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James Norrington

Ⅰ. Ankerlichtung
von

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I. Erbschaftsbürde

Für die nächste Zeit wechselten Benedict und ich kein Wort miteinander. Dafür sorgte ich eifrig. Benedict selbst schien es bereits vergessen zu haben oder er machte sich wegen des peinlichen Ereignisses schlichtweg nicht das Leben schwer, vielleicht hatte er meine Reaktion auch als eine klare Absage gedeutet und Verständnis dafür, was mir zwar am liebsten gewesen wäre, sehr wahrscheinlich jedoch nicht der Grund für sein typisch leichtgeistiges Gehaben war, mit dem er die Hecken beschnitt und die übrigen Gärtner zurechtwies, wenn er glaubte, nicht zufrieden mit ihrer Arbeit sein zu dürfen. Das voranschreitende Jahr erlaubte ihm, sich zwischen die reifenden Weinstöcke zurückzuziehen, und bald darauf saß ich mit meiner einsamen Herrin zusammen und war bemüht, sie mit dem weder italienisch noch französisch, aber mit all der Hingabe gut bezahlter Domestiken hergestellten Wein zu erheitern. Sie war blass geworden, ich auch, das ganze Anwesen schien in den vergangenen Monaten ein wenig ergraut zu sein, alle aus verschiedenen Gründen, und doch versuchten wir, das Beste daraus zu machen. Irgendwann hatte sie begonnen, mir mit besorgniserregender Regelmäßigkeit die Tage mitzuteilen, und obwohl sie diese lieber hinuntergezählt hätte, blieb ihr doch nichts, als sich die Verstreichenden zu merken, denn der Lord hatte – wie üblich – kein Datum der Rückkehr genannt. Der Brief würde von unpersönlicher Stelle kommen und erst, wenn er bereits sein Vaterland betreten hatte.

„Fünfundneunzig Tage“, ließ Lady Elizabeth mich wissen und starrte an mir vorbei. Mechanisch zog ihre Hand mit dem Weinglas zum Mund, ließ ihn trinken und senkte sich. Sie sah weiter geradeaus. „Ob er tot ist?“

Ich zuckte zusammen. „Mylady!“

„Der Vogel. Er singt ja nicht mehr.“

Mir fiel eine Art Stein vom Herzen, als ich ausatmend antwortete: „Sie werden längst weitergezogen sein.“

Da war es nun an ihr, überrascht aufzusehen. Ihr Blick wirkte vernebelt. „Lawrence und James?“

„Die Vögel“, erläuterte ich mich mit irritierter Skepsis. Und als würde alles vollkommen ohne Belang sein, das nicht Lawrence oder James Norrington hieß oder mit ihrer Reise verbunden war, driftete ihre Aufmerksamkeit wieder in die Innenwelt ab. Es hatte den Eindruck, als würde sie fieberträumen. Die süße Creme, derer sie noch immer nicht überdrüssig geworden war, hatte keinerlei Ausdehnung bewirkt, doch ihre Züge waren hart geworden wie die einer abgeklärten Großfamilienmutter aus dem Armenstand.

„Lawrence erzählte“, begann sie nach Minuten des stillen Gegenübersitzens, in welchen ich tatsächlich nach unserer Amsel horchte, „sie fahren in den Westen, in die karibischen Gewässer. In diese piratenverseuchte Karibik. Er ist entschlossen, diesen berüchtigten Piraten zu fassen, mit welchem er eine alte Rechnung zu begleichen hat, man hat ihn dort gesichtet. Wie der Ehrgeiz aus ihm gebrochen ist, da ihm die Botschaft überbracht wurde! Er ist nicht mehr vernünftig. Sollen sie sich doch mit ihren Katapulten und Kanonen gegenseitig in die Hölle schießen, aber“ – sie griff nach meinen Händen – „nicht mein Kind!“

Ich vernahm aus ihrer Stimme eine Mischung der bekannten Standfestigkeit und einer unbekannten Angst. Letztere fühlte ich selbst, dachte ich an James, jedoch hatte ich seit jeher die Rolle der abgeklärten, armen Mutter inne, nach der Lady Elizabeth heute lediglich aussah, sodass einerseits mein Wissen über die Notwendigkeit des Reifeprozesses, andererseits die Vergeblichkeit, Lawrence Norrington von einer Zukunft seines Sohnes als irgendetwas Friedlicheres überzeugen zu vermögen, vermutlich auch die inzwischen verstrichene Zeit meine zu Beginn nahezu zerfressende Angst erstickt hatten. Stumpfte ich gegen sie ab? Oder war es der mächtige Lord, unter dessen Schirm ich James für unantastbar hielt? „Er kehrt heim“, antwortete ich nur und ohne Empathie und fühlte mich seltsam ermüdet, rasch setzte ich dann hinzu: „Und die neugewonnenen Erfahrungen, die Verantwortung werden ihn gereift haben.“

