanken nach. Wartete weiter, fragte sich, was man mit ihr vorhatte und wer dahinter steckte.
 

„Hallo Mutter!“

Beim Klang dieser Stimme schoss sie fassungslos aus ihrer liegenden Position hoch, ging auf wackeligen Beinen hinüber zum Gitter und starrte die beiden Neuankömmlinge ungläubig an.

Vor ihr stand Jesses Ebenbild, begleitet von Jean- Claude, der sie seinerseits böse und triumphierend zugleich angrinste.

„Das kann nicht sein!“ Selbst die Stimme glich der von Jesse. Mandarin musterte ihn von oben bis unten, suchte Ähnlichkeiten mit sich selbst, aber der Junge glich seinem Vater wie ein Zwilling. Sie hatte keine Zweifel, dass es das Kind war, das sie vor sechzehn Jahren weggeben hatte. Er war beinahe so groß wie Jesse und sein Gesicht hatte seine jugendlichen Züge schon fast verloren. Er sah älter aus als er war.

„Glaub es ruhig, ich bin es. Ich bin dein Sohn, das Kind, welches du vor mehr als sechzehn Jahren weggeworfen hast. Ich war der Meinung, du hast verdient, zu wissen, was aus mir geworden ist und dass dein Plan nicht aufgegangen ist. Du solltest erfahren, wer sich die letzten Jahre um mich gekümmert hat, während ich dir völlig egal war.“ Die Stimme des Jungen bebte vor Zorn und die blauen Augen blitzen sie an. Auch wenn seine Worte sie völlig verwirrten, Mandarin hätte ihn ewig ansehen können. Dies war ihr Sohn, ihrer und Jesses. So viele Jahre lang hatte sie sich gefragt, wie es ihm wohl gehen würde, ob er es gut bei seinen Adoptiveltern gehabt hatte.

Und nun stand er vor ihr, Seite an Seite mit einem Outrider. Die Wut und die Feindseligkeit, die er ausstrahlte, trafen sie beinahe körperlich.

Sie zwang sich, den Blick von ihrem Sohn loszureißen und auf Jean- Claude zu richten.

„Was hast du mit ihm gemacht?“, wollte sie zornig und dennoch mit bebender Stimme wissen. „Was hast du ihm angetan?“

„Ich?“ Jean-Claude setzte sein unschuldigstes Gesicht auf und griff sich mit einer theatralischen Geste an die Brust. „Nichts habe ich ihm angetan, im Gegenteil. Ich habe mich um ihn gekümmert, weil du ihn nicht wolltest. Ich habe ihn all die Jahre großgezogen wie ein treusorgender Vater. Ein Vater, der dies sicher gern selbst getan hätte, wenn du ihn nicht erschossen hättest. Er war dir genauso im Weg, wie unser kleiner Jesse hier.“

Der Junge nickte bei diesen Worten heftig. Es war klar, dass er jedes Wort des Outriders für bare Münze nahm. „Genau, du hast mir den Vater genommen und mich dann einfach so abgeschoben!“, begehrte er auf. „Und dafür wirst du nun büßen!“

„Das ist die Geschichte, die du ihm erzählt hast? Ist das der Grund, weswegen ich hier bin?“, wollte sie zunehmend entsetzter wissen, ohne die Augen von Jean- Claude zu wenden. „Wolltest du mir vorführen, was ich hätte haben können, Jean- Claude, bevor ich sterbe?“

„Nein, Mutter, so einfach machen wir es dir dann doch nicht.“ Die Stimme des Jungen troff vor Verachtung. „Natürlich liegt das nahe, aber ich habe mir für dich etwas viel Besseres einfallen lassen. Ich dachte mir, du bleibst genauso lange hier, wie ich ohne dich zurechtkommen musste und in dieser Zeit bekommst du Gelegenheit, aus erster Hand mitzuerleben, wie ich den Traum meines Vaters verwirklichen werde.“

Mandarin starrte ihn an, unfähig, zu reagieren. Sie hatte seine Worte gehört, den Inhalt vernommen, aber sie war nicht in der Lage, eine Antwort zu geben. Was hatte er damit gemeint?

„Ich sehe, ich konnte dich beeindrucken, aber genug für den Moment. Jetzt habe ich zu tun. Wir werden uns später weiter unterhalten“, entschied der Junge und wandte sich dann ab. „Kommst du, Jean-Claude?“

„Gleich, Kleiner! Ich möchte noch kurz mit Mandarin allein sprechen, geh schon einmal vor!“

Unsicher kniff Jesse die Augen zusammen und sah fragend von Einem zum Anderen. „Aber…“

„Geh, Jesse! Ich bin gleich da!“ Jean- Claude warf dem Jungen einen finsteren Blick zu. Dieser murrte zwar noch einmal, verschwand dann aber. Jean- Claude vergewisserte sich, dass die Tür hinter dem Teenager fest verschlossen war.
 

„Er sieht gut aus, nicht wahr?“ Mit diabolischem Lächeln wandte sich der Outrider seiner geschockten und verstörten Gefangenen zu. „Genau wie sein Daddy. Und genauso werden es die Menschen im Neuen Grenzland sehen, wenn sie unseren neuen Anführer kennenlernen werden.“ Er lachte. „Es ist beinahe zu perfekt!“

„Du… Er!“ Mandarin konnte es nicht glauben. „Du gibst ihn als euren neuen Phantomchef aus? Das kann nicht dein Ernst sein! Er ist ein Kind, er ist doch nur ein Kind.“

„Er ist ein Mensch! Und er ist Jesses Blues Sohn. Das sind doch ideale Voraussetzungen für unseren neuen Anführer.“, erwiderte der Outrider abfällig. „ Die Outrider mochten Jesse, denn er hat viel Gutes für sie getan und er war allemal besser als die Pfeifen, die sich nach seinem Tod um Nemesis Thron geprügelt haben. Ich habe seinen Sohn gut geschult und ich glaube nicht, dass er es vermasselt. Dafür hasst er seine eigene Rasse inzwischen viel zu sehr. Und wenn er doch versagt, könnte es passieren, dass er einem Heckenschützen des Oberkommandos genau vor das Fadenkreuz rennt oder in einer Schlacht ein ruhmreiches Ende finden wird. Sobald wir eure Dimension erobert haben, werde ich unseren Kleinen entweder auf den Thron setzen oder ihm ein wundervolles Begräbnis ausrichten. Das kommt ganz auf ihn an. Aber er ist wie Jesse, ich denke, er wird sich durchsetzen und unsere Rasse in die Zukunft führen. Unter meiner fachmännischen Leitung versteht sich natürlich. Es stört dich ja bestimmt auch nicht weiter, wenn ich unser Kleiner sage, oder? Immerhin bist du ja zumindest an seiner Erzeugung wesentlich beteiligt.“ Sein selbstgefälliger Ton weckte in ihr den Wunsch, in mit eigenen Händen zu erwürgen.

Sie sah ihn an. „Du mieses Schwein! Das war alles deine Idee, richtig? Du willst die Herrschaft über die Outrider und das war damals schon dein Ziel, hab ich nicht Recht? Hast du Jesse genauso benutzt? War er deswegen so abgrundtief böse?“

Jean- Claude lachte auf. „Nein, Jesse hätte sich nie benutzen lassen und das ist ihm zum Verhängnis geworden. Er hätte besser öfter auf mich hören sollen, aber dazu war er ja zu stolz und zu eigensinnig.“ Jean- Claude schüttelte mit dem Kopf und ein irres Funkeln trat in seine Augen. „Wenn er nicht so stur gewesen wäre, dann wären wir jetzt Herrscher über beide Dimensionen und ich bräuchte mich nicht mit einem menschlichen Teenager in der Pubertät herumschlagen.“

„Ich werde nicht zulassen, dass du mein Kind für deine bösen Pläne missbrauchst“, warf sie ihm hitzig an den Kopf und wieder lachte er auf.

„Dein Kind? So plötzlich? Was willst du dagegen tun und überhaupt, wieso interessiert er dich jetzt auf einmal? Muttergefühle? Vergiss es, Rotschopf, der Zug ist abgefahren. Er hasst dich und die menschliche Dimension wie die Pest und ich werde weiter dafür sorgen, dass es auch so bleibt. Du wirst leiden und ich freue mich schon sehr darauf.“

Nach diesen Worten wandte er sich ab und verließ lachend den Raum.
 

Mandarin blieb erschüttert und am ganzen Körper zitternd zurück. Die Wut wich dem Schock und sie sank an Ort und Stelle in sich zusammen. Tränen, welche sie die ganze Zeit zurückgedrängt hatte, liefen über ihre fahlen Wangen. Sie schlug die Hände vors Gesicht und sank bitterlich schluchzend gegen das kalte Metall des Zellengitters.

Würde dieser Wahnsinn denn nie ein Ende haben?
 

*****
 

Während Fireball sich um die Aufteilung der Flotteneinheiten zur Absicherung des Neuen Grenzlandes kümmerte, sorgte Colt direkt vor Ort in Yuma-City dafür, die Einsatzkräfte von Polizei, Armee und Hilfskräften möglichst sinnvoll einzusetzen.

Im Vordergrund standen natürlich weiterhin die Bergung der Opfer und die Suche nach Verwundeten und Verschütteten. Inzwischen begann man jedoch auch, die wichtigsten Hauptstraßen von Trümmern zu befreien, damit Versorgungsfahrzeuge die Bevölkerung mit Trinkwasser und dringend benötigten Lebensmitteln beliefern konnten.

Außerdem begannen Techniker mit der Reparatur der zerstörten Stromleitungen.

Die Arbeiten gingen nur langsam voran, denn inzwischen wurden sie von immer dichter werdendem Regen behindert, welcher seit einigen Stunden auf den Planeten niederging. Wie die Experten vorausgesagt hatten, spielte das Wetter verrückt und sintflutartige Niederschläge prasselten vom Himmel herab. Aber dieses Problem war trotz der damit verbundenen Widrigkeiten zweitrangig, zuerst mussten sie die Mindestversorgung der in der Stadt verbliebenen Einwohner sicherstellen. Das hieß, Notunterkünfte mussten errichtet werden sowie die Menschen mit Nahrung und Trinkwasser versorgt.

Colt hatte die Einteilung der Streitkräfte übernehmen wollen, aber weil Mandarin vermisst wurde, hatte Fireball sich diese Aufgabe zu Eigen gemacht und war nicht bereit, darüber zu diskutieren.

Colt und April ließen ihn gewähren, denn er versuchte trotz seiner Sorgen, seine Aufgaben professionell zu erfüllen und entwickelte gemeinsam mit einigen Hauptmännern der Streitkräfte wirksame Gegenmaßnahmen gegen einen eventuellen Neuangriff.
 

April war vollauf mit damit beschäftigt, Kontakt zu verschiedenen Außenstationen aufzunehmen.

Den Technikern war es gelungen, eine einigermaßen funktionierende interplanetarische Leitung herzustellen und seitdem beratschlagte sie sich mit König Roland aus Jarr, sowie den Außenstationen des Grenzlandes.

Sämtliche Berichte, die bisher über den Angriff auf die Hauptstadt gesendet wurden, kamen aus den nicht bestätigten Übertragungen diverser Nachrichtensender.

Obwohl eine Mediensperre verhängt worden war, konnte man nicht alles kontrollieren und so musste April viel Zeit und Mühe aufwenden, erhitzte Gemüter zu beruhigen, mögliche Überreaktionen im Keim zu ersticken und die Lage zu klären. Sie musste versuchen, eine Eskalation der Lage durch unkontrollierte Gegenmaßnahmen zu unterbinden und das weitere Vorgehen strategisch zu planen.
 

König Roland zeigte sich angesichts der überwältigenden Zerstörung dieses einzigen Angriffs bestürzt und zutiefst betroffen. Er sicherte dem Grenzland sofort umgehende und unbürokratische Hilfe zu. Es würden so schnell wie möglich Transporter mit Hilfsgütern sowie medizinischem und technischem Gerät entsandt werden. Außerdem bot er Menschen, die ihr gesamtes Hab und Gut beim Angriff verloren hatten, einen Platz in Jarr an, solange sie ihn benötigten.

Rolands Vater, der abgedankte König Jarrd, würde die ersten Hilfslieferungen begleiten und April im vorläufigen Stab hilfreich mit Rat und Tat zur Seite stehen. Nach dem Tod von Commander Eagle vor einigen Monaten und dem Rücktritt von General Whitehawk wegen einer fortschreitenden, unheilbaren Erkrankung würde jemand mit Kampferfahrung sowie diplomatischem Geschick Yuma-City sehr von Nutzen sein.

Die Blondine war froh, dass ein Mann mit Jarrds Sachkenntnis und Know-how ihnen vor Ort helfen würde, Herr der Lage zu werden. Er war jahrelang Alleinherrscher eines florierenden Königreiches gewesen und konnte ihnen noch sehr viel beibringen.
 

Die drei ehemaligen Starsheriffs verbrachten die Nacht mit wenig Schlaf und viel Arbeit, aber als der inzwischen dritte Tag nach dem Angriff anbrach und sie sich zum provisorischen Frühstück trafen, konnten sie stolz sagen, die Situation im Großen und Ganzen im Griff zu haben.

Beide Männer bestanden darauf, zum Frühstück etwas zu essen und zwangen auch die Blondine dazu, ein Croissant zu sich zu nehmen. Außerdem fanden sie seit Stunden auch einmal Zeit für private Unterhaltungen, wobei sie die wirklich gefährlichen und gefühlsintensiven Themen mehr oder weniger ausklammerten.

„Geht’s denn Will inzwischen etwas besser?“, wollte April vom Cowboy wissen und der nickte mit angespannter Miene.

„Robin sagt, er ist immer noch verstört, aber er hat die letzte Nacht besser geschlafen und ist nicht alle paar Minuten schreiend aufgewacht“, berichtete er ihr und Fireball, der sich bisher nur aufs Zuhören beschränkt hatte, horchte auf.

„Himmel Colt, bei all dem Stress hier habe ich überhaupt nicht nach deiner Familie gefragt. Ist mit ihnen alles in Ordnung?“ Fireball sah seinen besten Freund betroffen an, doch der Cowboy winkte ab.

„Schon okay, Turbo, ich nehme es dir nicht krumm. Es war für uns alle nicht gerade einfach.“ Er streckte die Beine unterm Tisch aus und nahm noch einen Schluck Kaffee.

„Na los! Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen“, forderte der ehemalige Rennfahrer ihn auf. „Die Zeit der Rücksichtnahme ist vorbei, was ist mit deinem Jungen passiert?“

„Er war bei mir, als der Angriff begann“, berichtete Colt ruhig. „Du weißt doch, es sind immer noch Ferien. In der einen Minute schlafen wir beide noch friedlich in unseren Betten, in der nächsten bricht die Hölle los und die Eingangstür wird zerschossen. Ich hab ihn hinter die Couch gestopft und dann alles platt geschossen, was irgendwie versucht hat, ihm zu nahe zu kommen. Das fand Will auf einmal nicht mehr so cool wie sonst. Die Outrider handelten zielgerichtet und ihr Auftrag war offenbar, mich zu eliminieren. Auf meinen kleinen Jungen hätten sie dabei keine Rücksicht genommen.“

Fireball hatte bei den Worten des Cowboys nur ungläubig und mit aufgerissenen Augen zuhören können. Jetzt wünschte er, er hätte sich nicht so abgeschottet, dann wäre er vielleicht da gewesen und hätte dem Freund helfen können.

„Oh Mann, und dann?“, brachte er nur hervor.

„Sobald es ging, sind wir raus aus der Wohnung und weg von da. Ich wollte mit ihm zu Robin, aber ihre Wohnung lag ebenfalls in Schutt und Asche. Zum Glück war sie für einige Tage bei Josh und Gina. Ihr ist nichts passiert. Ich habe Will zu ihr gebracht und Josh sorgt schon dafür, dass die ganze Familie sich mehr oder weniger fernab der Städte in Sicherheit aufhält. Ganz in der Nähe befindet sich auch ein Außenposten, der jetzt ebenfalls ein wachsames Auge auf sie hat. Zu irgendwas muss es ja gut sein, dass wir hier die Leitung übernehmen mussten und ich so nicht selbst auf sie aufpassen kann.“

„Diese Mistkerle!“, fluchte Fireball wütend. „Ich hoffe, dein Kleiner steckt die Geschichte irgendwann weg.“

Colt nickte nachdenklich. „Ich hoffe es, aber es wird dauern. Sein gesamtes Zuhause ist zerstört und das wird er wohl nicht so einfach vergessen können. Zum Glück ist Robin jetzt für ihn da und auch das Zusammensein mit Joshs Familie wird ihm helfen und ihn ablenken. Ich Idiot dachte wirklich, mein Sohn könnte in Frieden aufwachsen und nun habe ich Angst, dass es ihm vielleicht irgendwann so gehen könnte wie mir.“

Fireball schüttelte nachdrücklich mit dem Kopf. „So weit lassen wir es nicht kommen. Wir werden zurückschlagen und dann kann dein Sohn in eine outriderfreie Zukunft blicken.“
 

*****
 

Einige Tage später
 

Mandarin saß in ihrer Zelle auf dem Fußboden, die Beine angezogen, die Arme um die Knie geschlungen und stützte niedergeschlagen das Kinn auf die Knie. Der Junge hockte an die Wand gelehnt auf der anderen Seite der Gitterstäbe und musterte sie mit wilden Blicken. Wo Jean-Claude sich aufhielt, wusste sie nicht, aber sie war froh, dass der grünhaarige Schatten ihres Sohnes ganz offenbar anderweitig beschäftigt war.

„Ich habe nach dir gesucht“, murmelte sie irgendwann ganz leise, denn das andauernde Schweigen zerrte an ihren ohnehin schon angespannten Nerven. Er riss erschrocken die Augen auf, als ihre Stimme auf einmal die Stille durchbrach. „Damals warst du gerade fünf Jahre alt und ich habe versucht, eingeweihte Personen auszufragen, aber sie konnten oder wollten mir keine Auskunft geben.“

„Du lügst doch!“, fauchte er aufgebracht.

„Warum sollte ich?“, konterte sie, hob stolz den Kopf und sah ihn endlich an. „Sieh dich doch um! Ich sitze seit Tagen hier in dieser Zelle, während ihr meine Heimat auseinander nehmt. Unsere Heimat! Ich kann nichts tun. Ich kann also nur hier sitzen, mich böse anstarren lassen und bedauern, dass ich damals nicht hartnäckiger gewesen bin. Dann wäre dies alles vielleicht nie so passiert.“ Sie machte eine kurze Pause, aber der junge Jesse sah sie immer noch abwartend und verächtlich an. „Du musst mir nicht glauben, aber was habe ich schon zu verlieren? Warum dich überhaupt anlügen? Ich hatte einen guten Freund gebeten, mir zu helfen. Er war früher Scout und Kopfgeldjäger und ich dachte, wenn es einer schafft dich zu finden, dann er. Ich wollte dich nur einmal kurz sehen, mich davon überzeugen, dass es dir gut geht.“

„Ich glaub dir kein Wort.“ Dieses Mal klang die Stimme schon nicht mehr ganz so fest, eher unentschlossen und fragend. Mandarin schöpfte ein klein wenig Hoffnung, dass sie es schaffen konnte, zu ihm durchzudringen.

„Ich habe, wie gesagt, keinen Grund dich anzulügen. Warum auch? Mein Leben ist so oder so kaputt und vielleicht wird es an der Zeit, die ganzen Lügen und Halbwahrheiten endlich loszuwerden und damit abzuschließen.“ Wieder schwieg sie kurz und suchte nach Worten. „Das war der Anfang vom Ende des Neuanfangs.“

Sie warf ihrem Sohn einen Blick zu, der sie jetzt fragend und mit gerunzelter Stirn ansah.

„Du hast dich doch über uns alle informiert, oder?“ Sie erwartete keine Antwort, sondern sprach einfach weiter. „Fireball und ich waren wieder zusammen und wir haben uns eingeredet, dass wir alles, was im Zusammenhang mit Jesse geschehen war, hinter uns gelassen hatten. Aber dem war nicht so. Er kam nie mit dem Gedanken klar, dass es da irgendwo in der Galaxie ein Kind von mir und einem anderen Mann gab. Dein Vater war neben Nemesis der größte und gefährlichste Feind des Neuen Grenzlandes und du hättest Fireball immer an die Vergangenheit erinnert, an das, was er hat aufgeben müssen und das, was wir alle im Krieg verloren haben. Als er erfahren hat, dass ich auf der Suche nach dir war, kam alles wieder hoch. Anfangs haben wir darüber geredet, dann nur noch gestritten. Er wollte Kinder, ich nicht. Ich wollte dich finden, er nicht. Ich wollte nur sicher sein, dass es dir in deiner Adoptivfamilie gut geht. Außerdem wollte ich kein weiteres Kind mehr aufgeben müssen und ich hatte zu große Angst, dass es wieder passiert. Fireball war sein ganzes Leben lang eine bekannte Berühmtheit und seine Kinder wären auch im Interesse der Öffentlichkeit gewesen. Wo öffentliches Interesse besteht, ist die Gefahr auch größer, dass diese Kinder Ziele von Verbrechern werden. Noch ein Baby zu verlieren hätte ich nicht ertragen.“

Zwei Tränen lösten sich ungewollt aus ihren Wimpern und sie wischte sie ungeduldig mit den Händen weg.

„Und warum hast du mich nicht behalten oder warum habt ihr nicht intensiver nach mir gesucht? So viele Kindererziehungsheime wird es doch nicht gegeben haben?“

„Kindererziehungswas?“ Mandarin verstand kein Wort.

„Nun tu nicht so!“, motzte der Teenager. „Jean-Claude hat mir genau erzählt, wo er mich gefunden hat. Da, wo du und deine Freunde mich hin abgeschoben haben. Ein Gefängnis, wo ungewollte Kinder großgezogen werden und nie raus dürfen.“

„Das hat er dir erzählt?“ Mandarin stand auf und trat an die Gitterstäbe. Mit beiden Händen umfasste sie das kalte Metall und sah ihr Kind beschwörend und flehend an. „Er hat dich angelogen, Jesse. Es gibt keine Kindererziehungsheime, so etwas hat es im Grenzland nie gegeben. Man hat dich zu Adoptiveltern gegeben. Menschen, die sich immer ein Baby gewünscht haben und selbst keine bekommen konnten. Sie haben sich unendlich darüber gefreut, dass sie dich bekamen und ihnen war es egal, wer deine biologischen Eltern sind. Sie wollten dich einfach nur um deiner selbst Willen haben.“

Der Teenager sprang jetzt ebenfalls auf.

„Ich glaub dir kein Wort!“, schrie er sie an. „Du lügst mich doch nur an, genau wie Jean es immer vorausgesagt hat. Du willst mich auf deine Seite ziehen und mich verunsichern. Du willst, dass ich all das hier stoppe und dass ich nicht das bekomme, was mir zusteht!“

„Du begreifst es einfach nicht!“ Mandarins Stimme wurde nun auch lauter. „Du kannst nichts mehr stoppen und genau deswegen erzähle ich dir das alles. Was jetzt geschieht ist nicht mehr aufzuhalten, egal ob du zurückruderst oder nicht. Glaubst du ernsthaft, dass Jean- Claude einen Rückzieher machen würde, nur weil du es ihm befiehlst? Dass ich nicht lache! Er spielt genauso mit dir und deinen Emotionen, wie du es mir jetzt vorwirfst. Nur dass er jahrelang Zeit hatte, dich zu manipulieren. Er will nicht dein Bestes, oh nein, Kleiner. Ihm ist völlig egal, was aus dir wird, wenn das Grenzland erst einmal unter Kontrolle der Outrider ist. Im Moment bist du als Jesses Abbild ihm vielleicht noch nützlich, aber irgendwann wird er deiner überdrüssig sein. Ich habe dich weggeben, weil ich wirklich überzeugt war, das es für dich das Beste ist. Er aber hat dich geholt, weil er sich selbst davon am Meisten verspricht.“
 

Urplötzlich hatte der Junge seine Waffe in der Hand und feuerte. Der Schuss ging direkt neben ihrem Kopf vorbei hinter ihr an die Wand. Mandarin konnte die Hitze des Lasers am Ohr noch immer spüren.

„Ich muss mir das von dir nicht anhören und das werde ich auch nicht länger“, stellte er mit harter Stimme fest. „Ich glaube dir kein Wort. Du suchst nur nach einem Weg hier raus und dazu ist dir jedes Mittel recht. Aber da bist du an den Falschen geraten.“ Er wandte sich brüsk zur Tür. „Ich hasse dich! Und ich verachte dich jetzt nur noch mehr, weil du solche billigen Tricks anwendest, anstatt einmal in deinem Leben ehrlich zu sein.“

„Ich bin ehrlich, ich könnte dich nie anlügen“, flüsterte sie heiser. „Find es doch selbst raus, wenn du genug Mut in der Hose hast. Sag Jean-Claude irgendwas, was entgegen seiner Wünsche steht und du wirst sehen, wie er reagiert. Ich würde mein Leben darauf verwetten, dass ich Recht habe.“

Bei ihren letzten Worten sah er sie doch noch einmal an. „Oh nein, diese Wette nehme ich nicht an. Das wäre viel zu einfach. Dein Leben gegen die Wahrheit, das hast du dir schön ausgedacht. So leicht kommst du mir aber nicht davon. Du darfst hier weiter als mein Gast bleiben und alles aus erster Hand erfahren. Wir wollen doch nicht, dass dir etwas entgeht oder?“

Mit diesen abfälligen Worten verließ er den Raum endgültig und Mandarin brach an Ort und Stelle auf dem Boden zusammen und in Schluchzen aus.

Sie hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Sie hätte nie die Beherrschung verlieren und Jean-Claude so angreifen sollen. Er hatte ihre Nähe gesucht, ihr Sohn hatte sich freiwillig zu ihr begeben und nun hatte sie alles verdorben.

Er würde ihr nie glauben. Die Outrider hatten ihn fest in ihren Klauen und er war schon genauso verblendet wie Jesse damals.
 

*****
 

Einige Tage später kam er erneut allein zu ihr. Vorsichtig spähte er den Gang entlang, ehe er die Tür zu ihrem Gefängnis von innen verschloss und sich schon wie bei letzten Mal auf den Fußboden vor dem Gitter niederließ.

Mandarin tat es ihm auf ihrer Seite der Eisenstäbe gleich und so saßen sie sich in Augenhöhe gegenüber.

Mandarin wartete, bis er das Gespräch begann.

„Warum?“ Seine Stimme klang ruhig, wenn auch die Anspannung deutlich herauszuhören war. „Warum hast du dich überhaupt mit meinem Vater eingelassen, wenn du doch sowieso von vorn herein vorhattest, ihm eine Falle zu stellen?“

„Ich war jung, total wütend und deprimiert. Den einen Tag war ich noch glücklich mit Fireball und am Nächsten erwische ich ihn mit April im Arm. Statt irgendetwas zu klären oder ihn die Situation erklären zu lassen, habe ich mir eingeredet, dass ich nur Lückenbüßer für ihn gewesen sei. Ich bin abgehauen und stehenden Fußes zum Oberkommando gefahren. In meiner Wut habe ich den Auftrag, die Outrider zu infiltrieren und auszuspionieren, angenommen und habe noch am selben Abend den Planeten Yuma verlassen.“

„Das ist immer noch nicht Grund genug, sich ein Kind machen zu lassen.“, warf er ihr unverblümt an den Kopf und sie konnte nicht anders, als ihm zuzustimmen.

„Dein Vater, Jesse, er war zwar ein Verräter und hatte sich etlicher Verbrechen schuldig gemacht, aber er hatte auch eine andere Seite.“ Mandarin seufzte tief auf. „Ich war immer noch wütend auf April und Fireball und sobald ich alleine war, konnte ich an nichts Anderes denken. Als Jesse das erste Mal auf einem gemeinsamen Essen bestand, war ich zwar nicht begeistert, aber wenn er nicht gerade Hasstiraden auf das Oberkommando spuckte, war er auf einmal charmant, witzig, intelligent und ausgesprochen vielseitig belesen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Bevor ich wusste, was ich tat, lachte ich über seine Anekdoten und fing an, Gefallen an seiner Gesellschaft zu finden.

Und eines Abends nach einem guten Essen saßen wir mit einem Glas Wein da und da ist es passiert. Danach kam ich irgendwie aus der Geschichte nicht mehr raus. Obwohl ich noch in Fireball verliebt war konnte ich auch bei Jesse nicht nein sagen und dann kamen die morgendliche Übelkeit und die schockierende Erkenntnis, dass ich meinen Auftrag total vergeigt hatte. Ich hatte eine Grenze zu viel überschritten.“

„Was hast du getan?“

„Lange hin und her überlegt. Der Verstand sagte das Eine, die Gefühle etwas anderes und durcheinander war ich auch, weil die Hormone anfingen, verrückt zu spielen. Dann hatte ich einen Entschluss gefasst. Ich wollte es ihm sagen, also das mit der Schwangerschaft“, gestand sie ihrem Sohn. „Wir wollten gemeinsam essen und ich hatte mir den ganzen Tag den Kopf darüber zerbrochen, wie genau ich es ausdrücken könnte und wie er wohl reagieren würde. Ich Dummkopf hatte mir doch auch tatsächlich vorgestellt wie es wäre, wenn Jesse sich darüber gefreut hätte. Dass er sich möglicherweise ans Oberkommando ausgeliefert hätte, seine Strafe akzeptiert, die Outrider verraten und sich dann, nach seinem Gefängnisaufenthalt um uns beide gekümmert hätte.

Aber er ist nicht aufgetaucht, die Planungen seines Hinterhaltes zur Zerstörung des Oberkommandos waren ihm wie immer wichtiger gewesen. Ich habe stundenlang gewartet, dann den Test weggeworfen und mich hingelegt. Ich war so enttäuscht, dabei hatte ich ihn sehr gebeten, dass er zum Essen da ist und er hatte es versprochen.

