Man braucht nur 15 Minuten, um alles zu verlieren
Ich bin hier in meinem Zimmer und sitze auf dem Bett. Wieder höre ich das
Streitgespräch meiner Eltern mit an. Ihre lauten Stimmen dringen durch die
Wände meines Zimmers. Ich habe mich zusammengekauert und versuche das alles
nicht zu hören. Mein Körper wippt langsam wie in Trance vor und meine Hände
pressen sich krampfhaft auf meine Ohren. Laut summe ich ein Lied vor mich
her, denn ich kann den Streit einfach nicht mehr hören. Ich ertrage es
einfach nicht mehr, immer ist es dasselbe.
Der verdammte Streit fing vor drei Jahren an, als meine Mutter meinen
kleinen Bruder durch eine Totgeburt verlor. Seit dem leidet sie, auch heute
noch, an starken Depressionen.
Diese ganze Situation lastet noch immer schwer auf unserer Familie. Vor
allem mein Vater leidet unter den Stimmungsschwankungen meiner Mutter.
Nach einiger Zeit, hielt er es nicht mehr aus und flüchtete sich in mehrere
Affären. Wir sahen ihn dadurch nur noch selten, doch dachten wir uns nichts
dabei. Meine Mama, weil sie nur mit sich beschäftigt war und ich, weil ich
noch zu jung war. Ich habe meinem Vater geglaubt, als dieser zu mir sagte:
Kleines ich muss zurzeit leider viel arbeiten. Auch wollte ich ihm glauben,
denn ich verstand damals die ganze Situation nicht. Warum war meine Mama nur
so komisch, wo war mein kleines Brüderchen und wieso musste Papa so viel
arbeiten?
Doch traute ich mich aus Angst nicht, diese Fragen laut zu stellen, denn ich
dachte, wenn ich etwas verkehrt mache, dann verschwinde ich auch wie mein
kleiner Bruder.
Als mein Vater den Druck, den meine Mutter durch ihre Depressionen auf ihn
ausübte, nicht mehr standhalten konnte, fingen sie an sich zu streiten und
ließen ihre Launen aneinander aus.
Am Anfang haben meine Eltern sich nicht vor meinen Augen gestritten, doch je
mehr Zeit verging und umso älter ich wurde, war ihnen auch dies egal.
Immer öfter bekam ich das Gestreite meiner Eltern mit und konnte einfach
nicht verstehen, warum sie dies taten.
Doch die Streitereien wurden immer schlimmer. Am Anfang haben sie sich
angeschrieen, doch nach einiger Zeit, ich glaube, es war so vor einem Jahr,
wurden sie sich gegenüber handgreiflich. Zuerst waren es nur
Einrichtungsgegenstände wie Vasen, Teller, Tassen, die irgendwo an der Wand
oder am Boden zu Bruch gegangen sind. Jedoch bald reichte es ihnen nicht
mehr aus und sie verletzten sich gegenseitig nicht nur verbal, sondern auch
körperlich.
Ich hatte noch immer Angst, sie zu fragen, sie anzuflehen damit aufzuhören,
denn ich wollte nicht auch noch meine Eltern verlieren!
Also schwieg ich.
Ich habe Abwehrmechanismen entwickelt, indem ich die Streits verdränge und
mich in meine Fantasiewelt zurückziehe.
In dieser Welt lebt mein Bruder noch, meine Eltern lieben sich und streiten
sich nicht. Ja, in meiner eigenen Welt, gibt es kein Leid und wir leben alle
glücklich zusammen. Dort wird meine Mutter nicht von meinem Vater betrogen
und mein Vater leidet nicht an den Depressionen meiner Mutter.
Ich verschließe meine Augen vor der Wahrheit und flüchte mich in meine
Tagträume, denn ich habe Angst, Fragen zu stellen oder gar mich jemandem
anzuvertrauen.
Ich liebe meine Eltern doch und will nicht von ihnen weg!