„Eher werden sie in ihm wuchern“, zerbrach sie, plötzlich wieder lebhaft, meine romanhafte Prognose wie eine empfindliche Wasserhaut und korrigierte ihre vormals zusammengesunkene Haltung. „Sie versteinern seine Miene, seine Muskeln und schließlich sein Gehirn. Er wird ein militärischer Grobian werden, der zwar seinen Degen streicheln, aber keiner Dame aus der Kutsche helfen kann, und er wird Narben haben, so dick, dass er es nicht bemerkt, wenn man ihn berührt. Überall wird er Feinde wittern, vor der Tür, unter dem Bett, hinter der Puderdose, und sobald irgendwo ein Feuerwerk entzündet wird, schreit er "In Deckung!", hechtet hinter den nächsten Busch und langt nach nicht vorhandenen Pistolen. Nur über Schiffe noch wirst du ein Wort mit ihm wechseln können und wehe dir, bist du nicht wie er der völligen Überzeugung, dass die Admiralität aus feigen Landratten bestehe und gefälligst ein Geschwader unter seiner persönlichen Führung die Küsten von Spanien, Frankreich, Holland und überhaupt alle kaputt zu schießenden Küsten zu bombardieren habe…“

Ich lächelte zärtlich. „Aber erst einmal wird er sechs Jahre alt, dann sieben und sich doch immer noch mit kleinen Holzschiffen begnügen müssen. Mylady, sollen wir uns denn wirklich in seinen Weg stellen statt ihn darauf zu begleiten? James ist der Erbe vieler Generationen von Seefahrern und wir beide kennen seinen Vater, er ist so stolz auf ihn, selbst wenn er es nicht auszudrücken vermag. Vielleicht ist es James‘ Schicksal?“

„Schicksal? Ich glaube nicht an von indiskutablen Übermächten vorbestimmte Zukünfte. Aus bedeutungslosen Gründen zu verfolgende Tradition und schlichte Faulheit, andere Wege in Betracht zu ziehen, das ist es, was Lawrence antreibt, einen kriegerischen Halunken aus meinem Sohn zu ziehen! Würde er wirklich stolz auf ihn sein wollen, so ließe er James selbst sich für einen Beruf entscheiden und erfreute sich dann an dessen ehrlicher Hingabe.“

„Und wenn es doch genau das ist, was James möchte?“

Ihre Augen zeigten tiefe Trauer, als sie bedeutungsschwer die Worte sprach: „Ich denke, wir werden niemals erfahren, was James wirklich wollte.“

Innerlich konnte ich ihr unverhohlen beipflichten. Norringtons Erbe hatte in der Tat die Bürde der großen Taten seiner Ahnen auf den schmalen Schultern zu tragen. Lawrences stolzes Schiff teilte das Meer aller Widerworte und Vorwürfe und steuerte den Hafen seiner prachtvollen Karriere an, in welchem James im dichten Gedränge der väterlichen Orden und Urkunden verloren gehen würde. Eigentlich konnten wir Frauen ihn lediglich auf diese seine Bestimmung vorbereiten, indem wir ihm die unbezweifelte Schönheit des Meeres vorführten und jene Aspekte beleuchteten, die einst und noch in Romanen zahllose junge Männer bewegten, ihr Leben der – sagen wir – nicht tadellos berufenen Königlichen Marine zu verschreiben. Um ehrlich zu sein, war mir selbst die Vorstellung unseres schmächtigen, bleichen, französisch sprechenden James zwischen all den Trinkern und Rüpeln und Pedanten und Heuchlern problematisch. Ich konnte ihn mir nicht in eine Takelage aufentern vorstellen oder als Schiffsfähnrich die Matrosen befehlen, andererseits glaubte ich nicht, dass der erfahrene Seelord Energie und Zeit in die Ausbildung des Sohnes investieren würde, wenn er dessen Befähigung anzweifelte, wie wir es taten.