Und ich wurde wütend, wieder einmal. Ich beschloss, den ursprünglichen Plan durchzuziehen, Jesse sollte in die Falle laufen und dann hätte ich es ihm an den Kopf werfen wollen.“

Der Junge hörte ihrer Beichte stumm zu. „Und dann?“

„Der Tag des fingierten Überfalls kam und Jesse hatte mich durchschaut. Keine Ahnung, wie er das wieder geschafft hatte, aber statt ihm lief ich in die Falle. Er hat geschossen und ich wurde getroffen. Nicht tödlich, aber schlimm genug. Es war ein Wunder, dass ich das Baby, also dich, nicht verlor, aber du warst damals schon ein Kämpfer.“ Sie lächelte bei diesen Worten leicht und er konnte die Augen nicht von ihrem Gesicht wenden.

„Warum hast du mich nicht behalten?“, fragte er heiser.

Mandarin sah ihn ratlos an. „Rückblickend betrachtet verstehe ich meine Entscheidungen damals selbst nicht mehr so genau. Durch dich bestand ein Sicherheitsrisiko, das ist Fakt. Jesse konnte flüchten und seine Rachegefühle waren schon immer verheerend stark. Angebliche Liebe zu April veranlasste ihn, das Oberkommando zu verraten und sich den Outridern anzuschließen. Keiner wusste, zu was er in der Lage gewesen wäre, hätte er erfahren, dass wir beide überlebt haben. Auch wenn ich ihm nichts von der Schwangerschaft erzählt habe, woher sollte ich wissen, dass nicht einer der Wrangler etwas läuten und nicht zusammenschlagen hören hat?

Ich dachte, für deine Sicherheit wäre es das Beste so. Ich musste untertauchen und trotzdem ständig damit rechnen, wieder flüchten zu müssen. Das wollte ich dir nicht antun. Du solltest in Frieden und der stabilen, glücklichen Umgebung einer Familie aufwachsen und die Leute, die sie für dich ausgesucht hatten, haben sich wirklich ein Baby gewünscht. Sie hätten dich sogar mit einer Behinderung akzeptiert. Alles, was sie wollten, war, dich lieben zu dürfen. Ich dachte wirklich, ich tue das Richtige.“

Mandarin sah ihn verzweifelt an. „Im Nachhinein wusste ich es besser und nach Jesses Tod wollte ich dich finden. Ich bin nie wirklich mit dieser Entscheidung zurecht gekommen. Dich nur einmal sehen und wissen, ob es dir gut geht – das hätte mir schon gereicht. Aber sie waren weggezogen. Niemand konnte ihre Spur finden, die Familie war einfach wie vom Erdboden verschluckt. Ich nehme an, dass sie tot sind, aber ihre Leichen wurden nie gefunden.“

Jesse runzelte die Stirn. „Manchmal…“ Seine Stimmte war kaum zu verstehen. „Manchmal träume ich“, gestand er dann. „Ein warmer, heller, sonniger Ort, eine Melodie und eine Stimme, die lacht und in die Hände klatscht. Aber ich kann keine Gesichter sehen und ich weiß nicht einmal, ob es eine Frau oder ein Mann ist. Ich weiß nicht, ob es real war, ob ich es vielleicht erlebt habe oder ich mir nur etwas einbilde.“

„Diese Frau, deine Adoptivmutter,“ Mandarins Stimme war auch nicht viel lauter. „man hat mir erzählt, sie wäre Musiklehrerin in einer Grundschule. Es ist bestimmt so, dass du dich im Unterbewusstsein an sie erinnerst.“

Der Junge vor ihr sah sie durchdringend an, dann aber schüttelte er urplötzlich den Kopf.

„Alles schön und gut, aber genauso gut kann es doch sein, dass ich irgendwelchen Schwachsinn zusammenphantasiere. Ich trau dir nicht. Wieso auch? Du willst mich doch nur einwickeln und mich dazu bringen, dich freizulassen. Aber daraus wird nichts.“

„Ich will gar nichts.“ Mandarin war es leid, sich immer wieder die gleichen Vorwürfe anhören zu müssen. „Du fragst, ich antworte. So willst du es doch, oder? Sonst würdest du nicht fragen. Und ich habe bisher nicht eine Forderung gestellt oder versucht, dich zu überzeugen, mich hier aus diesem Käfig raus zu lassen. Ich will nur, dass du dir dein eigenes Urteil bildest und nicht alles für bare Münze nimmst, was Jean- Claude dir einzureden versucht.“

Das konnte der Junge nicht von der Hand weisen, aber er machte keineswegs einen verunsicherten Eindruck, so wie sie eigentlich erwartet hatte.

„Jean hat mich gewarnt“, meinte er nur in überheblichem Tonfall. „Er meinte, dass die Bewohner des Neuen Grenzlandes Lügner und Verräter sind und alles tun würden, um die Outrider zu vernichten. Mein Vater hätte dies erkannt und deshalb die Seiten gewechselt…“

„So ein Blödsinn!“, unterbrach sie ihn barsch, sprang auf und begann hin und her zu tigern. „Dein Vater hat die Outrider nicht gewarnt, wie man dir gesagt hat, sondern er hat die Menschheit verraten und das alles aus verletztem Stolz. Deine Eltern, also Jesse und ich sind das beste Beispiel dafür, zu welchen Handlungen ein gebrochenes Herz einen treiben kann, mein Sohn.“

Die letzten beiden Worte waren unbedacht und erschrocken blieb Mandarin stehen und sah ihn an. Sein Blick hing genauso an ihr und einige Sekunden lang schien die Zeit stehen zu bleiben, ehe er sich unvermittelt abwandte und aus dem Raum stürmte.

„JJ!“ Ihr Ruf verhallte ungehört.
 

*****
 

Sie erwachte, weil sie sich beobachtet fühlte. Mandarin richtete sich auf und erblickte ihren Sohn, der nachdenklich an der gegenüberliegenden Wand außerhalb der Gitterstäbe lehnte und sie beobachtete. Wortlos. Reglos. Ausdruckslos.

„Du bist wieder da. Wie lange bist du schon hier?“ Erleichtert sah sie ihn an. „Es tut mir leid. Ich wollte dich neulich nicht vertreiben.“ Er regierte nicht auf ihre Stimme.

„Was hast du?“, fragte sie ihn alarmiert, als er sich, statt mit ihr zu sprechen auf einmal zu Boden sinken ließ, sie jedoch immer weiter beobachtete.

„Nichts“, knurrte er sie an und gab damit sein Schweigen auf. Der Ausdruck in seinem Gesicht wandelte von Ausdruckslosigkeit zu Wut, aber Mandarin konnte nicht einschätzen, ob er auf sie, auf sich, auf Jean- Claude oder nur allgemein wütend war.

„Das sehe ich. Ich hab doch Augen im Kopf. Du schonst deinen linken Fuß und dein linker Arm hängt auch ohne jede Spannung herunter, was deutlich darauf hinweist, dass du Schmerzen hast. Was ist passiert? Komm schon! Ich bin Ärztin, lass mich wenigstens mal nachsehen, vielleicht kann ich dir helfen“, drängte sie ihn.

Er warf ihr einen wilden Blick zu.

„Warum solltest du das tun wollen? Bisher war ich dir doch auch völlig gleichgültig.“

„Das stimmt so nicht, aber dieses Thema haben wir nicht zum ersten Mal durchgekaut. Du glaubst mir doch sowieso kein Wort“, erwiderte sie hoffnungslos. „Nimm als Begründung den medizinischen Eid, den ich geleistet habe. Ich habe geschworen, meine Kenntnisse immer dafür einzusetzen, Menschen zu helfen und zu heilen. Du bist ein Mensch und die Ärztin in mir schreit gerade danach, deine Verletzungen zu behandeln. Also? Für jeden anderen würde ich das gleiche tun.“

Er dachte eine Weile über den Sinn und die Logik ihrer Worte nach, dann hatte er einen Entschluss gefasst.

Mit der rechten Hand zog er seine Waffe und richtete sie auf seine Mutter, ehe er sich langsam den Gitterstäben näherte.

„Eine falsche Bewegung und ich knall dich ab“, drohte er, aber seine Stimme klang nicht so fest, wie er es gern gehabt hätte. Sie beide erkannten das und er presste die Lippen zusammen, ehe er ihr den Arm durch die Gitterstäbe entgegen streckte.

Mandarin schob vorsichtig seinen Ärmel zurück und zum Vorschein kam eine hässliche, nicht allzu tiefe, aber vollkommen verdreckte Schnittwunde, aus welcher immer noch ein wenig Blut sickerte.

„Das muss behandelt werden, sonst ziehst du dir eine Infektion zu und dann wird dich niemand mehr retten können“, bemerkte sie beiläufig. „Wie bist du denn dazu gekommen?“

„Das geht dich nichts an“, erwiderte er stur. „Wie du siehst, es ist nicht weiter wild.“ Er wollte den Arm zurückziehen, aber Mandarin hielt ihn fest und sah ihm in die Augen.

„Ich will nicht, dass du stirbst!“ Blaue Augen versanken in blauen Augen. Im einen Paar stand der Ausdruck totalen Misstrauens, im anderen nichts als Offenheit. Er sah zuerst weg. Dann fiel ihm wieder ein, dass er den Blaster in der Rechten hatte.

„Lass mich los!“, wiederholte er und sofort gab sie seinen Arm frei. Der Moment war vorbei.

„Das muss auf jeden Fall gesäubert und genäht oder zumindest getaped werden.“ Mandarin deutete auf seine Verletzung. „Und du solltest die Hand nicht runterhängen lassen, umso weniger Blut in der Verletzung pulsiert, umso weniger weh wird es tun.“ Sie wich zurück und setzte sich auf ihr Bett. „Ich könnte dir helfen, aber hier drin gibt es kein Verbandszeug und du hast ja offenbar lieber Schmerzen und leidest, anstatt für vernünftige Vorschläge offen zu sein.“ Sie versuchte, einen verächtlichen Klang in ihre Stimme zu legen, gleichzeitig hoffte sie jedoch innerlich, dass ihr Sohn zur Vernunft kam.

Er dachte nach, dann wandte er sich kopfschüttelnd ab und verließ wortlos den Raum. Aber immerhin ließ er den Arm nicht mehr hängen, sondern hielt ihn schonend vor den Körper gepresst.

Sie schüttelte mutlos den Kopf und ließ sich nach hinten auf ihre Pritsche sinken. Er wollte sich von ihr nicht helfen lassen und glauben wollte er ihr auch nicht. Blieb ihr nur übrig zu hoffen, dass Jean- Claude ihn zwang, sich behandeln zu lassen.
 

„Hey!“

Mandarin schrak aus ihrem Gedankenhalbschlaf hoch. Vor dem Gitter stand ihr Sohn und hatte einen kleinen Koffer direkt vor der Zellentür abgestellt.

„Dann beweis mir mal, dass du so ein toller Weißkittel bist, wie du dich vorhin dargestellt hast.“ Herausfordernd sah er sie an. „Ich mache die Tür auf, aber eine falsche Bewegung und ich schieß dir so ein Loch in den Bauch, dass mein Vater neidisch geworden wäre, da kannst du sicher sein“, tönte er großspurig und zog den Blaster. Dann schloss er mit unsicherer Hand die Gittertür auf, trat ein und schob ihr mit dem Fuß den Koffer hin.

„Keine Spritzen, keine Schmerzmedikamente. Eine falsche Bewegung und dein Leben ist keinen Pfifferling mehr wert“, bestimmte er und Mandarin nickte, ehe sie sich langsam erhob. Sie ging zu ihrem Sohn hinüber und besah sich erst einmal den Inhalt des Medizinköfferchens.

„Naja, nicht wirklich viele Vorräte“, murmelte sie vor sich hin.

„Outrider verletzen sich in dieser Dimension nicht“, erwiderte er trotzig.

„Ich weiß, aber wenn Menschen unter ihnen leben, besonders wenn einer davon sich als ihr Anführer bezeichnet, dann sollte man vielleicht etwas mehr auf alle Eventualitäten vorbereitet sein, oder?“

Sie sah zu ihm hoch, begegnete der Herausforderung in seinem Blick mit der gleichen Intensität, aber sehr viel ruhiger. „Na los, setz dich schon hin“, forderte sie ihn dann auf. „Streiten kannst du später weiter.“

Wenn er angesichts dieser Reaktion überrascht war, dann wusste er es gut zu verbergen. Immer noch misstrauisch ging er zur Pritsche hinüber und nahm Platz. Mandarin setzte sich neben ihn, ergriff seinen Arm und begann die Wunde zu behandeln. Das er die Türe offen hatte stehen lassen, schien ihn nicht zu interessieren und Mandarin tat so, als würde sie es nicht bemerken.

„Das wird jetzt weh tun“, warnte sie ihn, ehe sie begann, die Schmutzrückstände mit einer Jodlösung aus der Wunde zu waschen. Seine Armmuskeln verkrampften sich sichtbar, aber ansonsten zeigte er keine Reaktion und die blauen Augen beobachteten nach wie vor argwöhnisch jede ihrer Regungen.

„Da hier weder Nadel und Faden noch Tapes da sind, werde ich das Ganze mit Pflasterstreifen zusammenklammern und einen festen Verband darum machen“, erklärte sie ihm. „Den musst du aber auch mindestens vierundzwanzig, besser noch sechsunddreißig Stunden dran lassen und dann sehen wir mal nach.“

Sie erwartete keine Antwort und er gab auch keine. Stattdessen arbeitete sie schweigend und zügig weiter, um die Prozedur nicht unnötig in die Länge zu ziehen.

„Fertig!“ Einige Minuten später verschloss sie sorgfältig den Koffer wieder, während er aufgesprungen war und nun müde zur Zellentür zurückschlurfte. „An deiner Stelle würde ich mich hinlegen und auch einen Eisbeutel auf den Knöchel packen.“ Sie deutete mit der Hand auf seinen Fuß, aber er gab immer noch keine Antwort. Stattdessen musterte er mit zusammengekniffenen Augen die offene Tür, verschloss diese erneut, warf seiner Mutter einen nachdenklichen Blick zu und verschwand.

„Gern geschehen“, murmelte sie und saß noch lange in Gedanken versunken auf ihrem Bett, ehe sie sich zurücksinken ließ und in unruhige Träume fiel.
 

******
 

Die Bewohner des Neuen Grenzlandes sollten nicht zur Ruhe kommen dürfen.

Einige Tage nach dem Angriff auf die Hauptstadt schlugen die Outrider erneut zu und dieses Mal fielen sie über New Wichita her. Obwohl die Bewohner in Alarmzustand lebten und auf einen möglichen Angriff vorbereitet waren, gab es Verluste. Viele Häuser wurden zerstört und genau wie auf Yuma versuchten die Phantomwesen vor allem, Industrieanlagen dem Erdboden gleich zu machen und das öffentliche Leben lahmzulegen.

Bei diesem Überfall gab es nicht so viele Verletzte und Tote wie in Yuma-City, dennoch war jeder Verletzte und jeder Tote einer zu viel. Die Bürger von New Wichita setzten sich mit allem, was sie besaßen zur Wehr. Jedoch wo sie ein Phantomwesen vernichteten, traten sofort zwei neue auf die Bildfläche.

Wieder dauerte die Schlacht nicht länger als eine halbe Stunde, aber wieder war die komplette Infrastruktur für unbestimmte Zeit lahmgelegt.

Das Kavallerie-Oberkommando entsandte sofort so viele Hilfsgüter wie möglich, aber da auch auf dem Planeten Yuma die Versorgungslage noch immer angespannt war, nahmen Colt, Fireball und April nun die angebotene Hilfe aus dem Königreich Jarr in Anspruch.
 

Einige Stunden nach der Attacke der Outrider trafen sie sich mit dem ehemaligen König Jarrd zu einer Krisenkonferenz.

„Sie zerstören im Moment einfach wahllos“, regte Colt sich auf. „Ich meine, als wir damals noch als Starsheriffs gegen sie angetreten sind, da hat man hinter Gattlers erfolglosen Versuchen ein System erkennen können, aber das hier? Zu welchem Zweck soll das gut sein?“

„Es scheint wie blinde Rache. Das Ziel ist einfach nur, so viel wie möglich zu verwüsten, hauptsächlich die Infrastruktur und die Kommunikation“, mutmaßte der ehemalige König.

„Ja, soviel Zerstörung wie möglich anrichten und sich dann wieder in die Phantomzone verdrücken.“ Fireball sah kopfschüttelnd von den Unterlagen auf, welche das Ausmaß der entstandenen Schäden schwarz auf weiß und in Zahlen hinterlegten. „Wenn wir wenigstens Ramrod schon wieder soweit fertig hätten, dass er einsatzbereit wäre…“ Er seufzte auf.

„Dann ist aber das neue Team noch lange nicht einsatzbereit.“ April schüttelte den Kopf. „Die Drei trainieren in Doppelschichten um sich mit dem Kampfsystem, der Steuerung und vor allem der Technik vertraut zu machen, aber wir waren einfach nicht vorbereitet. Indem wir großspurig davon ausgegangen sind, die Outrider besiegt zu haben, haben wir auch leichtfertig Ramrod eingemottet und nicht auf dem aktuellsten Stand der Technik gehalten.“ Sie rieb sich die Stirn. „Wir haben die Maverick Systeme bereits angepasst, die restlichen technischen Tests laufen, aber es gibt noch zu viele Fehler in der Synchronisierung. Und ich weiß im Moment einfach noch nicht, woran es liegt. Ein möglicher Systemausfall, besonders während eines Kampfeinsatzes, könnte für uns alle fatale Folgen haben und muss zu einhundert Prozent ausgeschlossen sein.“

„Dafür haben wir aber auch Techniker“, erwiderte Colt. „Du musst nicht alles selbst machen.“

„Ich habe Ramrod damals mitentwickelt, die anderen Ingenieure sind nicht mehr verfügbar. Außerdem sollte ich ja wohl am Allerbesten wissen, wie was funktioniert oder besser, funktionieren sollte“, fuhr sie auf. „Da liegt es doch nahe, dass ich mich darum kümmere.“

„April, du kannst aber nicht auf alles achten. Du verhandelst, du organisierst und jetzt überwachst du auch noch Ramrods Generalüberholung.“ Der abgedankte König sah sie mitfühlend an. „Du vergisst dabei, dich um dich selbst zu kümmern und das wird auf die Dauer auch nicht gut gehen.“

April schüttelte abwehrend den Kopf. „Mir geht es gut, Hoheit, wirklich. Ich kann jetzt nicht anfangen, mir um mich Sorgen zu machen, solange so viele Dinge im Dunkeln liegen. Wir wissen immer noch nicht, wer der neue Kopf der Outrider ist und von Mandarin fehlt weiter jede Spur, ohne dass wir einen Grund dafür wüssten. Gibt es da etwas Neues?“

Fragend sah sie zum ehemaligen Rennfahrer, der sich das Aufklären des Verschwindens seiner Exfreundin zur persönlichen Aufgabe gemacht hatte, aber der schüttelte den Kopf. „Nichts, kein Hinweis, keine Nachricht, nichts. Wir wissen weder, seit wann sie verschwunden ist, noch haben wir Ideen für das Warum. Ihre Wohnung ist so zerstört, dass wir keine verwertbaren Spuren finden konnten und ihre Eltern wissen von gar nichts.“ Fireball lehnte sich zurück. „Selbst unsere Spürnase Colt konnte nicht weiterhelfen.“

Der Cowboy zuckte die Achseln. „Dummerweise hatte sie vorher einige Tage frei und wir können so nicht nachvollziehen, ab wann sie abhanden gekommen ist. Es gibt zwar Outridersignaturen in ihrer Wohnung, oder besser dem, was davon übrig ist, aber das stammt eher von der Zerstörung beim Angriff. Solche Spuren finden sich auch in meinem ehemaligen Zuhause und bei Fireball im Appartement.“

„Meinst du, ihr ist etwas passiert oder noch schlimmer, dass sie schon nicht mehr am Leben ist?“ Die Blondine war sichtlich besorgt, aber Fireball schüttelte entschieden den Kopf. „Nein! Nennt es wie ihr wollt, aber ich bin mir sicher, sie ist am Leben. Wir müssen sie einfach nur finden.“

Fireball konnte seine Gewissheit rational nicht begründen, denn sie hatten keiner Anhaltspunkte zu Mandarins Verbleib. Aber er spürte es und war sich sicher, dass er sie finden würde, solange er die Suche nicht aufgab.

Die Konferenz dauerte nur noch einige Minuten. Die meisten Anliegen waren geklärt und jeder wusste, was er weiter zu tun hatte.

Der ehemalige König hatte das Verhandeln mit den Außenposten übernommen und wirkte als Kontaktmann zwischen dem Königreich und dem Neuen Grenzland. April wollte weiterhin hauptsächlich daran arbeiten, Ramrod möglichst schnell und technisch fehlerlos auf den neuesten Stand der Technik zu bringen, während Colt sich um die Ausbildung von neuen Starsheriffs für das Team kümmerte. Fireball übernahm den gesamten Rest, die Suche nach Mandarin mit inbegriffen.

Saber Rider lag weiterhin in einem tiefen Koma, die Ärzte taten ihr Bestes, seinen Zustand stabil zu halten. April besuchte ihn jetzt täglich und auch Fireball und Colt sahen so oft es ging nach ihrem Freund, sprachen mit ihm und hofften auf irgendeine Reaktion des Freundes.

Vergeblich, nur die Linien auf den Monitoren zeugten davon, dass Saber noch am Leben war.
 

Mittlerweile hatte jeder der Drei sich ein eigenes kleines Büro eingerichtet, da die ehemaligen Archivräume inzwischen vollständig beräumt waren. Die Zimmer waren jedoch über Zwischentüren miteinander verbunden, da sie sich in den meisten Angelegenheiten sowieso absprachen. Nach ihrer heutigen Beratung zog Fireball sich jedoch für eine Weile in sein Büro zurück und verschloss die Tür fest hinter sich.

Er nahm seine Brieftasche heraus und betrachtete lange das inzwischen arg vergriffene und vergilbte Foto von Mandarin, welches er immer bei sich trug.

„Wo steckst du nur?“, fragte er das Bild leise. „Solange ich wusste, dass es dir gut geht, konnte ich damit leben, aber wie soll das jetzt werden? Du könntest doch zur Abwechslung mal versuchen, dich nicht in jede Schwierigkeit, die auf uns zukommt, mitten hinein zu manövrieren. Oder versuch wenigstens, irgendein Lebenszeichen von dir zu geben.“ Sein eigener Satz klang in ihm nach und löste ein ungutes Gefühl aus. Aber noch ehe er den Gedanken greifen konnte, war er verschwunden und Fireball konnte sich nicht mehr erklären, weswegen er vor nicht einmal einer Minute stutzig geworden war.

Er strich mit der Fingerkuppe über ihr lachendes Gesicht. Das Foto war viele Jahre alt, es stammte aus vergangenen, glücklichen Zeiten. Sie hatten damals, auf Sabers Empfehlung hin, einen Kurzurlaub in den Highlands gemacht und waren tagelang auf den Spuren der alten schottischen Clans von Burg zu Burg gewandert. Mandarin stand auf dem Foto auf einem der Wachtürme und blinzelte zu ihm herüber. Der Wind hatte ihr die Haare zerzaust und sie wirkte glücklich und gelöst.

Wie schnell jedoch war alles anders gewesen. Längst vergangene Erinnerungen drängten in ihm nach oben.
 

„Tut mir Leid, Mandarin. Sie haben ihre Spuren gut verwischt und über fünf Jahre sind eine sehr lange Zeit, um unterzutauchen.“

Als er den Raum betreten hatte, waren Colt und Mandarin wie ertappte Verräter zusammengefahren. Mandarin hatte ihn mit einer Mischung aus Trotz und Verlegenheit angesehen, Colt eher nachdenklich.

„Wer hat seine Spuren verwischt?“, fragte er dennoch neugierig nach, obwohl dieses Gespräch eindeutig nicht für seine Ohren bestimmt gewesen war.

„Nie… niemand“, stotterte seine Freundin und wurde unwillkürlich rot. Ihn hatte sie noch nie anlügen können. „Wieso bist du überhaupt jetzt schon da?“

„Die Aufnahmen für den Werbespot wurden wegen des Wetters verschoben“, erwiderte er mit gerunzelter Stirn und sah von Einem zum Anderen. „Also, was ist hier los?“

„Turbo, hör zu“, begann Colt, wurde aber von ihm unterbrochen, als ihm schlagartig klar wurde, was hier lief. „Du hast allen Ernstes Colt gefragt, ob er dir hilft?“, hatte er seine Freundin angefaucht, die jetzt nur noch schuldbewusst aussah. „Waren wir uns nicht einig, dass wir das Thema ruhen lassen? Zu einem Neuanfang gehört, dass die Vergangenheit beendet ist, oder habe ich da was missverstanden?“

„Fireball…“ Colt versuchte erneut mit ihm zu sprechen, aber er war nur zornig zu seinem besten Freund herum gefahren.

„Du solltest jetzt gehen“, hatte er ihn wutentbrannt angebrüllt. Colt war aufgestanden und hatte unschlüssig zu Mandarin gesehen, aber diese hatte bestätigend genickt. „Es tut mir leid, dass ich dich da jetzt mit hinein gezogen habe, Colt“, hatte sie leise gesagt, ohne die Augen von Fireball zu wenden. „Es ist wirklich besser, wir beide klären das unter uns.“

„Na gut“, hatte der Cowboy erwidert und seinen Hut genommen. „Wenn ihr Hilfe braucht…“

„Geh jetzt einfach!“ Fireball war alles zu viel geworden und er hatte Colt sogar die Tür aufgehalten. „Wir brauchen deine Hilfe nicht, also lass es einfach gut sein. Du hast schon viel zu viel geholfen, besonders, da du meine Meinung zu dem Thema kennst.“

Nach einem letzten Blick auf Mandarin war Colt gegangen.

Er, Fireball, hatte begonnen, im Zimmer hin und her zu tigern, während Mandarin wie ein Häufchen Elend auf der Couch hockte und unruhig die Finger knetete.

„Warum?“, hatte er wissen wollen. „Warum tust du uns das an? Wir haben darüber gesprochen und du hast selbst gesagt, dass es das Beste war, das Baby wegzugeben. Warum suchst du nun danach?“

„Ich weiß es selbst nicht so genau.“ Mandarin hatte so unglücklich ausgesehen, aber er war zu wütend gewesen, um darauf Rücksicht zu nehmen. „Ich will doch nur wissen, ob es ihm gut geht, ob er oder sie gut versorgt ist und ob die Familie sicher ist. Ich will es doch nur einmal sehen.“

„Ja sicher!“, hatte er gehöhnt. „Und aus einmal sehen wird dann noch einmal und noch einmal und irgendwann wird dir auch das nicht mehr reichen.“ Er hatte wild mit dem Kopf geschüttelt. „Du weißt, dass ich das nicht kann. Ich kann und ich will dir dabei nicht helfen oder dich unterstützen. Du tust dir doch nur selbst weh und du tust mir weh“, hatte er ihr vorgeworfen. „Mir erzählst du die ganze Zeit, dass du kein Kind mehr willst, weil du Angst hast, dass ihm etwas passiert. Dabei stimmt das gar nicht. Du willst nur keines mit mir, du hast ja schon eines.“

Jetzt war es heraus gewesen. Er würde nie ihren Blick vergessen, so verletzt und traurig und dennoch, in diesem Moment war es ihm egal gewesen. Zu tief saß der Stachel, den Jesse Blue ihm eingetrieben hatte. Zu tief saß der Neid, dass Mandarin von Jesse das hatte, was er ihr gerne geben würde und was sie nun ablehnte, ein eigenes Baby. Und im Unterschied zu Jesse wäre ihm seine Familie das Wichtigste auf der Welt. Zu lange nagte diese Sache schon an ihm, fraß ihn von innen heraus auf. Nun brachen sich die ganzen aufgestauten Gefühle ihre Bahn und er hatte sie schonungslos und unvorbereitet damit konfrontiert.

„Mandarin, ich liebe dich, aber ich werde kein Kind von Jesse großziehen, verstehst du das?“

Sie hatte lange geschwiegen und dann sehr langsam genickt.

„Darum habe ich dich auch nie gebeten oder?“, war ihre leise Erwiderung gewesen. „Alles was ich wollte war die Gewissheit, dass dieses Kind in Sicherheit ist und ich weiß, dass ich ihm diese Sicherheit nicht hätte bieten können. Nicht, wenn du nicht hinter mir stehst. Es war nie mein Wunsch, es aus seiner Familie herauszureißen, ich wollte nur…“

„Was denn?“, hatte er sie unterbrochen. „Was wolltest du nur? Tante Mandarin spielen? Ich mache da nicht mit und wenn du weiterhin darauf bestehst, diesen Plan nicht aufzugeben, dann weiß ich nicht, wie es mit uns weitergehen soll.“

Mandarin war fassungslos gewesen. „Du stellst unsere gesamte Beziehung in Frage?“, hatte sie ihn gefragt.

So radikal hatte er es nicht formulieren wollen, aber in diesem Augenblick erkannte er, dass es genau das war, worauf es hinauslief. Dabei wollte er es nicht, er wollte sie nicht noch einmal verlieren. Aber sie konnten es nur schaffen, wenn der Dämon Jesse Blue ein Schatten aus der Vergangenheit blieb und sie ihn und auch das Kind endlich vergessen würde. Fireball hockte sich vor sie hin, nahm ihre eiskalten Hände in seine und sah sie flehend an. „Mandy bitte, tu uns das nicht an! Ich liebe dich und ich will das, was wir haben, nicht aufgeben und du doch auch nicht.“ Er hatte zugesehen, wie ihr die Tränen in die Augen gestiegen waren, langsam über ihre Wangen rannen und Hoffnung geschöpft. „Wenn du ein Kind willst, dann lass uns eines bekommen. Ich garantiere dir, dass ich für eure Sicherheit sorgen kann, wenn es immer noch das ist, worum es hier geht. Wenn du ein Baby möchtest, dann lass uns eines machen. Wir gehören doch zusammen.“

„Was wäre, wenn du ein Kind mit einer deiner Rennfahrermiezen hättest? Du warst früher auch kein Kind von Traurigkeit. Würdest du nicht auch wissen wollen, wie es deinem eigenen Kind geht?“ Nun hatte sie wirklich angefangen zu weinen und er hatte förmlich gespürt, wie irgendetwas in ihm zerbrochen war. So etwas konnte man doch nicht miteinander vergleichen.

