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Irgendwo in dieser Welt

von

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Unter Wasser

Es erschien mir wie eine Ewigkeit, dass ich zuletzt Bahn gefahren war. Noch immer ein wenig müde, aber unter Strom lehnte ich gegen eine der Stangen und wartete darauf, dass ich endlich an der ersehnten Station ankommen würde.

Dabei schickte ich Stoßgebete an alle Gottheiten, die es gab – und ein paar, die ich gerade erst erfand – dass er wirklich dort war, wo ich ihn suchen wollte. Er musste einfach dort sein, es gab keine andere Möglichkeit! Und wenn er nicht dort war, würde ich ihn finden und ihm dafür eine reinhauen, dass ich ihn erst suchen musste.

Was dachte er sich auch dabei, einfach zu verschwinden?

Verdammt, was, wenn er sich wirklich etwas antun würde?

Sicher, es dauerte wohl nicht mehr lange, bis er 18 wurde und selbst entscheiden durfte, was er tun wollte – aber er wusste genauso gut wie ich, dass er möglicherweise trotzdem keine Wahl haben würde. Wenn er die Therapie abbrach und das Krankenhaus verließ, wäre das ein Zeichen, dass er sich selbst aufgab und das würde alle enttäuschen, die ihn lieben. Also gab es keinen Ort, zu dem er zurückkehren könnte. Weder bei seiner Familie, noch bei uns, noch sonst irgendwo. In seinen Augen hatte er also nichts mehr zu verlieren.

Ich konnte nur hoffen, dass er nicht so negativ dachte wie ich.

An der Station angekommen sprang ich schließlich aus der Bahn, kaum, dass sich die Türen geöffnet hatten und lief los. Glücklicherweise besaß ich ein recht gutes Gedächtnis, so dass ich ohne nachzudenken einfach von dem erhöhten Plateau der Haltestelle hinunterklettern und quer über die am frühen Morgen unbelebte Straße hasten konnte.

Der Fluss glitzerte friedlich im Sonnenlicht, allerdings brachte das keinerlei Linderung meiner Panik mit sich. Leider. Ich wünschte, ich wäre nicht mehr so nervös und aufgewühlt gewesen, ich wünschte, in meinem Inneren hätten sich nicht dauernd die Bilder wiederholt, was sich Zetsu wohl inzwischen alles angetan haben mochte.

Stattdessen versuchte ich, mich auf die Umgebung zu konzentrieren. Offenbar kümmerte sich in der Gegend niemand sonderlich um diese, überall lag noch Bauschutt herum oder halbfertige Gebäude. Was auch immer passiert war... es war ein trauriger Anblick.

Die gesuchte, verlassene U-Bahn-Station lag direkt neben dem Wasser, ich konnte mir bereits denken, warum sie aufgegeben worden war – und möglicherweise war das auch der Grund gewesen, warum alle anderen Bauarbeiten hier stillgelegt worden waren.

Ich ging die halb verfallenen Stufen hinunter in eine verlassene Halle, in der noch alte, zerstörte Automaten herumstanden, genau wie ein verlassener Kiosk. Alles hier erschien mir wie ein perfekter Abenteuerspielplatz, kein Wunder, dass er früher gern hier gewesen war.

Da ich ihn in der Halle nicht entdecken konnte, wollte ich die nächste Treppe hinuntergehen – allerdings musste ich schon nach wenigen Schritten wieder innehalten.

Hier zeigte sich, dass mein Verdacht richtig gewesen war: Wasser war durch die Wand gebrochen und hatte die Station überflutet.

Es war ein ziemlich interessanter Anblick, wie man ihn sonst nur aus diesen Endzeit-Filmen kannte, nachdem die halbe Menschheit bereits ausgelöscht worden war und der Protagonist sich nur noch mit einer handvoll Überlebenden durch zerstörte Städte schlug, um einen sicheren Ort zu finden.

Eigentlich fehlten nur noch diese seltsamen Mutanten...

Aus irgendeinem Grund fiel mir in dem Moment wieder Zetsu ein, den ich ja gerade suchte. Ich wandte meinen Blick nach links und erschrak für einen kurzen Moment, als ich dort eine Gestalt ausmachen konnte.

Doch mein Puls normalisierte sich rasch wieder. Vorsichtig ging ich auf ihn zu.

Zetsu blickte nicht einmal auf, auch nicht als ich mich neben ihn setzte. Aber ich konnte sehen, dass er ein wenig zu lächeln begann.