„Er soll sich nicht verändern, Abda“, sprach Lady Elizabeth wie eine Antwort auf meinen nächsten Gedanken und war schon wieder halb in ihrer Depression versunken. „Er soll so bleiben, wie er ist, so liebe ich ihn. …Ich habe Angst, Abda.“

Eben die überkam mich ebenfalls jäh. Damals konnte ich mir nicht erklären, weshalb auf ihre Worte das Gefühl der Sorge in meinem Busen schwellte, doch heute, da ich den unfassbaren Skandal in seinem fast vollständigen Auswuchs entsinne, begreife ich, dass Elizabeth schon an jenem Tage, acht vor der Ankunft des heiß ersehnten Briefes, ahnte, was mit ihr geschehen sollte, sobald sich ihre Befürchtung bewahrheitete und James sich nun einmal doch veränderte; dass sie bereits der kühle Hauch einer Ahnung beschlichen hatte, was sie im Begriff war, sich und ihrem Sohn, aber auch ihrem Gatten anzurichten. „Es ist uns nicht gegeben, die Zeit festzuhalten“, entgegnete ich damals in meinem Unwissen und empfahl mich, da sich die einsame Hausherrin zur Ruhe begeben wollte. Erst am einhundertdritten Tage wachte sie wirklich auf – und wie! Ihr Antlitz versorgte das Landgut mit dem, was die Sonne ihm zu jener Jahreszeit längst vorenthielt, sie glitt in ihren schönsten Kleidern durch Haus und Garten und scherzte mit den Arbeitern und Dienern, sie griff selbst mit an, wo sie konnte und wo ich sie ließ, und sämtliche Hinweise auf eine etwaige Niedergeschlagenheit verschwanden unter den Hügeln bunter Blätter, welche die Gärtner jeden zweiten Morgen zusammenkehrten. In diesem Jahr fielen sie wieder unnormal rasch, als drängte sie die Kälte, die Äste ihrem Schnee freizugeben, der glücklicherweise noch ein wenig auf sich warten ließ. Kühl wie der Spätsommer blieb auch meine Beziehung zu Benedict, obwohl ich nicht wusste, ob dafür überhaupt noch Anlass bestand.

Die endliche Rückkehr des Lords lenkte mich von entsprechenden Überlegungen ab. Doch so sehr wir ihn erwartet hatten, so bescheiden war der Augenblick des Wiedersehens. Wie zwei Fraktionen standen wir uns gegenüber – Lady Elizabeth und ich auf der einen, Lord Norrington und James – James! – auf der anderen Seite. Um uns herum im lockeren Kreise die zu entbehrende Dienerschaft. Der ganze Salon hielt den Atem an, als müsse etwas geschehen, dessen Ausmaß von solch niederschmetternder Schwulst war, dass es Geschichte schreiben würde, doch tatsächlich löste sich der Empfang in einer undekorierten Begrüßung seitens der heute leuchtend weiß gekleideten Gemahlin und dem Wegtritt des gefrackten Personals. Erneut blieb lediglich ich bei den Adligen zurück. Selbstverständlich gab es nicht wenige Angestellte, die meiner gesonderten Position neideten und mein Ansehen innerhalb des Gesindes mit bösen Gerüchten schwärzten. Meinen vertrauenswürdigen Kreis hatte ich mir längst gesucht und ich hatte James, seit dessen Geburt ich mich nicht mehr um die verfälschten Haltungen mir gegenüber scherte – wie nachlässig es auch sein mochte. Schlecht konnte ich es ihnen nicht nehmen – ich war, was ich niemals vergessen würde, eine schwarze Frau, zudem wusste ich selbst gut genug, wie wichtig es war, um die Gunst seiner Brotgeber zu ringen. Auch aus diesen Gründen würde ich nicht auf meine Tätigkeit als Amme des Haussohnes und Freundin der Hausherrin verzichten, nur um die üblen Nachreden zu beschwichtigen. In mir war mehr zu finden als ich Untergebenen wie Vorgesetzten zu sehen erlaubte.

Doch zurück zu dem Wiedersehen: Ich kann meine Gefühle ob des Anblickes meines Ziehkindes nicht beschreiben. Das ungewohnte Klima des Atlantischen Ozeans hatte Farbe in das Marmorgesicht gezaubert, doch seine Miene ausgeblichen. Als sei er versucht, möglichst wenig Raum zu beanspruchen, stand er nebst seinem mächtigen Vater in grauem, schmucklosem Rock und Umhang, und vermutlich hatte sein glanzloses, sprödes Haar Lady Elizabeth einen gehörigen Schrecken versetzt, denn sie hatte den Zofen sogleich aufgegeben, ein Bad einzulassen. Der Lord selbst sah immer noch genauso aus, wie ich ihn kennen gelernt habe. Ausgerechnet James war es schließlich, der die nicht zu deutende Reglosigkeit unvermittelt brach, indem er sich plötzlich von seinem Platz stieß, vor seiner Mutter auf alle Viere stürzte und binnen einer Sekunde unter ihrem Kleid verschwunden war. Wir übrigen drei sahen ihm nach, zumindest fixierten wir die Stelle, hinter die er gekrabbelt war, dann gab sich Elizabeth hernieder und zog ihn mit sanfter Gewalt hervor. Als sie ihn emporhob, ließ er Kopf und Glieder leblos hängen und gab keinen Ton von sich. Lawrence nahm seine Zigarre entgegen und entlud, was immer er empfand, in einem fahrigen Pusten. Auch sein Gesicht mit den eisblauen Augen und den buschigen Brauen, die permanent schwer über Ersteren hingen, war von den ältesten Gelehrten der Pathognomik nicht zu entschlüsseln, standen sie ihm nicht nahe. Ich behaupte sogar, dass ihm das Versteckspiel seiner Gefühle und Gedanken noch besser gelang als Frau und Sohn – sofern er es beabsichtigte.