Zwei laute Schüsse unterbrechen mein Summen und ich werde aus meiner Trance
gerissen. Desorientiert sehe ich mich blinzelnd in meinem Zimmer um. Es ist
plötzlich so still und mein Blick fällt zu meiner Digitaluhr, die auf meinem
Nachttisch steht. Diese zeigt mir an, dass erst 15 Minuten vergangen sind,
als meine Eltern angefangen haben sich zu streiten. Unsicher blicke ich zu
meiner Zimmertür und runzle meine Stirn, denn ich weiß, dass ihre Streits
meist über eine Stunde andauern. Zögerlich und mit einem komischen Gefühl im
Bauch stehe ich von meinem Bett auf und gehe auf meine Zimmertür zu. Meine
rechte Hand lege ich zitternd auf die Türklinke und wie in Zeitlupe öffne
ich die Tür. Mit einer schrecklichen Vorahnung und wackligen Beinen gehe
ich ins Wohnzimmer. Erschrocken bleibe ich stehen und bringe keinen einzigen
Ton heraus. Was ich jetzt sehe, kann ich noch gar nicht begreifen. Blut,
überall ist Blut, auf dem Boden und an den Wänden. Meine Eltern liegen
blutüberströmt auf dem Boden und bewegen sich nicht mehr. Ich frage mich,
was passiert ist und schaue mit weit aufgerissenen Augen auf den Revolver in
der Hand meiner Mutter. Ich bemerke nicht mal, wie stark ich zu zittern
anfange und mir die Tränen über mein blasses Gesicht laufen. Ich kann es
einfach nicht begreifen. Wieso konnte das nur passieren? In diesen 15
Minuten bekam meine eh schon kaputte Welt noch einen Knacks. Erst nach ein
paar Minuten wird mir klar, was dieser letzte Streit meiner Eltern, der 15
Minuten angedauert hat, für große Auswirkungen auf mein Leben und meine
Gefühlswelt haben wird. Haltlos falle ich auf den Boden und starre immer nur
auf die Leichen meiner Eltern. Ich nehme nichts mehr um mich herum wahr. So
höre ich auch nicht das Klingeln und laute Klopfen an der Wohnungstür. Als
die Tür dann aufgebrochen wird und die Polizisten mit gezogenen Waffen die
Wohnung stürmen, sitze ich noch immer apathisch auf dem Fußboden und weine.
Das einzige woran ich nun denke ist, dass ich das Ganze nicht gewollt habe.
Ich wollte doch nicht, dass meine Eltern sterben und so aufhören zu
streiten. Ist es meine Schuld, warum sie nun tot sind? Schließlich habe ich
mir doch gewünscht, dass sie endlich aufhören zu streiten und sich
gegenseitig zu verletzen! So in meinen Gefühls- und Gedankenchaos gefangen
bemerke ich nicht, wie mich ein Sanitäter aus der Wohnung trägt. Menschen,
die ich nicht kenne, reden auf mich ein, wollen wissen was hier passiert
ist, doch ich kann ihnen einfach nicht antworten. Noch immer zittere ich am
ganzen Körper wie Espenlaub und lasse es zu, dass man mir etwas spritzt, das
sich später als Beruhigungsmittel herausstellt. Langsam bemerke ich, wie
meine Augen immer schwerer, meine Gedanken weniger und sinnloser werden.
Wenig später bin ich in einem traumlosen Schlaf gefangen.
Blinzelnd und etwas vernebelt wache ich aus meinem Schlaf auf. Verwirrt sehe
ich mich um und erkenne nach einigen Sekunden, dass ich in einem weißen und
sterilen Krankenhauszimmer bin. Plötzlich kommen die Bilder von gestern
Abend wieder hoch und ich kralle mich Halt suchend in der Bettdecke fest.
Zitternd und stoßweise atmend starre ich auf einen imaginären Punkt und
heiße Tränen rollen meine Wangen hinunter. Doch kein Laut verließ meine
Lippen und so saß ich Stunden auf diesem fremden Bett in einer unbekannten
Umgebung.
Nach einigen Stunden geht die Tür auf und ein älterer Mann geht auf mich zu
mit einer Akte in der Hand. Der Mann mit dem weißen Kittel und dem
Stethoskop um den Hals sagt etwas zu mir, doch die Worte dringen einfach
nicht zu mir durch. Der Fremde legt die Akte auf dem Nachttisch ab und
seufzt leise. Nach wenigen Minuten gibt er es auf, mit mir zu reden und
fängt an, mich zu untersuchen. Nun auch erkenne ich, dass dieser Mann ein
Arzt ist und die Zettel, die er auf dem Nachttisch abgelegt hat, meine
Krankenakte ist. Ich lasse die Untersuchung noch immer stumm weinend über
mich ergehen.