Ich sagte nichts, aber er fühlte sich offenbar dazu berufen, es zu tun. „Du hast mich also gefunden. Gut gemacht.“

„Wir haben erst gestern darüber gesprochen. Natürlich habe ich es mir da gemerkt.“

„Ich hätte nicht erwartet, dass du mich suchen kommst.“

Seufzend schüttelte ich mit dem Kopf. „Du solltest langsam wissen, dass ich mir Sorgen um dich mache – auch wenn ich das ungern zugebe.“

Entgegen meiner Befürchtung, dass er nun genau wie bei seinem Gespräch mit Nozomu die Nerven verlieren würde, lachte er leise. „Ja und es scheint wohl tatsächlich zu stimmen. Danke, Leana.“

Mein Gesicht wurde rot, verlegen wandte ich den Blick ein wenig ab und sah lieber wieder aufs Wasser. Im klaren Nass konnte ich einen Fisch schwimmen sehen, der uns für einen Moment zu beäugen schien und dann zwischen den Säulen verschwand – nur um kurz darauf mit noch mehr von seiner Sorte zurückzukommen. Doch während ich darüber lächeln musste, trübte sich Zetsus Ausdruck. „Früher stand das hier nicht unter Wasser.“

„Die Zeit hat wohl ziemlich an diesem Ort genagt.“

Als die Station verlassen wurde, hatte man wohl bereits von der Gefahr gewusst, die von dem nahegelegenen Fluss ausging und Zetsu und Nanashi hatten immer nur Glück gehabt, dass bei ihren Besuchen nichts geschehen war.

„Früher waren wir immer hier, bis wir von Arbeitern der angrenzenden Baustellen verjagt wurden. Jetzt könnten wir uns gar nicht mehr verstecken...“

Ich verzichtete, ihn darauf hinzuweisen, dass die Baustellen auch verwaist waren – glücklicherweise, denn im Nachhinhein fällt mir auf, dass sonntags eher selten gearbeitet wird, das wäre ziemlich... peinlich geworden. Als ich neulich mal wieder vorbeiging, wurde dort nämlich tatsächlich wieder gearbeitet, also war meine erste Einschätzung falsch gewesen. Aber immerhin war ich in Panik gewesen, da konnte man solche Fakten schon einmal ausblenden.

„Das Wasser zerstört meine Vergangenheit...“

„Aber nicht deine Erinnerungen“, sagte ich überzeugt.

Endlich wandte er den Blick vom Wasser ab und sah stattdessen mich an. Seine gerunzelte Stirn ließ mich fortfahren: „Deine Schwester wird nicht wiederkommen, egal wie sehr du dich an eure gemeinsame Zeit klammerst. Ich kann verstehen, dass du diese Zeit zurückhaben willst, aber das wird nicht funktionieren. Alles ändert sich einmal. Dieser Ort, ich und auch du – zumindest solltest du das.“

Ich schwieg einen Moment, in dem ich ihn das verarbeiten ließ, was ich eben gesagt hatte. Hinter seiner Stirn arbeitete es sichtlich angestrengt, ich wartete, bis er wieder ein wenig entspannter schaute, dann fuhr ich fort, ehe er etwas erwidern konnte: „Das heißt nicht, dass du sie vergessen sollst, nein, du sollst die Erinnerungen in dir behalten, aber dich dennoch weiterentwickeln. Du wirst dich verändern, so wie dieser Ort, aber du wirst dich immer noch an deine Schwester erinnern.“

Schweigend sah er mich an, als ich wieder verstummte. Da ich in seiner Mimik nichts mehr ablesen konnte, glaubte ich, dass er im nächsten Moment aufstehen und wieder abhauen würde. Ich wollte schon vorsichtshalber nach seinem Arm greifen, doch plötzlich begann er schallend zu lachen.

Meine Sorge wandelte sich erst in Verwirrung und dann in Ärger. Mit meinem Wutausbruch wartete ich allerdings bis er sich wieder beruhigt hatte. Doch kaum war das geschehen, lächelte er so warmherzig, dass sämtlicher Ärger in meinem Inneren schmolz.

„Du hast wohl zuviel mit Dr. Breen geredet, was?“

Fragend neigte ich den Kopf, worauf er mir erklärte, dass der Arzt ihm genau dasselbe erzählt hatte, damals als er noch tatsächlich mit dem Personal gesprochen hatte. Deswegen hatte er schließlich beschlossen, nichts mehr zu sagen, er wollte einfach nicht mehr solch einen Unsinn hören.