Mandarin hatte sich nach vorn gelehnt, den Kopf gegen seinen gestützt und versucht, die Fassung wieder zu gewinnen.

„Es ist okay, Fireball“, hatte sie geflüstert. „Ich werde nichts mehr sagen, versprochen. Nur sei bitte nicht böse auf Colt. Er wollte nichts hinter deinem Rücken tun, weil er genau gewusst hat, wie du reagieren würdest. Er kann nichts dafür, ich habe ihn überredet.“

Sanft hatte sie die Hand über seine Wange gelegt, ihn lange und intensiv angesehen und dann war sie aufgestanden.

„Was willst du heut Abend essen?“

So plötzlich und unerwartet der Themenwechsel gewesen war, so dankbar war er dafür gewesen. Es würde schon wieder werden. Sie hatten schon andere Krisen gemeistert und würden auch diese schaffen.
 

In den folgenden Wochen und Monaten hatten sie irgendwie versucht, zur Normalität zurückzukehren.

Und dennoch war etwas endgültig zerbrochen gewesen. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen gehabt, einzig ihr Liebesleben schien die Krise unbeschadet überstanden zu haben. Es war, als wäre dies der einzige Faktor ihrer Beziehung, der sie noch zusammenhielt. Gemütliche Abende vor dem Fernseher, die sie früher immer genutzt hatten, um sich zu unterhalten oder einfach zusammen zu sein, wurden immer seltener und wenn, dann zog sich Mandarin auf eine Seite der Couch zurück und sah schweigend in Richtung TV- Gerät. Beide hatten sie irgendwann die Stille der ungesagten Worte kaum noch ausgehalten.

Irgendwann war es so gewesen, dass Mandarin immer öfter Nachtschichten im Krankenhaus einlegte und erst nach Hause kam, wenn er schon gegangen war. Kam er abends, dann war sie schon weg gewesen.

Nach außen hin hatten sie die glückliche Fassade einige Monate lang aufrechterhalten können. Ihnen war es sogar ganz recht gewesen, Zeit mit ihren Freunden zu verbringen. Dies waren zum Ende hin die einzig unbeschwerten Momente in ihrer ansonsten angespannten Beziehung gewesen.
 

Bis Robin schwanger geworden war.

Ab dort hatten sie sich beide auch vom Cowboy und seiner Frau zurückgezogen.

Mandarin, weil sie ihr Versprechen nicht aus dem Kopf bekommen konnte, nicht mehr nach ihrem Kind zu suchen, obwohl sie sich tief in ihrem Herzen etwas ganz Anderes wünschte. Und er, weil er nicht damit umgehen konnte, dass sie keine weiteren Kinder mehr wollte.

Robins Schwangerschaft war vorbeigegangen, von ihnen wohl bewusst, aber sie beide hatten betont gleichgültig getan. Sie sprachen nicht darüber und Fireball hatte erst viel später erfahren, dass Robin Rat bei Mandarin gesucht hatte. Immerhin hatte sie von Colt gewusst, dass Mandarin selbst ein Baby bekommen hatte. Dummerweise hatte der Cowboy nicht erwähnt, wer der Vater gewesen war und das eben dieses Baby der Grund für die Krise in der Beziehung des Rennfahrers und der jungen Ärztin war. Robin war einfach nur unsicher und wollte von Mandarin alles darüber wissen, wie es sich anfühlte, ein kleines Menschlein in sich zu tragen und ob sie alles richtig machte. Selbst wenn Mandarin wirklich versucht hatte, sich ihr Baby aus dem Kopf zu schlagen, ab dort war es nicht mehr möglich gewesen und sie war ihm mehr und mehr entglitten. Er fand einfach keinen Zugang mehr zu ihr und egal, wie oft er das Gespräch suchte, sie blockte ihn einfach ab, schloss ihn mehr und mehr aus ihrem Leben aus. Nur die gemeinsamen Nächte waren unverändert. Dann klammerten sie sich aneinander und liebten sich mit einer Heftigkeit, als wäre jedes Mal das letzte Mal. Wenn er morgens wach wurde, war das Bett neben ihm jedoch immer leer.

Dann war der kleine William Wilcox auf der Welt und sie hatten es beide nicht ertragen. Die kleine, glückliche Familie zu sehen, war über ihre Kraft gegangen.

Er hatte Mandarin noch einmal heftig zu einem eigenen Kind gedrängt und irgendwann war es ihr zu viel geworden.

Der Streit war kurz, aber sehr emotional und nervenaufreibend gewesen; danach hatte sie einige Sachen gepackt und war gegangen und nie wieder in die gemeinsame Wohnung zurückgekehrt.

Sie hatte einige Zeit unbezahlten Urlaub genommen und war in wenig entwickelte Siedlungsgebiete des Neuen Grenzlandes gereist, um beim Aufbau von medizinischen Versorgungseinrichtungen zu helfen.

Monatelang hatte sie sich nur sporadisch bei April oder Colt gemeldet, von ihm hatte sie sich völlig zurückgezogen und ihm auch klar gemacht, dass dies endgültig das Ende gewesen sei.
 

Irgendwann hatte er dem Planeten Yuma den Rücken gekehrt und sich ein Grundstück in den Black Hills gekauft, einer noblen Wohngegend an der Grenze zu Jarr, wo Prominente sich zurückziehen und ihr Privatleben genießen konnten, ohne von Paparazzi verfolgt zu werden. Während er sein eigenes Rennteam zusammengestellte, hatte er begonnen, ihr Traumhaus zu bauen, welches jetzt sein Hauptwohnsitz war, aber von so hohen Mauern und Sträuchern umgeben war, dass noch kein Reporter ein Foto davon hatte schießen können. Alle Sachen, die sie damals zurückgelassen hatte, alle ihre gemeinsamen Anschaffungen, die Bilder, die Vasen, die kleinen Figuren von Elefanten, die sie so geliebt hatte, all dies stand jetzt hier und wartete auf seine Besitzerin, die es nie erfahren würde.
 

Mit einem Seufzen kehrte er in die Gegenwart zurück.

Nun hatte er sie seit ungefähr einem Jahrzehnt nicht gesehen und dennoch vermisste er sie immer noch täglich. Der Schmerz war nie verblasst, sondern er hatte ihn nur fest in seinem Herzen verschlossen und sich gezwungen, der Realität auszuweichen und sich abzulenken.

Er hatte viel Zeit gehabt, um über alles nachzudenken und im Nachhinein wusste er auch, dass seine sehr sture, unbeugsame Haltung die Trennung zum Großteil verschuldet hatte. Mandarin hatte sich bemüht, ihn zu verstehen, zu akzeptieren und darauf Rücksicht zu nehmen, aber andersrum konnte er von sich das so nicht behaupten. Und er verstand sich heute für seine damalige Haltung selbst nicht mehr. Dieser kleine Junge oder das Mädchen war genauso ein Teil von Mandarin wie es von Jesse war. Und liebte er nicht alles an ihr? Hätte er nicht versuchen sollen - und auch können - für sie da zu sein, als sie ihn brauchte, anstatt seinen Willen durchzusetzen? Eine Beziehung war nie einfach, und ihre war schon immer kompliziert gewesen. Aber mit ein wenig gutem Willen auf beiden Seiten hätten sie es schaffen können.

Seit Jahren verspürte er den Wunsch, ihr dies zu sagen und genauso lange fehlte ihm einfach der Mut, ihr gegenüber zu treten.
 

Das Aufheulen seines Hypercoms riss ihn aus seinen Gedanken; Colt erschien auf dem Display.

„Fireball, die Outrider greifen wieder an, jetzt versuchen sie es in New Dallas, also ist wieder der Planet Yuma ihr Ziel.“

„Oh nein, dieses Mal schlagen wir sie in die Flucht, bevor sie wieder so ein Chaos anrichten.“ Fireball war schon aufgesprungen und losgerannt. Er hörte, wie sich vom nahe gelegenen, provisorischen Hangar die ersten Gleiter in die Luft erhoben und sich auf den Weg zur nahen Stadt New Dallas machten.

„Dieses Mal nicht!“, knurrte der ehemalige Champion grimmig und schwang sich in den Red Fury Racer.
 

*****
 

In den nächsten Tagen sah Mandarin weder Jean-Claude, noch Jesse. Einzig der Outrider, der ihr zweimal täglich etwas zu essen brachte, unterbrach die Eintönigkeit und die Langeweile.

Mandarin hatte nichts weiter zu tun als aus dem Fenster zu starren, sich über ihren Sohn Gedanken zu machen und an ihre Freunde und Familie zu denken. Ob sie sie inzwischen vermissen würden?

Beim Gedanken an ihre Lieben und das Neue Grenzland wurde ihr das Herz schwer. Wenn die Bilder, welche Jean- Claude ihr so gerne zeigte, stimmten, dann richteten die Outrider mit ihren Blitzüberfällen enorme Schäden an.

Dabei hatten sie, anders als früher, keine strategischen Ziele. Ihnen ging es einzig und allein um Zerstörung und das Auslösen von Massenpaniken.

Auf ihre Fragen nach dem Warum erhielt sie keine zufriedenstellenden Antworten. Immerhin konnte sie sich inzwischen zusammenreimen, dass die Outriderzivilisation sich vom letzten Krieg gegen die Menschen des Neuen Grenzlandes erholt hatte. Wie ihnen das gelungen war, darüber verriet der grünhaarige Outrider mit den bösartigen Augen nichts, und auch Jesse hielt sich sehr bedeckt.

In der Gegenwart seines Mentors war Jesse ihr gegenüber nach wie vor bösartig und gemein, seine Worte sollten sie verletzen und demütigen.

Dennoch, er kam immer öfter allein und sie unterhielten sich über alles Mögliche. Manchmal schwiegen sie auch einfach nur, aber selbst Schweigen konnte entspannend wirken und der Junge machte einen wesentlich gelösteren Eindruck. Es schien, als suche er ihre Nähe, wenn er eine Pause brauchte. Sie fragte sich, was Jean-Claude für einen Druck auf ihn ausübte und wie lange dies noch gut gehen konnte.

Mandarin hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, ihm die ersten Worte zu überlassen, da sie seine Stimmungen nicht genau einschätzen konnte. Mal war ihm nach Reden, mal wollte er nur Zuhören oder einfach nur still dasitzen.

Sie wurde nicht recht schlau aus ihm.
 

Und sie fühlte sich grenzenlos allein.

An Flucht wagte sie nicht zu denken. Wie auch? Außer in der Zeit mit Jesse war die Zelle immer abgeschlossen. Niemand außer Jesse, Jean-Claude und den Wachen mit dem Essen wagte es, den Raum mit ihrem Gefängnis darin zu betreten. Und nur der Junge betrat ihre Zelle selbst, anfangs nur zum Verbandwechsel, dann, um ihr Tablett mit den Essensresten zu entfernen. Sie ließ ihn immer gewähren und beide waren sich bewusst, dass dieser Burgfrieden mehr als brüchig war.

Mandarin rang mit sich, ob sie den Jungen überreden sollte, mit ihr zu fliehen oder ob sie damit nur alles noch schlimmer machen würde. Sie konnte sich zu keinem Entschluss durchringen und versuchte stattdessen, an ihre Familie und ihre Freunde zu denken.
 

Unwillkürlich erschien Fireballs Bild vor ihrem inneren Auge.

Sie wusste, dass sein Team die intergalaktische Weltmeisterschaft gewonnen hatte, obwohl sie keinen Fernseher besaß. Aber im Krankenhaus gab es in jedem Zimmer Geräte und die Zeitungen waren ebenso voll davon.

Gewöhnlich machte er nach der Saison immer einen langen Erholungsurlaub, aber sie vermutete, dass die Ereignisse auf Yuma und im Neuen Grenzland auch ihn wieder auf den Plan geholt hatten.

Sie hoffte nur, dass er nicht wie früher seinen Hals riskierte und zu viel aufs Spiel setzte.

Er war ihr nicht egal, er war es nie gewesen und auch wenn sie den Kontakt rigoros abgebrochen hatte, ihr dummes Herz schlug immer noch nur für ihn. Monatelang hatte sie sich mit der Frage gequält, was sie hätte tun können, um die Trennung zu verhindern. Aber sie war einfach am Ende ihrer Kräfte gewesen. Dieses monatelange Schweigen, Robins Schwangerschaft, das Glück der Familie Wilcox, es war alles zusammen mehr gewesen, als sie hatte ertragen können.

Fireball war bei seiner Einstellung ihrem Kind gegenüber geblieben und Mandarin hatte die Hoffnung verloren, dass sich daran jemals etwas geändert hatte.

Nur, ein weiteres Baby wäre auch nicht die Lösung ihrer Probleme gewesen, sie hätten sie nur verdrängt und verschoben. Da war sie sich irgendwann sicher gewesen.

Er fehlte ihr in jeder Minute ihres Lebens, aber mit den Jahren war es besser geworden. Sie weinte sich nicht mehr jeden Abend in den Schlaf und ihre Arbeit gab ihr Kraft und wurde ihr Lebensmittelpunkt.
 

Die Tür zu ihrem Zellenbereich öffnete sich mit einem leichten Quietschen und sie sah auf und ihr Mund verzog sich zu einem leichten Lächeln, als ihr Sohn langsam den Raum betrat.
 

*****
 

„Was ist denn hier los?“

Beide fuhren hoch, als urplötzlich Jean-Claude im Raum stand.

„Bist du von allen guten Geistern verlassen? Habe ich dir nicht befohlen, dass du dich von ihr fernhalten sollst? Sie benutzt dich, sie will dich einwickeln und du Weichling fällst darauf herein. Habe ich doch richtig geahnt, dass du nicht von ihr lassen kannst“, brüllte er den Jungen wütend an, als er sah, dass die Zellentür offen stand. Jesse zog unwillkürlich den Kopf ein, als der große Outrider drohend auf ihn losging und ihn roh am Arm packte, während er gleichzeitig seine Waffe zog. „Ich hätte sie gleich erschießen sollen, genau wie die anderen Vier.“

Er hatte die Rechnung ohne Mandarin gemacht. Er hätte erst die Tür wieder verriegeln sollen, aber seine Wut auf die beiden Menschen war so groß, dass er jegliche Vorsicht verloren hatte.

Mandarin stürzte sich von hinten auf ihn, noch ehe er den Jungen zur Tür hinaus stoßen konnte.

„Finger weg, du Mistkerl!“, fauchte sie. Jean-Claude hatte mit ihrem Angriff nicht gerechnet und beide stürzten in einem wüsten Knäuel auf den Boden, die Waffe schlug ihm aus der Hand und rutschte ans andere Ende des Raumes. Jesse wich zur Wand zurück und wusste nicht, wie er reagieren sollte.

Unterdessen rammte Jean-Claude Mandarin den Ellebogen in die Seite, so dass sie schmerzerfüllt aufschrie und von ihm herunter rollte. Er nutzte die Gelegenheit und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, aber sie war schneller und trat ihm in die Kniekehle, um das zu verhindern. Er knurrte, fuhr zu ihr herum und holte zum Schlag aus. Mandarin hatte sich unterdes aufgerappelt und wehrte seinen Schlag ab so gut es ging. Sie war nach den Tagen der Gefangenschaft nicht in Topform, aber er war auch älter und somit langsamer geworden. Sie griff ihrerseits an und kratzte ihn mit den Fingernägeln im Gesicht, ehe sie versuchte, ihn an den Augen zu erwischen. Er musste ein wenig zurückweichen.

Die kurze Atempause nutzten beide, um Abstand zu gewinnen und wieder auf die Füße zu kommen. Sie umkreisten sich wie zwei Wölfe, die sich um die Beute stritten; ihre Beute stand verstört gegen die Wand gepresst, jede Regung der beiden beobachtend.

„Gib auf, Mensch!“, drohte Jean-Claude ihr. „Du hast so oder so keine Chance, du wirst hier nie raus kommen.“

„Darauf wetten würdest du allerdings nicht, sonst bräuchtest du ja keine Gitter, um mich aufzuhalten“, konterte Mandarin und wusste, dass sie richtig lag.

Sein nächster Angriff kam nicht unerwartet.

In dem Moment, als er auf sie losging, riss sie den Arm hoch und versetzte ihm mit der Handkante einen Schlag gegen den Hals. Sie legte ihr ganzes Körpergewicht hinein und durch eine gezielte Drehung aus der Hüfte heraus, erreichte sie, dass der Outrider schmerzerfüllt aufstöhnte und zurücktaumelte. Bevor sie nachsetzen konnte, wich er einige Meter zurück. Sie angespannt beobachtend sammelte er erneut Kräfte.

Sie wussten beide, dass er ihr kräftemäßig weit überlegen war, aber sie kämpfte mit dem Mut der Verzweiflung, denn hier ging es um ihr Leben. Verlor sie, würde er sie töten; das wussten sie beide. Sie war inzwischen zum Risiko für seinen Einfluss auf Jesses Sohn geworden.

Der Outrider schielte nach seinem Blaster, aber der lag weit außer Reichweite.

„Traust du dir nicht zu, mich ohne Metall in der Hand zu besiegen?“, spottete Mandarin und hoffte, dass sie ihn genügend provozierte. Er durfte nicht auf die Idee kommen, den Jungen mit hinein zu ziehen, der immer noch reglos dem Geschehen folgte, jedoch keine Anstalten machte, sich einzumischen.

„Dieses Gerangel hier ist Zeitverschwendung“, knurrte er zurück. „Wesentlich schneller wäre es, dich einfach über den Haufen zu schießen. Damit endlich wieder Ruhe einkehrt und wir dein Gelaber und deine Lügen nicht länger ertragen müssen.“

„Zu spät!“ Angriffslustig sah sie ihn an. „Dir ist dein eigener Racheplan in die Quere gekommen. Du wolltest uns beide verletzen nicht wahr? Du wolltest Jesse vor Augen führen, was für ein übervorsorglicher, toller Kerl du bist und wie wenig er von mir oder dem Oberkommando zu erwarten hatte. Weit gefehlt, mein Lieber. Er hat die Intelligenz von mir und Jesse mitbekommen und er wird dich früher oder später durchschauen. Er wird deine miesen Lügen aufdecken und dann wird er sich wehren. Guck ihn dir doch an! Los, sieh hin!“ Jean-Claude sah unwillkürlich zu seinem jungen Schützling hinüber, der sie beide nun mit großen Augen anstarrte. Mandarin senkte die Stimme, so dass nur er sie noch verstehen konnte. „Er sieht aus wie Jesse und er hat auch dessen Verstand. Er ist klug und er wird dahinter kommen, was hier läuft und was du ihm angetan hast. Und dann wird sein Zorn keine Grenzen kennen. Aber er wird dir die deinen aufzeigen und dich vernichten.“

Jean-Claude verlor die Beherrschung und mit einem Aufschrei stürzte er sich auf sie. Mandarin ächzte auf, als sie unter ihm zu Boden knallte und sie steckte einige harte Schläge ein. Aber es gelang ihr, die Arme frei zu behalten und ihm einige tiefe Kratzer im Gesicht und im Halsbereich zuzufügen. Jean-Claude war jetzt nicht mehr so darauf bedacht, sich zu schützen und sie versuchte gezielt, ihn an den Augen zu erwischen. Er schrie auf, als es ihr gelang und hielt sich unwillkürlich einen Arm schützend vor das Gesicht, während seine Körperspannung nachließ.

Die Gelegenheit nutzte sie und zog ein Knie hoch.

Der Outrider brüllte vor Schmerz und rollte sich von ihr herunter und auf dem Boden zusammen. Mandarin kam sofort auf die Beine und trat ihm mit dem rechten Fuß mitleidlos gegen den Kopf. Der erstickte Schrei verstummte und er sackte besinnungslos zusammen.
 

Mandarin wischte sich über die Augen, bewegte einige Male prüfend den Oberkörper und wandte sich langsam ihrem Sohn zu.

„Glaubst du mir jetzt endlich, dass er nicht das ist, was er dir weismachen will?“, wollte sie wissen, aber er schwieg unschlüssig. Ihm war anzumerken, dass das eben Geschehene tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte, aber nicht genug, um sich vom Einfluss der letzten Jahre zu lösen.

Jesse stand mit hängenden Schultern da und sah so mutlos aus, dass sie ihn am Liebsten in den Arm genommen hätte, aber sie unterdrückte diese Regung.

In diesem Moment löste sich Jean-Claudes Körper auf.

„Lass uns hier verschwinden! Das ist die Gelegenheit“, drängte sie Jesse.

Er sah zu ihr herüber, musterte ihr Gesicht, welches bald in den schillerndsten Farben leuchten würde und schüttelte dann den Kopf.

„Du gehst!“, beschloss er. „Und zwar gleich!“ Er zog seine Waffe und richtete sie auf seine Mutter. „Na los! Lauf endlich weg!“

„Komm mit mir, bitte!“, drängte sie. „Noch ist es nicht zu spät. Wir können einen Weg finden.“

„Du hast doch selbst gesagt, dass du mich weggeben hast, damit ich nicht die lebende Erinnerung an meinen Vater bin und nun willst du genau diese Erinnerung mit nach Hause nehmen?“ Seine Stimme ätzte vor Hohn, aber auch Unsicherheit. „Nein danke, Mutter, dann bleibe ich doch lieber hier. Ich setze mich lieber seinem Zorn aus, als eurer Verachtung und eurem Hass.“ Er deutete auf die Uhr. „Viel Zeit hast du nicht mehr. Er wird bald wieder da sein und dann ist deine Gelegenheit pfutsch.“

Seine Worte trafen sie wie Schläge und sie zögerte, unsicher, ob sie ihn hier wirklich allein lassen konnte. Andererseits, sie musste das Oberkommando warnen.

„Bitte, überleg es dir noch einmal“, flehte sie ihn an, aber er schüttelte erbarmungslos den Kopf und schoss ihr stattdessen direkt vor die Füße.

„Nun lauf endlich! Ich werde dir keine Hindernisse in den Weg legen, aber wenn er zurück ist, werde ich ihn auch nicht zurückhalten. Also lauf, umso mehr Zeit bleibt dir, ehe er dich jagen wird wie ein Reh, und das wird besser als jede Treibjagd für Jean-Claude.“

Mandarin sah die Aussichtslosigkeit ihrer Argumente ein. Hätte sie nur ein wenig mehr Zeit gehabt, sie war sich sicher, dass sie ihn hätte überzeugen können mit ihr zu fliehen. Stattdessen wandte sie sich ab, hob im Vorbeigehen Jean-Claudes Waffe auf und verließ ohne weitere Worte mit tränenerfüllten Augen den Raum. In den langen Gängen versuchte sie, sich zu orientieren, dann rannte sie einfach los.
 

*****
 

Sie hörten sie schon von Weitem gegen die Sanitäter protestieren. Colt grinste erleichtert, während Fireball nur befreit aufatmete.

„Mir fehlt nichts! Nun lassen Sie mich doch endlich los und vor allem nicht da… Aua, verflixt nochmal!“ Ein kurzer Aufschrei gefolgt von einem leisen Stöhnen war zu hören, dann wieder ihre Stimme. „… anfassen.“

„Miss, Sie haben da eine ziemlich ernsthafte Prellung, wenn nicht sogar einige gebrochene Rippen“, ertönte die Stimme eines Mannes. „Das sollte unbedingt geröntgt werden.“

„Ich bin selbst Ärztin, also kann ich sehr gut einschätzen, was erforderlich ist oder nicht und ich sage, es geht mir gut und nun Finger weg!“, fauchte sie.

Die beiden Kommandanten blieben vor dem Zimmer stehen und Colt klopfte vorsichtig an, während Fireball tief Luft holte.

„Einen Moment noch!“

Beide warteten ungeduldig, bis sich die Tür öffnete und zwei Sanitäter mit genervten Blicken herauskamen. „Wir verschwinden wieder“, meinte der eine, während der andere schon die Taschen zum Auto brachte. „Sie weigert sich, ihre Verletzungen in einem Krankenhaus untersuchen zu lassen. Vielleicht können Sie Miss Yamato zu überreden, sich wenigstens noch einige Tage zu schonen. Und wenn ihr schwindlig wird oder sie Probleme mit dem Atmen bekommt, dann bringen Sie sie ins Krankenhaus, notfalls auch gegen ihren Willen!“, wandte er sich an sie und beide nickten folgsam.

„Klar doch!“, rief Colt ihm hinterher und betrat das Zimmer. Fireball folgte ihm langsamer.

„Das heißt Captain Yamato und ich bin ranghöher!“ Mandarin saß ihnen abgewandt auf einer Liege und versuchte gerade unter Murren, sich einen langärmeligen Pullover über ihr Shirt zu streifen. Beide Männer konnten trotzdem die blauen Flecken auf ihren Armen sehen und Colt zog zischend Luft ein, während in Fireball das Gefühl aufstieg, einmal gegen eine Wand schlagen zu müssen.

Mandarin zog den Pullover gerade und drehte sich dann langsam um. Nun konnten die beiden Männer sehen, dass sie außerdem ein blaues Auge hatte und ihre Wange sich ebenfalls zu verfärben begann. Als Colt sich ihr Gesicht genauer ansehen wollte, winkte sie ab. „Das sieht schlimmer aus, als es ist“, meinte sie und dann realisierte sie wirklich, dass es Fireball war, der da direkt vor ihr stand. Sie erstarrte sichtbar und riss die Augen ungläubig auf.

„Du hier?“ Mehr brachte sie nicht zusammen, irgendwie schien sich ihr Denkvermögen gerade in Luft aufgelöst zu haben. Auf das Wiedersehen mit der Liebe ihres Lebens war sie in diesem Moment ganz und gar nicht vorbereitet gewesen, eigentlich in keinem Moment.

„Ja, ich bin’s. Wie geht’s dir?“, wollte Fireball leise wissen und trat an sie heran. „Alles in Ordnung? Wir haben uns alle Sorgen gemacht.“

Mandarin brauchte einen Augenblick, ehe sie antworten konnte. „Es geht schon. An diesen Sanitätern sind Melodramatiker verloren gegangen“, murrte sie und sprang vom Bett. „Lasst uns endlich gehen!“ Sie stöhnte leise und hielt sich die Seite. Reflexartig war Fireball neben ihr und stützte sie behutsam ab. Er spürte ihre Rippen unter seiner Hand, sogar durch den Stoff hindurch. Sie war zu blass, sie war zu dünn, aber sie war am Leben und das war die Hauptsache. Er hatte auf einmal das Bedürfnis, sie in Watte einzupacken und für immer dafür zu sorgen, dass ihr nie wieder etwas geschah.

Colt hob die Augenbrauen, grinste aber wissend vor sich hin und hielt sich nur mit Mühe zurück, als er hinter den beiden her in Richtung Konferenzraum schlenderte.

„Es ... es geht schon.“ Ihre Stimme klang belegt, als sie sich langsam von ihm löste. „Ich sollte mich nur einige Tage mit schnellen Bewegungen zurückhalten.“ Fireball nickte nur und trat ein Stück zur Seite.

Beide wussten nicht richtig, wie sie sich verhalten sollten und Colt beschloss, dass es Zeit war, einzugreifen, ehe die Situation noch peinlicher wurde.

„Was ist passiert und vor allem, wo warst du?“, wollte er wissen, und sie seufzte schwer auf. „Das ist eine lange Geschichte. Kann das warten, bis Saber mit dabei ist, um dies zu hören? Ich möchte das ungern dreimal wiederholen.“

Fireball und Colt warfen sich einen Blick zu.

„Mandarin, Saber ist verletzt worden“, begann Fireball ihr zu erklären. „Er…“

„Dann stimmt es also?“, unterbrach sie ihn ungläubig. „Ich dachte die ganze Zeit, er lügt. Saber ist doch… na eben Saber, irgendwie der Held in den Geschichten, unverwundbar und derjenige, welcher alles zusammenhält und den Überblick nicht verliert.“ Sie sah von Einem zum Anderen. „Wie schlimm ist es und wie geht es April?“

„Sie hält durch“, erwiderte Colt achselzuckend und war in Gedanken schon bei diesem geheimnisvollen Ihm, den Mandarin eben erwähnt hatte. „Viel mehr können wir dazu auch nicht sagen. Sie kümmert sich um alles, das Neue Grenzland, Ramrod, uns, die Bevölkerung.“

„Nur sich selbst vergisst sie“, ergänzte Fireball und zog ihr einen Stuhl zurecht. „Setz dich!“

Mandarin wollte protestieren, aber angesichts ihrer schmerzenden Rippen überlegte sie sich dies schnell anders.
 

Die Tür ging auf und April kam herein. Die Blondine sah mit jedem vergehenden Tag ausgezehrter und bleicher aus, aber die blauen Augen strahlten auf, als sie ihre Freundin endlich halbwegs unversehrt und am Leben vor sich sah.