Als der Arzt endlich fertig ist mit seinen Tests und Untersuchungen, sagt
dieser noch etwas zu mir und verlässt dann den Raum. Nun bin ich wieder
alleine und starre aus dem Fenster. Es regnet und helle Blitze
durchschneiden den dunklen Himmel. Der Wind fegt durch die Bäume, reißt
dabei Blätter mit sich und das Getöse des Windes wird von lautem
Donnergrollen durchbrochen. Etliche Minuten später stehe ich mit wackligen
Beinen auf und sehe meine Kleidung von gestern sauber zusammengefaltet auf
einem Stuhl liegen. Mit kleinen Schritten gehe ich zu meinen Sachen und
ziehe sie mir an. Als dies geschafft ist, laufe ich zur Tür und öffne diese.
Mehrere Leute laufen hektisch an mir vorbei und nehmen dabei keine Notiz von
mir. Wie von selbst setzen sich meine Beine in Bewegung und ich irre ziellos
durch die Flure des Krankenhauses. Nur langsam nehme ich meine Umwelt wieder
richtig wahr und sehe mich nun um. Vor mir breitet sich ein großer Warteraum
aus, der mit Patienten und deren Angehörige gefüllt ist, immer wieder wird
jemand aufgerufen, der den Warteraum daraufhin verlässt. Ich betrete den
Raum und steuere auf einen freien Stuhl zu und komme dabei an einem Tisch
vorbei, auf dem lauter Zeitungen liegen. Eine Zeitung springt mir gleich ins
Auge und ich nehme sie mit. Wieder setze ich mich in Bewegung, bleibe vor
dem freien Stuhl stehen und setze mich hin. Als ich die Zeitung aufschlage,
fällt mir sofort ein Artikel mit einem Bild ins Auge und meine Augen weiten
sich vor Schreck, da ich unsere Wohnung auf diesem Bild erkenne. Ich fange
an, den Artikel zu lesen:
War die Krankheit schuld am Mord?
Es geschah am 3.5.1999, als man am Abend Frau und Herr Schmitt tot in ihrer
Wohnung auffand. Von Nachbarn haben wir erfahren, dass sich das Ehepaar sehr
oft gestritten hatte und es auch immer wieder zu Handgreiflichkeiten
gekommen war. Auch an diesem verhängnisvollen Abend hatte sich das Ehepaar
lautstark gestritten, bis man zwei Schüsse durch das Haus hallen hören
konnte. Leider war es nicht bei einem Ehestreit geblieben. Frau Schmitt
erschoss ihren Ehemann und danach sich selbst. Warum sie dies getan hat ist
uns noch unbekannt. Doch können wir aus sicherer Quelle sagen, dass Frau
Schmitt an Depressionen gelitten hat. War es diese Krankheit, die Frau
Schmitt zur Mörderin werden ließ.
Das Ehepaar hinterlässt eine 11-jährige Tochter, die zurzeit unter Schock
steht, da sie ihre Eltern tot aufgefunden hat. Sie liegt derzeitig im
Krankenhaus und wird dort medizinisch versorgt und betreut.
von J.C.
Mit jedem Wort, was ich lese, zittern meine Hände immer stärker. Als ich am
Schluss dieses Artikels angekommen bin, fällt mir die Zeitung aus der Hand
und segelt langsam zu Boden. Das einzige, woran ich jetzt nur noch denke,
sind Fragen wie: Wieso konnte dies passieren? Warum hat meine Mutter dies
getan? War mein Wunsch daran schuld, dass all dies passieren musste? Hatte
ich nicht das Recht auf eine glückliche Familie? Auf eine heile Welt?
Nun weiß ich, was alles in innerhalb von 15 Minuten passieren kann. In 15
Minuten ist mein ganzes Leben aus den Fugen geraten und in sich zusammen
gebrochen. Nur 15 Minuten hat es gedauert, um mich Vollwaise werden
zulassen, nun bin ich ganz allein auf dieser kalten und großen Welt. Meine
ganze Familie, die ich noch besaß, wurde innerhalb von 15 Minuten
ausgelöscht.
Einsam!!!
Genau dies bin ich jetzt, dass was ich nie sein wollte, allein!!!