Zum Inhalt der Seite

Schattenland

Die Legende der geflügelten Rasse
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Erinnerung

Am nächsten Morgen erwachte Noriko früher als gewöhnlich. Sie hörte jemanden etwas murmeln, dann einige kurze Geräusche, und schließlich trat Ren in ihr Sichtfeld. Er schien verärgert zu sein, seine Miene hellte sich aber sofort auf, als er Noriko erblickte. Er blinzelte.

„Guten Morgen.“, sagte er freundlich und half ihr beim Aufstehen. Mit einem Lächeln freute sie sich darüber, dass sie wieder alleine Laufen konnte. Sie erwiederte den Gruß und fragte, was er gerade eben am Fluss getan hatte. Ren schüttelte den Kopf.

„Ich habe die restlichen Pilze in den Fluss geworfen. Gott weiß, was sonst noch alles passiert wäre…“, sagte er und Noriko lachte.

„Ich mag dein Lächeln, du hättest die Pilze ruhig noch weiter essen können.“, sagte sie und Ren errötete leicht, widmete sich aber dann einem Lagerfeuer, was schon halb aufgebaut worden war. Noriko zuckte mit ihren Schultern und drehte sich dann um, auf der Suche nach dem blonden Mädchen, was sich am Abend zuvor als Misa vorgestellt hatte. Doch sie lag nicht mehr an jener Stelle, an welcher sie zusammengebrochen war. Verwirrt sah Noriko sich weiter um – Sie fand die gesuchte Person zusammengekauert an einem Baum sitzen. Sie legte ihren Kopf schief und lächelte.

„Guten Morgen.“, sagte sie freundlich und wartete auf eine Reaktion von Misa. Diese zögerte, hob dann aber den Kopf und lächelte ebenfalls.

„Ja, guten Morgen.“ Noriko überlegte, ob sie sich zu Misa setzen, und sie fragen sollte, wie sie Ren und sie selbst überhaupt gefunden hatte, außerdem gefiel es ihr nicht, dass sie schon gewusst hatte, dass Ren und sie Tsukami waren. Und dann war da noch die Tatsache, dass sie Noriko geheilt hatte. Irgendwas würde sie bestimmt dafür verlangen. Sie wollte gerade eine der überlegten Fragen stellen, als Ren sie bat, sich um das Frühstück zu kümmern. Sie drehte sich zu ihm und nickte ihm zu, dann ging sie zum Lagerfeuer. Ren ließ sich neben seiner Tasche nieder und starrte zu Misa herüber. Er wusste nicht, was er sagen oder tun sollte.

Misa starrte zurück, zögerte erneut, dann stand sie auf und gesellte sich zu Noriko.

„Ich kann dir helfen, wenn du willst.“, sagte sie und ein kleines Lächeln legte sich auf ihren Mund. Noriko nickte erfreut.

Ein paar Minuten später saßen die drei dann zusammen um das Feuer und aßen schweigend ihr Essen. Doch die Stille wurde schnell von Ren gebrochen.

„Ich kann diese Schweigerei nicht leiden! Misa, würdest du mir und Noriko ein paar Fragen beantworten?“, fragte er und kaute sein Essen besonders fest. Noriko schenkte ihm einen warnenden Blick, doch eigentlich gab es keinen Grund, der gegen Ren sprach. Sie wollte ebenfalls ein paar Antworten von Misa. Sie zuckte unter seiner lauten Stimme zusammen, legte dann ihr Essen beiseite und sah die beiden direkt an. Noriko sah zu Ren und fragte somit, wer von ihnen beiden zuerst eine Frage stellen sollte. Ren zuckte die Achseln. Noriko wandte sich wieder an Misa.

„Also zuerst wäre da die Frage, woher du wusstest, dass ich und Ren Tsukami sind.“, sagte sie und beide musterten das Mädchen interessiert.

„Ich habe euch beobachtet, als ihr die zwei Gaien bekämpft habt.“. sagte sie schlicht und bei der Erinnerung an diese Situation legte sich eine Gänsehaut auf Noriko’s ganzen Körper. Misa sah so aus, als würde sie noch etwas hinzufügen wollen, doch eine andere Frage brannte auf ihrer Zunge.

„Wollt ihr euch mir nicht vorstellen?“, fragte sie leise und Ren und Noriko sahen sich verwirrt an. Ihnen wurde klar, dass sie sich tatsächlich noch nicht vorgestellt hatten, und so wurde dies rasch nachgeholt. Misa lächelte die beiden zaghaft an.

„Zuerst war ich nicht sicher ob ihr tatsächlich keine Menschen seid, doch als Noriko dann ihre Fähigkeiten benutzt, und ihre Flügel hervorgeholt hatte, hatte ich verstanden. Ich weiß, wie man sich fühlt, wenn man ein Tsukami ist. Mein Vater war ebenfalls ein Abkömmling der geflügelten Rasse und sein Blut der Tsukami fließt durch meine Adern. Trotzdem bin ich zu einem größeren Teil eine Kitsune. Doch dieser eine Teil in mir, der mich von anderen Kitsune unterscheidet, fordert Gerechtigkeit für die Tsukami, und will diesen schrecklichen Krieg beenden, um endlich in Frieden existieren zu können.“, erzählte Misa, und nun war Noriko und Ren einiges klar. Noriko überdachte ihre vielen Fragen noch einmal, und stellte dann die nächste, die an ihrem Gewissen nagte:

„Ich bedanke mich erneut für deine Hilfe, als du mich geheilt hast. Aber was möchtest du als Gegenleistung?“ Ren nickte ihr zu und beide musterten das Mädchen gespannt. Sie lächelte zurück, spielte mit einer ihrer goldblonden Haarsträhnen und ihre Haselnussbraunen Augen wanderten zwischen den Gesichtern von Ren und Noriko hin und her.

„Ich würde euch gerne auf eurer Reise begleiten.“, sagte sie und ein hoffnungsvolles Schimmern durchfuhr ihre Augen.

„Bitte was?“, fragte Ren, er war vollkommen überrascht von dieser Forderung. Er hatte erwartet, dass sie Geld, oder schöne Kleidung oder sonst was verlangen würde, doch da hatte er sich gewaltig getäuscht. Noriko schien nicht weniger überrascht zu sein.

„Wieso willst du uns begleiten?“, fragte sie ruhig. Misa schenkte ihnen ein Achselzucken.

„Ich kenne euer Ziel nicht, doch ich bin es leid, immer alleine umherzuziehen. Diese Einsamkeit halte ich nicht aus, und immer, wenn ich dachte, dass ich endlich Freunde gefunden hatte, stellten sie sich als Verräter raus. Und ich könnte euch mit meiner Heilmagie sicher noch sehr nützlich sein.“, erklärte sie und lächelte, weiterhin hoffnungsvoll. Noriko lächelte zurück – für sie war dies nachvollziehbar, denn sie war selbst sehr froh darüber, in Ren jemanden gefunden zu haben, mit dem sie zusammen nach ihrer Schwester suchen könnte. Wenn Misa ihnen helfen würde, würde die ganze Reise bestimmt noch viel einfacher werden, außerdem hieß doch ein altes Sprichwort Je mehr, desto besser.

„Ich würde mich freuen, wenn du zusammen mit uns reisen würdest.“, sagte sie und Misa sah sie glücklich an. Dann sahen beide Mädchen zu Ren, welcher ebenfalls lächelte.

„Ich schätze, dass nichts dagegen spricht.“, sagte er und zwinkerte Misa zu. Sie trat näher und umarmte beide übermütig, Noriko sah sie erstaunt, Ren peinlich berührt an.