„Ich möchte dich heute nicht mehr sehen“, forderte Elizabeth hörbar missgelaunt von ihm und steuerte dezidiert auf den Ausgang zu, mich mit einer freien Hand zu sich winkend. Ich verneigte mich schnell vor dem aufmerksamen Wolf und hörte noch, wie er nach seinem Lieblingswein verlangte, nach dessen Genuss er entweder überaus ungemütlich oder merkwürdig redselig wurde.

Lady Elizabeth bestand auf ihre Anwesenheit während James‘ gründlicher Reinigung, welche in eine penible Inspektion inklusive Arztvisite ausartete. Wir seufzten erleichtert, als wir feststellten, dass er keine plötzliche Panik vor dem Wasser zeigte, und außer einigen blauen Flecken, Kratzern und seinem charakteristischen leichten Fieber waren keine Folgen auszumachen – zumindest keine körperlichen. Mehr Gedanken machte ich mir um Elizabeth, die den marionettenhaften Jungen herzte, streichelte, küsste, bis ich sie mit einigem Druck voneinander trennte, was sie jedoch nicht lange an ihrer eifrigen Liebkosung hinderte, und an diesem Abend lag sie nicht mit Lawrence, sondern James in dem Ehebett, während der unbeachtete Admiral im Salonzimmer einige shanties zum Besten gab. James hatte bis dahin kein Wort gesprochen. Erst am nächsten Morgen, da seine Eltern sich schuldbewusst miteinander versöhnten und in einem der endlosen Zimmer den Verlust der letzten Nacht ausglichen, erzählte er mir sachlich von seiner ersten Schifffahrt; wie sein Vater – wieder einmal – zwei Tage lang seekrank gewesen sei, wie er ihm ab dem Dritten die Funktion von Segel und Tauen erklärt habe, wie ihm keine Aufgabe der Matrosen gelungen sei und er dafür "verdiente" Schelte erhalten habe, wie er von seinem Vater über die Navigation per Augenmaß aufgeklärt worden sei, wie man ihnen immer wieder Fisch und ihm versehentlich ein Glas Rum serviert habe, wie er einmal krank geworden sei und der Schiffsarzt Dr. William Beatty sein Fieber schlichtweg fortgezaubert habe; wie sie schließlich auf den Piraten Edward Grant Teague, im Volksmund Teague The Sparrow genannt, trafen, in einen Kampf verwickelt wurden und James dabei über Bord ging. Ich erfuhr nicht ohne Entsetzen, dass Sparrow ihn aus dem Wasser gerettet habe, und die nüchterne Rekonstruktion der anschließenden Konfrontation von Vater und Sohn vervollständigte meine Fantasie sowie meine Kenntnis über den Admiral ganz von selbst. „Gerettet von einem Piraten, James. Dummes Balg, du hättest dich ertränken sollen. Ich sähe einen Norrington lieber auf dem Grund des Ozeans als in der Schuld eines Piraten.“ Indes war ich derart in der lebendigen Szene gefangen, dass ich viel zu spät merkte, wie James leise weinte. Ich legte mich zu ihm und hielt ihn lange in meinen Armen, ohne dass es weiterer Worte brauchte. Niemals wieder sollte dieser Vorfall irgendjemand anderem geschildert werden, aber ganz sicher hatte er James Norrington für den Rest seines Lebens drastisch geprägt.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Daikotsu
2011-03-02T16:38:26+00:00 02.03.2011 17:38
Uh! Ich muss sagen, das ich ahnte, dass es um Jacks Vater ging, als die Rede war von einem Piraten mit dem Edward eine Rechnung offen hatte.
Dennoch tut mir James Leid. Jetzt bemerkt man nichts mehr vom Commodore. Es muss also noch etwas passieren, das seine Meinung ändert. Eine vage Vermutung habe ich. Wir werden sehen, ob sich diese bestätigt.


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