Das Wort mit L
Liebe. Ein Thema, dass in so vielen Geschichten, in so vielen Träumen vorkommt und dass dennoch so viel Schmerz bedeuten kann. Doch was ist es überhaupt, dieses Gefühl?
Was bedeutet es, verliebt zu sein, und braucht man dazu wirklich Worte, um es besser zu beschreiben?
Sie lernte ihn im Sommer kennen. Beide waren auf derselben Schule, allerdings besuchten sie verschiedene Klassen.
Sie war ein ganz normales, unscheinbares Mädchen. Hätte man sie auf der Straße gesehen, hätte man sie sogleich wieder vergessen. Ihre Haare waren haselnussbraun, zwar von einem wirklich schönen, aber doch nur von einem ganz normalen haselnussbraun.
Ihre Augen waren blau, aber weder die Beschreibung „blau wie die See“ noch der Vergleich
„ wie ein Sommerhimmel“ hätte darauf gepasst. Ihres war von verwaschener Art und erinnerte eher an das blau eines alten Lieblingspullovers, der seine besten Zeiten längst hinter sich hat.
Sie war weder dick noch schlank zu nennen, weder besonders groß noch besonders klein.
Auch sonst hatte sie keinerlei hervorstechende Merkmale; sie redete mit anderen, antwortete normal auf Fragen, war insgesamt eher ruhig und zurückhaltend.
Meist stand sie in einer Gruppe Mädchen, jedoch war nie sie es, die den Ton angab, sondern hörte still zu.
Er war ebenso unscheinbar und unauffällig wie sie. Seine Haare waren blond, wie die so vieler Jungen in seinem Jahrgang und seine Augen braun wie ein altes Stück Holz.
Er war weder besonders sportlich noch wirkte er besonders tollpatschig; seine Zeit verbrachte er meist mit ein paar anderen Jungs an der Halfpipe, wo diese Tricks auf ihren Boards durchführten und sich gegenseitig zu immer waghalsigeren Stunts anstachelten.
Er selber nahm freilich niemals selber daran teil, sondern saß neben dem Aufgang im Gras, beobachtete sie und ließ teilweise einen Ausdruck seiner Bewunderung laut werden.
Die beiden saßen öfter beim Mittagessen nebeneinander, wenn beide Klassen zeitgleich dran waren. Dies war jede Woche an zwei Tagen der Fall.
Irgendwann fragte er sie leise, als ihre Freundinnen schon gegangen und seine auf der Suche nach zurückgelassenem Nachtisch losgezogen waren, ob sie sich mal mit ihm treffen wolle.
Sie sagte etwas zögerlich ja; die beiden trafen sich noch am selben Nachmittag im Park, unten am alten See, wo die Sonne die Wasseroberfläche zum spiegeln brachte und die Gräser sich im Takt des Windes wiegten.
Sie redeten über alles, was ihnen in den Sinn kam. Freunde, Hobbies, Schule, welcher Lehrer gut und welcher schlecht war, wer fair benotete und wer unfair, welche Haustiere man hatte und was man später einmal machen wollte.
Als sie nichts mehr wussten, saßen sie schweigend nebeneinander, bis es zu kalt war um noch länger zu verweilen. Dann brachte er sie bis zu ihrer Straße um anschließend selber nach Hause zu gehen.
In den nächsten Wochen wiederholte sich dieser Ablauf.
Mal trafen sie sich in der Stadt, um sich zusammen die Schaufenster anzusehen, einmal im Jugendzentrum; mal liefen sie gemeinsam im Regen schweigend durch den menschenleeren Park, nur die Anwesenheit des anderen um sich herum; oder sie trafen sich nachmittags auf dem Schulhof ihrer Schule, um dort den gesamten Nachmittag mit Reden und Lachen zu verbringen oder wie so oft schweigend nebeneinander zu sitzen und die Anwesenheit des anderen zu spüren.
Nach zwei Wochen waren sie dass, was man ein Paar nennt und verbrachten ihre Pausen gemeinsam in einer Ecke des Hofes, dort, wo die alte Buche Schatten spendete und sich ihre weit verzweigten Äste wie ein Baldachin erstreckten.
Ihre gemeinsame Zeit verbrachten die beiden nun entweder bei ihm oder ihr zuhause, oder, wie es meistens der Fall war, an dem See, wo sie außer den Enten und seltener auftauchenden Gänsen ganz alleine waren.
Dort saßen sie stundenlang dicht nebeneinander auf der alten Steinbank, in deren Seite reliefförmige Ornamente kunstvoll eingetrieben worden waren und deren Lehne nach hinten hin einen sanften Bogen beschrieb.
Manchmal redeten sie über das, was ihnen gerade in den Sinn kam, mal waren ihre Themen von philosophischer, mal von privater Natur und es gab nur eines, über dass sie niemals redeten: Sich selber.
Es kam niemals vor, dass er ihr sagte, dass er sie liebe; ebenso wenig sagte sie diese drei Worte zu ihm.
Sie fanden dass, was diese Worte nur unzureichend auszudrücken vermögen, in den Augen des Anderen und in ihrer eigenen Seele, wenn sie in einsamen Augenblicken einen kurzen, aber dennoch tiefen Blick in eben diese erhaschen konnten.
Ihnen beiden war klar, dass das, was sie verband, nicht drei Worte waren, sondern dass es ein Band war, das fernab jeder ihnen bekannten Ebene entstanden war und dem Worte niemals gerecht werden konnten.
Heute sind die beiden nicht mehr zusammen. Die Zeit und die Veränderungen, die jeder im Leben durchläuft, hat ihr Band gelöst, bis es eines Tages nicht mehr da war.
Doch wenn sie zurückblicken auf ihr Leben, dann ist es eben dieser Sommer, jene kurze Zeit, die beide still und dennoch sprechend verbracht haben, die ihnen als die wichtigste und intensivste Erinnerung erscheint.
Ich danke allen, die diesen, zugegebenerweise sehr kurzen, Oneshot gelesen haben