„Schon gut, schon gut…“, sagte er und kratzte sich am Hinterkopf.
 

„Ich lebe schon mein ganzes Leben lang in Kagami. Meine Mutter warnte mich davor, dass der Wille des Kiseki-Sees keine anderen Wesen als Tsukami duldet, und deshalb versuchten wir nie, in die andere Welt zu reisen. Mein Vater aber war ständig unterwegs, brachte Geschenke mit und erzählte mir wilde Geschichten von knapp gewonnenen Kämpfen, oder andere Abenteuer. Wie schon erwähnt war er ebenfalls ein Tsukami, weshalb ich theoretisch durch die Welten reisen könnte, doch ich werde es wohl niemals austesten. Wir lebten damals mit der Familie meines Vaters zusammen in einem großen Haus. Mein Onkel hatte ebenfalls Kinder, zwei Töchter, die in meinem Alter waren. Eine von beiden – die Jüngere – starb jedoch, da sie schon von Geburt an sehr schwach war. Der Verlust von ihr machte es allen schwer, ein fröhliches Leben zu führen. Als dann auch noch mein Onkel und seine Ehefrau an einer Krankheit starben, brach für ihre ältere Tochter eine Welt zusammen. Mein Vater lebte zu dieser Zeit schon nicht mehr, er war ebenfalls an dieser Krankheit gestorben. Um mir ein gutes Leben zu ermöglichen, heiratete meine Mutter einen menschlichen Mann. Doch dies stellte sich als Fehler heraus. Am Ende musste ich fliehen, um ihm zu entkommen. Noch heute fürchte ich, dass er mich findet und wieder mitnehmen könnte.“, erzählte das blonde Mädchen und sie wärmte ihre kalten Hände am Feuer auf. Noriko und Ren tauschten einen Blick. Sie hatten nicht darauf bestanden, die Geschichte von Misa zu hören, doch sie hatte sie erzählen wollen, um den beiden näher zu kommen. Sie hoffte, dass sie sie auf diese Weise besser verstehen würden. Jetzt jedoch schwiegen sie, sie fühlten sich nicht wohl und waren beide vollkommen angespannt. Niemand sagte ein Wort, Misa sah einfach weiterhin in die hellen Flammen. Sie zeichneten sich in ihren Augen ab und brachten sie zum Glänzen. Ren fand seine Sprache schließlich zuerst wieder.

„Und was ist mit dem anderen Mädchen geschehen?“ Misa zuckte die Achseln.

„Ich suche sie, seitdem ich meinem Stiefvater entkommen bin. Ich bin davon überzeugt, dass sie noch irgendwo sein muss. Sie ist zwar eine Tsukami, jedoch ist sie sehr schlau und würde sich niemals einem Menschen verraten. Ich habe zwar schon fast das ganze Land durchstreift, jedoch könnte sie auch in Katachi sein. Und dort kann ich nicht suchen. Deshalb gebe ich die Hoffnung nicht auf.“ Noriko nickte ihr zu. So fühlte sie auch wegen ihrer Schwester. Sie war fest davon überzeugt, dass sie Miyuki finden würde. Sie würde auch ganz Katachi absuchen, egal wie lange es dauern würde. Eher würde sie Ren bitten, sie zu töten, als ihre Schwester einfach so im Stich zu lassen. Als sie an Misa’s Geschichte dachte, spürte sie auf einmal eine seltsame Hitze in ihrem Inneren. Etwas in ihr versuchte nach außen zu gelangen. Geschockt weitete sie ihre Augen und sie fasste sich ans Herz.

Nicht hier.

Nicht jetzt.

Nicht vor Ren und Misa…

Sie spürte, dass das Monster erwachte und sich gegen sie wehrte – härter wehrte, als sie es jemals zuvor erlebt hatte.

Besorgt legte Ren eine Hand auf ihre Schulter.

„Alles in Ordnung?“, fragte er, dann zuckte er zusammen, als sie seine Hand abschüttelte und ihr ganzer Körper erzitterte. Ren fasste sie bei den Schultern.

„Noriko! Was ist los mit dir?“, fragte er, Misa starrte sie ängstlich an. Noriko fasste sich nun an den Kopf, ein lautes Pochen dröhnte durch ihre Gedanken. Sie schrie auf und kauerte sich zusammen. Sie musste doch etwas dagegen tun können! Doch es war zu spät.

Der Ausbrach verschwand ebenso schnell, wie er gekommen war, sie entspannte sich und setzte sich wieder aufrecht hin. Sie spürte, dass Ren und Misa sie anstarrten, doch sie konnte nicht zu ihnen hinaufsehen. Ren’s Hände umfassten noch immer ihre dünnen Schultern, und nun sah sie auf, ihre Augen trafen auf seine.
 

Ren sah sie besorgt an und erschrak zutiefst, als sein Blick auf ihre Augen traf. Sie waren nicht länger grün, sondern tiefrot und glühten förmlich, als hätte jemand ein Licht in ihrem Kopf entzündet. Doch er erschrak nicht wegen der seltsamen Farbe – jedenfalls nicht nur deswegen. Am meisten wunderte er sich über den kalten Ausdruck. Ihr Blick ließ ihn zittern, ihm wurde schlagartig kalt. Noriko sah erst ihn, dann Misa an. Sie schien sie förmlich mit ihren Blicken zu durchbohren. Sie atmete schneller, ihr Blick wirkte glasig und desorientiert, dann stand sie auf. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Und etwas sagte Ren, dass es mit ihrem Gefühlsausbruch zu tun hatte. Vor ihm stand nicht mehr das Mädchen, welches er vor wenigen Tagen kennen gelernt hatte. Sie schien eine vollkommen andere Person zu sein. Nun jedoch starrte sie mit einem vielmehr traurigen, verlangenden Ausdruck in sein Gesicht. Sie drehte sich um.

„Ich…ich komme gleich…wieder…“, stammelte sie, dann drehte sie sich um und rannte in den Wald. Misa rief ihr nach, doch Noriko antwortete nicht. Angespannt saßen die beiden um das Feuer, wechselten kaum drei Wörter während sie in ihre eigenen Gedanken vertieft waren, bis das vermisste Mädchen nach einigen Stunden plötzlich wieder vor ihnen stand. Sie erinnerte sich an nichts mehr. Als Ren’s blaue Augen erneut auf ihre trafen, hatten sie ihre übliche, giftgrüne Farbe angenommen.
 

Eine Woche verging. Ren und Misa hatten seit jenem Tag nicht darüber reden wollen, was mit Noriko geschehen war. Sie schienen es entweder vergessen zu haben – was allerdings unwahrscheinlich war – oder sie verdrängten es, um keine Fragen stellen zu müssen. Dies schien Noriko auf jeden Fall plausibler. Sie war froh darüber, denn auch ihr war ihr Ausbruch ziemlich unangenehm gewesen. Glücklicherweise hatte sie seitdem kein einziges Mal einen weiteren dieser sehr seltsamen Gefühlsausbrüche erlitten. Jedoch konnte sie nun nicht länger bestreiten, dass etwas in ihr nicht ganz so war, wie es eigentlich sein sollte. Denn sie spürte nicht nur die pulsierende Energie einer fremden Seele in ihrem Inneren, sondern sie hörte seit dem Vorfall eine Stimme in ihrem Kopf. Eine weibliche Stimme. Sie sprach zu ihr, wann immer es ihr möglich war, oder wann immer sie Lust dazu hatte.