„Ich bin so erleichtert. Entschuldige, dass ich dich nicht selbst in Empfang nehmen konnte“, begann sie, aber Mandarin winkte ab. „Hör auf April! Mir geht’s gut und du brauchst dich für gar nichts zu entschuldigen. Wie geht es Saber?“

Aprils Lächeln verschwand. „Unverändert. Er liegt im Koma, reagiert auf keinerlei Reize von außen und die Ärzte sehen seinen Zustand immer noch als kritisch an. Kritisch, aber im Moment stabil.“

„Soll ich einmal nach ihm sehen?“, fragte Mandarin behutsam und April schüttelte den Kopf. „Die besten Ärzte kümmern sich um ihn und das Oberkommando braucht dich jetzt dringender. Außerdem müssen wir schnellstens herausfinden, wer hinter diesen ganzen Vorkommnissen steckt. Mandy, was ist passiert und wo warst du? Kannst du uns sagen, was hier los ist?“
 

Mandarin senkte den Kopf.

„Ja!“, gestand sie und die Drei standen wie vom Donner gerührt.

„Wir sind ganz Ohr, Süße!“ Colt fing sich wieder und ließ sich ebenfalls auf einen der Stühle sinken.

„Ich glaube, dass ist alles meine Schuld“, begann Mandarin leise und schockiert musste nun auch April sich setzen.

„Wie bitte, was?“ Fireball konnte es kaum glauben. „Das waren Outrider! Was bitte hast du denn damit zu tun? Wo zum Teufel bist du gewesen und wieso kommst du auf die absurde Idee, dass du etwas mit den Geschehnissen hier im Grenzland zu tun haben könntest?“

„Alles!“ Mandarin sah auf. „Ich komme mir vor, als hätte jemand die Zeit zurück gedreht und alles beginnt von vorn.“

„Langsam, Mandarin, wir verstehen gerade nur Bahnhof. Erzähl uns die Geschichte von Anfang an“, forderte April sie auf, so ruhig es ging, trotz der eigenen Aufregung, die sie ergriffen hatte. Die Blondine war jetzt auch aufgeregt. Sollte Mandarin wirklich endlich Licht ins Dunkel bringen können?

„Fang damit an, wo du gewesen bist.“ Colt nickte ihr aufmunternd zu. „Und versuch, dich an alles zu erinnern, jede Kleinigkeit könnte wichtig sein.“

„Okay!“ Mandarin holte noch einmal tief Luft. „Ich war auf einem Outriderstützpunkt gefangen. Und verantwortlich für die erneute Invasion der Phantomwesen sind der Junge, welchen ich vor sechzehn Jahren weggegeben habe und...“

„Wie bitte?“

„Bitte?“

Colt und April unterbrachen sie geschockt schon jetzt mitten im Satz, und für Fireball war es wie ein Schlag in den Magen.

„Mandarin bist du dir sicher?“ April sah ihre Freundin an und diese nickte traurig.

„Er ist es. Er sieht aus wie Jesse, er kann niemand anderes als unser Kind sein“, erwiderte sie. „Ich habe keinen Zweifel, dass JJ genau der ist, als der er sich vorgestellt hat.“

„JJ?“, echote Colt fassungslos und Mandarin zuckte die Schultern. „Jean-Claude hat ihm, kreativ wie er ist, den Namen Jesse gegeben. Weil alles so verwirrend war, habe ich ihn für mich JJ, also Jesse Junior genannt.“

„Jesse Junior, wie nett. Habt ihr also eine kleine Familienzusammenführung gefeiert, ja?“ Fireballs stimmte war leise und sehr zornig, die dunklen Augen blitzten. Er fühlte sich im Moment auch wie in einer Zeitschleife gefangen. War diese Geschichte denn niemals zu Ende geschrieben?

„Wenn ihr mich einmal auch nur einen Satz ausreden lassen würdet, dann könnten wir uns das hier sparen“, fauchte Mandarin daraufhin in seine Richtung. „Meinst du, das war eine vergnügliche Wiedervereinigung?“ Sie wies auf ihr Gesicht. „Seh' ich etwa so aus?“

Fireball besaß den Anstand, leicht zu erröten, aber er verschränkte statt einer Erwiderung nur die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück.

„Also“, Mandarin begann erneut, „ich wollte mich gerade für die Nachtschicht im Krankenhaus fertig machen, da klickt es hinter mir. Das Letzte, woran ich mich erinnere, war ein Tuch mit Chloroform vor der Nase und dann bin ich in dieser winzigen Zelle aufgewacht. Stundenlang geschah gar nichts, dann stehen auf einmal Jean-Claude und JJ vor mir. Es war … nervenaufreibend und ganz und gar unglaublich.“ Mandarin holte kurz Atem, dieser Moment ging ihr selbst jetzt noch an die Substanz. „Offenbar hat Jean-Claude den Jungen gefunden, ihn die letzten Jahre großgezogen und mit Lügen gefüttert. Jetzt plant er, ihn zum neuen Anführer der Outrider zu machen und will in seinem Namen das Neue Grenzland erobern. Und der Junge glaubt ihm jedes verdammte, einzelne Wort.“

„Ich wusste immer, dass Jean-Claude nicht mehr wert ist, als der Dreck unter meinen Stiefeln.“ Colt war immer noch geplättet von diesen Neuigkeiten. „Aber ich hätte niemals gedacht, dass er es schafft, einen neuen Krieg vom Zaun zu brechen. So helle ist er doch gar nicht.“

„Er ist verrückt, Colt!“ Mandarin sah den Cowboy eindringlich an. „Er ist nicht nur verrückt, er ist total fanatisch und er will das Neue Grenzland für sich. Außerdem schiebt er den Jungen vor, um sich selbst im Hintergrund halten zu können. Bei den Outridern hätte er niemals eine Chance gehabt, sich zum Herrscher aufzuschwingen. Also agiert er verdeckt aus der Distanz und wenn es schief geht, kann er sich immer noch als der große Retter ausgeben und sein Bauernopfer vorschicken. Ihr müsst das verstehen… Und es ist schwer zu erklären. Jesse hat sie nach der Niederlage gegen das Grenzland unter sich vereinigt. Auch wenn er seine Rache an mir vollenden wollte, er hat nebenbei begonnen, die Infrastruktur in der Phantomzone wieder aufzubauen und die Leute haben Hoffnung geschöpft. Dann stirbt Jesse und die Bevölkerung hat nie erfahren, weswegen. Kaum einer wusste von JJ, das war auch in der Phantomzone so gewollt. Aber Jesse war beliebter denn je, wenn man das mal so formulieren kann. Nach seinem Tod hat Jean-Claude vieles getan, damit sein Name in den Erinnerungen der Leute blieb. Etliche Kommandanten, die sich auf den Outriderthron heben wollten, kamen und gingen, unter anderem Gattler und Dark. Aber keiner von ihnen konnte genügend Anhänger um sich scharen, um diese Position auch zu halten. Jean-Claude hat sich aus dem Hintergrund heraus darum bemüht, Jesses Anfänge weiter zu treiben und als er ihnen dann Jesses Sohn als gutherzigen, outriderfreundlichen Nachfolger seines Vaters präsentierte, kam es, dass die Zivilisten hinter ihm standen und ihm auch beim Militär den Rücken stärkten. Wobei Jean-Claude mehr auf das Militär setzt, die zivile Bevölkerung scheint nur Mittel zum Zweck zu sein. Er hat JJ als Opfer hingestellt, seinen Vater als Märtyrer.“

„Das ist Wahnsinn!“ April fand kein anderes Wort dafür und Mandarin nickte.

„Und auch unglaublich intelligent und langfristig geplant“, murmelte Colt nachdenklich. „Das hätte ihm niemand zugetraut.“

„Vermutlich ist er auch deshalb mit seinem Plan bisher so erfolgreich durchgekommen.“ Mandarin nickte dem Cowboy zu. „Das Schlimme ist, dass der Junge tatsächlich an die ganzen Lügen und Halbwahrheiten glaubt. Also, dass ich ihn nicht wollte und dass das Oberkommando geplant hatte, ihn in ein Heim und später in eine Art geschlossene Anstalt zu stecken. Für ihn passt Jean-Claudes Geschichte schlüssig zusammen. Außerdem hat er dem Jungen ein total verdrehtes und unwahres Märchen über den Krieg zwischen Grenzland und Phantomzone erzählt. Die einzige Wahrheit darin ist, dass die Ressourcen des Outriderplaneten nahezu aufgebraucht waren. Aber dann hat Nemesis in Jean-Claudes Version die Menschen um Hilfe gebeten und wir hätten dies genutzt, um die Outrider ein für alle mal zu vernichten, was uns auch fast gelungen wäre. Jesse war dann der große Held. Er hat seinem Volk den Rücken zugewandt, um sich den Phantomwesen anzuschließen und um unter Nemesis‘ Führung den Krieg doch noch zu gewinnen.“

„Wir den Krieg begonnen?“ Fireball sprang erregt auf. „Und was ist mit Nemesis' erstem Überfall, als mein Vater verschwand? Wie erklärt er sich dies? Die Outrider haben uns überfallen und nicht anders herum.“

Mandarin nickte, sah ihn jedoch nicht an. „Wir wissen, wie es wirklich war. Wenn du einem Kind aber eine völlig andere Story einredest und ihm keine Gelegenheit gibst, sein eigenes Urteil zu bilden, dann würde sich jedes Kind schwer tun, auf einmal ein völlig anderes Weltbild zu akzeptieren.“

„Was will Jean-Claude?“, mischte April sich nun mit drängender Stimme in die Unterhaltung ein. Nur den beiden Männern fiel sofort auf, dass April sofort nur Jean-Claudes Name erwähnte.

„Sie wollen das Neue Grenzland erobern, das Kavallerie-Oberkommando zerstören und Jesses Lebenstraum umsetzen“, erwiderte Mandarin. „Und ich sollte mir die nächsten sechzehn Jahre in einer Zelle vertreiben und alles mit ansehen. So hatte sich Jean-Claude das ausgemalt.“

„Wie bist du entkommen?“, wollte Fireball dann Stirn runzelnd wissen. Die ganze Geschichte erschien ihm so unglaublich, dass sie schon wieder wahr sein musste. So etwas konnte sich keiner ausdenken.

„JJ!“ Mandarin seufzte tief auf. „Wir haben uns unterhalten. Als ich dort eingesperrt war, meine ich. Oft genug war Jean-Claude dabei und dann war der Junge genauso bösartig wie der Outrider. Es schien ihm Vergnügen zu machen, mir von ihren Gräueltaten zu erzählen. Ich habe es nicht geglaubt, also nicht alles. Ich konnte mir das mit Yuma-City nicht vorstellen, oder das mit Saber…“

Sie sah April an, aber sie wich ihrem Blick aus.

„Das stimmte aber leider alles, Mandy. Deswegen hat man dich ja auch direkt hierher gebracht. Vom Oberkommando ist nicht mehr viel mehr übrig geblieben.“ Colt übernahm das Wort. „Sie haben die Stadt in Schutt und Asche gelegt, genau wie New Wichita und New Dallas. Außerdem haben sie uns Zuhause gesucht, unsere Wohnungen sind komplett zerstört.“

„Oh nein!“ Mandarin war entsetzt. „Colt, deine Familie?“

„In Sicherheit!“, beruhigte er sie sofort und sie atmete auf und sah Fireball an. „Und bei dir? Alles in Ordnung, jemand verletzt?“ Sie hatte keine Ahnung, ob es in seinem Leben jemanden gab, denn sie hatte sich die ganze Zeit geweigert, Colt oder April über ihn auszufragen und in den Zeitungen hatte nie etwas über sein Privatleben gestanden. Aber sie ging davon aus, immerhin war ihre Trennung schon Jahre her.

„Nur materieller Schaden“, erwiderte er unbewegt. „Im Gegenteil zu Saber haben wir die Sache unbeschadet überstanden.“ Der Schlag hatte gesessen und Mandarin zuckte zusammen.

Sie schwiegen eine Zeitlang, weil die Drei erst einmal eben Erfahrene sortieren mussten und Mandarin nutzte die Gelegenheit, sich kurz zu entspannen und eine innerliche Bestandsaufnahme ihrer Schmerzen zu machen. Beim Atmen hatte sie noch ein leichtes Ziehen im Brustkorb, aber das war vor einigen Stunden noch schlimmer gewesen und würde sie nicht weiter behindern. Auch die blauen Flecken und Schürfwunden würden bald beginnen zu heilen. Sie war nur ein wenig erschöpft, aber daran war sie durch ihre Arbeit im Krankenhaus gewöhnt.
 

„Das alles war perfekt geplant. Solche Präzision haben wir nicht erwartet und hätten auch nie damit gerechnet, dass die Outrider dazu überhaupt fähig sind. Unsere Arroganz, dass wir gewonnen haben und sie vernichtend geschlagen wurden, hat uns blind, taub und unvorsichtig werden lassen und dafür zahlen wir jetzt den Preis.“ April sprach ihre Gedanken laut aus. „Sie haben zuerst den Stab des Oberkommandos ausgeschaltet und gleichzeitig versucht, alle anderen hohen Offiziere zu töten. Das Grenzland sollte ohne militärische Führung dastehen.“

Mandarin sah sie fragend an.

„Nun, sie haben bei Fireball Zuhause gewütet, aber der hatte sich für einige Tage ausgeklinkt, was sein Glück war. Colt hat sich und Will verteidigt, Robin war bei ihrem Bruder und dessen Familie. Ich selbst war nicht Zuhause, als der Angriff losging. Weil ich mir Sorgen machte, bin ich ebenfalls ins Oberkommando gefahren, um die Daten zu sichten und auszuwerten. Dich hatten sie unseres Wissens nach schon entführt, Mandy. Ich könnte noch ein Dutzend weiterer Namen nennen, von denen die meisten nicht so unbeschadet davon gekommen sind, aber alles in allem hatten wir vier Glück, denn wir sollten auch sterben.“

„Mein Gott, wie krank.“ Mandarin wurde übel bei dem Gedanken, was während ihrer Gefangenschaft alles passiert war. „Und jetzt?“

„Wie bist du entkommen?“, wiederholte Colt seine Frage von eben, denn sie waren abgeschweift.

„JJ, wie schon gesagt.“ Mandarin dachte an die vergangenen Wochen zurück. „Nicht bei jedem Gespräch war Jean-Claude dabei und nicht alle Treffen endeten mit Hohn, Häme und bösen Worten. Manchmal hatte ich den Eindruck, er kam auch, um einfach nur bei mir zu sein. Er hat nicht viel gesprochen, aber er hat zugehört und Fragen gestellt. Er wusste viel über mich und auch über euch, aber er schien irgendetwas hören zu wollen und ich wusste nicht was oder konnte es ihm nicht sagen. Also haben wir uns über unsere Dimension unterhalten oder ich habe ihm von mir erzählt.“

„Also hat er dich einfach so freigelassen?“, fragte April ungläubig, aber auch hoffnungsvoll nach, als Mandarin eine Pause einlegte. Vielleicht konnte man da ansetzen…

Mandarin sah auf ihre aufgeschürften Hände, die sie sich beim Kampf mit Jean-Claude verletzt hatte.

„Nicht direkt. Es ist kompliziert. Er war verletzt und ich hab ihm geholfen und ab dort hatte er offenbar mehr Zutrauen, ich weiß auch nicht. Er kam immer öfter, es war wie tägliche Routine, anders kann ich es gerade nicht beschreiben.

Irgendwie wurden seine Besuche bei mir in der Zelle in den Wochen relativ regelmäßig, alle ein oder zwei Tage. Jean-Claude hat lange nichts davon bemerkt, aber irgendwann fand er es heraus. Er kam heute Morgen und flippte völlig aus, als er merkte, dass die Zellentür aufstand. Ich glaube, er wollte mich töten und den Jungen bestimmt auch, wenn er ihn nicht für seine Pläne noch bräuchte. Er war so hasserfüllt und als er auf JJ losging und ihn angeschrien hat, da sind mir die Sicherungen durchgebrannt. Wir haben gekämpft und auf einmal war er bewusstlos und hat sich dann aufgelöst. In dem Moment hat JJ beschlossen, dass ich den Versuch wagen solle, wegzulaufen. Ich wollte ihn mitnehmen, aber er hat sich geweigert. Ich hatte keine Wahl. Ich musste da weg, auch wenn ich ihn mit diesem Wahnsinnigen nicht allein lassen wollte.“ Ihr traten die Tränen in die Augen. „Er hasst mich und trotzdem hat er mir das Leben gerettet, während ich ihn im Stich gelassen habe, schon wieder“, machte sie sich Selbstvorwürfe. „Was, wenn er ihn jetzt vor Wut getötet hat?“

Colt sprang auf, ging um den Tisch herum und hockte sich vor sie hin.

„Hör auf!“, befahl er ihr sanft, aber sehr bestimmt. „Du hast das einzig Richtige getan. Er hatte eine Wahl und hat sie getroffen.“

„Ja, aber…“

„Nichts aber“, schüttelte der Cowboy den Kopf. „Du hättest nichts weiter tun können.“

„Colt hat Recht.“ Unvermittelt richtete Fireball das Wort an seine Exfreundin. „Du sagst selbst, Jean-Claude hätte dich getötet. Also war fliehen das einzig Richtige. Und denken wir doch mal weiter. Er hat den Jungen sicher nicht so lange behalten, um ihn dann zu töten oder? Die stecken doch unter einer Decke. Ja, ich denke sogar, genau das ist ihr Plan. Dich weichkochen, damit du genau das tust, was du jetzt machst. Dir Vorwürfe. Sehr schlau eingefädelt.“ Seine Stimme klang verächtlich und wütend zu gleich. „Vielleicht ist es auch ihr Ziel, dass du dich so fertig machst und Mitleid mit ihm hast. Sie lachen sich bestimmt jetzt in ihrem Versteck halb kaputt, weil ihr Plan aufgegangen ist.“

„Das glaube ich einfach nicht!“, fuhr Mandarin hoch und zuckte sofort zusammen, als ihre lädierten Rippen sich schmerzhaft meldeten und die Muskeln sich protestierend verkrampften.

„Womit sie ihr Ziel erreicht schon haben“, erwiderte der ehemalige Rennfahrer nicht weniger heftig mit beißender Ironie.

„Stop!“ Colt ging dazwischen, bevor die beiden richtig beginnen konnten, sich zu streiten. „Aufhören, alle beide! Bevor ihr euch anbrüllt sollten wir überlegen und vor allem einen klaren Kopf behalten“, schlug er in gemäßigtem Ton vor und musterte die beiden Streithähne mit strengem Blick. „Wir wissen jetzt, mit wem wir es zu tun haben und warum. Die Frage ist, wo haben sie dich festgehalten Mandarin?“

„Irgendwo in der Nähe von Glendale“, erwiderte sie nach kurzem Nachdenken. „Ich war da noch nie, aber ich habe ein Auto gekapert und bin einfach losgefahren. Da war viel Wald und anfangs haben sie mich gejagt. Ich konnte die Hyperjumper immer wieder hören. Also habe ich den Wagen stehen gelassen und bin zu Fuß weiter. Irgendwann kamen Häuser und die Leute meinten, da wäre ein Außenposten. Einer der Männer wollte mich hinfahren, aber ich habe ihm und den Anderen gesagt, dass sie fliehen müssen, bevor die Outrider angreifen. Dann bin ich allein zum Außenposten und habe sie gewarnt. Sie haben mit dem Oberkommando Kontakt aufgenommen und bis Verstärkung da war, haben wir so gut es ging versucht, die Menschen in Sicherheit zu bringen und eine Verteidigungslinie zu bilden.

Die Outrider haben uns angegriffen, aber es dauerte fast eine Stunde bis die Armee von Yuma da war und sie in die Flucht geschlagen hat. Dann haben sie mich hergebracht und voilá, da bin ich.“

„Ja, da bist du“, sinnierte April und sah Mandarin ernst an. „Und ich bin sehr froh, dass dir nichts passiert ist. Wir alle sind das.“ Colt nickte sofort und selbst Fireball brummte bestätigend.

„Dank dir wissen wir jetzt sehr viel mehr und können uns entsprechend vorbereiten. Wir werden eine Schwadron hinschicken und uns da mal umsehen“, bestimmte er.

„Okay, ich glaube, ich finde den Ort schnell wieder, auch wenn die Basis tief im Wald liegt. Ich muss, glaub ich, vorher nur mal kurz duschen und eine Kanne Kaffee trinken.“ Mandarin sackte zusammen wie ein Sack Mehl. Sie war jetzt schon seit viel zu vielen Stunden wach und durch die Schmerzen körperlich am Ende.

Colt schüttelte den Kopf. „Gar nichts musst du! Ich werde jemanden hinschicken. Jetzt wo wir Dank dir den Ort kennen, werden wir die Basis schnell finden. Du dagegen musst dich erst mal ausruhen. Du legst dich hin und schläfst!“, bestimmte er und als sie protestieren wollte, hob er den Arm. „Keine Widerrede oder ich hole die Sanitäter mit einer Beruhigungsspritze zurück!“

„Ja, Papa!“ Mandarin kapitulierte vor so viel geballter Vaterenergie, aber sie war ihm auch dankbar. „Und wo darf ich mein müdes Haupt betten?“

„Dein hauptsächlich eher lädiertes Haupt, meinst du wohl eher“, murmelte Fireball mehr zu sich selbst und trat zu ihr. „Komm mit, ich zeige es dir!“ Er nahm sie jetzt sanft beim Arm und zog sie hoch. Colt und April nickten zustimmend, und Mandarin war angesichts der Nähe zum ehemaligen Rennfahrer so verunsichert, dass sie kein Wort mehr hervorbrachte.

Widerstandslos ließ sie sich von ihm aus dem Raum führen.
 

„Colt, ich fahre ins Krankenhaus. Ich glaube, Saber braucht mich heute.“ April schob ihre Unterlagen zusammen und stand auf. „Kommst du hier klar?“

„Würde ich, aber soll ich nicht lieber mitkommen?“, bot ihr der Cowboy an, aber sie schüttelte den Kopf. „Danke, nicht nötig. Wir können sowieso nichts tun und heute Abend wollte sich doch Will bei dir melden. Genieß lieber die Zeit mit ihm, auch wenn es nur über Hypercom ist.“

„Okay! Aber du weißt, dass ich dich begleitet hätte.“

April schenkte ihm ein kleines Lächeln. „Ja, das weiß ich, aber sag lieber dem kleinen Racker und Robin einen lieben Gruß von mir und dass wir alles tun, damit das hier bald vorbei ist.“

Colt kniff grimmig die Augen zusammen. „Versprochen und es wird bald vorbei sein. Dank Mandarins Informationen sind wir ein Stück weiter und Jean- Claude, der Armleuchter, hatte schon beim ersten Mal keine Chance gegen mich“, knurrte er. „Und nun verschwinde, ich kümmere mich um den Rest. Sag Saber Grüße von mir und er soll sich mit dem Aufwachen beeilen, sonst endet der Spaß noch ohne ihn.“

„Danke dir, du bist eben doch der Allerbeste.“ April winkte noch einmal kurz, dann verließ auch sie den Raum und Colt gab erst Befehle bezüglich der Outriderbasis raus und funkte dann Robin bei Joshua an, um sich die nächste Stunde mit seinem Sohn über den Bildschirm zu unterhalten und den Anblick und die Stimme des Jungen zu genießen.
 

*****
 

Fireball ging langsam neben ihr her und überlegte, wie er das inzwischen peinlich werdende Schweigen brechen konnte. Er sah zu ihr herüber und stellte einigermaßen überrascht fest, dass sie ihn ebenfalls aus den Augenwinkeln beobachtete. Als sie jedoch seinen Blick bemerkte, drehte sie schnell den Kopf in die andere Richtung.

„Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist“, begann er leise und sie fuhr angesichts seiner Stimme zusammen. „Also nichts Ernsthaftes.“

„Danke.“ Sie atmete tief aus und sah nun demonstrativ auf den Boden vor sich.

Fireball wurde ein klein wenig langsamer und sie passte sich unwillkürlich an. „Es tut mir leid, dass meine Anwesenheit für dich offenbar ein Schock ist.“

„Das ist es nicht.“ Mandarin schüttelte ganz leicht den Kopf. „Es war eine Überraschung, als du auf einmal vor mir gestanden hast. Aber eigentlich habe ich es geahnt. In dieser Situation lag es mehr als nahe, dass sie dich dazu holen, aber ich war irgendwie trotzdem nicht vorbereitet und nach allem was passiert ist…“ Sie brach ab.

„Ich verstehe dich schon“, unterbrach er ihr Gestammel. „Mir geht es ja nicht viel anders.“

„Wirklich?“ Mandarin sah ihn erstaunt an. Bisher hatte er die unbeteiligt wirkende Haltung mehr als überzeugend dargestellt. „Du siehst nicht überrascht aus.“

„Jahrelange Übung.“ Fireball versuchte ein Grinsen, aber es misslang kläglich und endete eher in einer Grimasse. „Außerdem wusste ich von Colt und April, dass ich hier auf dich treffen würde, sofern ich mit dem Jobangebot einverstanden wäre.“

„Tatsächlich?“ Mandarin ärgerte sich über sich selbst und ihre dumme Antwort, aber ihr fiel einfach nichts Intelligentes ein.
 

Inzwischen waren sie auch an dem Zimmer angekommen, wo Mandarin sich hinlegen konnte.

„Su Casa!“ Schwungvoll öffnete Fireball ihr die Tür und folgte ihr anschließend bis auf die Schwelle, wo er unsicher stehen blieb, während sie sich langsam umsah. „Es ist alles ein wenig kahl und farblos, aber wenigstens hast du ein Bett.“

„Praktisch.“ Anders konnte man die karge Einrichtung nicht bezeichnen. „Wie früher im Studentenwohnheim.“ Sie musterte den Kleiderschrank, das Einzelbett und die kleine Kommode, ehe sie noch einen Blick ins Bad warf und sich dann wieder ihm zuwandte.

„Willst du mit reinkommen?“

Fireball trat von einem Fuß auf den anderen. „Du sollst dich doch hinlegen und ausruhen.“

„Naja, es gibt ja außer dem Bett noch einen Stuhl und ich finde es angenehm, mich mit dir nach so langer Zeit zu unterhalten.“ Wie kindisch! Innerlich schalt sie sich einen Dummkopf und verfluchte ihre Wortwahl. Aber sie hatte ihn die ganze Zeit über vermisst und wollte die Zweisamkeit jetzt noch nicht unterbrechen. „Ich bin auch nicht wirklich müde, sondern einfach nur kaputt. Können wir nicht einfach ein bisschen reden und du erzählst mir alles, was hier in den letzten Wochen los war?“, bat sie ihn ruhig.

So schnell wie Fireball im Zimmer stand und die Tür leise hinter sich schloss, konnte sie kaum gucken.

Er deutete aufs Bett und zog sich derweil den Stuhl heran. „Abgemacht, aber du legst dich jetzt hin!“, bestimmte er und sie nickte lächelnd und streckte sich stöhnend auf der Matratze aus.

„Geht es dir wirklich gut?“ Fireball beobachtete besorgt, wie sich ihre Miene erst schmerzerfüllt verzog und dann langsam entspannte.

„Es tut weh. Natürlich tut es weh, aber es ist wirklich nichts Ernsthaftes“, beschwichtigte sie seine Besorgnis und grinste dann schelmisch. „Jean- Claude wird mit Sicherheit länger unter meiner Attacke leiden.“

Die Situation war gewiss nicht komisch, aber beide brachen unwillkürlich in Gelächter aus und die Stimmung zwischen ihnen entspannte sich merklich.

Nach und nach fing Fireball an, ihr von den Ereignissen seit dem ersten Angriff zu berichten und Mandarin hörte mehr oder weniger schweigend zu.
 

Irgendwann merkte er, dass ihr die Augen langsam zufielen und er nahm ihre Hand, um die geschundenen und geschwollenen Knöchel sanft zu streicheln. Das gab ihrem erschöpften Körper den Rest und sie schlief endgültig ein. Fireball behielt ihre Hand in seiner, froh darüber, dass sie wieder da war. Ihm genügte es, sie einfach nur im Schlaf zu beobachten und aufzupassen, dass keine schlimmen Träume sie heimsuchten.

So friedlich hatte er sich trotz der Gesamtsituation seit Jahren innerlich nicht mehr gefühlt.

Irgendwann in der Nacht beugte er sich nach vorn, ließ den Kopf neben ihrer Hüfte auf die verschränkten Arme sinken und sank ebenfalls in tiefen, traumlosen Schlaf.
 

Keiner von beiden bemerkte, wie sich mitten in der Nacht leise die Zimmertür öffnete und der Cowboy einen Blick hineinwarf. Colt sah die beiden Schlafenden nachdenklich an, bevor er die Tür vorsichtig wieder von außen verschloss, ohne sie zu wecken.

Wenn sie die Nachricht am nächsten Morgen erfuhren, würde es immer noch schlimm genug sein. Mandarin brauchte den Schlaf und auf sie alle würde in den nächsten Tagen genug Leid zukommen. Er seufzte tief auf und machte sich dann allein auf seinen schweren Weg.
 

*****
 

Mandarin und Fireball saßen sich, noch ganz verschlafen, in der Küche in einvernehmlichem Schweigen bei einer Tasse Kaffee gegenüber, als Colt am Vormittag des Folgetages den Raum betrat. Seine blauen Augen wirkten matt und glanzlos, seine ganze Haltung drückte Müdigkeit, aber auch Entsetzen und Trauer aus.

Sie sahen ihm sofort an, dass etwas passiert sein musste, aber bevor sie fragen konnten, kam der Scharfschütze ihnen schon zuvor.

„Saber ist letzte Nacht gestorben.“

„Nein!“ Mandarin stiegen Tränen in die Augen und sie vergrub kurz das Gesicht in die Hände, während Fireball seinen Freund nur ungläubig und schockiert ansah. „Wie? Warum? Er war doch stabil?“

Der Cowboy schüttelte nur mit schmerzerfülltem Ausdruck im Gesicht den Kopf. „Es gab plötzlich Komplikationen. Sein Kreislauf ist zusammengebrochen und dann hat sein Herz aufgehört zu schlagen. Die Ärzte konnten nichts mehr für ihn tun“, berichtete er mit schleppender Stimme.