„Dann hab ich dir diesen Vortrag jetzt umsonst gehalten?“, hakte ich unzufrieden nach.

Er blickte wieder aufs Wasser. „Weißt du, es ist etwas anderes, wenn man das von jemandem hört, der auch depressiv und kein Arzt ist.“

„Ich bin nicht depressiv“, erwiderte ich brummend, doch er antwortete nicht darauf.

Stattdessen sog er tief in die Luft ein – ich tat ihm das nach, bereute es allerdings sofort, als die abgestandene, leicht faulige Luft meine Atemwege erfüllte.

„Jetzt sind wir tatsächlich doch noch gemeinsam hier gewesen“, sagte er.

Ich merkte sofort, dass er das Thema mit seinen Erinnerungen und seiner Schwester nicht mehr anfassen wollte und da ich mich nicht wirklich wie eine Therapeutin fühlte, war ich auch ganz froh darum. Immerhin war er nun nicht mehr so abweisend wie zuvor und auch sein Lächeln war wieder das echte, das in meinem Körper ein aufgeregtes Kribbeln auslöste.

„Weißt du, was hier noch fehlt?“

Romantische Beleuchtung, ein Orchester, ein Teller Spaghetti und...?

Ich wurde augenblicklich rot, als ich weiter an diese Filmszene dachte, aber ihm schien das gar nicht aufzufallen. Und falls doch, so verstand er es blendend, das zu überspielen und er war nett genug, darüber hinwegzusehen.

„Nein, was fehlt noch?“, fragte ich mit brüchiger Stimme.

„Unterwasserbeleuchtung“, antwortete er mit funkelnden Augen. „Stell dir vor, wenn dieses Becken noch von innen heraus leuchten würde, das wäre doch der Wahnsinn.“

Ich lachte leise über seinen kindischen Enthusiasmus und auch darüber, dass wir zumindest einen ähnlichen Gedanken geteilt hatten. „Du würdest hier mit Sicherheit bestimmt auch noch schwimmen gehen.“

„Ein Tauchgang“, bestätigte er. „Das wäre doch mit Sicherheit aufregend.“

Das sah ihm so ähnlich, aber diese Stimmung gefiel mir wesentlich besser als die bedrückte vom Tag zuvor.

„Wenn du gesund bist, gehen wir mal wirklich tauchen.“

Warum genau ich das sagte, wusste ich selbst nicht, aber allein die Vorstellung, dass wir beide gemeinsam möglicherweise einmal irgendwohin fahren würden, erfüllte mich mit einer ungeahnten Vorfreude, die ich noch nie zuvor verspürt hatte.

Ich erwartete, dass er abwehren und mich wieder daran erinnern würde, dass er sterben würde, doch stattdessen sah er wieder mich an und nickte. „Ja, lass uns das machen.“

Ich sagte nichts mehr darauf, lächelte aber, damit er sah, dass ich es ernst meinte.

Für einen ewig langen Moment sahen wir uns nur gegenseitig an, ich speicherte sämtliche Details seines Gesichts, insbesondere seiner Augen, in meinem Gedächtnis ab, damit ich das hier nie vergessen würde. In kitschigen Filmen und Serien küssten die Protagonisten sich in diesem Moment und sahen dann ihrem Happy End entgegen – doch wir dagegen blickten schließlich wieder gemeinsam auf das Wasser. Wir unterhielten uns nicht, sondern saßen nur schweigend nebeneinander und doch genoss ich diesen Moment fast mehr als jeden anderen zuvor – und ich hoffte, ihm war der Augenblick genauso wichtig wie mir.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  LeanaCole
2012-07-13T10:32:30+00:00 13.07.2012 12:32
ihm dafür eine reinhauen, dass ich ihn erst suchen musste.

Das solltest du wirklich tun XD


Wir unterhielten uns nicht, sondern saßen nur schweigend nebeneinander

Das können die beiden gut. Und sie mögen es noch XD


Ah, jetzt hat Lea ihn nicht geschlagen. Dabei hätte er das echt verdient. Aber seinem Lächeln kann man auch echt nicht widerstehen *lach*
Hier muss ich aber echt sagen, dass mir deine Beschreibung der U-Bahn-Stion echt gefallen hat... und irgendwie musste ich an Aldwych aus Tomb Raider 3 denken XD
Ansonsten fand ich das Kapitel auch sehr schön, weil es eben Zetsu und Lea hatte, die sich wieder etwas näher gekommen sind X3
Nur langsam mache ich mir Sorgen um Lea. Diese kitschigen Gedanken tun ihr nicht gut XD


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