Noriko konnte sich nicht dagegen wehren. Als sie den Ausbruch am Lagerfeuer gehabt hatte, hatte das Wesen in ihr schließlich die vollkommene Kontrolle über sie eingenommen und sogar nach seinem eigenen Willen gehandelt. Doch noch war Noriko’s Wille stärker und sie gewöhnte sich allmählich an die Stimme. Bisher hatte sie auch noch nichts Außergewöhnliches oder Seltsames getan, was Noriko hätte abschrecken können. Sie wusste nicht, was es war, doch sie ahnte, dass ein Teil von ihr nun für immer an die fremde Stimme verloren sein würde.

Nun jedoch saß sie angelehnt an einen Baum und schlief, denn sie litt seit jenem Tag immer öfters an Fieber, welches ihr sehr schwer zu schaffen machte. Ren und Misa hatten sich vergewissert, dass sie die nächsten paar Stunden ruhig schlafen würde, ehe sie sich auf den Weg zu einem nahegelegenen Dorf gemacht hatten, um neue Nahrung zu beschaffen. Die alten Vorräte waren beinahe aufgebraucht und die drei hatten sich lange besprochen, ob sie es wirklich riskieren sollten, in einem fremden Dorf nach Nahrung zu fragen. Jedoch waren sie schließlich zuversichtlich in ihre Entscheidung, denn in Kagami waren Tsukami stets willkommen bei anderen Abkömmlingen der geflügelten Rasse. Misa wirkte immer noch unsicher.

„Du hast doch sicher auch von diesem perversen Jungen gehört, oder? Er soll durch ganz Kagami streifen und die Kimonos seiner Opfer stehlen…“, sagte sie und Ren lachte.

„Du darfst den Gerüchten nicht glauben. Es gibt viele Leute, die sich solche Geschichten aus Spaß ausdenken. Außerdem kann Noriko-chan sich im Notfall auch selbst verteidigen. Schließlich hat sie sich wochenlang alleine durchgeschlagen, bis wir uns kennen gelernt haben.“, sagte er überzeugend und zuckte die Achseln. Misa seufzte.

„Ich mache mir trotzdem Sorgen. Ich meine, auf der einen Seite habe ich es ja auch all die Jahre alleine geschafft. Auf der anderen Seite ist sie sehr klein und vermutlich auch zerbrechlich. So groß wie sie war ich mit zwölf…“, murmelte sie und verschränkte die Arme. Ren lachte laut.

„Noriko und zerbrechlich? Ich bitte dich.“, sagte er und winkte ab. Die beiden konnten schon die ersten Häuser in der Ferne sehen.

„Außerdem habt ihr ja noch mich. Und erde es nicht zulassen, dass meinen Mädchen etwas geschieht!“, sagte er und seine Brust schwoll an. Misa kicherte.

„Na jetzt fühle ich mich doch direkt viel sicherer…“ Sie blieb schlagartig stehen und starrte mit geweiteten Augen zum Dorf.

„Was soll das denn heißen?“, fragte Ren verwirrt und starrte sie an. Er wedelte mit einer Hand vor ihren Augen umher und sah dann ebenfalls in Richtung Dorf. Er verstand nun, was Misa so erschreckt hatte. Ein Anblick, welcher ihm leider nicht sehr fremd war:

Die Häuser, welche um einen großen Brunnen herum gebaut worden waren, lagen in Trümmern, von einigen war noch etwas mehr übrig. Der Brunnen selbst war vollkommen zerstört worden, viele Pfützen waren um den Trümmerhaufen herum entstanden. Ren sah sich im Dorf um, welches eigentlich viel mehr an eine kleine Ansammlung von Häusern erinnerte, und räumte mit seinen Füßen einige kleinere Trümmerstücke beiseite.

Er hatte es geahnt. Die ganze Zeit lang hatte er eine schlechte Vorahnung gehabt, als er andere zerstörte Dörfer nach Informationen durchsucht hatte. Es war ihm so vorgekommen, als ob die Angriffe noch nicht sehr weit zurückgelegen hatten, doch er hatte es nicht für möglich gehalten. Er hatte es für kleinere Kriege unter den Tsukami gehalten, doch er hatte es niemals in Erwägung gezogen, dass vielleicht doch einige Menschen durch den Kiseki-See nach Kagami gelangt waren. Die einzige Möglichkeit um dies herauszufinden, war wahrscheinlich die schlechteste Idee, die Ren jemals in den Sinn gekommen war. Er hatte sich vorgenommen, wenn er ein weiteres Zeichen für die Anwesenheit von Menschen in Kagami finden würde, zum Kiseki-See zu reisen, den Willen des Sees zu beschwören und ihm die Frage selbst zu stellen.

Dies war tatsächlich eine sehr wahnsinnige Idee, und zudem auch noch äußerst gefährlich, doch trotzdem war es Ren’s einzige Chance die Wahrheit zu erfahren. Wenn die Menschen nämlich einen Weg gefunden hatten, um von einer Welt in die andere zu reisen, ohne dabei ums Leben zu kommen, dann wäre das ein großes Problem für die restliche Bevölkerung der Tsukami.

„Das Dorf wurde vermutlich erst vor einigen Stunden angegriffen. Wir müssen ab sofort vorsichtiger sein. Es könnten hier Menschen herumlaufen.“, erklärte er und er drehte sich zurück zu Misa. Sie nickte unmerklich und trat ausversehen in eine kleine Pfütze.

„Denkst du, dass wir hier noch etwas zu Essen finden werden?“, fragte sie zaghaft. Er schien einen Augenblick zu überlegen, dann schüttelte er seinen Kopf.

„Nein, das glaube ich nicht. Aber vielleicht finden wir hier Informationen über die Menschen. Oder irgendwelche anderen Hinweise.“, sagte er und er steuerte wie automatisch auf das größte unter den Häusern zu – jedenfalls nahm er an, dass es einmal das Größte gewesen war.

Als die beiden in das halb eingestürzte Haus traten, sahen sie die zerstörte Treppe. Jedoch führte ein schmaler Weg durch eingebrochene Wände in eine Art Schlafzimmer. Auch hier lag alles in Scherben und Trümmern. Doch das war noch lange nicht alles:

In der hintersten Ecke befand sich etwas, was wie ein großer Altar wirkte. Überreste von Opfergaben lagen darauf verstreut und an manchen Stellen steckten abgebrannte Kerzen in rostigen Kerzenständern. Misa vermutete, dass hier wohl ein Ritual abgehalten worden war, also das Jemand für etwas spezielles gebetet hat.

Über dem Altar hing ein kleines Stück Pergament. Ren streckte sich und zog es von der Wand ab. Ein Blick darauf verriet ihm, dass darauf in Fumi-Schrift geschrieben worden war. Und das konnte er nicht lesen. Misa nahm es ihm aus der Hand und starrte es an, doch sie konnte sich ebenfalls keinen Reim daraus machen. Sie gab das Pergament zurück an Ren und er steckte es in seine Tasche in der Hoffnung, dass Noriko es vielleicht lesen könnte.

Die beiden schraken auf, als sie ein dumpfes Geräusch hörten. Sie drehten sich im Kreis und das Geräusch ertönte wieder. Es klang annähernd menschlich und es stammte anscheinend aus einem kleinen Nebenraum. Ren zog sein Katana und deutete Misa, sich hinter ihn zu stellen, als er die Tür eintrat und in den kleinen Raum stürmte. Er sah sich verwirrt um und keuchte dann auf:

An der gegenüberliegenden Wand sah er etwas – oder viel mehr jemanden. Es handelte sich eindeutig um einen Tsukami. Der Mann hing an der Wand, er war an seinen Flügeln aufgehängt worden. Sie waren von zwei Schwertern durchbohrt worden.