„Und April? Weiß sie es denn schon?“, fragte Mandarin heiser und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, „Wo ist sie und wie geht es ihr?“

„Im Moment schläft sie. Sie war gestern bei ihm, als es losging. Sie hat mich angerufen und gebeten hinzukommen, aber ich war schon zu spät.“ Colt sah Sabers toten, bis zur Brust zugedeckten Körper wieder vor sich liegen. April hatte mit versteinertem Gesicht neben seinem Bett gestanden, als er das Zimmer betreten hatte. Erst als die Ärzte sie dazu bewegen wollten, die Hand ihres toten Mannes loszulassen, war sie zusammengebrochen. Er hatte sie aufgefangen, die Mediziner aus dem Zimmer gescheucht und dann gewartet, bis Aprils verzweifeltes Schluchzen in leises Jammern übergegangen war und ihr die Tränen ausgingen. Erst dann hatte er sie aus dem Raum getragen und eine Schwester gebeten, ihr etwas zum Schlafen zu geben. April hatte wie im Fieber geglüht und der diensthabende Arzt hatte beschlossen, sie über Nacht zur Beobachtung dazubehalten, da er einen Nervenzusammenbruch fürchtete. „Man hat ihr ein Beruhigungsmittel gegeben und sie fürs Erste gleich da behalten. Ich habe gewartet, bis sie wirklich schläft und bin dann hierher gekommen. Eine Schwester ist jetzt immer in ihrer Nähe.“ Colt sah selbst aus, als müsste er den dringend benötigten Schlaf nachholen, aber er war viel zu aufgewühlt. „Ich wollte mich nur kurz umziehen und dann wieder zu ihr fahren. Es muss eine Menge organisiert werden und ich weiß einfach nicht…“ Er schloss kurz die Augen und schluckte hart. „Saber hat ausgesehen, als würde er schlafen, so friedlich. Wenn die ganzen Schläuche nicht gewesen wären und der Monitor nicht diese elende Linie gezeigt hätte, es wirkte, als würde er jeden Moment die Augen aufmachen.“ Er konnte nicht mehr weitersprechen, aber sie verstanden ihn auch so.

„Wir kommen mit!“ Fireball stand auf und Colt nickte dankbar. Sie alle waren mit der Situation überfordert, aber wenigstens war er jetzt nicht mehr allein mit dem Wissen.

Hartnäckig wiederholten sich die Bilder vorm seinem inneren Auge, wie April im Krankenhaus völlig zusammengebrochen war. Sie hatte weinend Sabers Hand gehalten und ihn angebettelt, ihr dies nicht anzutun. Colt selbst hatte nichts weiter tun können, als sie festzuhalten, nachdem man sie endlich vom Bett des toten Freundes hatte lösen können.

„Ich fühle mich wie in einem Albtraum. Er ist nicht noch einmal aufgewacht, sondern hat sich einfach so davongemacht.“ Mit heiserer Stimme, aus welcher sein Schmerz hervor klang barg er das Gesicht in den Händen und Mandarin trat neben ihn und schlang die Arme um seine Schultern. Die breiten Schultern des Cowboys begannen zu zucken, aber kein Laut kam über seine Lippen. Fireball brachte kein Wort mehr heraus und auch Mandarin wurde von stummen Schluchzern erschüttert, während sie den Cowboy festhielt. Der Rennfahrer stellte sich hinter sie, legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter und sie legte ihre darüber. Vergessen waren alle Streitigkeiten, sie trauerten um ihren toten Freund.

Irgendwann hob Colt den Kopf. „Wir müssen jetzt stark sein“, versuchte er sich selbst und die beiden anderen einzureden. „Für April, für Sabers Eltern und für das Neue Grenzland. Egal wie wir uns fühlen werden, April wird unsere ganze Kraft brauchen, um das alles durchzustehen.“
 

*****
 

Die Beerdigung fand einige Tage später in Sabers Heimat, den Highlands, statt.

Trotz der Ereignisse der vergangenen Wochen hatten sich viele Menschen eingefunden, um dem ehemaligen Starsheriff und Kommandanten des Kavallerie-Oberkommandos die letzte Ehre zu erweisen.

April wirkte, ganz in Schwarz gekleidet, klein und zerbrechlich. Sie wurde von ihren beiden besten Freunden und Mandarin flankiert und verfolgte die liebevoll bis ins Detail ausgearbeitete Zeremonie mit unbewegter Miene. Das war das Letzte gewesen, was sie für ihren Mann hatte tun können. Colt hatte den Arm um ihre Schultern geschlungen und ließ sie die ganze Zeit über nicht los, als fürchte er, dass sie jeden Moment erneut zusammenbrechen würde.

Salutschüsse halten über die Berge und Sabers Mutter Mary schluchzte auf, als anschließend die Dudelsackspieler sein Lieblingslied spielten und der dunkle Sarg aus Mahagoni langsam in die Erde gesenkte wurde. Ihr Mann Edward, dem ebenfalls die Tränen übers Gesicht liefen, hielt sie fest im Arm.
 

„Erde zu Erde, Asche zu Asche und Staub zu Staub!“ Der Pfarrer sprach die letzten Worte seiner bewegenden Predigt, die Menschen, welche Saber Rider auf seinem letzten Weg begleiteten warfen nacheinander eine kleine Schaufel Erde in sein Grab und entfernten sich dann langsam.

Zurück blieben April und ihre Freunde sowie die Riders, die unter Tränen mit ansahen, wie die Friedhofshelfer begannen, Sabers letzte Ruhestätte mit Erde zu füllen und danach die vielen Blumen und Kränze darauf drapierten.

Noch lange standen sie tief in Erinnerungen versunken an seinem Grab, ehe auch sie sich abwandten und den Friedhof verließen.
 

*****
 

In den folgenden Tagen war April nicht in der Lage zu arbeiten. Sie kam tagelang nicht aus ihrer Wohnung. Ihre Freunde versuchten darauf zu achten, dass sie das Essen und Trinken nicht komplett vergaß und ließen sie ansonsten aber trauern. Meistens war Fireball bei ihr, der sich noch sehr gut an die Zeit erinnern konnte, als er um Mandarin trauerte und verstand, dass sie Zeit für sich brauchte, diesen Verlust zu realisieren und einen Weg zu finden, irgendwie weiterzumachen.

Mandarin übernahm ihre Aufgaben im Oberkommando so gut es ging und wurde dabei von Colt und Jarrd unterstützt. Der Cowboy erstickte seine Trauer in Arbeit und widmete sich intensiv der Ausbildung und Vorbereitung der Soldaten für die Kampfeinsätze.

Ramrods Wiederinbetriebnahme würde sich durch Aprils Ausfall um Tage, vielleicht sogar Wochen verzögern, aber der Cowboy verwandte viel Zeit darauf, die neue Besatzung des Friedenswächters auf alle Eventualitäten zu schulen.

Eine große Hilfe für die drei ehemaligen Starsheriffs war der abgedankte König Jarrd, unter dessen Anleitung sie lernten, was wichtig für die Führung eines ganzen Volkes im Kriegszustand war. Er erklärte ihnen, welche Aufgaben Vorrang hatten und gemeinsam stellten sie einen Plan zur Verteidigung des Neuen Grenzlandes auf.

Die Basis der Outrider, in der Mandarin gefangen gehalten worden war, hatten sie verlassen und zerstört vorgefunden. Es gab keinerlei Hinweise mehr zu finden, die auf die Pläne oder den momentanen Aufenthaltsort von JJ oder Jean-Claude hindeuteten.
 

Die Phantomwesen ließen sich von der Trauer, welche im gesamten Grenzland vorherrschte, nicht beeindrucken und griffen häufig an. Strategisch war kein Muster in ihren Überfällen zu entdecken. Mal hielten sie sich an eine größere Stadt, mal griffen sie einen kleinen Außenposten an und beim nächsten Mal eroberten sie eine Fabrik und stahlen wichtige Rohstoffe.

Ihre scheinbare Ziellosigkeit machte es erforderlich, dass an vielen Orten im Grenzland die Militärtruppen verstärkt werden mussten, was die Armeen des Oberkommandos sehr auseinanderzog und ihre Schlagkraft deutlich abschwächte. Dies nutzten die Outrider gnadenlos aus. Immer wieder tauchten sie auf, jedes Mal lagen die Orte, die sie überfielen, weit auseinander.

Die Truppen des Oberkommandos taten ihr Möglichstes, um die Gebiete zu verteidigen und zu sichern. Doch obwohl sie dabei von Truppen des Königreiches Jarr unterstützt wurden, konnten die Outrider dennoch enorme Schäden im gesamten Neuen Grenzland anrichten.
 

Mandarin, die in ständigem Kontakt zu den Außenposten stand, hoffte bei jedem Überfall, dass JJ nicht unter den Angreifern zu finden war oder schlimmer, unter den Toten und Verletzten.

Bisher gab es aber keine Spur ihres Sohnes und auch offiziell hatten sich die Outrider noch nicht zu ihrem neuen Anführer bekannt. Sie wusste nicht, was dies zu bedeuten hatte und Mandarin befürchtete, dass Jean-Claude in seinem Wahn dem Jungen etwas angetan hatte.

Diese Gedanken musste sie allerdings für sich behalten. Mit Fireball und Colt war zwar die Zusammenarbeit erheblich einfacher als gedacht, aber durch Sabers Tod standen beide unter enormer Anspannung und waren neben ihrer Trauer und der Sorge um April noch für das Wohl des Neuen Grenzlandes verantwortlich. Mandarin wagte nicht, beiden ihre Sorgen anzuvertrauen, denn die Männer empfanden den Outridern gegenüber nur Hass und ihrer Meinung nach hätten sie kein Verständnis für ihre aufkeimenden mütterlichen Gefühle oder gar ihre Sorge.

Mit dem ehemaligen König konnte und wollte sie sich nicht über ihre widersprüchlichen Gefühle dem Jungen gegenüber unterhalten. Innerlich sträubte sich in ihr alles dagegen, obwohl Jarrd mehr als einmal das Gespräch in diese Richtung hatte lenken wollen. Dennoch, Mandarin grollte ihm innerlich, obwohl sie wusste, dass Jarrd und Eagle damals in gutem Gewissen gehandelten. Diese Situation, dass ihr und Jesses Sohn in die Hände der Outrider gelangen konnte, war von ihnen niemals in Betracht gezogen worden.

Alles war so kompliziert.

Sie wusste im Moment selbst nicht, was sie denken oder fühlen sollte.

Der Junge sah aus wie Jesse und verhielt sich auch so wütend und voller Hass wie sein Vater, aber es hatte Momente gegeben, da war er einfach nur ein Junge, neugierig und wissbegierig. In diesen wenigen Augenblicken war keine Spur von Aggression an ihm zu entdecken gewesen.

Mandarin war einfach nur durcheinander und unglaublich wütend; wütend auf sich selbst, weil sie sich damals gegen das Baby entschieden hatte, wütend auf Eagle und Jarrd, weil sie nicht besser auf den Jungen Acht gegeben hatten, wütend auf Jean-Claude, weil er aus dem Jungen dieses Monster gemacht hatte und wütend auf JJ, weil er einfach alles glaubte, was der Outrider ihm eintrichterte.

Und es gab niemanden, mit dem sie diese Wut hätte teilen können. Sie fühlte sie mehr allein als jemals zuvor in ihrem Leben.
 

Die befehlshabenden Offiziere hatten sich unterdessen Gedanken über die Zukunft des Oberkommandos gemacht und vorgeschlagen, eine Art Gremium zu bilden, welches die Führung übernehmen sollte.

Sie schlugen Colt, Fireball, Mandarin sowie April dafür vor, sobald diese ihre Arbeit wieder aufnahm. Außerdem sollte König Jarrd als dauerhafter Berater die Vier unterstützen und bei Unstimmigkeiten in wichtigen Entscheidungsfragen das letzte Wort haben.

Sie bezogen ihren Vorschlag auf den Führungsstil der Vier sowie des ehemaligen Monarchen während der letzten Wochen. Trotz aller Schwierigkeiten und Hindernisse war es ihnen gelungen, das Militär zu organisieren, die Versorgung der Menschen mit Grundnahrungsmitteln und Wasser sicherzustellen und sich um all jene zu kümmern, die ihr Hab und Gut verloren hatten. Und neben all diesen Aufgaben war es ihnen irgendwie gelungen, ein mehr oder weniger gut funktionierendes Sicherheitsnetz für das Neue Grenzland zu erarbeiten und durchzusetzen. Die Outriderangriffe hatten sie zwar nicht stoppen können, aber die Verluste und Schäden waren deutlich weniger geworden.

Bei der Überbringung ihres Vorschlages hatten sie als Argument in den Raum geführt, dass dies sicherlich auch im Sinne von Commander Eagle, dem inzwischen verstorbenen Generals Whitehawk, sowie Saber Rider und dem ehemaligen Sicherheitsrat gewesen wäre.

Mandarin, Colt und Fireball waren zuerst wie vor den Kopf gestoßen, hatten dann aber ihre Ernennungen zu Kommandanten der neuen offiziellen Regierung des Grenzlandes anerkannt und den Menschen geschworen, sich immer zuerst für ihr Wohl und für eine Beendigung des Krieges einzusetzen. Auch April hatte zugestimmt, obwohl sie sich früher nie in der Rolle eines Führungsmitgliedes gesehen hatte. Dies war Sabers Fachgebiet, er war der geborene Diplomat gewesen und sie hatte sich nie über die Rolle seiner privaten Beraterin und Wissenschaftlerin hinaus engagieren wollen.
 

*****
 

„Commander Wilcox, wir haben da eine Nachricht abgefangen oder eher erhalten.“ Die Stimme des wachhabenden Soldaten vor der Tür rüttelte Colt aus seinen Überlegungen zum Thema ,Verteidigung und Einsatz des Ramrodteams mit seiner neuen Starsheriff Besatzung'. Laut Wissenschaftlern und Ingenieuren sollte der Friedenswächter nun bald einsatzbereit sein, das Team trainierte nun schon mit dem Schiff und nicht mehr im Simulator.

Die neue Besatzung bestand nur noch aus drei Besatzungsmitgliedern. Aprils früherer Posten sowie der von Saber Rider waren zusammengelegt worden und wurden nun von einer Satteleinheit aus gesteuert. Jetzt war der Cowboy am Grübeln, wo man das verbesserte Superschlachtschiff am Effektivsten zuerst einsetzen könnte, da die Angriffe nicht vorausplanbar waren.

Außerdem machte er sich Sorgen, ob das Team schon bereit für Kampfeinsätze war. Sie hatten den besten Piloten, den besten Scharfschützen und eine Navigatorin mit herausragenden Ergebnissen in Technik und Taktik ausgesucht, aber die drei jungen Leute kannten sich noch nicht lange genug, um sich zu einhundert Prozent zu vertrauen.

War es bei uns seinerzeit nicht genauso gewesen und haben wir unsere Aufgaben nicht sehr gut gemeistert und alle Schwierigkeiten besiegt?

„Aber die haben auch keinen Saber Rider, der alles zusammenhält“, murmelte er halblaut und richtete seine Aufmerksamkeit dann auf den Wachposten, der immer noch an der Tür stand und ihn verwirrt beobachtete. „Ich komme ja schon!“
 

In der Kommunikationszentrale traf er auf Fireball, den man ebenfalls herbeigerufen hatte.

Beide lasen mit gerunzelter Stirn die wenigen Worte, die riesengroß am Monitor prangten.

„Was wissen wir darüber?“, wollte der Ex-Rennfahrer wissen.

„Die Nachricht wurde auf einem versteckten Kanal direkt an das Oberkommando übertragen, war jedoch unverschlüsselt. Wir haben versucht, das Signal zurück zu verfolgen, aber es ist uns nicht gelungen“, teilte man ihm daraufhin mit.

„Na gut, ausdrucken und erhöhte Wachsamkeit“, bestimmte Colt.

„Noch höher geht doch gar nicht“, grinste der Soldat vorm Bildschirm in seinen kaum vorhandenen Bart.

„Wie bitte?“

Der Mann fuhr angesichts des drohenden Tonfalles in Colts Stimme hoch. Er kannte den Cowboy von früher und da hatte er immer einen flotten Spruch auf den Lippen gehabt und war für jede Auflockerung zu haben gewesen. Die Betonung lag jetzt wohl auf dem Wort ,war' und er hatte offensichtlich zu unbedacht gesprochen.

„Wir haben Krieg, Mann! Hier sterben jeden Tag unschuldige Menschen, aber vielleicht hat Ihre Familie ja noch keine Verluste erleben müssen. Was dann aber ganz sicher nicht Ihr Verdienst ist“, regte der Cowboy sich auf und der gescholtene Soldat wurde immer kleiner.

„Es tut mir leid, Commander“, versuchte er sich zu entschuldigen.

„Das bringt die Opfer auch nicht wieder zurück!“ Colt wollte es ihm nicht so einfach machen. „Wir können nur wachsam sein, Angriffe rechtzeitig voraussehen und so versuchen, vielleicht ein paar Menschen mehr zu retten. Haben Sie das verstanden, Soldat?“ Jetzt brüllte der Cowboy fast, und Fireball beschloss, dass es nun gut war.

„Colt, lass ihn leben. Wir brauchen ihn vermutlich noch.“ Er sah den armen Soldaten finster an, dann schob er seinen Freund in Richtung der Tür und aus dem Raum.

„In zwei Minuten haben wir den Ausdruck im Konferenzraum auf dem Tisch“, bestimmte er streng und grinste dann in sich hinein. Er hatte Colt in den letzten Jahren zwar gesehen, aber der beste Freund und der Commander waren zwei völlig verschiedene Personen und daran mussten sie sich vermutlich alle erst einmal gewöhnen.
 

„21:00 Rainbow Canyon Süd

Ein einsamer Flo“
 

Schon seit geschlagenen dreißig Minuten starrten die beiden neu ernannten Kommandanten auf den Zettel mit der Nachricht, aber sie konnten sich einfach keinen Reim darauf machen.

„Wer bitte ist denn Flo?“

Colt runzelte die Stirn und forstete in seinem Gedächtnis nach einem solchen Decknamen, aber er konnte sich einfach an niemanden erinnern, der unter dieser Kennung irgendwo eingeschleust worden war. Der Computer hatte auch nichts dergleichen ausgespuckt, die Nachricht war und blieb ein Rätsel.

„Keine Ahnung!“, zuckte auch Fireball mit den Schultern. „Der ganze Text ist ziemlich Kryptisch. Ich verstehe kein Wort davon, außer vielleicht die Uhrzeit.“

Sie konnten sich beide nicht erklären, woher die Nachricht kam, für wen sie gedacht war und wer dahinter steckte. „Vielleicht sollten wir einfach die Starsheriffs und Ramrod hinschicken.“ Colt zog ein nachdenkliches Gesicht. „Obwohl es mir natürlich lieber wäre, sie würden noch ein bisschen mehr üben und wir könnten den großen Cowboy quasi zum ersten Mal als eine Art Überraschungsei mitten im Schlachtgetümmel zeigen und so dem Pack zeigen, dass wir auch noch so ein paar Neuigkeiten für sie parat haben. Am Allerliebsten wäre es ehrlich gesagt, wenn wir sie erst dann einsetzen, wenn auch die Monarch Supreme einsatzbereit und auf dem neuesten Stand der Technik ist. Dann haben wir zwei Superschlachtschiffe und die Outrider kräftig was zu knabbern.“

Sie kamen in ihren Überlegungen einfach nicht weiter und Fireball atmete tief durch und streckte sich dann herzhaft. „Warten wir, bis April und Mandarin wieder da sind und entscheiden dann, ob wir das Treffen überhaupt in Erwägung ziehen, solange wir nicht wissen, was uns da erwartet“, schlug er vor und Colt stimmte grummelnd zu.
 

„Die ist von Jesse!“ Mandarin starrte ungläubig auf die Nachricht, die Fireball April und ihr zu lesen gegeben hatte.

„Was?“ Drei paar Augen starrten sie an. „Jesse? Das ist unmöglich!“

„JJ!“ verbesserte sie sich. „Ich bin mir sicher, dass er der Absender ist und die Nachricht ist nicht für das Oberkommando bestimmt, sondern für mich. Er will sich mit mir treffen.“

„Was du nicht alles aus sechs Worten herauslesen kannst.“ Fireball sah sie verstimmt an. „Und wie bitte kommst du darauf?“

„Wir haben uns unterhalten. Er meinte, dass ihm im Neuen Grenzland die Regenbögen so gut gefallen und dass es Dank der Wettersatelliten hier auf Yuma ja auch welche gibt. Sowas gibt es in der Phantomzone nicht, denn ihre Sonne scheint anders zu sein als unsere. Ich habe ihm gesagt, das der schönste Platz, um Regenbögen zu sehen, die Schlucht von River Falls ist. Der Fluss sorgt am Wasserfall für phantastische Farbenspiele, gerade im Abendlicht der untergehenden Sonne. Ich bin früher gern da gewesen.“ Fireball sah sie erstaunt an. Er kannte die Stelle, aber dass Mandarin sich da gern aufhielt hatte er nicht gewusst. „Und wer ist Flo? Kommt dein Sohn in der Körpergröße eher nach dir und habt ihr schon Kosenamen füreinander?“

Mandarin sah ihn bei diesen abwertenden Worten verletzt an und innerlich zuckte er zusammen. Er war ja eigentlich froh, dass sie nach all den Jahren so unbefangen mit ihm arbeiten konnte, aber der Junge war sein Reizthema. Sobald es zur Sprache kam, hatte er das Gefühl, innerlich vor Wut zu ersticken. Zurücknehmen konnte er seine Worte nun sowieso nicht mehr.

Wieso war es nur so kompliziert? Sie mussten zusammen arbeiten, aber so gut wie sie in den Belangen des Oberkommandos auf derselben Wellenlänge lagen und sich auch hin und wieder eine einigermaßen gelassene Unterhaltung entspann, so schlecht verstanden sie sich, wenn es um ihr Privatleben oder noch schlimmer, um ihren Sohn ging. Die Einigkeit aus jener Nacht, nachdem ihr die Flucht gelungen war, hatte sich seitdem nicht mehr einstellen können.

„Rede Mandarin!“, drängte nun auch April, die erst seit wenigen Tagen wieder zurück war, wenn auch verschlossen und in sich gekehrt. Aus ihrer Trauer machte sie keinen Hehl. Man sah sie nicht mehr lächeln und ihr fröhliches Lachen, hallte auch nicht mehr durchs Gebäude. Aber sie hatte sich geweigert, noch länger Zuhause zu bleiben, weil sie dort nur an Saber denken konnte und sie sich ablenken wollte und musste. Sie war nicht die Einzige, die jemanden, den sie liebte verloren hatte und die Menschen im Grenzland verließen sich darauf, dass das Oberkommando sein Bestes zu ihrem Schutz und Verteidigung tat. Sie war ein Teil dieses Oberkommandos und indem sie die Outrider besiegten, konnten sie sich für Sabers sinnlosen Tod rächen, genau, wie für all die anderen unschuldigen Opfer.

April riss sich von den Gedanken an ihren Mann los und konzentrierte sich wieder voll auf Mandarin.

„Flo war mein Hund. Als ich …“ Mandarin sprach nicht leise, aber gedankenverloren und in Erinnerungen versunken. „Als ich dort gefangen war, haben wir uns manchmal auch über andere Dinge unterhalten können. Ich habe versucht, ihm klar zu machen, dass ich mir für ihn etwas Anderes gewünscht habe als der Dreh- und Angelpunkt in den Fantasien eines verrückten Outriders zu sein. Ab und an hat er mir zuhört, meistens jedoch hat er abfällig reagiert. Als ich ihm allerdings von meiner Kindheit und von Flo erzählt habe, hat er sehr interessiert gewirkt. Flo war ein klitzekleiner Welpe, als mein Vater sie mitgebracht hat und meiner Mutter ist kein anderer Satz eingefallen als: Bei den Pfoten wird aus dem Flo schon noch ein Hund. Da hatte sie ihren Namen weg und das habe ich JJ erzählt. Ich hätte mir für ihn auch gewünscht, dass er in einer glücklichen Familie groß wird und ich habe mir einen kleinen Jungen vorgestellt, der mit seinen Eltern und seinem Hund Gassi geht. Daher hat er die Idee. Und deswegen bin ich mir sicher, dass diese Nachricht für mich bestimmt ist und dass er sich mit mir treffen will.“

Die drei ehemaligen Starsheriffs sahen sich nachdenklich an.

„Es klingt auf jeden Fall plausibel“, musste Fireball zugeben. „Aber ich vermute eine Falle dahinter.“ Colt nickte zustimmend, nur April hielt sich mit ihrer Meinung zurück.

„Während die Maus auf den Käse wartet, sollten wir die Katze spielen und uns die Maus holen.“ Colt tippte auf der Tastatur vor sich herum und Sekunden später leuchtete ein Luftbild des Rainbow Canyons an der Wand. „Stellen wir selbst ein Team zusammen und schnappen uns unseren geheimnisvollen Absender. Und wenn es eine Falle ist, dann liefern wir ihnen vor Ort und Stelle eine Klatsche, die sie so schnell nicht vergessen werden. Der perfekte erste Einsatz für die Starsheriffs.“

„Moment mal!“ Mandarin runzelte die Stirn. „Ich glaube nicht, dass uns der Junge eine Falle stellen will. Ich denke, er will sich wirklich mit mir treffen und ich bin dagegen, dass wir mit der halben Kavallerie dort aufmarschieren und ihn damit verjagen. Ich bin sicher, dass ich Recht habe und ich werde hingehen. Allein!“

„Wir wollen ihn schnappen und nicht verjagen. Und es kommt gar nicht in Frage, dass du allein dahin gehst. Das Risiko ist einfach zu groß“, korrigierte Fireball sie eisig. „Jean- Claude hat erst vor wenigen Wochen versucht dich umzubringen und jetzt willst du dich ihm schon wieder wie auf dem Präsentierteller präsentieren? Vergiß es!“

„Das werde ich nicht tun“, widersprach sie ihm. „Ich weiß einfach, dass die Nachricht für mich bestimmt ist und ich glaube nicht, dass er mit Jean-Claude über einen Hund gesprochen hat. Vielleicht ist er endlich dahinter gestiegen, das der Outrider ihn nur benutzt und ist geflohen.“

„Das sind doch alles nur Theorien. Und dann auch noch wirklich weit her geholte.“ Colt setzte sich wieder auf seinen Platz und nahm Mandarin ins Augenmerk. „Der Junge hat dich bis vor einigen Wochen gehasst wie die Pest und wollte sich einfach nur an dir, an uns allen rächen. Glaubst du ernsthaft, dass eine versorgte Verletzung und ein paar Kindheitsgeschichten jahrelange Bindungen an Jean-Claude zerstört und sein Weltbild auf den Kopf gestellt haben?“

„Der Junge ist bösartig!“, hakte Fireball auch sofort nach, als Colt eine kurze Pause machte. „Sein Geist ist vergiftet, genau wie der von Jesse damals. Er ist genau wie sein Vater. Er hat schon hunderte Menschenleben auf dem Gewissen und wir werden mit Sicherheit nicht zulassen, dass er sich deines auch noch auf die Fahne schreiben kann.“

„Aber das ist doch nicht seine Schuld“, protestierte Mandarin, aber sie war schon wesentlich weniger laut, denn die Argumentation der beiden war nicht völlig von der Hand zu weisen. „Und was, wenn das keine Falle ist? Dann wird sein bisschen Vertrauen, was ihn vielleicht zu dieser Nachricht bewogen hat, genauso schnell wieder verschwinden wie er und unsere Chance ist verspielt.“

„Die Chancen auf so eine Entwicklung stehen unter null und dass weißt du genauso gut wie wir, wenn du mal ehrlich bist“, meinte Fireball. „Ich bin auf jeden Fall dafür, dass wir versuchen sollten, uns den Absender der Nachricht zu schnappen und wenn es wirklich dein Sohn ist, umso besser, dann haben wir endlich was Richtiges gegen die Outrider in der Hand.“

„Er ist kein Freiwild!“, beharrte Mandarin auf ihrem Standpunkt. „Wenn wir ihm beweisen wollen, dass ich ihn nicht angelogen habe und das Oberkommando oder besser gesagt, die Menschen, nicht so sind, wie er denkt, dann muss ich dahin. Und ihr werdet mich nicht davon abhalten.“

„Das hat auch niemand vor, Süße. Nur, ohne Schutz und alleine, dass wird nicht passieren und da kannst du trotzen und wüten, wie du willst. Wir müssen ja nicht mit der gesamten Kavallerie anrücken, aber deine Sicherheit steht an erster Stelle und darüber wird auch nicht mehr diskutiert.“ Er sah von Fireball zu Mandarin und dann zu April, die zustimmend nickte.
 

*****
 

Langsam ging Mandarin über die Wiese und auf die einsame Gestalt zu, welche, vom Licht der untergehenden Sonne angestrahlt, am Ufer des Flusses stand und ruhig abwartete.

„JJ!“, machte sie sich bemerkbar und er wandte sich um. Mandarin bemerkte die Waffe an seiner Hüfte, aber da er die Arme abwartend verschränkt hatte und sie mit unergründlichen Blicken musterte, blieb sie entspannt und ging weiter, bis nur noch ein knapper Meter sie von ihrem Sohn trennte. Entgegen Fireballs und Colts ausdrücklichen und nachhaltigen Ratschlägen hatte sie auf ihren Blaster verzichtet. Sie konnte die aufgebrachten Gegenargumente der Beiden immer noch im Kopf hören.
 

