Kato lehnte sich an die Balustrade und starrte hinaus in den Nachtschwarzen Himmel. Sterne hingen zu tausenden am Firmament und konnten die Schwärze, die dort oben herrschte doch nicht aufhellen. Ein verzweifelter Kampf.
Kato wäre es ohnehin egal gewesen. Es war egal, ob die Sonne schien. Es war egal, ob Nacht war. Es hätten 1000 Vögel zwitschern können, er hätte höchstens Lust gehabt ihnen die kleinen Hälse zu brechen. Wenn es vorher sowas wie Schönheit im Leben für ihn gegeben hatte war sie jetzt tot. Er wünschte sich nichts sehnlicher als tot geblieben zu sein. Warum hatte dieser verdammte Engel seinen Körper wiederbeleben müssen? Warum wollte man ihm eine zweite Chance geben? Er viel buchstäblich auseinander. Das, was ihn zusammengehalten hatte, war weg, würde weg bleiben.
Und war trotzdem da. Er war doch tot gewesen. Hatte sich geopfert. Und nun kam er wieder um sie alle zu verraten? War er schon immer Luzifer gewesen, war das alles schon immer nur ein grausamer Scherz gewesen oder hatte es Sakuya Kira wirklich gegeben?
Als Kira gestorben war hatte auch Kato‘s Ende angefangen. Hätte er das doch nur vorher erkannt! Hätte er seine letzten Momente mit Kira nur anders verbracht! Hätte er es nur gesagt. Nur einmal. Bevor diese Hölle hier losgebrochen war. Bevor seine Welt komplett auseinandergefallen war. Bevor Kira ihn nicht mehr hören konnte. Bevor Kato anfing auseinanderzufallen. Er vergaß schon fast, wer er war. Das Einzige, an das er stetig denken konnte war dieser brennende Hass, diese Enttäuschung und vor allem die alles aufsaugende Trauer. Seine Kehle fühlte sich an, als würden klauenbewährte Hände sie stetig zusammendrücken. Das Kratzen wollte nicht aufhören, der Druck an seinen Augenliedern nicht nachlassen. Er würde ihm keine Träne nachweinen, diesem Bastard.
Er hatte nur gelogen. Immer. Alles war eine verdammte Lüge gewesen. Oder nicht? All die Zeit, die sie zusammen verbracht hatten! All die Male, die Kira ihn aufgenommen hatte! All die Male in denen er ihn in den Arm genommen hatte, in der Annahme Kato sei zu zugedröhnt es zu merken. Er hatte es immer bemerkt. Genossen. Seine Wärme eingesogen, seinen Duft eingeatmet. Sich daran betrunken. Aufgelebt. Geschwiegen. Sich geschämt für seinen Gefühle. Ängste gelitten Kira zu verlieren und sich deswegen später benommen wie der letzte Arsch. Wieso hatte Kira das alles getan? Hatte er geahnt, dass Kato in diesem Spiel eine Rolle innehaben würde oder… oder hatte ihm wirklich etwas an ihm gelegen?
Als Rosiel sie überfallen hatte, da hatte er ihn eingesperrt um ihn zu retten. War alleine dem Tod entgegen getreten. Hatte sie alle beschützt.
Nur um sie dann alle töten zu wollen? Wie viel Luzifer war Kira, wie viel Kira war Luzifer? Gab es Sakuya noch irgendwo? Hatte Sakuya gewusst, wer er eigentlich war? Die Augen des Dämons, dem sie gegenüber getreten waren, waren kalt und schwarz. Tod. Voller Gewalt und Gleichgültigkeit. Kein Leben. Das waren nicht Kira’s Augen. Das waren nicht die braunen Augen, die ihn tadelnd ansahen, wenn der Schwarzhaarige ihm eine Standpauke hielt. Das waren nicht die braunen Augen, die ihn besorgt von der Seite angeschaut hatten, wenn Kira dachte Kato sähe nicht hin.
Es musste einen Sakuya gegeben habe. Es musste einfach so sein.
Kato spürte wie etwas auf seine Hand tropfte. Er hatte den Kampf verloren.
Kira’s Tod war furchtbar gewesen, aber er hatte sich an den Gedanken der Rache klammern können. Hatte sich an den Gedanken klammern können ihn wieder zu sehen, wenn auch er endlich sterben durfte. Diese Hoffnung war jetzt tot. Kira’s Körper von einer vollkommen anderen Seele besetzt zu sehen war die schlimmste Hölle, in die man ihn hätte schmeißen können. Eine Stimme in seinem Hinterkopf flüsterte ihm zu, dass diese Seele nichts fremdes war. Dass sie schon immer am Grunde von Kiras Bewusstsein geschlummert hatte. Aber Kato wollte das nicht wahrhaben. In Sakuya Kira konnte nicht der Teufel gesteckt haben. Nein.
Hätte er doch nur alles anders gemacht.
„Kira…“
Er wollte sich einfach nur zusammenkauern und sterben. Er wollte weder fühlen noch denken.In einer dunklen Ecke zu verroten erschien ihm am sinnvollsten. Er drohte auseinanderzureißen und vom Nichts aufgesaugt zu werden. Wie war dieses Sprichwort noch gleich?
„Möge Gott verhüten dass du je alles erdulden musst, was du ertragen kannst.“
Das hier war mehr als er ertragen konnte. Es war mehr als er begreifen konnte. Er würde das hier nicht überleben. Weil er es nicht überleben wollte. Einen Teufel würde er tun, das hier zu überstehen. Er würde mit Pauken und Trompeten untergehen. Und er würde sich von ihm töten lassen. Nichts anderes kam in Frage. Wenigstens das. Nur dieses letzte bisschen Aufmerksamkeit. Die Hoffnung, dass er bei seinem tödlichen Schwertstreich ein kleines bisschen Reue empfinden würde. Vielleicht sogar Trauer. Aber vor allem eins: Dass er ihn erkennen würde, und dass er ihn hören könnte. Kira sollte ihn noch ein einziges Mal hören können. Er würde nur ein paar Sekunden brauchen um die Worte herauszuwürgen, die sich seit Jahren in seiner Kehle verkeilt hatten.
Das war alles, was er sich wünschte.
Das und eine Packung Kippen.