Der Mann sah sehr mitgenommen aus, er war übersät von Wunden und Dreck. Seine dunklen Haare klebten an seiner schweißnassen Stirn, Blut triefte aus einer Platzwunde auf seinen nackten Oberkörper. In seiner Brust steckte ein weiterer Säbel und Blut tropfte aus seinem Mund. Misa sprang hinter Ren hervor und lief auf den Mann zu. Er beäugte die beiden panisch und versuchte sich zu bewegen, doch er erschütterte unter den Schmerzen seiner vielen Wunden.

„Wer tut so etwas Schreckliches?“, fragte Misa entsetzt und sie sah Ren aus großen braunen Augen an. Er zuckte mit den Achseln, gab seine Kampfhaltung aber auf. Der Mann atmete schwer und schnell. Misa widmete sich dem Schwert, welches in der Brust des Mannes steckte. Sie zog es vorsichtig heraus und er gab ein dumpfes, röchelndes Geräusch von sich. Als er seinen Mund öffnete, sah Misa, dass ihm seine Zunge herausgeschnitten worden war. Sie schlug sich eine Hand vor den Mund. Deshalb konnte er nicht reden.

„Er…wird es nicht schaffen…Ich kann diese vielen Wunden nicht schnell genug heilen…“, sagte sie tonlos und sah dem Mann in die Augen. Sie schluchzte leise und drehte sich dann um. Dann vergrub sie sich in Ren’s Armen und stülpte die Hände über ihre Ohren, als der Mann sich erneut bewegte. Ren konnte einfach nicht wegsehen. Das, was gerade vor seinen Augen ablief, war unfassbar:

Der Mann alterte unglaublich schnell, seine Haare wuchsen und verloren ihre Farbe, fielen dann vollständig aus. Sein Körper schrumpfte zusammen und seine haut färbte sich aschgrau. Dann zersprang der Körper mit einem lauten Knall zu Staub und rieselte langsam zu Boden.

„Wie viele Grausamkeiten müssen wir Tsukami noch ertragen?“, murmelte er zu sich selbst, während Misa laut schluchzte.
 

Noriko träumte. Sie war sich sicher, dass sie träumte. Anders konnte sie sich diese Bilder nicht vorstellen, die vor ihr Gestalt annahmen.

Sie sah den Vollmond, Feuer und Wasser im gleichmäßigen Zusammenspiel. Dann erschien das Gesicht eines ihr unbekannten Mädchens. Ihre Haare hatten eine seltsame dunkelblaue Färbung und sie schien durch einen See zu schreiten, während ihre tiefblauen Augen den Mond fixierten. Dann drehte sie sich langsam um und ihr Aussehen veränderte sich fließend. Vor ihr stand ihr eigenes Abbild: Hellbrauen Haare, giftgrüne Augen, relativ kleine Gestalt. Ihr Spiegelbild streckte eine Hand nach ihr aus und versuchte sie zu erreichen, doch sie war zu weit weg. Ihre Lippen formten Wörter, die sie nicht verstand. Und dann begann sie zu schreien.
 

Keuchend erwachte Noriko. Kalter Schweiß mischte sich mit jenem auf ihrer fieberheißen Stirn. Ihr Atem ging schneller als gewöhnlich. Sie seufzte tief. Zumindest hatte sie diesmal nicht wie üblich von ihrer Familie geträumt. Doch irgendetwas tief in ihr wurde wachgerüttelt, als sie an das Gesicht in ihrem Traum dachte. Und es erschien ihr seltsam, dass es sich danach in ihr eigenes Gesicht gewandelt hatte. Noriko schüttelte den Kopf.

Plötzlich raschelten die Büsche und etwas Rotes flammte vor ihren Augen auf. Sie sprang zu ihren Füßen und blieb wankend stehen, denn durch das ständige Fieber war ihr Gleichgewichtssinn deutlich beeinträchtigt worden. Als vor ihren Augen alles wieder klar wurde, war das rote Etwas verschwunden und ein verwirrtes Mädchen blieb zurück. Sie schüttelte den Kopf und fragte sich, ob sie sich das eben nur eingebildet hatte und allmählich paranoid wurde.

Hast du das auch gerade gesehen?, fragte die Stimme in ihrem Kopf und Noriko zuckte zusammen. Das hatte sie ganz vergessen! Doch sie ließ sich nicht beirren und ignorierte die Stimme so gut es eben ging. Einen Augenblick später liefen Ren und Misa durch die Büsche und blieben schwer atmend vor ihr stehen. Ren gestikulierte wild mit seinen Händen und versuchte anscheinend Noriko etwas damit zu sagen, doch sie hob beide Augenbrauen und sah fragend zu Misa herüber, welche nicht weniger erschrocken als Ren wirkte. Sie reichte den beiden eine Flasche mit Wasser, welche sie dankend annahmen. Nach zwei Minuten Stille konnte Ren wieder normal reden.

„Wir waren in diesem Dorf, und…etwas Schreckliches ist geschehen…Wir haben dieses Stück Pergament hier gefunden, aber konnten es nicht lesen. Und ich dachte…nein, hoffte darauf, dass du es lesen kannst.“, erklärte er und er reichte ihr das kleine, quadratische Pergament. Noriko nahm es und studierte es schweigend.

„Die Worte darauf wurden in der Fumi-Schrift geschrieben.“, sagte sie, doch die Worte waren an niemanden gerichtet, es war vielmehr eine Feststellung. Ren und Misa sahen sie erwartungsvoll an.

„Kannst du das lesen?“, fragte Misa und das jüngere Mädchen nickte kurz. Ihr Gesicht zeigte Sorge und Argwohn, als sie den Text erneut überflog.

„Ließ doch vor.“, sagte Ren und drückte seinen Zeigefinger auf das Pergament. Sie schob seinen Finger weg, dann seufzte Noriko und las den Text laut vor:

Ein Jahrhundert wird vergehen, ehe sie sich zu erkennen geben wird. Sie ist kein normales Wesen, sie trägt das Blut der geflügelten Rasse in sich. Nur sie alleine trägt die Kraft in sich, um den Krieg zu beenden. Doch wenn sie nicht rechtzeitig erkannt wird, ist alles vergebens und das Land wird untergehen.

Ren’s Augen weiteten sich, denn er erkannte nun, warum Noriko gerade so einen besorgten Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte. Als sie Misa zum ersten Mal gesehen hatten, war sie wie in Trance auf die beiden zugelaufen, und hatte eben diese Worte genannt. Sie sahen Misa fragend an, doch sie strich sich nur einige blonde Haarsträhnen aus dem Gesicht und wusste nicht, worauf sie hinauswollten.

„Den Text, den Noriko vorgelesen hat…du hast ihn uns schon einmal aufgesagt.“, erklärte Ren aber Misa sah genauso ratlos aus, wie einen Moment zuvor auch schon. Noriko gab das Pergament zurück an Ren und strich sich ebenfalls einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Seit sie den Text gelesen hatte, bedrängte sie das Gefühl, dass die Stimme in ihrem Kopf ihr etwas Wichtiges sagen wollte, jedoch verdrängte sie diese weiterhin.

„Ehrlich gesagt…weiß ich auch nicht, was an diesem Abend mit mir los war…ich erinnere mich nur noch an Einzelheiten, und ich dachte, dass es ganz gut so wäre.“, erklärte die Blonde leicht entschuldigend. Ren strich ihr mit einer Hand aufmunternd über die Schulter.