„Was, wenn er dich wieder als Geisel nehmen will?“, hatte Fireball sie angefaucht. „Kannst du nicht einmal von Anfang an vernünftig reagieren und tun, was man dir sagt, besonders, da es zu deinem Besten ist?“

„Mitten auf Yuma unter euren wachsamen Augen mit Ramrod und den Starsheriffs als Rückendeckung eine Geiselnahme durchführen? Das wäre verrückt und außerdem lächerlich!“ Ihre Stimme hatte einen spöttischen Unterton. „Bei aller Logik, ich gehe doch sehr davon aus, dass mein Sohn nicht so blöd auf die Welt gekommen ist.“

„Dennoch bleibt es ein Risiko“, hatte auch Colt ihr zu bedenken gegeben.

„Aber ein Einschätzbares.“ Mandarin blieb bei ihrer Überzeugung. „Ich weiß nicht, was er möchte, aber ich bin mir sicher, dass dieses Treffen zustande kommen muss“, beharrte sie.

Irgendwann hatten die beiden nachgegeben und mehr oder weniger zähneknirschend die Überwachung geplant.
 

„Du wolltest mich sehen?“ Obwohl ihre Stimme ruhig klang, spürte sie das Schlagen ihres Herzens bis in jede kleinste Zelle ihres Körpers. Sie war aufgeregt, unendlich aufgeregt, erfreut und zugleich besorgt. Was war passiert, dass er den Weg direkt ins Herz des Oberkommandos gesucht hatte und sich somit der Kavallerie auslieferte?

„Du hattest Recht, hier ist es wunderschön.“ Seine ersten Worte überraschten sie.

Mandarin wusste nicht so recht, wie sie auf diese Aussage reagieren sollte. „Gehen wir ein Stück“, schlug sie daher vor und er willigte nickend ein.

Seite an Seite schlenderten sie am Fluss entlang.

„Sie hören mit, richtig? Ich bin hier in eurem Revier und ich wette, wenn ich mich auch nur nach einem Grashalm bücke, zücken mindestens vier Leute von irgendwoher ihre Blaster.“

Mandarin war belustigt angesichts seiner Direktheit. „Ja, so könnte man das sagen.“, erwiderte sie. „Aber sie werden nicht eingreifen, solange du dich friedlich verhältst.“ Daraufhin schwieg der Junge eine Weile und Mandarin ließ ihn in Ruhe seine Gedanken sortieren.
 

„Jesse, wie er leibt und lebt.“

Colt, der neben Fireball an Bord des Friedenswächters stand und das Treffen mit Argusaugen beobachtete, schüttelte ungläubig den Kopf, während April sich für den Moment nur aufs Zuhören und Beobachten beschränkte. Keine Regung in ihrem Gesicht oder ihrer Haltung verriet die Gedanken, welche in ihrem Kopf herumgingen. „Ich komme mir grade zwanzig Jahre in die Vergangenheit versetzt vor. Weißt du noch, damals, als Jesse uns das erste Mal als Kadett begegnet ist? Das Bürschchen könnte glatt sein Klon sein…“

„Ja, es ist schon erstaunlich.“ Fireball brachte die Worte kaum über sich. Mandarin und ihren Sohn so nebeneinander her laufen zu sehen, rief alte Erinnerungen hervor.

Wie lange hatte er mit sich gekämpft und wie lange hatte er gebraucht, um die Vorstellung von Jesse und Mandarin aus seinem Kopf zu bekommen? Wie oft hatte er sich eingeredet, dass alles wäre vorbei, für immer in die Vergangenheit entrückt? Und wie sehr hatte er sich geirrt?

„Verstehen wir, was sie sagen?“, wollte er wissen, um sich selbst von den Erinnerungen zu befreien.

„Ja, Commander“, erwiderte der junge Mann mit den dunklen Locken, welcher jetzt in Sabers ehemaliger Satteleinheit saß und Chef des neuen Ramrodteams war. „Moment, ich stelle sie auf laut um.“

Die beiden anderen Starsheriffs des Teams befanden sich gut getarnt in unmittelbarer Nähe von Mandarin und Jesse Junior und wachten mit gezogenen Blastern über jede Regung des jungen Mannes.
 

„Was ist passiert, nachdem ich geflohen bin?“ Mandarin beschloss, nun doch den Anfang zu machen.

„Jean-Claude war gleich darauf wieder da und er war auf einhundertachtzig.“ JJ grinste schwach, aber es war kein freudiges Grinsen.

„Hat er dir was getan?“ Seine Mutter ballte unwillkürlich die Faust, aber er schüttelte den Kopf. „Konnte er nicht, denn ich musste ja erst einmal wieder wach werden. Nachdem du weg warst, habe ich mich mehr oder weniger selbst ausgeknockt. Er fand mich also bewusstlos am Boden der Zelle und ich habe ihn wirklich davon überzeugt, dass ich stinksauer auf dich war. Gerade wollte ich dich überwältigen und du ziehst mir einfach den Blaster über den Kopf, so dass ich nicht einmal dazu kam, Alarm auszulösen.“ Diese ironische Schilderung entlockte Mandarin ein vorsichtiges Lächeln. „Sehr clever, obwohl es mir immer noch lieber gewesen wäre, dass du mitgekommen wärst.“

„Dann würden wir heute nicht so hier stehen.“ JJ blieb stehen und sah sie ernst an.

„Was ist passiert? Was machst du hier?“ Ihre Anspannung wuchs beinahe ins Unermessliche.

„Jean-Claude war richtig sauer, dass du fliehen konntest, aber es uns blieb nichts weiter übrig, als die Basis aufzugeben und in die Phantomzone zurück zu kehren. Das war das erste Mal seit langem, dass wir wieder in der anderen Dimension waren und dort war alles anders. Ich hatte ganz vergessen wie anders und ich war darauf nicht vorbereitet“, gestand er ihr.

Mandarin sah ihn fragend an.

„Es hat sich Einiges ergeben.“ Er seufzte tief auf und versuchte, seine Gedanken zu sortieren. Mandarin ließ ihm diese Zeit und beschränkte sich darauf, ihn von der Seite vorsichtig zu beobachten.

„Die Zivilisten wollen keinen neuen Krieg gegen eure Dimension führen. Sie wollten es nie und sie unterstützen es auch nicht.“ Immer noch klang der Unglaube und die Überraschung angesichts dieser Tatsache aus seiner Stimme hervor. Auch Mandarin riss erstaunt die Augen auf. „Wie bitte?“ Sie packte ihn am Oberarm, zwang ihn stehen zu bleiben und sah ihn ungläubig an. „Was bedeutet das?“

„Damit du das alles richtig verstehst, muss ich dir mehr über die Outrider erzählen, über ihre Lebensweise.“ Jesse sah sie fest an und Mandarin nickte. „Ich bin ganz Ohr.“

„Sie leben in sogenannten Clanen zusammen. Jeder Clan hat ein Oberhaupt und diese treffen sich in regelmäßigen Zyklen zu Beratungen. Zu meiner grenzenlosen Verwunderung…“ Nun holte er doch tief Luft. „Sie wussten nichts davon, dass wir einen Angriff auf diese Dimension geplant und durchgeführt hatten. Sie hatten nicht die geringste Ahnung. Jean-Claude hat mir immer gesagt, dass die Clane ihre Zustimmung gegeben hätten und das sie hinter der Sache stehen, aber das stimmt so gar nicht.“

Mandarin hörte ihm mit wachsendem Erstaunen, aber auch Entsetzen zu. „Und das bedeutet?“

„Sie sind nicht begeistert, im Gegenteil. Sie sind froh, dass sich die Zivilisation langsam von den Folgen des letzten Krieges erholt und haben nun Angst, erneut alles zu verlieren. Sie beginnen, sich gegen Jean-Claude zu formieren, also auch gegen mich. Im Moment nur im Geheimen, aber es wird nicht mehr lange dauern, bis sie offen rebellieren werden, wenn ich die Lage richtig einschätze.“

„Und woher weißt du das alles?“

„Du kennst Arcanus, oder?“, stellte er die Gegenfrage.
 

„Arcanus? Der lebt noch?“ Colt traute seinen Ohren kaum. „Das ist doch der Alte, der seinerzeit Eagle geholfen hat, oder?“

Fireball nickte bestätigend. „Er hat Commander Eagle das mit den Friedensverhandlungen erst richtig schmackhaft gemacht.“

„Jetzt wird’s interessant.“

April war inzwischen näher getreten und mit einem energischen „Pst!“ machte sie der Unterhaltung der Männer ein Ende und sie hörten weiter mit.
 

„Nicht persönlich“, gab Mandarin zu. „Aber ich habe viel von ihm gehört. Commander Eagle hat sehr oft Gutes über ihn gesprochen und es sehr bedauert, dass sie diese Bekanntschaft nicht erweitern konnten.“

„Wie dem auch sei. Er ist wahrscheinlich der älteste Outrider, den ich kenne und er hat viel Einfluss. Er hat in der Phantomzone das Gespräch mit mir gesucht und wir haben uns lange unterhalten. Er hat deine Geschichte mehr oder weniger bestätigt.“ Mandarin atmete tief durch, unterbrach ihn jedoch nicht. „Damals, als Nemesis noch seinen Körper hatte, haben wir Kontakt in die Menschendimension aufgenommen. Ein Teil der Outrider war für Frieden und ein freundschaftliches Miteinander, aber Nemesis riss die Macht an sich und überfiel eure Dimension. Er wurde zurück geschlagen und unsere Zivilisation brauchte lange Zeit, um sich davon zu erholen. Ab dann kennst du die Geschichte.“

Mandarin nickte. „Nur zu gut“, erwiderte sie leise. „Und jetzt?“

„Sie wollen immer noch Frieden. Arcanus hat alle drei Kriege und deren Folgen erlebt. Er ist ein sehr angesehener Mann in unserer Dimension und er hat großen Einfluss. Die Clane hören auf ihn. Die zivile Bevölkerung steht nicht hinter den Angriffen, im Gegenteil. Sie verurteilen sie und das Volk der Outrider droht, sich zu spalten. Auf der einen Seite das Militär und auf der anderen Seite der Rest. Wenn nicht irgendetwas passiert, dann kämpfen die Outrider in zwei Kriegen gleichzeitig und keiner von denen war von den Zivilisten gewollt. Das ist nicht fair.“
 

„Das glaub ich ja jetzt nicht.“ Fireball sah Colt an. „Das ist unsere Chance!“

Auch die Augen des Scharfschützen funkelten und seine Stirn lag nachdenklich in Falten.

„Gehen wir!“ April überraschte die beiden Männer. „Starsheriffs, Überwachung beibehalten!“, befahl die zierliche Blondine und sah ihre Freunde dann auffordernd an. „Das ist wirklich unsere Chance. Wollen wir sie verstreichen lassen?“
 

„Aber gehören die Militärangehörigen nicht zur zivilen Bevölkerung?“ Mandarin versuchte zu verstehen, was er ihr sagen wollte.

JJ schüttelte den Kopf. „Nein, doch, irgendwie nicht. Das ist kompliziert.“ Er atmete tief durch. „Es sind Soldaten und sie befolgen Befehle. Sie werden schon als Kinder dazu auserwählt, einmal Soldaten zu werden. So ist das Gesetz und sie würden nicht gegen das Gesetz verstoßen. Das wäre gegen die Ehre und die zu beflecken wagt fast niemand freiwillig“, erklärte er dann. So ganz kam Mandarin nicht mit, aber sie nickte. „Und jetzt?“

„Arcanus meinte, ich müsse mich entscheiden. Die Outriderbevölkerung wird sich gegen das Militär stellen und dann gibt es einen Aufstand. Nach allem, was er mir gesagt hat und dem, was ich von dir weiß, komme ich immer mehr zur Überzeugung, das Jean-Claude mich nur benutzt und ich lasse mich nicht benutzen.“ Er kniff die Augen zusammen und sein Mund verzog sich wütend.

„Was genau willst du mir damit sagen?“

„Was wäre, wenn die Situation in unserer Dimension eskaliert und das Militär sich einer Revolte gegenüber sieht? Was wäre, wenn die Bevölkerung der Phantomzone an die Menschen des Neuen Grenzlandes mit dem Wunsch nach Friedensgesprächen herantritt? Würdet ihr helfen? Würdet ihr zuhören?“

Endlich hatte er es ausgesprochen und atmete dann befreit auf. Er hatte ihr die alles entscheidende Frage gestellt und wagte nun auch endlich, sie offen und fragend anzusehen.

Mandarin war sprachlos, denn damit hätte sie nicht gerechnet. Niemals…
 

„Das haben wir schon einmal getan und wir wurden von den Phantomwesen betrogen“, mischte sich eine Stimme hinter ihnen ein. Mandarin und JJ fuhren herum und fanden sich Colt, Fireball und April gegenüber. Beide Männer hatten die Hand auf ihren Blastern liegen, aber die Waffen waren nicht gezogen. April stand mit verschränkten Armen zwei Schritte vor ihnen und fixierte den Jungen.

JJ wollte zur Waffe greifen, aber zum Erstaunen aller stellte Mandarin sich zwischen ihn und ihre Kollegen. „Keiner will dir was tun.“

„Nein, wir wollen reden.“ April kam langsam näher und obwohl Colt und Fireball einen angespannten Eindruck machten, ließen auch sie die Hände sinken. „Mandarin, diese Sache betrifft uns jetzt alle.“

Die rothaarige Frau seufzte und nickte dann. „Du hast ja Recht.“ Damit trat sie einen Schritt zur Seite. „Reden wir!“
 

*****
 

Der Tag vor dem Angriff war gekommen.
 

Wochenlang hatten sie mit Hilfe von Arcanus und vor allem mit der Hilfe von Mandarins Sohn heimlich Waffen, Schiffe und Kämpfer in die Dimension der Outrider gebracht.

Zuerst waren nur wenige Soldaten zur Bewachung der Ausrüstung in der Phantomzone geblieben, später wurden die Truppen mehr und mehr erhöht und auch das Königreich Jarr entsandte Kämpfer.

Die Lage war angespannt.

Die Menschen lebten, von den Outriderclans versteckt, unter ihnen, aber jahrelang gehegtes Misstrauen, Abneigung und gegenseitige Angst ließen sich nicht von heut auf morgen weg reden. Wachsam und übervorsichtig reagierten die Grenzlandbewohner auf die fremde Umgebung, hinter jedem Satz in der Outridersprache wurde Böses vermutet, die unbekannte Lebensweise argwöhnisch belauert, immer auf der Hut, sich jederzeit verteidigen zu können.

Auch wenn die Outriderclane wussten, dass sie ohne die Hilfe der Menschen ihre eigene Militärführung niemals würden absetzen können, waren sie genauso vorsichtig, ihren menschlichen Gästen gegenüber und hielten sich sehr zurück. Sie versorgten sie mit Nahrung und Unterkünften, versteckten die Ausrüstung gewissenhaft, aber die Kinder und weiblichen Outrider wurden von den Menschen fern gehalten, während die Männer sämtliche Kommunikation übernahmen.

Außerdem wussten nur wenige Eingeweihte, wer Jesse war und welche Rolle er bei allem spielte. Das hieß, dass auch nur wenige Menschen und Outrider den Sohn ihres schon seit Jahren toten Kommandanten zu Gesicht bekommen durften. Der blauhaarige junge Mann erntete von menschlicher Seite Abneigung bis hin zum offenen Hass, von den Outridern dagegen Unglaube, gemischt mit Hoffnung und Angst.

Gegen Mandarins Einspruch hatte der Junge darauf bestanden, seine Rolle als Jean-Claudes Mündel und neuer Anführer der Outrider weiterzuspielen. Sein Plan war gewesen, dass er über Arcanus die Pläne des grünhaarigen Outriders an das Oberkommando vermittelte. Deswegen versuchte man, den Teenager von den meisten Menschen und Zivilisten unter den Outridern fernzuhalten, denn jeder Verrat an das Militär oder Jean- Claude selbst hätte unweigerlich seinen Tod bedeutet.

Colt und Fireball waren erwartungsgemäß mehr als skeptisch, witterten eine Falle, aber sie wussten, dass dies eine einmalige Chance war, die Outrider in ihrer eigenen Dimension ein für allemal zu schlagen. Nur deswegen hatten sie sich von Mandarin, April und dem ehemaligen König Jarrd dazu überreden lassen, sich Jesses und Arcanus Plan anzuhören und umzusetzen.
 

Dank Jesse Junior waren sie über die Gegebenheiten und Sicherheitsmaßnahmen in den wichtigsten Stützpunkten Jean-Claudes gut informiert. Den Rest mussten sie improvisieren.

Gegen Mittag klopfte Fireball an Mandarins Zimmer. Sie würden mitten in der Nacht in die Phantomzone aufbrechen und waren übereingekommen, sich noch einige Stunden auszuruhen. Dennoch wollte er mit ihr sprechen.

Erstaunt über die unerwartete Störung öffnete sie Sekunden später und ihre Augen wurden riesengroß, als sie ihren Besucher erblickte. Seit Wochen, genauer gesagt, seit JJ’s Auftauchen auf Yuma, beschränkte sich ihr Kontakt auf die Arbeit und nun stand er auf einmal vor ihrer Tür. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte.

„Shinji?“

Der ehemalige Rennfahrer holte tief Luft. Nur sie sprach seinen Namen so aus. Vielleicht lag es an ihrer Stimme, vielleicht hatte er es einfach zu sehr vermisst, aber auf einmal fühlte er sich so gut, wie seit Jahren nicht mehr. Die Art und Weise, wie sie seinen Namen aussprach, war einzigartig und vermittelte ihm irgendwie das Gefühl von einer rastlosen Reise am Ziel angekommen zu sein.

„Hast du schon geschlafen?“ Fireball sah sie fragend an, aber Mandarin schüttelte den Kopf. „Ich hab es versucht, ja, aber es funktioniert nicht. Ich frage mich die ganze Zeit, ob wir alles bedacht haben und ob es gut gehen wird“, gestand sie ihm, dann holte sie tief Luft und öffnete die Tür ganz. „Magst du reinkommen?“

Erleichtert nickte Fireball und trat ins Zimmer. Bisher war er einmal hier gewesen, am Tag, als sie aus der Gefangenschaft von Jesse Junior und Jean-Claude entkommen war.

Das Zimmer wirkte immer noch karg, aber inzwischen wenigstens bewohnt. Auf dem Tisch stand eine Flasche Wasser und zwei Gläser, einige ihrer Sachen hingen auf dem einzigen Stuhl und das Bett war unordentlich.

Verlegen begann sie, die Sachen wahllos in den Kleiderschrank zu räumen, damit er auf dem Stuhl Platz nehmen konnte.

„Das kannst du genauso gut sein lassen“, grinste Fireball erheitert, als er beobachtete, wie sie die Wäsche in den Schrank knitterte.

„Ich hab nicht mit Besuch gerechnet und schon gar nicht mit dir“, verteidigte sie sich verlegen und Fireball lachte nun doch auf. „Schön zu sehen, dass sich manche Sachen doch nicht geändert haben.“

Bei seinen Worten sah Mandarin ihn an und beide dachten an die Vergangenheit. In ihrer Zeit als Paar war er der Ordnungsliebende gewesen und sie die Chaotin. Aber dennoch hatten sie genau diese Eigenschaften am Anderen geliebt.

Mandarin räusperte sich und blickte zu Boden, unterbrach damit den Augenkontakt.

„Brauchst du was?“, fragte sie ihn, unsicher geworden und auch Fireball trat von einem Fuß auf den anderen.

„Nein, ähm, eigentlich nicht. Ich wollte dich nur bitten, morgen auf dich aufzupassen. Riskier nicht zuviel, ich kann…“ Mit zwei Schritten war er bei ihr und zog sie an sich, überrumpelte sie damit. Er vergrub das Gesicht in ihren Haaren, atmete tief ein. „Ich will dich nicht wieder verlieren, hörst du?“

Mandarin war von seiner Reaktion zuerst völlig überfahren. Stocksteif stand sie an ihn gelehnt, ehe auch sie ihren Gefühlen nachgab und die Arme um ihn schlang.

„Ich verspreche es“, flüsterte sie an seine Brust und schloss die Augen. „Du aber auch nicht, okay?“

Minutenlang schwiegen sie beide, genossen die Umarmung und versuchten, ihrer Gefühle Herr zu werden.

Schließlich legte Mandarin den Kopf in den Nacken, um ihm ins Gesicht zu sehen. „Was bedeutet das jetzt?“, wollte sie wissen, fragend, unsicher, verwirrt.

„Keine Ahnung.“ Fireball fühlte sich genauso hilflos. Bis vor wenigen Minuten hatte er nur gewusst, dass er sie noch einmal sehen wollte, einmal für sich allein haben und nun wusste er, dass er sie nie wieder hergeben würde. Sie war Sein und er für immer der Ihre. „Warten wir ab, was morgen passieren wird und dann sehen wir weiter.“

Mandarin holte tief Luft, während sich ihre Augen mit Tränen füllten. „Aber es hat sich nichts geändert. Im Gegenteil…“, flüsterte sie heiser.

„Sch….“ Fireball wischte ihr sanft die Tränen von den Wangen. „Ich weiß nicht, was passieren wird, ich weiß auch nicht, wie die Zukunft wird, aber ich weiß, dass wir beide zusammen gehören und wir werden einen Weg finden. Einen Weg, mit dem wir beide leben können. Ich gebe dich nicht auf, nie wieder!“

Die letzten Worte stieß er nachdrücklich hervor, seine braunen Augen brannten sich in ihre blauen, dann senkte er den Kopf und folgte der Stimme seines Herzens. Er presste seine Lippen auf ihre, hob sie auf seine Arme und trug sie in Richtung Bett.
 

Am Nachmittag versammelten sich die Kommandanten des Oberkommandos, sowie die letzten Truppen, welche in die Phantomzone mitreisten.

Von Jesse wussten sie, dass am folgenden Morgen ein Angriff auf New Dallas unter seiner Führung geplant war, und König Roland war bereits vor Ort, um den inoffiziellen Anführer des Outridermilitärs gebührend zu empfangen. Jesse würde sich gegen seine eigenen Leute wenden und der König hatte Befehl gegeben, den jungen Mann mit allen nötigen Mitteln zu verteidigen.

Währenddessen würde auch die Schlacht in der Phantomzone beginnen. Ramrod befand sich bereits an Bord des riesigen Outriderfrachters, mit dem sie den Dimensionssprung vollziehen würden.

„Was machst du da?“

Fireball und Mandarin betraten die neue Kommandozentrale genau in dem Moment, als Colt fassungslos auf April sah, welche in aller Ruhe ihren Blaster umschnallte. Auch ihre Rüstung hatte sie bereits angezogen.

„Wonach sieht es denn aus?“, fragte sie nun zurück.

„Jedenfalls nicht nach Hierbleiben.“ Mandarin ging zu ihrer Freundin und überprüfte den Sitz der Rüstung.

„Nein, sollte sie aber!“ Colt stemmte die Hände in die Hüften und sah April aufgebracht an. „Ich finde, du solltest hierbleiben. Nach allem, was du durchgemacht hast. Und außerdem, einer muss hier die Stellung halten!“

„König Jarrd wird das sicherlich ausgezeichnet auch allein schaffen.“ April ließ sich von Colts Ton nicht aus der Reserve locken. „Colt, ich muss mit!“ Sie sah ihren besten Freund fest an. „Ich will und ich werde hier nicht abwarten, während ihr euch ins Kampfgetümmel stürzt. Erstens war ich selbst mal Starsheriff und weiß also, was ich tue und zweitens, ich will dabei sein, wenn wir diesen Mistkerl zur Strecke bringen. Er hat Saber umgebracht und dafür wird er büßen.“

Nun glühten ihre blauen Augen hasserfüllt und alle drei schraken vor der Rachsucht und Mordlust in ihrer Stimme zurück.

„Aber…“ Colt wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Sicher, sie alle hatten darauf gewartet, dass April aus ihrer Apathie erwachen würde und endlich wieder Gefühle zeigte, aber sie alle hatten eher mit Tränen und Trauer gerechnet.

„April hat Recht.“ Mandarin bestärkte die Freundin in ihrem Entschluss. „Du würdest auch um nichts in der Welt hierbleiben, Colt. In wenigen Stunden geht es um alles oder nichts und sie hat alles verloren. Ich finde, es ist ausgleichende Gerechtigkeit, wenn sie sieht, wie der Mörder ihres Mannes, unseres Freundes, seine gerechte Strafe erhält.“

„Ich, äh…“ Colt fehlten die Worte, Mandarin war sehr überzeugend. Obwohl er wusste, dass April schon einiges an Kämpfen erlebt hatte und als Starsheriff genau wusste, was sie tat, machte er sich dennoch Sorgen. Sie hatte so viel mitgemacht in den letzten Monaten und wirkte immer noch so zerbrechlich. Hilflos sah er zu Fireball, aber der ehemalige Rennfahrer hob nur die Schultern. „Du warst selbst mal in einer ähnlichen Lage, Cowboy, als Jesse dich verwundet hat. Dich haben damals auch keine zehn Pferde im Krankenhaus gehalten“, gab er zu bedenken.

„Du wirst mich nicht zurückhalten, Colt, also versuch es gar nicht erst“, meinte April mit blitzenden Augen.

Finster runzelte der Scharfschütze die Stirn. „Du bleibst an Bord von Ramrod und hältst deinen Hintern gefälligst aus der Schusslinie!“, bestimmte er ungehalten angesichts der weiblichen Übermacht und Fireballs sehr überzeugendem Argument. Dem hatte er nichts mehr entgegen zu setzen.

„Mach dir keine Sorgen.“ April ging zu ihm und umarmte ihn kurz. „Dieses Mal wird es enden, dann ist es endlich vorbei.“
 

*****
 

Jesse, der nach dem Sieg der Menschen über die Outrider, sofort aus dem Grenzgebiet in die Phantomzone zurückgekehrt war, stürmte in Nemesis' ehemaligen Thronsaal, jetzt Jean-Claudes neues Hauptquartier.

„Mandarin! Mum!“ Fassungslos starrte er auf das Bild, welches sich seinen Augen bot. Jean-Claude hatte seine Mutter im Würgegriff und hielt ihr mit der Rechten den Blaster an die Schläfe, während April den beiden mit gezogener Waffe gegenüber stand.
 

„Sieh an! Da haben wir ja den Verräter!“, höhnte der Outrider. „Wie konntest du nur, nach allem, was ich für dich getan habe? Habe ich dir nicht den Vater ersetzt, den sie erschossen hat?“ Er ruckte den Arm nach oben und Mandarin musste würgend husten. „Und jetzt verrätst du mich so? Warum?“

Der junge Jesse sah seinen Mentor und Erzieher an. „Du hast gelogen, Jean-Claude. Ich habe dir vertraut und du hast gelogen. Alles, was du über den Krieg und die Menschen gesagt hast, war falsch. Und du hast auch gelogen, was die Zivilisten hier angeht. Sie wollen keinen Krieg. Sie wollen Frieden, Ruhe, Fortschritt und keine neue Diktatur wie unter Nemesis.“

„Seit wann interessiert es, was die Zivilisten wollen?“, schrie der Outrider außer sich vor Wut. „Wenn du nicht die Fleischlinge hergebracht hättest, dann hätten sie nie etwas zu sagen gehabt. Alles wäre wunderbar gewesen. Ich hätte dich auf den Thron gehoben.“

„Aber du hättest geherrscht.“ Jesse zog langsam seinen Blaster und richtete ihn ebenfalls auf den Outrider. „Gib auf, Jean-Claude, es ist vorbei.“

„Ach, meinst du?“ Der Grünhaarige ging langsam rückwärts und schleifte seine Geisel mit sich. „Du kannst mich nicht töten. Denn du weißt nicht, ob nicht ein letztes Zucken meiner Finger deiner Mutter einen Laserstrahl durchs Gehirn jagt, nicht wahr? Jene Mutter, die nebenbei bemerkt, deinen Vater erschossen und dich weggegeben hat. Wieso ist dir das alles auf einmal egal?“

„Jesse Blue hat seine Rasse aus persönlichen Gründen verraten und nicht, um den Outridern zu helfen. Und ich werde nicht genauso sein. Ich werde nicht das Volk verraten, bei dem ich aufgewachsen bin, für das mein Herz schlägt, nur, damit du deine Machtgier durchsetzen kannst. Und wenn du mich dann nicht mehr brauchst, entsorgst du mich.“ Der Teenager schüttelte den Kopf, während Jean-Claude nur böse auflachte. „Bist du doch schon. Hast du schon vergessen, dass du den Angriff auf Yuma-City befürwortet hast? Dass du ganz heiß darauf gewesen bist, selbst dahin zu fliegen und dass nur ich dich hier zurückgehalten habe, weil es viel zu früh dafür war? Du hast ihren Mann auf dem Gewissen, nicht ich.“ Sein Kinn ruckte in Aprils Richtung, welche jeden Schritt, den er rückwärts ging, mit einem Schritt vorwärts ausglich und iununterbrochen auf seinen Kopf zielte.

„Waffe runter, Jean-Claude!“ Colts schneidende Stimme unterbrach den Outrider. Er war, gemeinsam mit Fireball, an der hinteren Tür zum Thronsaal aufgetaucht und die beiden hatten ebenfalls ihre Blaster auf den Feind gerichtet. „Lass Mandarin los und die Waffe fallen, na los!“
 

Der Outrider blickte sich panisch um und erkannte die Ausweglosigkeit seiner Lage. Dennoch versuchte er noch einmal, der Situation zu entkommen.

„Jesse, vergiss nicht, was wir zusammen erlebt haben.“ Beschwörend sah er den Jungen an. „Sie hat dich verlassen und weggegeben, während ich immer für dich da war, genauso wie dein Dad es gewollt hätte. Du bist sein Vermächtnis und gemeinsam können wir alles erreichen, was er jemals wollte!“

„Er wollte das Falsche, Jean-Claude. Gib endlich auf, es ist vorbei!“

„Es wird nie vorbei sein.“ Die Stimme des Outriders wurde wieder lauter, panischer. „Du bist ein Weichei, ein jämmerlicher Waschlappen. Jesse hat dich mit aller Kraft zu finden versucht, aber deine Mutter hat ihm das nicht gegönnt, euch beiden nicht. Hast du eigentlich gewusst, dass sie ihn bis zu seinem letzten Atemzug angelogen hat?“

Mandarin hielt den Atem an. Was wusste der Outrider von Jesses letzten Minuten? Er war doch gar nicht dabei gewesen, oder?