„Ist schon gut, die Hauptsache für mich ist nicht, dass jeder von uns einige seltsame Geheimnisse hat, sondern dass wir von nun an nicht mehr alleine damit sein müssen, sondern eine Bezugsperson haben.“ Er legte einen Arm um Noriko. „Und das kann nicht jeder von sich behaupten, wenn ihr mich fragt.“ Er zwinkerte den beiden zu. Noriko und Misa lächelten sich an und stimmten dem Jungen dann zu.

Plötzlich hörten sie Büsche rascheln und wieder sah Noriko etwas Rotes. Diesmal erkannte sie aber auch den Ursprung: Vor ihnen stand ein Mädchen in ihrem Alter, mit langen dunkelroten Haaren, welche sie in einem hohen Zopf trug. Einige kürzere Strähnen hingen in ihrem Gesicht und verdeckten ihr linkes Auge. Das Mädchen starrte aus tiefblauen Augen erst zu ihnen herüber, dann zu ihren Taschen. Misa beugte sich zu Noriko, welche das rothaarige Mädchen wie gebannt ansah.

„Wer ist das?“ Sie zuckte mit den Achseln und wurde von Ren unterbrochen, welcher auf das Mädchen zustürmte, denn sie hatte sich an der ohnehin schon kläglichen Provianttasche vergriffen.

„Hey!“, schrie er erzürnt und wollte dem Mädchen die Tasche entreißen, doch sie war schneller als er und wich seinen langen Armen aus. Dann sprang sie rückwärts und lief zurück in den Wald. Die drei sahen sich kurz an und jeder teilte denselben Gedanken:

Wir müssen ihr folgen!

Schnell nahmen sie die Verfolgung des Mädchens auf. Dafür, dass es anscheinend sehr hungrig war, konnte es äußerst schnell rennen. Ren überlegte, ob er sich auf seine Flügel verlassen sollte, doch ein Blick von Noriko, welche seine Absichten anscheinend vorausgeahnt hatte, schüttelte schnell den Kopf.

„Das wäre nicht sicher!“, rief sie ihm zu und er nickte. Doch was sollten sie tun? Sie brauchten ihre wenigen Vorräte selbst, um die nächste Zeit durchzustehen. Und er wollte nicht wieder zurück zu den Trümmern seines Hauses, dort steckten noch seine ganzen verdrängten Erinnerungen.

Er zog es in Betracht, dass sie, wenn sie das Mädchen nicht mehr einholen könnten, auch zu einem anderen seiner Häuser gehen, und dort ihre Vorräte auffüllen können. Die einzige Frage dabei war nur, ob es überhaupt noch Vorräte in den leeren Häusern gab.

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Misa und Noriko ihn zurück hielten, da er fast gegen einen Baum gerannt wäre. Das rothaarige Mädchen war nirgends zu sehen.

„Sie ist echt verdammt schnell…“, sagte Misa keuchend, sie war es nicht gewohnt, so schnell und lange zu rennen. Noriko stimmte zu.

„Trotzdem brauchen wir unseren Proviant. Sie kann sicher auch nicht lange diese Geschwindigkeit beibehalten, vielleicht können wir sie noch einholen.“, sagte sie. Ren wollte etwas erwidern, doch sie hörten plötzlich einige verdächtig klingende Geräusche. Noriko blickte Ren entschlossen an.

„Das hörte sich an…wie Gaien.“, sagte sie langsam und der Junge nickte. Sie liefen näher in die Richtung, aus der die unmenschlichen Geräusche eben ertönt waren. Sie waren nicht sehr überrascht, als sie das Mädchen sahen, welches vor vier riesigen, blinden Gaien kauerte. Misa schrie auf.

„Solche riesigen Exemplare habe ich schon lange nicht mehr gesehen!“, flüsterte sie entsetzt.

„Wir müssen ihr helfen!“, sagte Noriko und machte sich kampfbereit, während Ren sein Katana zog und auf die Gaien zustürmen wollte, doch dann ertönte ein reißendes Geräusch, das Mädchen zuckte zusammen und zwei riesige, weiß-blaue Schmetterlingsflügel ragten aus ihrem Rücken. Die drei Freunde hielten inne und sahen staunend dabei zu, wie sie einen alten Schwertgriff zog, sie einige Handbewegungen vollzog und sich eine hellleuchtende Klinge im Schwertgriff bildete.

Sie schlug mit dem Schwert in die Luft und scharfe Schallwellen trafen auf die gepanzerten Körper der Gaien. Sie bewegten ihre Köpfe hilflos hin und her, ihre Schwänze mit den Stacheln stachen ins Leere zu. Da sie blind waren, und sich auf das Kämpfen mit Kreaturen auf dem Boden spezialisiert hatten, konnten sie keine schwebenden Lebewesen fühlen.

Das Mädchen schlug erneut mit ihrem Windschwert zu. Viele kleinere und größere Risse waren auf den Panzern der Gaien zu sehen. Dann drehte sich das Mädchen rasend schnell im Kreis und vollzog erneut einige Handbewegungen.

Noriko schützte ihre Augen, als ein gewaltiger Wirbelsturm durch den Wald fegte und die Gaien in sich sog. Die unmenschlichen Rufe, die aus ihren Mäulern ertönten, verstummten nach einiger Zeit und als der Sturm sich legte, blieben die riesigen Körper leblos auf dem verwüsteten Boden liegen.

Das rothaarige Mädchen taumelte, fiel dann zu Boden. Ren rannte auf sie zu und wollte ihr aufhelfen, doch als er sie ansprach, bekam er keine Antwort. Noriko und Misa traten näher heran und beugten sich zu dem Mädchen herunter. Sie starrte sie schweigend aus ihren tiefblauen Augen an, doch ihr linkes Auge wirkte glasig und leer. Noriko fragte sich bei dem Anblick, ob sie vielleicht auf einem Auge blind war, doch sie wagte es nicht, die Frage laut zu stellen. Die Augen des Mädchens schlossen sich und ihr Körper erschlaffte.

Ren schüttelte verwirrt den Kopf.

„Warum werden alle Mädchen, die ich treffe, immer sofort bewusstlos?“, fragte er und deutete zuerst auf Noriko, dann auf Misa und schließlich zu dem bewusstlosen rothaarigen Mädchen zu seinen Füßen.

„Mich kannst du nicht mitzählen, ich war schon vorher bewusstlos.“, erklärte Noriko. Im selben Moment sagte Misa kichernd: „Weil wir nicht anders können, als bei deinem Anblick dahin zu schmelzen!“ Ren beäugte sie misstrauisch.

„Was soll das heißen? Steht mein Haar etwa in Flammen?“, fragte er und fuhr sich hektisch mit einer Hand durch die blonden Haare. Misa seufzte und wandte sich wieder an Noriko.

„Dieser Junge hat absolut keinen Humor.“ Noriko schenkte ihr ein Achselzucken.

„Außer, wenn er etwas erzählt, was er für witzig hält.“, sagte sie und zwinkerte ihm zu. Ren verschränkte die Arme.

„Ihr schweift vom eigentlichen Thema ab.“, sagte er und beugte sich zu dem Mädchen herunter, um sie anschließend an ihren Armen anzuheben. Noriko erschuf eine Art Liege aus Eis, auf welcher Ren das Mädchen ablegte. Dabei achtete er sorgfältig darauf, nicht mit ihren Flügeln in Berührung zu kommen. Er würde niemals wieder die Flügel eines anderen Tsukami berühren, das hatte er von seiner Begegnung mit Noriko gelernt. Dann wanderte sein Blick über den schmalen Körper des Mädchens.

„Sie sieht sehr mitgenommen aus, wenn ihr mich fragt. Seht euch nur die vielen Wunden an, und ihre dreckige Kleidung…“ Noriko besah sich die großen Flügel des Mädchens näher.