„Was meinst du?“ Unsicher geworden sah Jesse Junior zu seiner Mutter. „Was meint er?“ Seine Stimme wurde lauter.

„Sie hat bis zum Schluss behauptet, dass du nicht existierst. Selbst, als er schon im Sterben vor ihr lag, hat sie immer noch gelogen. Alles, was er noch wollte, war die Wahrheit und nicht einmal so viel war er ihr wert. Der Vater ihres Kindes, dein Vater. Meinst du, du bist ihr mehr wert als ein Mittel zum Zweck?“ Jean-Claude triumphierte. „Sie hat ihn zur Hölle fahren lassen, den Einzigen, dem du vielleicht etwas bedeutet hast.“

„Mandarin?“ Seine Stimme war voller Zweifel, das gefasste Vertrauen zu ihr noch zu brüchig. Und Jean-Claude lachte auf. „Glaubst du wirklich, sie könnte dich jemals lieben? Hast du das wirklich gedacht? Dich? Das Kind eines Verräters? Du Narr! Sie liebt dich genauso wenig wie ich, sie benutzt dich doch genauso für ihre Zwecke, aber bei mir wärst du wenigstens jemand gewesen…“ Wieder lachte er, höhnisch und verächtlich.
 

Der Schuss peitschte durch den Raum.

Beide, Mandarin und Jean-Claude erstarrten, dann sackte der Outrider langsam in sich zusammen, während Mandarin keuchend in die Knie ging. Fireball stürzte zu ihr und zog sie weg vom Outrider und schützend in seine Arme, während Colt dessen Blaster zur Seite trat und dann April anstarrte, die ihre eigene Waffe langsam wieder ins Halfter schob.

„Es war genug.“ April stand reglos, aber die Tränen liefen ihr übers Gesicht. „Er hat soviel Menschen durch seine Befehle getötet, es war einfach genug. Er sollte nicht noch weitere Leben mit seinen Lügen kaputt machen.“

Sie wandte sich langsam an Jesses Sohn, welcher noch immer mit dem Blaster in der Hand seine Mutter anstarrte. „Weißt du, wir alle waren damals mit dabei und nein, Jesse hat nie erfahren, dass es dich gibt. Aber das geschah nur, damit du in Sicherheit aufwachsen konntest. Mandarin hat nicht aus Rache geschwiegen, sondern um dich zu schützen.“

Mandarin löste sich von Fireball, ging zu ihrem Sohn und nahm ihm langsam die Waffe ab.

„Erinnere dich, was ich dir während meiner Gefangenschaft sagte.“ Ihre Stimme war zwar ruhig, aber ihr Herz klopfte. „Nein, Jesse kannte die Wahrheit bis zum Schluss nicht, aber wären die Dinge nur ein klein wenig anders gelaufen, dann hätte ich es ihm gesagt. Er hatte seine Chance und seine Rache am Oberkommando für Dinge, die er selbst zu verantworten hatte, war ihm immer wichtiger als alles andere. Er war verblendet und ihm ging es immer nur um sich selbst. Deine Sicherheit stand für mich dagegen immer an oberster Stelle und genau deswegen habe ich auch dort noch geschwiegen.“

Sekundenlang starrte der Junge auf seine Mutter, auf den toten Outrider und dann brachen sich Verzweiflung, Trauer und Hoffnungslosigkeit endlich Bahn. Zuviel war geschehen, zu viel für einen Jungen, der verzweifelt und fehlgeleitet seinen Platz im Leben zu haben glaubte und nun vor den Scherben seiner Existenz stand.

Mit Tränen in den Augen brach er auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht.
 

April, Colt und Fireball hatten das Geschehen beobachtet und sich nicht eingemischt.

Erst als Arcanus, ältester aller Outrider, in der großen Tür auftauchte und sagte: „Das Militär ist besiegt, es ist vorbei“, kam wieder Bewegung in die drei ehemaligen Starsheriffs.

Colt trat langsam herzu, ließ schwer die Hand auf die Schulter des jungen Mannes und sprach die Sätze, die so vereinbart worden waren, aber Mandarin das Herz in Stücke rissen.

„Jesse Blue Junior, ich verhafte dich wegen Hochverrates an den Menschen im Neuen Grenzland,wegen Mord bei den Angriffen auf Städte und Ansiedlungen des Neuen Grenzgebietes und vorsätzlicher Körperverletzung.“

Jesse nickte und erhob sich langsam, um sich von Colt die Handfesseln anlegen und abführen zu lassen, während Fireball erneut Mandarin an sich zog.

So wenig er Jesses Kind leiden konnte, so sehr liebte er dessen Mutter und so sehr tat ihm leid, dass es so enden musste.

„Fliegen wir nach Hause“, bestimmte er leise und führte sie aus dem Raum, während Colt seinen Gefangenen zur anderen Tür hinaus begleitete.

April und Arcanus blieben zurück.

„Die neue zivile Outriderregierung bietet der Führung des Neuen Grenzgebietes ihre bedingungslose Kapitulation an und bittet um die Aufnahme von Friedensgesprächen.“ Der alte Mann hielt April die Hand hin und diese ergriff sie.

„Die Führung des Neuen Grenzlandes akzeptiert die Kapitulation und ist zu Gesprächen bereit“, versprach sie feierlich. „Es ist vorbei, endlich!“
 

*****
 

Es war keine offizielle Konferenz des Sicherheitsrates des Kavallerieoberkommandos, dennoch waren alle wichtigen Personen anwesend. Der ehemalige König Jarrd saß April gegenüber am anderen Ende des Konferenztisches, Fireball und Colt auf der einen Seite, Mandarin und König Roland auf der anderen Seite.

April hatte von Anfang an unmissverständlich klargemacht, dass, egal wie heute entschieden wurde, diese Entscheidung bindend für die Zukunft wäre und hier wurde über die Zukunft eines jungen, fehlgeleiteten Mannes entschieden, von welchem trotz seiner fast achtzehn Jahre noch immer eine gewisse Gefahr ausging und der sich trotz seiner Jugend schon einiger Verbrechen gegen das Neue Grenzland und dessen Bewohnern schuldig gemacht hatte.
 

„Ich bin dagegen, ihn öffentlich vor Gericht zu stellen“, machte April gleich zu Beginn ihre Haltung klar. „Auch wenn es das Gesetz erfordert und er als Verräter am eigenen Volk die Höchststrafe zu erwarten hätte, bin ich doch der Meinung wir sollten ihm gegenüber aufgrund seiner Ausnahmesituation eine Amnestie verhängen und die Konsequenzen für sein zukünftiges Leben entsprechend abmildern.“

Colt rieb sich über die Stirn. „Er ist ein Verbrecher, Süße. Da beißt die Maus keinen Faden ab und er sollte hart dafür bestraft werden. Er kann eigentlich froh sein, dass die Todesstrafe schon vor Jahren abgeschafft worden ist. Er hat enormen Schaden angerichtet. Wenn wir ihn schonen, dann wird uns das böse auf die Füße fallen, das garantiere ich dir. Die Menschen werden es nicht verstehen und diese Haltung kann ich gut nachvollziehen. Es gab so viele Tote und Verletzte, und er ist der Verursacher.“

„Das sehe ich ein bisschen anders, Colt“, mischte Mandarin sich ein. „Sicher, er ist kein Heiliger, aber er ist nicht der Verursacher, sondern nur wie ein Blinder fehlgeleitet worden. Willst du jeden Outrider, der seiner Führung gefolgt ist, jetzt ins Gefängnis oder in eine Phantomkammer stecken und bestrafen? Dann wird die Phantomzone bald deutlich leerer sein. Die Fäden hat im Hintergrund die ganze Zeit Jean-Claude gezogen und der ist nicht mehr da. Die Outrider haben sich bedingungslos ergeben und das haben wir auch JJ zu verdanken. Wir sollten seine guten Taten über all den Verbrechen in seinem Namen nicht ganz vergessen.“

„Birnen und Äpfel kann man nicht mischen. Es ist klar, dass du so denkst…“, begann Colt, wurde aber heftig von ihr unterbrochen. „Komm mir ja nicht wieder damit, dass ich seine Mutter bin und es in der Natur liegt, dass ich auf seiner Seite stehe“, fauchte sie. „Ich will eine gerechte Entscheidung, was in Zukunft mit ihm passiert und ich will, dass dabei auch seine Wünsche respektiert werden.“

„Er will bei den Outridern leben, dass kann doch nicht dein Ernst sein“, regte Colt sich auf. „Da würden wir doch den Bock zum Gärtner machen und können uns gleich auf den nächsten Krieg vorbereiten.“

„Er will nicht hier bleiben, weil er sich nicht zugehörig fühlt“, korrigierte sie ihn eisig. „Wie kann er das auch. Jeder sieht Jesse in ihm und jeder verurteilt ihn.“

„Mit Recht, er hat sich ja auch aufgeführt wie sein Vater!“ Das war der erste Satz, den Fireball zu diesem Thema zu sagen hatte und er war froh, dass der Tisch zwischen ihm und Mandarin war, sonst wäre sie ihm vermutlich an die Gurgel gesprungen. Bevor sie jedoch verbal reagieren konnte, hob er die Hand. „Ich sage ja nicht, dass er dies aus eigener Entscheidung getan hat. Ich bin durchaus bereit zuzugeben, dass aus ihm etwas hätte werden können, wenn er nicht von Jean-Claude durch und durch verdorben worden wäre. Aber so liegen die Tatsachen nun einmal und nun liegt es bei uns, das Richtige zu tun.“

„Ihr wollt ihn wegsperren und das damit rechtfertigen, das Richtige getan zu haben?“, fuhr sie auf. „Diese Argumentation stinkt zum Himmel und es ist genau das, wovor er all die Jahre Angst hatte und was Jean-Claude ihm wieder und wieder eingetrichtert hat.“

„Was mich interessieren würde…“ mischte sich Jarrd bedächtig ein und sofort wandte sich alle Aufmerksamkeit ihm zu. Er war die graue Eminenz unter ihnen und sein Wort hatte sehr viel Gewicht.

Er sah April eindringlich an. „Wie kommst du zu deiner Meinung? Du hast selbst so viel verloren und ich habe den Eindruck, du wärst bereit, ihn ziehen zu lassen.“

April nickte bestätigend und sorgte für einigermaßen fassungslose Gesichter am Tisch.

„Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken in der vergangenen Zeit und eine Unterhaltung mit König Roland hat letzten Endes meine Gedanken irgendwie bestätigt. Dass ich selbst einen großen persönlichen Verlust hatte, braucht nicht noch einmal gesondert erwähnt zu werden. Wir alle hier im Raum haben Saber geliebt, waren mit ihm befreundet oder haben ihn als Mann von Ehre respektiert. Aber ich kann nicht einfach nur dieses Kind dafür verantwortlich machen, dass er gestorben ist.

Ich mache das Oberkommando, das Königreich Jarr und uns alle hier dafür verantwortlich.“

Ihre Worte schlugen ein wie eine Bombe.

„Wie bitte? Was haben wir denn damit zu tun?“, regte sich Colt auf. „Jean-Claude hat den Jungen versaut, nicht wir.“

„So ganz kann ich dem Gedanken auch noch nicht folgen“, meinte der ehemalige König und April nickte.

„Dann will ich meine Meinung mal erklären. Angefangen hat alles damals, als man Mandy den unmöglichen Auftrag, Jesse zu infiltrieren, nahegelegt hat. Sie hätte ihn abgelehnt, wenn nicht dieses Missverständnis zwischen Fireball, ihr und mir gewesen wäre. Aber es war geschehen und sie hatte bei dieser Mission die indirekte Anweisung, alles zu tun, was nötig war, um Jesses Vertrauen zu gewinnen und ihn in die Falle zu locken.

Der Plan ging schief, aber die Konsequenz war ihre Schwangerschaft. Mandarin musste sich lange verbergen und offiziell für tot gehalten werden, damit sie und das ungeborene Kind in Sicherheit waren. Danach hat sie die Zukunft des Jungen in die Hände des Oberkommandos und des Königreiches gelegt und ich bin mir sicher, dass sie sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht hat. Und ich bin mir auch sicher, dass sie sich im Vorfeld etliche gute Ratschläge von es gut meinenden Experten anhören musste, die ihr alle mehr oder weniger nahelegten, der Adoption zuzustimmen.

Ich weiß nicht, ob sie das Baby weggeben hätte, wenn sie ihre Familie und Freunde um Rat und Hilfe hätte bitten können. Wir werden es auch nie erfahren.

Dennoch, Mandarin hat auf jeden Fall darauf vertraut, dass wir, das Oberkommando mit der Hilfe von König Jarrd, gut auf das Baby aufpassen und dass es in Sicherheit und einer liebevollen Umgebung groß werden konnte.

Die damals zuständigen Leute jedoch haben meiner Meinung nach geschlampt. Erst findet Jesse raus, dass sie noch lebt, dann findet er heraus, dass sie wirklich schwanger war und dann sucht er das Baby. Wir hätten uns niemals damit zufrieden geben dürfen, dass die Adoptiveltern mit ihm weggezogen sind, sondern hätten sicher gehen müssen, dass der Junge in Frieden aufwachsen kann.

Deswegen trägt das Oberkommando eine Mitschuld an der Entwicklung des Jungen, genau wie das Königreich Jarr.

Und genau aus diesem Grund bin ich dafür, ihm Amnestie zu gewährleisten und eine Lösung zu finden, mit der wir genauso gut leben können, wie er, Mandarin und die Menschen.“
 

„Wo warst du bloß vor achtzehn Jahren? Ich hätte dich da gut brauchen können.“ Mandarin flüsterte die Worte nur, aber April verstand und nickte ihr aufmunternd zu. Dann faltete sie die Hände auf dem Tisch und beobachtete die Reaktion bei den anderen Anwesenden.

Jeder wirkte einigermaßen geschockt und bis in die Grundfeste aufgerüttelt, einzig König Roland schienen die Worte nicht sonderlich überrascht zu haben.

Jarrd räusperte sich schließlich und fuhr sich mit der Hand über den Bart.

„Deine Worte sind nicht von der Hand zu weisen und ich war damals an der ganzen Geschichte genauso beteiligt, wie dein Vater, April“, sagte er schließlich in die gespannte Stille hinein. „Nur, selbst wenn wir da mitgehen und die Schuldfrage übernehmen, das ist immer noch keine Lösung für die Zukunft des Jungen.“

„Richtig, ich wollte nur klarstellen, dass das Oberkommando zusammen mit Ihnen, Sir, damals die Verantwortung für das Wohl von Jesse Junior übernommen hat. Heute sind wir das Oberkommando und wir können uns meiner Meinung nach aus dieser Verantwortung nicht einfach herausreden, nur weil viele Fehler passiert sind. Die Folge dieser Fehler ist, dass der Junge nicht unbeschwert und glücklich, sondern in den Händen der Outrider aufgewachsen ist. Er wurde sein ganzes Leben lang mit Lügen gefüttert und wir sind jetzt in der Schuldigkeit ihm zu beweisen, dass er in unserer Dimension gewollt war. Dass er um seiner Sicherheit Willen bei Menschen aufwachsen sollte, die ihn ohne Wenn und Aber geliebt hätten.

Diese Menschen sind tot, aber ich denke, hier gibt es dennoch einige im Raum, die sich vorstellen könnten, den Versuch zu wagen, eine Beziehung zu ihm aufzubauen und ihm dabei helfen, ein neues Leben anzufangen.“

Mandarin nickte langsam. „Ich will ihn kennenlernen“, bestätigte sie. „Meine Eltern genauso. Er mag aussehen wie Jesse, aber er ist mein Sohn. Vielleicht war es meine Hälfte der Gene, die dafür verantwortlich waren, dass er mich freigelassen hat und auch, dass er uns Jean-Claudes Pläne in die Hände gespielt hat. Das Leben war bisher nicht fair zu ihm. Ich will, dass sich das ändert.“

Ihre Stimme klang fest und sie warf Fireball einen kurzen Blick zu. Vielleicht verspielte sie ihr privates Glück, aber sie würde sich ihr Kind nicht ein zweites Mal wegnehmen lassen. Fireball hatte die Lippen fest zusammengepresst und die Augen auf die Tischplatte gerichtet. Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort und man konnte die Gedanken in seinem Kopf beinahe rattern hören.

„April hat Recht.“ Zum grenzenlosen Erstaunen aller am Tisch nickte er in ihre Richtung. „Das klärt aber immer noch nicht, was nun aus ihm werden soll.“

Colt stöhnte auf und rollte mit den Augen. „Mensch, wenn man das so betrachtet, dann bekommt man ja direkt ein schlechtes Gewissen dem kleinen Verbrecher gegenüber“, murmelte er. „Wie soll ich ihn mit dem Gedanken im Hinterkopf denn nun noch ohne schlechtes Gewissen vor ein Gericht zerren?“ Er beugte sich über den Tisch. „Und trotzdem will ich ihn nicht in der Nähe meiner Familie wissen. Will fasst endlich wieder Vertrauen und jammert abends nicht mehr nur nach Robin, wenn er über Nacht bei mir bleiben soll. Ich will und ich werde den Burschen nicht in seiner Nähe dulden.“ Seine blauen Augen funkelten, als er von Mandarin zu April sah.

April lächelte schwach. „Keiner verlangt das von dir, Colt“, erwiderte sie ruhig. „Ich möchte nur, dass wir dem Jungen eine Chance geben. Er soll wissen, dass das Kavallerie-Oberkommando sich seiner Fehler bewusst ist und dass wir ihm wirklich helfen wollen.“

Ihre Worte wirkten, alle Anwesenden mit Ausnahme von Mandarin waren auf einmal sehr nachdenklich. Die rothaarige Frau wartete hoffnungsvoll, was nun kommen würde. Mit ineinander verschlungenen Händen saß sie auf ihrem Platz und wagte nicht, irgendjemanden bestimmten anzusehen.

„Ich nehme an, du hast auch schon einen Plan, wie es mit Jesse Junior Blue weitergehen soll?“, erkundigte sich Jarrd nach einer kurzen Pause.

April nickte. „Stimmt Hoheit. Als erstes will er den Nachnamen seiner Mutter annehmen.“ Mandarin schluckte und riss die Augen auf, denn, obwohl sie ihren Sohn mehrfach besucht hatte, war diese Ankündigung auch für sie neu. „Das war sein Wunsch. Er wird es dir bestimmt noch erklären.“ Dann sah sie auffordernd zu König Roland hinüber und dieser verstand.

„Nun, isch abe lange darüber nachgedacht und ich denke, wir sind uns alle einisch, dass er bestraft ge´ört“, begann er und Colt brummte zustimmend, während Fireball nur langsam nickte und seine Augen jedoch nicht von Mandarin lassen konnte.

„Isch würde ihn, sofern seine Maman und ihr damit einverstanden seid, mit nach Jarr nehm´en und dort wird er für eine Zeit unter 'ausarrest gestellt. Wir ´aben ein neues Kranken'aus in Verbindung mit einer Re'abilitationsklinik aufgebaut. Isch denke, es ist gut für ihn, wenn er dort arbeitet und so den Menschen ´ilft, die bei den Angriffen auf Yuma-City und den anderen Überfällen verletzt worden sind. Des Weiteren soll er außer‘alb seiner Arbeitszeiten eine vernünftige Schule besuchen und seine Wissensdefizite in vielen Dingen be´eben. Es ge´ört mehr zum Erwachsenwerden, als ein guter Schütze und Taktiker zu sein. Wenn der Junge dem Königreisch anvertraut würde, dann würde isch persönlisch Sorge tragen, dass begangene Fehler möglischerweise wieder gut gemacht werden können.“

April lehnte sich zufrieden zurück. „Was sagt ihr?“

„Von welchem Zeitraum reden wir hier?“, erkundigte sich Colt neugierig. „Ein Monat? Zwei? Jahre? Bis zur Rente? Wie lange soll das dauern?“

König Roland nickte zustimmend. „Eine gute Frage. April und isch 'aben uns im Vorfeld auch darüber Gedanken gemacht und wir meinen, dass er bis zur Vollendung seines fünfundzwanzigsten Lebensjahres unter Aufsischt und strenger Kontrolle bleiben sollte.“

„Das sind über sieben Jahre!“, entfuhr es Mandarin. „Er wird in einigen Monaten gerade mal achtzehn.“

„Du solltest nicht vergessen, dass die Strafe im Normalfall lebenslängliches Gefängnis wäre“, wandte sich Fireball an die Frau, die er liebte. „Mit sieben Jahren Arbeit und Lernen wäre er eigentlich gut bedient. Wobei so ein Pensum, wie euch vorschwebt vermutlich für einen Teenager in seinem Alter auch nicht unbedingt erstrebenswert ist.“

„Es soll ja auch eine Strafe sein“, lächelte April milde. „Aber so eine, dass er in einigen Jahren von vorn anfangen kann. Er wird nie eine Arbeit im Oberkommando oder in einem Sicherheitsunternehmen erhalten dürfen und ich tendiere auch dazu, ihm dem Umgang mit Schusswaffen oder überhaupt Waffen jeglicher Art zu untersagen, aber er könnte einen Beruf erlernen. Vielleicht findet er sogar Gefallen an dem, was wir ihm aufgeben, tritt in die Fußstapfen seiner Mutter und wird Arzt. Das Ende ist offen, aber er hätte eine Perspektive.“

„Weiß er es schon?“, wollte Fireball erfahren, aber April schüttelte den Kopf.

„Es macht keinen Sinn, ihm Hoffnung zu machen, wenn ihr am Ende nicht zustimmt“, erwiderte sie. „Er wurde schon zu oft enttäuscht.“ Mandarin nickte unwillkürlich und sah dann von einem zum anderen. „Ich bin dafür, aber ich bin parteiisch.“

Colt brummte vor sich hin, dann aber sah er auf. „Ich stimme ebenfalls zu, aber ich hätte noch eine Bedingung. Ich will, dass er mittels eines Ortungsimplantates überwacht wird und dass sein Bewegungsradius eingegrenzt wird. Verstößt er dagegen, dann war es das für ihn und er wird aus dem Verkehr gezogen“, bestimmte er. „Wird das nicht, dann werde ich meine Zustimmung umgehend zurückziehen.“

Roland zog die Stirn in Falten, sah aber dann zu seiner Nachbarin. „Isch wär‘e damit ebenfalls einverstand‘en, aber diese Entscheidung kannst nur du treff‘en. Er ist noch keine einundswanzig Jahre alt und du bist die Mutt‘er, also damit die Erzieh'ungsbereschtigte.“

Mandarin und Colt maßen sich mit Blicken, dann nickte sie. „Ich werde mit ihm sprechen. Hier handelt es sich um einen geringfügigen, medizinischen Eingriff und solange er kein rechtsgültig verurteilter Straftäter ist, hat er bei so einer Entscheidung ein Mitspracherecht.“

„Nein, ich rede mit ihm“, bestimmte dann Fireball sehr zum Erstaunen aller. „Du bist zu gefühlsbetont und nach allem, wie sich eure Beziehung zueinander entwickelt hat, wäre es nicht gut, wenn du ihm sein Strafmaß verkündest. Ich werde ihm seine Optionen vor Augen führen und dann werden wir ja sehen, was ihm lieber ist. Gesiebte Luft oder Bettpfannen leeren.“
 

*****
 

„Das ist inakzeptabel!“

Fireball, der JJ in einem kleinen Besprechungszimmer am Konferenztisch gegenüber saß, seufzte innerlich. Gerade eben hatte er ihm die ihm gebotenen Möglichkeiten offenbart und der Junge lehnte einfach ab.

„Und was genau gefällt dir an der Tatsache nicht, dass wir dir anbieten, dich nicht lebenslänglich ins Gefängnis zu stecken?“, erkundigte sich der Commander der Kavallerie mit spöttischem Unterton.

JJ kniff die Augen zusammen. „Ich hab euch geholfen, ich habe euch Jean-Claudes Pläne verraten und meinetwegen liegen nicht noch mehr eurer Städte in Schutt und Asche“, stellte der junge Mann fest. „Meinetwegen führt ihr jetzt Verhandlungen mit der neuen, zivilen Regierung der Phantomzonenbewohner und das Militärregime ist gestürzt.“ Er lehnte sich nach vorn und musterte Fireball mit einem so störrischen Blick, wie dieser ihn eigentlich nur von Mandarin kannte.

‚Sieh an, doch nicht nur Jesse‘, dachte der ehemalige Rennfahrer völlig überrascht und er fragte sich, was er noch so von seiner Mutter geerbt hatte.

„Ich sehe ja ein, dass ich schuldig bin, obwohl ich bei keinem der Angriffe dabei gewesen bin“, sprach JJ weiter. „Aber sieben Jahre lang einen Chip rumtragen und Verbände wechseln? Ich bin ein Kämpfer und außerdem will ich helfen. Die Phantomwesen brauchen genauso Hilfe und sie zählen auf mich.“

Fireball nickte nachdenklich. Das wurde schwerer als erwartet, aber das Oberkommando war nicht gewillt, den Jungen zurück in die Phantomzone zu lassen, auch wenn sie sich mitten in ersten Friedensgesprächen befanden und die Outrider einen durchaus aufgeschlossenen Eindruck machten.

„Und was hast du dir vorgestellt? Wie könnte deiner Meinung nach die Strafe für das Planen und Durchführen eurer bösartigen und mordenden Aktionen sein?“, wollte er wissen.

„Naja… ich dachte,… so ein oder zwei Jahre Aufenthalt in einem Arbeitslager oder in einer Mine würde ich doch angemessen finden. Und wenn dann niemand ist, der mich auslöst, die Verbannung in den Clan ohne Namen.“ Der Vorschlag des Jungen kam so zögerlich, dass Fireball klar wurde, dass er dies zwar eigentlich nicht wollte, aber ein Aufenthalt in einem Arbeitslager und die anschließende Verbannung für ihn eine Art Höchststrafe darstellte.

Er atmete tief durch. „Wozu soll das gut sein?“

„Na, als Strafe und disziplinarische Maßnahme. Darauf kommt es doch an.“ JJ runzelte die Stirn. „Oder etwa nicht?“

„Es gibt bei uns keine Arbeitslager und die Kumpel arbeiten alle freiwillig in den Minen im Grenzland, weil man den Beruf des Bergarbeiters erst erlernen muss.“

JJ riss ungläubig die Augen auf. „Keine Lager und keine Minen? Was macht ihr mit euren Gefangenen?“

„Sie werden zu einer Strafe verurteilt und verbringen diese in Gefängnissen. In Zellen, Räume, wie du in einem untergebracht bist. Entweder Einzelhaft oder zwei bis vier Menschen teilen sich eine Zelle. Je nachdem, wie sich die Häftlinge führen, besteht bei einigen auch die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung.“

„Erstaunlich.“ JJ brauchte einige Sekunden, um diese Informationen sacken zu lassen. „Und was machen sie, um ihre Taten zu bereuen? Ich meine, in diesen Zellen rumzusitzen ist ja beinahe wie Urlaub. Man bekommt Nahrung, Wasser und einmal am Tag Freigang. Das ist doch keine Strafe.“

„Doch, ich denke schon. Man verliert seine Freiheit und das oft für lange Zeit. Außerdem müssen die Häftlinge ebenfalls arbeiten. Manche Gefängnisse haben Wäschereien oder Großküchen, welche dann umliegende Institutionen beliefern. Wie handhaben die Outrider das?“ Fireball hatte eigentlich nicht vorgehabt, sich auf großartige Diskussionen einzulassen, aber diese Unterhaltung war eine der seltsamsten, die er bisher geführt hatte und sie faszinierte ihn.

„Die Phantomwesen“, korrigierte ihn JJ gedankenverloren. „Gefangene wurden in Minen gebracht, wo sie wichtige Erze und Mineralien abbauen mussten. Das ist körperlich sehr harte Arbeit und während der Arbeit können sie noch darüber nachdenken, was sie für Fehler gemacht haben und wie ihr Verhalten für die Zukunft werden soll. Zellen sind eher etwas für Geiseln oder für Befragungen, für Phantomwesen, über die noch nicht endgültig entschieden wurde. Ist das Urteil gefallen, dann kommt man unverzüglich in das zugeteilte Lager.“

„Das ist barbarisch“, stellte Fireball fest.

„Aber wirkungsvoll“, erwiderte der junge Mann. „Danach wissen sie die Regeln und die meisten halten sich daran.“

„Weil ihr Willen gebrochen wurde.“ Fireball konnte kaum glauben, über was er sich gerade unterhielt. „Was passiert nach ihrer Zeit in den Lagern mit ihnen? Werden sie aus der Gesellschaft verbannt?“

„Die Clane kaufen sich ihre Leute meistens zurück.“ JJ zuckte die Achseln. „Es kommt auf die Art des Vergehens an. Schande oder Unehre sind natürlich schwer wieder gut zu machende Taten und nicht alle Clane wollen diese Angehörigen wiederhaben, aber in der Überzahl der Fälle werden ehemalige Gefangene erneut in die Gesamtheit des Clans integriert, fangen allerdings auf der untersten Stufe wieder an. Manche bleiben dann auch ein Leben lang auf dieser. Wie gesagt, das kommt auf die Schwere der Tat an.“

„Und die, welche nicht wieder in die Clane aufgenommen werden?“ Fireball hatte keine Ahnung über was der Junge sprach oder wie die Outrider untereinander lebten, aber so offen hatte vermutlich noch nie ein Mensch etwas über die Organisation innerhalb der Outriderzivilisation erfahren.

„Es gibt Kolonien, Strafkolonien“, gab JJ zu und lehnte sich unwillig zurück. „Diese Subjekte werden dahin gebracht, mit Grundnahrungsmitteln ausgestattet und dann müssen sie sehen, wie sie klar kommen. Sie können da einen eigenen Clan gründen oder sich untereinander bekämpfen. Solange sie die öffentliche Ordnung nicht angreifen und auch keinem anderen Clan irgendwie Schaden zufügen, sieht die Regierung keinen Grund, einzugreifen.“

„Und sie haben keine Chance, sich jemals wieder richtig in die Gesellschaft zu integrieren“, stellte der Commander fest.

„Nein, wie auch.“ JJ zuckte erneut die Achseln. „Die Entscheidung, jemanden in die Kolonien zu verbannen, wird nicht leichtfertig getroffen. Die Familien beraten lange und in den meisten Fällen werden die Leute ja wie gesagt zurückgeholt. Der Clan geht in der Phantomzone über alles, nur die Regierung hat noch das Recht, in die vom Clan erlassene Ordnung einzugreifen.“

„Du hast gesagt, zurück gekauft“, stellte Fireball fest.

„Sicher, sie zahlen ein Bußgeld an die Regierung. Immerhin sind es ja Familienmitglieder, die Unrecht begangen haben, nicht wahr? Davon werden die Minen und Lager unterhalten und was übrig bleibt, fließt dem Gemeinwohl zu.“

Fireball schwieg nachdenklich.
 

„Was ist mit Schulen? Habt ihr so etwas?“, wollte er dann wissen. „Wer entscheidet, was gelernt wird?“

„Natürlich haben wir das in der Phantomzone. Das ist eines der Gesetze der Regierung. Die Anzahl der Mitglieder eines Clans legt fest, wie viele Kinder in die Schule geschickt werden müssen, aber meistens wollen die Eltern von selbst, dass ihre Kinder gebildet sind. Man muss doch Lesen, Rechnen und einige Naturwissenschaften kennen, sonst kann man keine Raumgleiter fliegen, Häuser bauen oder sich der Wissenschaft verschreiben.“ JJ sah den ehemaligen Rennfahrer an. „Sonst noch Fragen?“, aber Fireball schüttelte den Kopf. Sie kamen zu weit vom Thema ab, aber wenigstens in Sachen Schulbildung stimmten sie mit den Gebräuchen im Neuen Grenzland überein.

„Wir möchten gern, dass du hier auch die Schulbank drückst und so mehr über das Neue Grenzland erfährst.“ Fireball lehnte sich nach vorn und schenkte seinem Gegenüber einen intensiven Blick. „Nur Mathe und Outridersprache reicht nicht. Geschichte ist wichtig. Die Fehler aus der Vergangenheit erfahren, begreifen und es besser machen. Wie hat sich die Menschheit entwickelt? Außerdem solltest du mehr über soziale Gefüge und das Rechtssystem hier erlernen, mehr über unsere Technik, Sprachen, die geologischen Gegebenheiten.“

„Ich hab keinen Bock auf Schule“, maulte der Junge typisch teenagermäßig. „Erst lernen, dann arbeiten und das jeden Tag. Da kann ich genauso gut gleich arbeiten und in der Phantomzone beim Wiederaufbau einer funktionierenden Gesellschaft helfen.“

„Deine Mutter kann drei verschiedene Sprachen fließend sprechen und schreiben.“ Fireball unterdrückte ein Grinsen angesichts des erstaunten Ausdrucks im Antlitz des Jungen. „Und außerdem, du kannst unsere Sprache sprechen, das können alle Outrider, aber kannst du sie auch schreiben und lesen?“ Erstaunen verwandelte sich in Verblüffung und dann in Unmut, als JJ schließlich den Kopf schüttelte. „Na also, aber bei uns kann fast niemand die Outridersprache. Wir könnten also viel voneinander lernen.“

„Was denn zum Beispiel?“

Fireball musste lachen. „Du hast keine Ahnung, wie gern unsere Historiker dich in die Hände bekommen würden. Die Geschichte der Outrider ist seit Commander Eagles Entführung vor vielen Jahren ein heiß diskutiertes Thema. Wusstest du, dass einige der Meinung sind, das Menschen und Outrider gemeinsame Vorfahren haben?“

„Wegen der Moai-Köpfe“, stellte der Junge nickend fest. „Ich habe davon gehört.“

„Und vielleicht weißt du mehr darüber?“

Abwehrend hob JJ die Hände. „Oh nein, keine Chance! Ich werde dir oder irgendwelchen Wissenschaftlern nichts ohne Zustimmung der Clane erzählen. Das ist nicht meine Angelegenheit. Die Ältesten der Clane werden vermutlich darüber entscheiden, wie viele Informationen sie preisgeben oder auch nicht.“

Fireball nickte enttäuscht, aber nicht unzufrieden. Er musste die Hierarchie der Outrider akzeptieren, obwohl er schon neugierig war, ob an den Gerüchten über gemeinsame Vorfahren etwas dran sein könnte.
 

„Was ist mit dir und meiner Mutter?“

Dieser unvermittelte Themenwechsel verwirrte den ehemaligen Rennfahrer völlig und er spürte, wie ihm bei der Erwähnung ihres Namens warm wurde. „Was soll mit ihr sein?“

JJ schüttelte leicht den Kopf. „Ihr macht es aber auch spannend“, kommentierte er. „Du weißt, dass sie gewisse Gefühle für dich hat und du für sie auch, sonst hättest du nicht so einen roten Gemüsekopf.“, stellte er dann fest. „Aber, du kannst mich nicht ausstehen und sie will den Kontakt zu mir aufrechterhalten und daran scheitert es mal wieder, richtig?“

„Du bist der Sohn deines Vaters.“ Fireballs Antwort war schleppend. Der Junge brachte die Dinge auf den Punkt, oder doch nicht? Die letzte Stunde lang hatten sie sich ruhig miteinander unterhalten, keine Spur von Feindseligkeit. Vielleicht war er ja doch nicht wie Jesse? Fireball spürte, wie er unsicher wurde. Konnte es sein, dass er damals falsch gelegen hatte und immer noch falsch lag? Nicht nur das Aussehen machte den Menschen aus, sondern der Charakter und die Erziehung und wenn er sich nicht rundweg geweigert hätte, den Gedanken auch nur in Betracht zu ziehen, das Kind zu suchen und Kontakt aufzunehmen, dann…

Er schluckte hart. Vielleicht hätte aus dem Bengel ja doch etwas Anständiges werden können? „Du siehst zumindest so aus wie er“, ergänzte er lahm.

„Ich habe ihn nie kennengelernt, nur Fotos gesehen und einen Haufen Lügen über ihn gehört“, stellte JJ lapidar fest. „Ich weiß nicht einmal, ob ich ihn gemocht hätte oder nicht. Wieso bilden sich alle ein Urteil über mich nur aufgrund meiner Abstammung und meines Aussehens?“

Die Frage saß und Fireball sah ihn überrumpelt an.

„Du magst Mandarin, sie dich leider ebenfalls. Ich will den Kontakt zu ihr und obwohl ich dich nicht besonders mag und sicher bin, dass sie was Besseres finden würde, ich wäre bereit, dich in ihrem Leben zu akzeptieren. Wieso kannst du das nicht andersrum genauso?“, fragte dieser unbarmherzig weiter. „Diese Haltung macht euch beide fertig, da ist es vielleicht ganz klug, wenn sie mit mir weg zieht, auch wenn sie, glaube ich, ihre Arbeit hier sehr mag und gern bleiben würde.“

„Und du bist genauso direkt wie Jesse.“ Fireball fehlten die Worte. Was sollte er auch auf diese treffenden Feststellungen des Teenagers erwidern?

Er liebte Mandarin immer noch und jetzt, wo sie wieder Teil seiner Gegenwart und seines Lebens war, wollte er sie nicht mehr aufgeben. Dass auch sie ihn mochte fühlte er. Würde sie ihm erneut eine Chance geben und war er selbst in der Lage, JJ eine Chance zu geben?
 

„Ich will einen Deal!“

Der Satz riss Fireball aus seinen Gedanken. „Was?“ Wo hatte er das denn her? „Da gibt’s nichts zu dealen. Du wirst das, was wir beschlossen haben, akzeptieren müssen oder du wanderst in den Knast, auch wenn mich deine Mutter dafür vermutlich massakrieren wird.“

„Oder, aber das ist nur mein Plan, bei erster Gelegenheit werde ich mir einen Gleiter schnappen und in die Phantomzone verduften“, stellte JJ fest. „Und dort findet ihr mich nie.“

Damit hatte er wohl Recht. „Dann ist es vielleicht gleich besser, wir stecken dich ins Gefängnis und du atmest gesiebte Luft, bis du alt und grau bist, oder?“ Die entspannte Atmosphäre drohte zu kippen. Er, Commander der Kavallerie, ließ sich doch von diesem Bürschchen nicht erpressen.

„Jetzt hör dir meinen Vorschlag doch erst einmal an“, meinte besagtes Bürschchen da auch schon besänftigend und sah ihn mit zur Seite geneigtem Kopf an.

Fireball kniff die Augen zusammen und schwankte zwischen Ärger und Belustigung. Wieder was, was er von Mandarin hatte. Erstmal rausplatzen und dann, wenn die Stimmung bedrohlich wurde, einlenken und er legte sogar den Kopf schief wie sie, wenn sie was wollte. Bei ihr hatte er früher schon schwer widerstehen können und dann erbte der Bengel ausgerechnet das von seiner Mutter.

„Na gut, aber nicht, dass es irgendetwas ändern würde“, brachte er schließlich zähneknirschend hervor und gratulierte sich im Stillen, dass nicht Colt darauf bestanden hatte, dieses Gespräch zu führen, sondern er.

„Ich bleibe und ich werde den größten Teil der von euch ausgedachten Strafe akzeptieren.“

„Wie großzügig“, murmelte Fireball, was ein ironisches Grinsen seitens des Jungen hervorrief. „Dann mal das Aber.“

„Aber, kein Chip. Mein Wort muss reichen, ich werde nicht versuchen zu fliehen.“ Fireball sagte kein Wort, hörte ihm aber ruhig zu. „Ich arbeite in diesem Zentrum für Rehabilitation und ich denke, ich werde auch noch ein wenig in die Schule gehen. Mandarin sollte hier wohnen bleiben, damit ihr beide euch vielleicht zusammentun könnt. Außerdem wird sie im Oberkommando gebraucht. Wir haben dem Neuen Grenzland viel Schaden angerichtet und es gibt bestimmt viel zu tun.“

Fireball richtete sich verblüfft auf. „Und was hast du davon? Ich meine, sie will bei dir sein, deswegen zieht sie den Umzug auch in Betracht.“ Der Junge bot von sich aus ganz neue Möglichkeiten.

„Ich bleibe in ihrer Welt und ich will sie kennenlernen, Zeit mit ihr verbringen. Aber ich bin kein Baby mehr und ich glaube, ich werde gar nicht so viel Zeit für sie haben. Außerdem ziehen ihre Eltern ja mit um und ich hätte dort jemanden.“

Das klang vernünftig, beinahe erwachsen. Aber er war Jesses Sohn und deswegen traute Fireball dem Frieden nicht, ganz und gar nicht. „Die Frage, was du davon hast, hast du mir aber noch nicht beantwortet.“

„Ich möchte nicht an dieses Königreich angebunden sein, sondern meine Mutter auch besuchen dürfen. Außerdem würde ich mir gerne das Neue Grenzland anschauen und das, was ich in der Schule theoretisch lerne, auch praktisch erleben.“ Er bemerkte Fireballs Blick und sein Mund verzog sich spöttisch. „Angst vor Spionage und Verrat?“ Am schuldbewussten Blick des Commanders erkannte er, dass er nicht falsch gelegen hatte. „Nicht von Anfang an, sondern ich werde mich gut führen und dann gibt’s Zugeständnisse von eurer Seite. Mandarin kann mich jederzeit und so oft sie will besuchen und ich werde auf keinen Fall in einem Heim oder ähnlicher Einrichtung wohnen. Außerdem werde ich nie im Leben darin einwilligen, nie wieder eine Waffe zu tragen. Man kann die Zukunft nicht vorhersagen, alles was ich versprechen kann ist, dass ich keine bösen Absichten gegen irgendjemanden hier mehr hege und mich zusammenreißen werde.“

Fireball blieb auf der Hut. „So einfach kann ich dem nicht zustimmen, aber ich rede noch einmal mit allen“, nickte er schließlich. „Was du da sagst klingt nicht unvernünftig, aber wie gesagt, wir trauen dir nicht sonderlich.“

„Ich euch auch nicht, aber ich arbeite daran. Nicht mehr und nicht weniger verlange ich andersherum auch.“

Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und wagte ein vorsichtiges, lausbubenhaftes Grinsen in Fireballs Richtung. „Besser, Sie gewöhnen sich an mich, Sir, oder soll ich Papa zu Ihnen sagen?“
 

*****
 

Nur eine kurze Sequenz, die für die Handlung selbst eigentlich nicht gebraucht wird, aber unbedingt geschrieben werden wollte:
 

„JJ, pass auf der Ball!“

Will sah bedauernd dem Spielzeug hinterher, welches gerade in hohem Bogen über die Sträucher und dem darin verborgenen Zaun rund um Fireballs Grundstück flog.

„Los komm', wir holen ihn!“

Er rannte los noch ehe der Ältere ihn stoppen konnte.

Am Tor musste er stehen bleiben, denn er durfte nicht allein auf die Straße laufen. Eine Regel, die sein Vater bei Verstößen unerbittlich mit Hausarrest ahndete. „Da, ich sehe ihn!“ Aufgeregt wies er mit dem Finger auf dem Ball, welcher auf der Wiese der anderen Straßenseite lag. „Du kannst ihn holen, JJ. Na los, dann können wir endlich weiterspielen!“

Bedauernd schüttelte der blauhaarige Junge den Kopf. „Tut mir leid, Kleiner, ich darf auch nicht weiter als bis hierher.“ Er rieb sich unbehaglich mit der Hand über den linken Oberarm und meinte, den implantierten Chip zu spüren, welcher ihm das Verlassen von Fireballs Grundstück untersagte.

„Holen wir deinen Dad oder Fireball.“

Ohne auf die verwirrten Blicke des Jungen zu achten, wandte er sich ab und ging mit langsamen, schweren Schritten auf das Haus zu.
 

Colt und Fireball saßen entspannt im Wohnzimmer und unterhielten sich über Belanglosigkeiten, als auf einmal Will hereinstürmte. „Dad!“

Colt sprang auf, wie von der Tarantel gestochen und fing seinen Junior ab. „Ist was passiert?“ Mit wildem Blick maß er JJ, welcher nun ebenfalls in der Tür erschien. „Was has… habt ihr angestellt?“

JJ wusste genau, was der Cowboy hatte sagen wollen und hob stolz und eigensinnig den Kopf. „Ich? Nichts, Sir!“

„Du musst den Ball holen, er ist auf die Straße gerollt und JJ holt ihn einfach nicht“, beschwerte sich der Kleinere.

Colt sah erst verwirrt von einem zum anderen, aber dann verstand er und nickte. „Na dann los, mein Großer. Retten wir euren Vormittag!“

Während Vater und Sohn gemeinsam nach draußen gingen, blieb JJ abwartend stehen und sah Fireball an. „Ich möchte es ihm erklären.“

Fireball runzelte die Stirn. Mandarin Zuliebe hatte er versucht, seine Abneigung und Skepsis dem Jungen gegenüber zu unterdrücken und je besser er ihn kennengelernt hatte, desto weniger schwer fiel es ihm. Außerdem lebte er zum größten Teil sowieso bei seinen Großeltern im Königreich Jarr. Colt dagegen machte aus seiner Abneigung keinen Hehl und war strikt dagegen, dass sein Sohn die Wahrheit über JJ und dessen Vergangenheit erfuhr.

„Du weißt, dass er danach möglicherweise nie wieder mit dir sprechen wird?“, fragte er nach und JJ nickte. „Das Risiko muss ich wohl eingehen. Du hast ihn doch gerade gesehen. Er versteht, warum er nicht hinaus darf, wieso ich dagegen das Grundstück nicht verlassen kann, kann er nicht nachvollziehen. So sehr ich seine Freundschaft auch genieße, er hat ein Recht auf die Wahrheit.“

Fireball nickte. „Gut, ich werde mit Colt reden. Ohne sein Einverständnis kannst du es dem Kleinen nicht einfach erzählen“, entschied er. „Wenn Colt zustimmt, was ich wirklich bezweifle, dann kannst du es ihm sagen.“

„Bitte, versuch ihn zu überzeugen. Es wäre mir wirklich wichtig“ JJ atmete tief durch, nickte Fireball noch einmal zu und verschwand mit einem gemurmelten „Danke“ wieder nach draußen.
 

Unterdessen hatte der ehemalige Starsheriff den Ball wieder ins Grundstück gerettet und schoss ihn gerade kraftvoll mit dem Fuß auf die Wiese hinter dem Haus, als JJ wieder ins Freie trat.

„So, jetzt könnt ihr wieder! Aber passt auf, es ist ja nicht so, als wäre hier nicht genügend Platz zum Fußballspielen.“ Er warf einen Blick über das weitläufige Grundstück hinter dem Haus, zerzauste seinem Sohn noch einmal liebevoll das Haar und wandte sich dann wieder ab. JJ sah dem Cowboy fest in die Augen, als dieser an ihm vorbeilief und Colt erwiderte den Augenkontakt. Dann trat der ehemalige Scharfschütze ins Haus. JJ’s angespannte Haltung fiel in sich zusammen wie ein nasser Sack und er trottete deprimiert zu Will, der wartend auf dem Rasen stand.

Beide Jungen liefen langsam in Richtung des Balls auf der Wiese, aber die ausgelassene Spielstimmung war dahin. Will warf ihm von der Seite her immer wieder fragende Blicke zu, während JJ mit den Gedanken bei Fireball und Colt und dem, was der Rennfahrer seinem Freund gleich fragen würde, war.

Lustlos kickten die beiden den Ball noch einige Male hin und her und waren froh, als Mandarin sie zum Essen herein rief.
 

Der Schmorbraten roch köstlich, aber die Stimmung blieb angespannt. Fragend sah Mandarin zu ihrem Lebensgefährten, welcher sein Fleisch von einem Tellerrand zum anderen schob. Colt war auch nicht viel besser und die Jungen hatten ihr Essen so gut wie gar nicht angerührt.

„Mir reicht's! Wieso stell ich mich eigentlich den halben Vormittag in die Küche und zaubere, wenn die Herren ja offenbar gar keinen Hunger haben?“, grollte sie und musterte jeden Anwesenden mit finsterer Miene. „Oder gibt es etwas, was ich nicht mitbekommen habe?“

JJ warf die Gabel auf den Teller. „Tut mir leid, Mum, ich hab einfach keinen Hunger.“

Mandarin verschränkte abwartend die Arme. „Dabei ist das dein Lieblingsessen“, stellte sie fest. „Also, was ist hier los? Colt? Fireball?“

Die Männer tauschten einen langen Blick, dann nickte Colt.

„Du hast Recht, Mandy, wir müssen hier was klären“, beschloss der Cowboy und sah JJ an. „Du darfst, aber ich warne dich, ein falsches Wort und ich gehe dazwischen.“ JJ kniff seinerseits die Augen zusammen und nickte dann.

„Colt!“ Fireball sah seinen Freund mahnend an, dann nahm er Mandarins Hand. „Das mit dem Essen wird so nichts, Liebling. Gehen wir ins Wohnzimmer, wir sollten reden.“

Völlig verwirrt begann sie sich jetzt jedoch ernsthaft Sorgen zu machen. „Was ist hier los?“, verlangte sie zu erfahren.
 

Sie verließen die Küche und alle, bis auf JJ setzten sich.

„Will, ich muss dir da was erklären“, begann er leise und Colts Sohn nickte auf einmal. „Warum du nie über dich redest und wieso du vorhin stehen geblieben bist“, stellte er nachdrücklich fest und erntete erstaunte Blicke. „Ich bin ja nicht blöde, auch wenn Daddy mich manchmal wie ein Kleinkind behandelt.“

Fireball konnte trotz der ernsten Situation ein Grinsen nicht unterdrücken. „Ganz der Vater. Will, das was JJ dir gleich erzählen wird, ist bestimmt nicht einfach zu verstehen und wenn du Fragen hast, dann kannst du sie uns jederzeit stellen“, sah er Colts Sohn dann an.

„Und wenn es dir zu viel wird, kannst du das Ganze jederzeit beenden“, mischte sich sein Vater mit angespannter Stimme ein.

Mandarin, welche nun wusste, worauf das hinauslaufen würde, sah von einem zum anderen. Sie waren doch übereingekommen, noch zu warten, ehe Will die Wahrheit erfahren würde.

„Ich wollte es so, Mum, und ich bin froh, dass Commander Willcox sein Okay gegeben hat.“ JJ atmete noch einmal tief durch.

„Können wir dann bitte endlich?“, unterbrach Colts Sohn neugierig und ungeduldig das Drumherum. Erwachsene machten es aber auch immer spannend. „Wieso erzählst du nie etwas über dich und wieso bist du vorhin stehen geblieben und wieso können wir nicht mal in den Wald oder ein Stück Fahrrad fahren?“, drängelte Colts Sohn.

„Weil ich unter Hausarrest stehe“, seufzte JJ und Will riss die Augen auf. „Hausarrest? So wie ich bekomme, wenn ich eine der Regeln gebrochen habe oder in der Schule mal wieder zu faul war, etwas zu lernen?“, fragte er nach und JJ nickte. „So in etwa“, stimmte er zu.

„Und? Was hast du ausgefressen? Und wie lange hast du noch Hausarrest?“

„Noch sechs Jahre und ein paar Wochen.“ Diese Zeitspanne entlockte Colts Sohn ein ungläubiges „Was?“, aber JJ sprach weiter. „Du weißt ja, dass ich nur hin und wieder hier zu Besuch bin, weil ich ansonsten in Jarr lebe“, begann er. „Aber das war nicht immer so. Früher habe ich in der Phantomzone bei den Outridern gelebt.“ Er machte eine kurze Pause und sah Will aufmerksam an.

„Die Outrider.“ Der Kleinere verzog den Mund. „Hast du gewusst, dass sie mein Zuhause zerstört haben? Und das sie mich beinahe getötet hätten? Und meinen Dad? Sie sind böse!“ Zorn hatte sich in die blauen Kinderaugen geschlichen und JJ nickte.

„Nicht alle Outrider sind so. Aber ich wusste von den Angriffen und früher war ich ebenfalls böse und wollte den Menschen und dieser Dimension schaden.“

„Was? Aber warum? Wir haben dir nie etwas getan!“ Colts Sohn fiel aus allen Wolken. Sein bester Freund stand vor ihm und dennoch war er auf einmal nicht mehr der gleiche Junge wie noch fünf Minuten zuvor.

„Bitte, hör einfach weiter zu, okay?“ JJ schloss die Augen und sammelte seine Gedanken, ehe er fortfuhr. „Mandarin, meine Mum, hatte mich weggegeben, um mir ein besseres Leben zu ermöglichen. Leider ging ein bisschen was schief und ich bin in der Phantomzone gelandet. Dort hatte ich einen Freund, der sich um mich gekümmert hat und mich großzog. Er hat mir lauter Sachen erzählt, die ich ihm geglaubt habe.“

„Was für Sachen?“ Will sah ihn angespannt an.

„Dass die Menschen böse sind und die Outrider vernichten wollen. Dass sie den Krieg begonnen haben und dass sie unseren Anführer getötet haben.“

„Aber das stimmt so doch gar nicht!“ Will war erregt aufgesprungen und Colts Haltung spannte sich. Er war bereit, sofort einzugreifen, sobald er den Eindruck hatte, dass es seinem Sohn zu viel wurde.

„Das weiß ich jetzt auch.“ JJ sah den Kleineren an. „Aber lange Zeit habe ich ihm geglaubt. Es gab ja niemanden weiter, der mir die Wahrheit hätte sagen können. Also war ich gegen die Menschen und für die Angriffe auf eure Dimension. Ich habe sogar Mandarin entführen lassen, weil ich so wütend auf sie war, dass sie mich weggeben hat.“

Will sah Mandarin erstaunt an und diese nickte. „Das stimmt so alles, aber hör weiter zu.“

„Mandarin hat mir dann erzählt, wie es wirklich war. Also, dass die Outrider unter Nemesis' Führung das Grenzland zuerst überfallen haben und damit schuld am Krieg waren. Anfangs habe ich ihr nicht geglaubt, sondern weiter meinem Freund, aber dann habe ich andere Outrider gefragt und sie haben Mandarins Geschichte bestätigt. Es gab also auch unter den Outridern welche, die den Krieg nicht unterstützten und sich nichts mehr als Frieden wünschten. Ich war total durcheinander.“

Wills Augen hingen an JJ’s Mund, der Junge sog jedes Wort in sich hinein. „Und dann?“

„Ich habe lange nachgedacht, zu lange. Denn in der Zwischenzeit haben die Outrider immer weiter angegriffen und eure Städte zerstört“, gestand JJ. „Aber dann habe ich mich mit Mandarin, deinem Dad, Fireball und April getroffen und wir haben gemeinsam einen Plan geschmiedet, wie wir die Armee der Outrider schlagen könnten, ohne dass noch viele Menschen und auch Outrider ihr Leben lassen mussten. Die Menschen und die Zivilisten der Outrider waren zusammen erfolgreich, die Outrider sind besiegt, wir leben in Frieden. Trotzdem sind sehr viele Leute gestorben, wurden verletzt oder haben ihr Zuhause verloren, wie du. Und das ist zu einem großen Teil auch meine Schuld und daher arbeite ich diese jetzt im Königreich Jarr ab. Nebenbei gehe ich noch in die Schule und manchmal darf ich hierher und meine Mum und Fireball besuchen. Aber wenn ich das darf, dann wird das überwacht und ich darf das Grundstück nicht verlassen. Ich habe einen Chip in der Schulter, der sämtliche Bewegungen registriert und sofort Alarm auslöst, wenn ich dagegen verstoße. Deswegen konnte ich deinen Ball nicht holen. Es tut mir leid.“

Den letzten Satz sagte er sehr leise, aber er sah Will bei den vier Worten direkt in die Augen.

„Warum sagst du mir das jetzt?“ Will hob die Augen.

„Weil du mein bester Freund bist, vermutlich sogar mein Einziger und du die Wahrheit verdient hast.“ JJ seufzte. „Ich hätte es dir schon viel früher sagen sollen, aber ob du es glaubst oder nicht, ich hatte Angst. Angst, dass ich damit unsere Freundschaft kaputt mache. Deswegen war ich froh, dass ich bis heute Zeit hatte, dieses Gespräch vor mir her zu schieben.“

„Aber wir fanden auch, dass du alt genug bist, um die Wahrheit zu verkraften, Kumpel“, mischte sich Fireball ein. „Und deswegen hat dein Vater seine Zustimmung gegeben, dass er endlich mit dir reden durfte.“

Schweigen senkte sich über den Raum.

„Hast du alles verstanden?“ Colt strich seinem Sohn über den Arm, aber der sprang auf. „Klar hab ich das!“, fauchte er zornig. „Ich will jetzt aber nicht mehr darüber reden. Ich will gar nicht mehr mit dir reden!“ Nun schrie er JJ an. „Nie wieder, ich will einfach nur hier weg und nach Hause!“

Er wandte sich ab und stürmte aus dem Raum.

JJ stand wie erstarrt und sah ihm traurig nach. Mandarin sprang auf und ging auf ihren Sohn zu, während Colt sich ebenfalls abwandte.

„Ich muss ihm nach.“ Der Cowboy sah ebenfalls zu JJ. „Damit hast du rechnen müssen“, meinte er. „Aber egal, wie er reagiert hat, besser hätten wir ihm die Sache auch nicht beibringen können.“

Mit diesen Worten verschwand der Cowboy.
 

„Jetzt hab ich uns allen den Tag verdorben.“ JJ ließ sich auf die Couch fallen. „Es tut mir leid Mum, Fireball.“ Er sprach die Worte, er meinte sie auch so, aber mit seinen Gedanken war er bei seinem Freund und dessen Vater. „Ich habe alles kaputt gemacht.“

„Unsinn!“ Fireball sah ihn ernst an. „Du warst ehrlich und die Wahrheit tut manchmal weh. Diese Erfahrung haben wir alle schon gemacht und wir haben es überlebt und daraus gelernt. Gib ihm ein wenig Zeit. Immerhin ist er Colts Sohn und dass bedeutet, erst schreien und rumpoltern, dann nachdenken, dann reden.“

„Meinst du?“ JJ sah ihn halb fragend, halb hoffnungsvoll an und Fireball nickte. Mandarin sah ihren Sohn ebenfalls zuversichtlich an. „Warte doch erst mal ab. Will braucht vielleicht eine Menge Zeit zum Nachdenken, aber das hattest du damals auch und du hast dich richtig entschieden. Und wie du schon gesagt hast, es braucht eben ein wenig Zeit“, machte sie ihm Mut und der Junge seufzte, ehe er schließlich nickte. „Es war richtig, ihm die Wahrheit zu sagen und jetzt warte ich eben.“ Er rieb sich die Stirn und sah Mandy dann hoffnungsvoll an. „Hast du nicht was von Schokoladenpudding gesagt? Mir ist nach Nervennahrung.“

Mandarin nickte lachend und stand dann auf. „Macht euch raus in die Sonne, ich bring den Nachtisch mit“, beschloss sie ihren Jungen und ihren Lebensgefährten ein wenig zu verwöhnen.

Trotz der unschönen Szene eben, ihr Leben war in Ordnung gekommen.

Sie arbeitete hauptsächlich im Oberkommando, manchmal auch noch im Krankenhaus, Fireball und sie lebten inzwischen zusammen und dieser akzeptierte ihren Sohn langsam ebenfalls als Teil ihres Lebens.



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