„Ihre Flügel scheinen nicht weiter verletzt zu sein. Wahrscheinlich hat sie diese schon lange nicht mehr hervorgeholt.“, stellte sie fest und Misa kam näher. Ehe Noriko und Ren sie daran hindern konnten, streckte sie eine Hand aus, berührte einen der großen Schmetterlingsflügel und zuckte schmerzvoll zusammen. Sofort zog sie ihre Hand zurück, viele kleine Schnittwunden blieben auf ihrer Handfläche zurück.

„Was war das?“, fragte sie verwirrt und strich über die vielen kleinen Wunden. Noriko nahm einen der losen Verbände, die noch immer um ihre Arme gewickelt waren, und verband Misa’s Hand damit.

„Tsukami mit übernatürlichen Fähigkeiten beschützen ihre Flügel mithilfe ihrer Kräfte.“, erklärte sie. Ren nickte.

„Als ich Noriko’s Flügel berührte, bildeten sich lauter winzige Eiskristalle an meiner Hand.“, berichtete er und Misa machte ein verständnisvolles Geräusch. Ren schob die Eisliege mit dem Mädchen vor sich her.

„Gehen wir zurück zum Lager, dort können wir ihre Wunden versorgen.“, sagte er und die Mädchen folgten ihm.
 

Einige Zeit später dämmerte es und das orangerote Licht der untergehenden Sonne schien durch die hohen Baumkronen des Waldes. Das rothaarige Mädchen war noch nicht aufgewacht. Sie lag auf einer der Schlafmatten. Misa hatte ihre Wunden geheilt und anschließend mit Noriko am Fluss ein paar Fische gefangen. Ren wollte sie am Lagerfeuer braten, doch Noriko nahm ihm diese Aufgabe ab, da er sonst das Essen verderben würde.

Während Ren beschloss, kleinere Tiere zu jagen, saß Misa am Lagerfeuer und Noriko brachte ein wenig Ordnung in ihre Taschen.

„Wir haben so wenig persönliches Eigentum, und doch ist alles völlig durcheinander…“, murmelte sie leise und seufzte. Sie hatte gerade die Hälfte aufgeräumt. Misa lachte leicht.

„Du weißt doch wie Jungs sind…egal wie, Hauptsache alles passt noch irgendwie hinein.“, sagte sie und Noriko stimmte in ihr Lachen ein.

Nun begann sie lächelnd mit dem Aufräumen ihrer eigenen Habseligkeiten. Dabei traf sie auf etwas, woran sie schon lange nicht mehr gedacht hatte: Zwischen einigen Stofffetzen ihres Kimonos befand sich das seltsame Buch, welches sie in Ren’s Haus gefunden hatte. Es war ein wenig aufgeweicht und wellig, da Noriko und Ren in den Fluss gefallen waren. Doch sonst schien es nicht weiter beschädigt zu sein, man konnte die Fumi-Schriftzeichen noch gut erkennen.

Das Wachssiegel war aufgebrochen. Noriko blickte sich zu Misa um, welche noch immer mit dem Kochen beschäftigt war. Kurzentschlossen sprang sie auf.

„Ich komme gleich wieder…“, sagte sie und Misa nickte ihr freudig zu, als sie sich umdrehte und zwischen einigen Bäumen verschwand. Als sie außer Hörweite war, setzte sie sich unter einen Baum und lehnte sich an den Stamm, während sie vorsichtig das Buch aufklappte. Auf der ersten Seite war eine Zeichnung von drei Personen. Es handelte sich wohl um eine kleine Familie, denn der kleine Junge mit den blonden Haaren sah Ren ziemlich ähnlich. Noriko lächelte leicht. Wahrscheinlich war dies eine Zeichnung von seinen Eltern und ihm, bevor der Krieg damals ausgebrochen war. Sie blätterte weiter und stellte durch intensives Lesen fest, dass der Name der vorne auf dem Einband stand, jener von Ren’s Mutter war: Kireina Shinrai. Sie hatte viel über ihr früheres Leben in das Tagebuch geschrieben, viel von Ren’s Kindheit und seinen ausgefallenen Gewohnheiten. Noriko fühlte sich nicht sonderlich gut dabei, einfach so den persönlichen Besitz von Ren’s Mutter durchzulesen, doch gleichzeitig konnte sie nicht aufhören, all die vielen Geschichten über den Jungen zu erfahren.

Es dauerte nicht lange, bis sie zu einer Seite stoß, auf welcher eine weitere Zeichnung war. Bei diesem Anblick wurde ihr ganz komisch zu Mute, ihr wurde heiß und kalt gleichzeitig und plötzlich hörte sie wieder die Stimme in ihrem Kopf.

Na, wenn das nicht interessant ist, sagte sie tonlos und Noriko wusste genau, was sie meinte. Die Zeichnung zeigte ein junges Mädchen, nicht älter als fünf oder sechs Jahre alt. Sie hatte lange, hellbraune Haare und tiefblaue Augen. Ihr hübsches Gesicht lächelte leicht nervös. Dieses Gesicht – es war Noriko’s Gesicht. Wenn sie nicht eine andere Augenfarbe gehabt hätte, und wenn Miyuki nicht existieren würde, hätte das Mädchen in der Zeichnung ihre eineiige Zwillingsschwester sein können. Vielleicht aber war es doch eine Zeichnung von ihr selbst, nur mit der falschen Augenfarbe. Ansonsten könnte sie sich nicht erklären, wieso sie sich so ähnlich sahen.

Doch nicht Noriko‘s Name stand unter der Zeichnung geschrieben. Nein, von diesem Namen hatte sie noch nie zuvor gehört.

Tora Shindo. Sie brachte Licht in das Leben meines Sohnes, stand dort geschrieben. Und nun erinnerte sich Noriko daran, dass Ren bei ihrer ersten Begegnung erzählt hatte, dass seine Kindheitsfreundin und Verlobte vor Jahren verschwand. Handelte es sich bei Tora möglicherweise um Ren’s verlorene Freundin?

Geschockt von ihrem Fund erinnerte sie sich an eine weitere Szene von ihrer Begegnung mit Ren. Als sie zum ersten Mal die Augen geöffnet hatte, hatte sie sein Gesicht gesehen. Er hatte sie mit seinem Blick beinahe durchbohrt. Ein sehr hoffnungsvoller Blick. Sie erinnerte sich, dass sich sein Mund bewegt, er aber nichts gesagt hatte. Noriko hatte nicht gemerkt, dass es sich bei dem stummen Wort um einen Namen handelte. Denn als Ren bemerkt hatte, dass sie selbst ihn noch nie zuvor gesehen hatte, hatte sich sein Blick ein wenig verfinstert, jedoch hatte er sie weiterhin freundlich behandelt.

Sie dachte an den Tag zurück, als sie Misa getroffen hatten. Er hatte keine offene, freundlich Seite von sich gezeigt. Er schien für einen Moment, als wäre er ausgetauscht worden. Hatte sein abwehrendes Verhalten etwas mit der Tatsache zu tun, dass er gehofft hatte, in ihr seine vermisste Freundin zu finden?

Von dem vielen Nachdenken begann ihr Kopf zu schmerzen. Dadurch konnte sie auch nicht länger die Stimme hören, welche seit mehreren Minuten zu ihr gesprochen hatte, jedoch hatte sie keines der Wörter wirklich erfassen können.

Sie blätterte die Seiten um und erkannte oben in einer Ecke einige rote Flecken. Die folgenden Seiten waren vollkommen rot. Blut, dachte sie entsetzt und blätterte zurück zu der Seite mit der Zeichnung, doch sie konnte es nicht länger ansehen.

Noriko legte das Tagebuch aufgeschlagen neben sich und schloss ihre Augen. Sie wollte nicht über diese Dinge nachdenken, sonst würde sie vermutlich ihr Vertrauen in Ren verlieren. Mit einem Schreck fuhr sie wieder hoch. Vielleicht dachte Ren ja tatsächlich, dass sie Tora war. Vielleicht glaubte er daran, dass sie einen Gedächtnisverlust erlitten hatte, und ihn deshalb nicht mehr wiedererkennen würde.

„Hey Noriko! Misa hat mir gesagt, dass du hier irgendwo bist. Sie schickt mich, damit ich dich hole. Das Essen ist fertig.“ Noriko’s Kopf schnellte in die Richtung, aus der die Stimme eben ertönt war. Ren ging lächelnd auf sie zu. Schnell nahm sie das Tagebuch wieder an sich und wollte es verstecken, doch in diesem Moment erinnerte sie sich daran, dass Ren die Fumi-Schrift nicht lesen konnte. Also ließ sie das Buch offen, verdeckte aber mit einer Hand die Zeichnung von Tora.

„Was liest du da?“, fragte Ren neugierig und Noriko stand auf. Sie hatte eigentlich nicht vorgehabt, an diesem Tag mit ihm darüber zu reden, allerdings machte sein breites Lächeln sie äußerst wütend – sie wusste nicht einmal, wieso. Sie fühlte sich provoziert, weil er sie anscheinend für jemand anderes hielt, ihr aber das Blaue vom Himmel vorlog. Und deshalb würde sie ihm nun nicht ausweichen. Sie hielt das Buch hoch, verdeckte aber weiterhin die Zeichnung. Ren machte ein verständnisloses Gesicht.

„Das ergibt keinen Sinn…ist das in den alten Schriftzeichen geschrieben worden?“, fragte er und strich sich einige blonde Haarsträhnen aus den Augen. Noriko nickte, ihre Augen fixierten seine und sendeten scharfe Blicke, die er allerdings nicht zuordnen konnte. Da sie so nicht weiterkam, nahm sie die eine Hand weg und Ren’s Blick wanderte zu der Zeichnung. Er griff nach dem Buch und entriss es ihr, dann starrte er ungläubig hinein. Er sah zu Noriko, seine Stimme zitterte.

„Was steht da?“ Noriko verschränkte die Arme und nannte ihm die Worte, ihre Stimme klang kalt und ganz anders als üblich. Ren schluckte hart.

„D-du hattest kein Recht, das zu lesen!“, sagte er und seine Stimme versagte. So hilflos hatte sie ihn noch niemals zuvor gesehen. Doch sein bleiches Gesicht machte sie nur noch wütender.

„Was denkst du eigentlich von mir? Ich bin nicht Tora!“, fauchte sie und er starrte sie erschrocken an. Und nun ahnte sie es nicht nur, sie wusste, dass er ihr damals nur seine Hilfe angeboten hatte, um herauszufinden, ob sie seine vermisste Freundin war.

„Sag mir, dass ich richtig liege! Sag mir, dass du nur geholfen hast, weil du dachtest ich wäre Tora! Und denk nicht mal daran, mich anzulügen, sonst verliere ich meinen letzten Rest Respekt vor dir.“ Ren schien nicht zu glauben, dass es Noriko war, die ihn gerade mit ihrem scharfen Ton durchbohrte. Er ließ das Buch neben sich zu Boden fallen und wollte einen Schritt näher kommen, doch er zögerte und ließ es bleiben. Er wirkte nachdenklich, schien innerlich mit sich zu kämpfen und nickte dann schwach.

„Im ersten Moment…ja, ich habe tatsächlich gehofft, dass du Tora bist. Ich hatte gehofft, dass ich sie wieder finden würde, damit ich es nicht bereuen würde, mein halbes Leben mit der Suche nach ihr verbracht zu haben. Doch ich lernte dich die letzten Tage lang kennen…Und du bist eine völlig andere Person als sie. Bitte, du musst mir glauben, ich hatte niemals etwas Böses im Sinn. Ich habe nur nach Antworten zu meinen Fragen gesucht.“, erklärte er und seine Stimme klang flehend. Nun ging er doch einen Schritt in Norikos Richtung. Sie sah ihn noch immer voller Wut und Verzweiflung an, doch als sie sprach, klang ihre Stimme zwar drohend, jedoch ausgeglichen und nicht länger kalt.

„Und doch hast du gelogen. Anstatt mich zu fragen, hast du es vorgezogen, mich zu hintergehen um deine Fragen selbst beantworten zu können. Ich dachte wirklich, dass du mich auf der Suche nach meiner Schwester begleiten wirst. Aber wenn du mir nicht helfen willst, verschwende bitte nicht meine Zeit. “ Sie holte tief Luft und stieß einen langen Seufzer aus. Sie entspannte sich leicht, ließ die Arme neben sich fallen und starrte den Boden traurig an. Als sie jedoch aus dem Augenwinkel sah, dass Ren näher kommen wollte, spannte sich ihr Körper erneut an und sie ging rückwärts.

Ich muss hier weg

Sie drehte sich um und lief davon. Ren streckte eine Hand nach ihr aus, rief ihren Namen, doch er fürchtete sich davor, ihr hinterherzulaufen. Voller Wut hob er das Buch auf und warf es mit gewaltiger Kraft in einen Busch. Kalter Wind strömte durch die Bäume und wehte die Haare aus seinem Gesicht. Er ballte beide Hände zu Fäusten und ging langsam zurück zum Lager. Wie sollte er das nur Misa erklären? Und was sollten sie jetzt mit dem bewusstlosen Mädchen machen?
 

Noriko lief schwer atmend in irgendeine Richtung davon, blind vor Wut und der Angst, von Ren ausgenutzt worden zu sein. Sie wusste, dass sie mit ihrem Verhalten sehr übertrieben reagiert hatte, jedoch war sie es leid, nach all dem Verrat der Menschen so behandelt zu werden. Sie hatte wirklich gehofft, in Ren und Misa Personen gefunden zu haben, denen sie blind vertrauen konnte, ohne enttäuscht zu werden. Doch wieder wurde all ihre Hoffnung zerstört. Es war nicht leicht für sie jemandem zu vertrauen, und sie wünschte, sie würde jetzt bei ihrer Schwester sein. In ihren Armen hatte sie sich immer geborgen und sicher gefühlt.

Sie blieb stehen und legte die Arme um ihren Körper. Nachts war es immer sehr viel kälter als am Tag, wenn noch die Sonne schien. Sonst hatte ihr die Kälte nichts ausgemacht, schließlich hatte sie immer ein Lagerfeuer gehabt, aber nun war es zu dunkel, um das Holz zusammen zu suchen. Durch die Dunkelheit war ihre Sicht stark beeinträchtigt, und das neblige Wetter erleichterte es ihr auch nicht wirklich. Sie stolperte über eine Wurzel und prallte auf den Boden. Als sie die Augen wieder öffnete, rappelte sie sich schnell auf und ging mehrere Meter rückwärts. Vor ihr befand sich eine Schlucht. Sie war nicht allzu tief, aber sehr breit und steil, sodass man nicht hinunter klettern konnte. Noriko drehte den Kopf in die Richtung, aus der sie eben gekommen war. Sie wollte nicht zurück. Nicht sofort, wenn überhaupt. Sie brauchte etwas Abstand von Ren und seinen Lügen. Und den würde sie nur bekommen, wenn sie Zeit für sich selbst finden würde. Also entschloss sie sich für den Weg in die andere Richtung. Jedoch blieb noch die Frage offen, wie sie auf die andere Seite gelangen würde.

„Verzeihung, meine Dame, aber benötigen Sie ein wenig Hilfe?“, ertönte eine Stimme neben ihr. Sie zuckte zusammen und drehte den Kopf. Vor ihr stand ein Junge mit dunkelbraunen Haaren, einem hübschen Gesicht samt rehbraunen Augen und verschränkten Armen. Er war sehr groß und relativ muskulös, allerdings schien er nicht viel älter als sie zu sein. Ungefähr in Ren Alter, wenn nicht sogar ein Jahr älter.

„Ich entschuldige mich, wenn ich Sie erschreckt habe. Das war niemals meine Absicht.“, sagte der Junge und Noriko wunderte sich über die Förmlichkeit, mit der der Junge redete.

„Ich brauche tatsächlich Hilfe. Ich würde nämlich gerne auf die andere Seite dieser Schlucht…“, sagte sie zögerlich und der Junge lächelte breit und verbeugte sich.

„Wenn es weiter nichts ist…“, murmelte er und plötzlich erschienen zwei schwarze Drachenflügel mit einigen roten Schuppen an seinem Rücken. Noriko sog scharf Luft ein.

„Hey, du bist ein Tsukami!“, sagte sie und sie konnte nicht die Begeisterung und Neugier aus ihrer Stimme fern halten. Neuerdings traf sie auf viele Abkömmlinge der geflügelten Rasse. Der Junge sah sie verwirrt und leicht verängstigt an.

„Woher weißt du das?“, fragte er und nun war alle Förmlichkeit aus seiner Stimme gewichen. Noriko hob eine Augenbraue und deutete mit einer Hand auf seine Flügel. Er drehte den Kopf, bemerkte die Flügel und schrie überrascht auf.

„Verdammt, wo kommen die denn her?“, fragte er fluchend. „Verzeihung, meine Flügel erscheinen immer, wenn ich meinen Rücken zu sehr anspanne…“, sagte er entschuldigend doch Noriko kicherte nur und erlaubte ihm, sie auf seine Arme zu nehmen. Er drehte sich zur Schlucht und hob langsam ab.

„Und was macht ein so hübsches kleines Mädchen ganz alleine im großen und dunklen Wald?“

Das waren eindeutig zu viele Adjektive Noriko erschrak, als sie wieder die Stimme in ihrem Kopf hörte. Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht! Doch anstatt sich wieder Sorgen über den Verbleib ihres Verstandes zu machen, beantwortete sie lieber die Frage des hübschen Jungen.

„Nun, eigentlich reiste ich mit zwei Freunde durch das Land…aber ich habe etwas Schreckliches herausgefunden und konnte die Nähe nicht länger ertragen…“, erklärte sie leise. Der Junge seufzte tief.

„Haben wir nicht alle unsere kleinen Geheimnisse?“ Vorsichtig landete er auf dem Boden, als sie die Schlacht passiert hatten.

„Wo wir schon dabei sind: Ich bin auf der Suche nach meiner Freundin. Wenn du einen neuen, sehr gutaussehenden Begleiter suchst, willst du mich dann nicht begleiten? Kleine süße Mädchen sollte man nämlich nicht alleine umherreisen lassen.“ Noriko war sich nicht sicher, ob sie ohne zu Zögern mit einem Fremden mitgehen sollte, doch sie erinnerte sich daran, dass Ren bei ihrer ersten Begegnung dasselbe gesagt hatte, und ihm hatte sie bis zum heutigen Trag vertrauen können. Außerdem war der Junge wie sie ein Tsukami, und da es nur noch so wenige von ihrer Art gab, vertrauten sich die meisten Abkömmlinge der geflügelten Rasse untereinander.

„Ja, wir Tsukami sollten zusammen halten.“ Die Augen des Jungen weiteten sich und erneut verschränkte er seine Arme und sein Mund formte sich zu einem schiefen Lächeln.

„Du auch?“ Noriko nickte lächelnd. Sie streckte eine Hand aus.

„Ich bin Noriko. Freut mich, dich kennen zu lernen.“ Der Junge grinste breit und schüttelte ihre Hand.

„Mein Name ist Riku Sokutei." Riku lächelte sie charmant an. "Eine persönliche Frage: Wie alt bist du.“ Noriko sah Riku verständnislos an.

„Ich bin sechzehn.“ Riku lächelte weiterhin und beugte sich zu ihr herunter.

„Sechzehn, ja?“ Er beugte sich noch weiter herunter und küsste sie vorsichtig. Noriko weitete die Augen und starrte ihn erschrocken an, als er von ihr abließ.

„Was zur Hölle sollte das?“ Ihr Gesicht färbte sich dunkelrot. Riku lächelte noch immer breit.

„Mein Begrüßungskuss. Kannst mir später danken. Los jetzt!“ Und mit diesen Worten packte er ihren Arm und zog sie hinter sich her. Noriko fragte sich jetzt schon, ob sie es bereuen sollte, sich darauf eingelassen zu haben.
 

Das Mädchen ging langsam über den Weg. Sie atmete schwer und Schweiß lief ihren Nacken herunter. Ihre Kleidung und Arme waren bedeckt von halb getrocknetem Blut. Ihre kurzen, silberblonden Haare schienen ebenfalls mit etwas Blut vermischt zu sein. Doch trotz der vielen Wunden und des Blutes, welches nicht ihr eigenes war, es war noch nicht einmal menschliches Blut, schien sie ausdruckslos zu sein. Sie verzog keine Miene, als sie die rechte Hand erhob und ein silbernes Amulett zum Vorschein kam. Es glänzte seltsam, öffnete sich und das Gesicht eines Jungen mit schwarzen Haaren und orange glühenden Augen erschien darin.

„Was kannst du mir berichten, Yoko?“, fragte er teilnahmslos. Auch er verzog keine Miene. Das Mädchen, Yoko, schloss die Augen und fiel auf die Knie.

„Ich habe Euren Auftrag erfüllt, Shadow-sama. Ich habe das ganze Dorf vernichtet und jeden Bewohner getötet. Bis auf einen. Ich wurde von zwei mir fremden Tsukami unterbrochen, doch der wertlose Mann ist kurz darauf verstorben. Ich habe ihm seine Zunge herausgerissen, deshalb konnte er ihnen nichts erzählen.“, sagte sie langsam und deutlich. Ihr Gesicht zeigte eine Spur von Angst und sie schluckte hart, als der Junge seinen Blick verfinsterte.

„Also hast du nur 99 Seelen?“ Yoko nickte vorsichtig. Der Junge seufzte tief.

„Hast du wenigstens die Spur des Mädchens aufgenommen?“, fragte er, er klang ein wenig neugierig, aber gleichzeitig auch kalt und grausam. Yoko wollte gerade antworten, als sie Stimmen hörte. Sie sah sich um und bemerkte zwei Gestalten, welche sie allerdings nicht zu bemerken schienen. Es waren zwei Tsukami, das konnte sie spüren. Der eine hatte dunkelbraune, die andere hellbraune Haare. Yoko lächelte erfreut und sah wieder in das Amulett.

„Shadow-sama, ich habe sie gefunden!“, sagte sie und ihr Blick wanderte über die kleine Gestalt des braunhaarigen Mädchens. Sogar aus der Ferne konnte sie die giftgrünen Augen des Mädchens erkennen.

Yoko’s blutrote Augen schienen vor Freude zu glühen. Endlich würde sie den Wunsch ihres Meisters erfüllen können.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück