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Green Sea of Darkness

von

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Kapitel 6

Sie lag noch immer so da, wie James sie nach seiner überstürzten Rückkehr aus dem Büro vorgefunden hatte. Ihre ausgerenkten Arme standen in einem grotesken Winkel vom Körper ab und man hatte ihr den Unterrock hochgeschoben, um das klaffende Loch in ihrem Bauch zu enthüllen. Ein penetranter Gestank ging von dem Leichnam aus, über dem sich bereits die Fliegen in dunkel flirrenden Schwärmen versammelten.
 

Unfähig den Anblick auch nur einen Augenblick länger zu ertragen wandte er sich ab und presste die Schläfe seines Ärmels über Mund und Nase. Als die Übelkeit verflogen war, sah er sich nach Jack um. Der Pirat stand einige Schritte hinter ihm und schien darüber nachzudenken, ob er sich mitten in der Eingangshalle übergeben oder bis zum Treppenabsatz wanken sollte.
 

„Das ist … war Mrs. Lidford“, würgte James hervor.
 

Jack nickte stumm und nahm in einer seltsam hilflos wirkenden Geste seinen Hut ab.
 

James hatte während seiner Zeit bei der Royal Navy Dinge gesehen, die er gerne vergessen hätte. Schreckliche Dinge …
 

… und sie brannten wie Fackeln …
 

… doch der leblose Körper seiner Haushälterin, aufgeschlitzt und ausgeweidet wie Schlachtvieh erschien ihm eine Barbarei, der er sich selbst in seinen schlimmsten Albträumen nicht hätte ausmalen wollen.
 

„Er hat gewusst, dass sie hier sind“, stellte Jack mit schwacher Stimme fest.
 

„Und er hat es mich wissen lassen. Erinnert Ihr Euch an Eure Bekanntschaft von gestern? Nun, ich werde sie ganz sicher nicht vergessen – man hat mir ihren Kopf zugestellt.“
 

Allein der Gedanke an die weit aufgerissenen Augen und den blutigen Stumpf, elegant in eine Hutschachtel gebettet, ließ ihn Gallenflüssigkeit schmecken. Er konnte sich nicht daran erinnern, wie er vom Kontor nach Hause gelangt war, doch es fühlte sich an, als wäre er geflogen, getragen auf den blutigen Schwingen eines unvorstellbar grausamen Verbrechens. Wie Jack die Nachricht aufnahm, vermochte er nicht zu sagen. Die Augen des Piraten waren leer und mit hypnotisch anmutender Hartnäckigkeit auf Mrs. Lidford gerichtet. James war sich nicht sicher, ob er ihm überhaupt zugehört hatte, als er plötzlich aufblickte und mit seltsam tonloser Stimme fragte: „Wo habt Ihr sie versteckt?“
 

„Auf dem Dachboden,“ antwortete James verdutzt, „aber ich war bereits dort. Keiner von Ihnen hat …“
 

Weiter kam er nicht. Jack stürzte an ihm vorbei und hatte bereits den ersten Stock erreicht, als James’ Füße endlich seinem Befehl gehorchten und ihm folgten.

***
 

Ohne auch nur einen Gedanken an das Risiko einer Falle zu verschwenden stürmte Jack über den Treppenaufgang nach oben. Instinktiv wählte er den richtigen Weg, kämpfte sich durch das Dämmerlicht eines muffig riechenden Flures und erreichte schließlich die unscheinbare Klappe, die man am hinteren Ende in die Decke eingelassen hatte. Sie stand offen, ein klaffendes schwarzes Loch, das ihm wie das stinkende Maul eines grotesken, menschenfressenden Monsters erschien. Eine Leiter war noch immer angelehnt; offenbar hatte der Entführer sie zurückgelassen, als er mit den Kindern geflohen war.
 

Schwer atmend griff Jack nach den Streben und hielt für einen Augenblick inne. Obwohl er versuchte dagegen anzukämpfen, schlichen sich grauenvolle Bilder in sein Bewusstsein. Er sah Jemi und Aimen vor sich, wie sie die Leiter hinuntergestoßen wurden. Ihre Gesichter waren angstverzerrt und ihre Wangen tränenüberströmt, doch ihr Peiniger, eine groteske, gesichtslose Gestalt kümmerte sich nicht darum. Vor seinem inneren Auge tauchte Momoh auf, der gesenkten Hauptes die Leiter hinabstieg, seine Miene eine Maske aus Zorn und Enttäuschung. Und schließlich war da noch Sheza. Sheza, die …
 

„Nein, es reicht!“
 

Ohne sich dessen bewusst zu sein, sagte er die Worte laut in die Dunkelheit des Flures hinein. Erst ein irritiertes „Was?“ holte ihn in die Realität zurück. Erschrocken über die eigene Geistesabwesenheit wandte er sich um und erkannte die Silhouette von James Norrington, der einige Meter von ihm entfernt stand.
 

Er hatte die Beherrschung verloren, nur für einen Moment zwar, doch lange genug, um sich damit die Blöße zu geben. Mit einem Mal fühlte er sich nackt und schutzlos, was in diesem speziellen Fall rein gar nichts mit einem Mangel an Kleidungsstücken zu tun hatte. Peinlich berührt wandte er sich ab und stieg ohne ein weiteres Wort die Leiter hinauf. Ihm war, als würde er in völlige Dunkelheit eintauchen. Mit fahrigen Bewegungen tastete er nach dem Boden und fand schließlich auf knarrenden Dielen Halt. Er holte noch einmal tief Luft, dann zog er sich hoch und trat ins Ungewisse. Entgegen seiner Erwartungen wies der Dachboden einige schmale Luken auf, die matt schimmernde Lichtfetzen über die staubigen Bretter warfen. Als sich seine Augen an das unwirkliche Dämmerlicht gewöhnt hatten, erkannte Jack einige aufeinander gestapelte Kisten und einen grotesk geformten Gegenstand, der sich bei näherer Untersuchung als geborstener Überseekoffer entpuppte.
 

Die Decke war hoch genug, um ihm eine annähernd aufrechte Haltung zu gestatten, wofür Jack und sein schmerzender Rücken ausgesprochen dankbar waren. Langsam tastete er sich vorwärts, eine Hand fest um den Griff seines Degens geschlungen. Die Panik war verflogen, ebenso der Drang, mit verzweifelter Stimme nach den Kindern zu rufen. Der Sturm war abgeflaut und hatte eine seltsam drückende Leere in seinem Inneren hinterlassen. Er schien sich selbst aus der Vogelperspektive zuzusehen, während er über die schrecklich quietschenden Dielen schlich, leicht nach vorne gebeugt und mit einem gelegentlichen Blick über die Schulter, als erwarte er, von einem versteckten Häscher übermannt zu werden.
 

„Sparrow!“, hörte er Norringtons Stimme zu sich heraufdringen, leise und verzerrt, als würde er aus weiter Ferne zu ihm sprechen. „Ich war bereits oben, da ist nichts. Wäre es nicht vernünftiger, wenn Ihr wieder -“
 

Es war durchaus möglich, dass er den Satz beendete, doch Jack hörte es nicht mehr. Ein Windhauch streifte seine Wange und er fuhr gerade noch rechtzeitig herum um die Gestalt zu bemerken, die sich aus den Schatten löste und auf ihn zustürzte. Eine Fülle von Gedankenfetzen raste ihm in Rekordgeschwindigkeit durch den Kopf, nur um am Ende zu der glorreichen Erkenntnis zu gelangen, dass er ein Idiot war. Ein Volltrottel, den die Erfahrung nicht klug, sondern unvorsichtig gemacht hatte.
 

Etwas kam auf ihn zugestürzt, streckte die Arme nach ihm aus, doch er konnte sich nicht rühren. Es verwunderte ihn selbst etwas, wie gelassen er seinem Ende entgegensah, als sich ein Körper gegen seine Brust warf. Der Tod schien ihn sprichwörtlich in die Arme zu schließen und er ertappte sich dabei, wie er die Geste erwiderte. Seine Hände ertasteten den rauen Stoff eines abgerissenen Hemdes und verfingen sich schließlich in einer widerspenstigen Lockenmähne. In diesem Augenblick erkannte sein Verstand, was sein Herz längst wusste.
 

„Sheza“, sagte er leise. Seine Stimme war heiser und drohte ihm zu entgleiten. So beschränkte er sich darauf, sie an sich zu drücken und ihrem Herzschlag zu lauschen. Sie zitterte am ganzen Leib und klammerte sich an ihm fest, als könnte sie sich nicht aus eigener Kraft aufrecht halten. Ihre Verzweiflung schien beinahe greifbar und mit einem Mal fürchtete er sich vor dem, was sie ihm zu sagen hatte.
 

Er hielt sie noch immer fest, als die ächzenden Sprossen der Leiter verrieten, dass sie nicht länger ungestört waren. Sheza wurde augenblicklich steif und auch Jack verfiel kurzzeitig in Alarmbereitschaft, bis er Norringtons Kopf in der Luke auftauchen sah. Er hielt seinen Degen gefechtsbereit und rechnete wohl mit dem Schlimmsten. Umso größer schien seine Verwirrung, als er die beiden schattenhaften Gestalten bemerkte, die sich noch immer fest umklammert hielten.
 

„Alles in Ordnung, Junge“, sagte Jack und hob die Hand. Nichts war in Ordnung, doch daran konnte in diesem Augenblick wohl keine Waffe der Welt etwas ändern.
 

„Es ist nur unser Freund James Norrington“, flüsterte er an Sheza gewandt und löste sich sanft aus ihrer Umklammerung. Vorsichtig legte er ihr die Hände auf die Schultern und schob sie von sich, bis er ihr Gesicht sehen konnte. Wolken waren aufgezogen und der Dachboden schien noch dunkler als zuvor. Lediglich ein zaghafter Lichtstreifen fiel auf ihre Züge und verriet ihm, dass sie nicht geweint hatte. Die Panik in ihrem Blick war jedoch unverkennbar, und er stellte fest, dass sie sich in einem Versuch nicht zu schreien auf die Unterlippe gebissen haben musste.
 

„Wo sind die anderen?“, fragte er überflüssigerweise.
 

Sie sah ihn mit vor Schreck geweiteten Augen an und für einen Moment dachte er, sie hätte ihn nicht verstanden. Dann senkte sich ihr Blick und sie wies mit ausgestrecktem Arm in Richtung Treppe, wo Norrington noch immer mit gesenktem Degen stand. Sie schüttelte den Kopf und packte ihn mit überraschend festem Griff am Ärmel.
 

„Suchen!“, sagte sie, und es klang wie ein Flehen. „Wir suchen Momoh! Und Jemi und Aimen.“
 

„Wer hat sie geholt, Sheza? Wer ist hier gewesen?“
 

„Suchen!“, beharrte sie und Jack fühlte sich zunehmend hilflos.
 

„Wir können sie nicht suchen, wenn wir nicht wissen, wer sie entführt hat“, mischte sich Norrington mit belegter Stimme ein. Als er Shezas Aufmerksamkeit hatte, trat er langsam auf sie zu und sagte so langsam wie möglich: „Wer war es, Sheza?“
 

Es dauerte ein wenig, bis sie ihre Verwirrung überwunden hatte. Dann trat sie einen Schritt zurück und blickte unentschlossen zwischen Norrington und Jack hin und her. Schließlich legte sie eine Hand auf Jacks Kopf und sagte deutlich „nein“. Dann zeigte sie auf Norrington und nickte.
 

„Ihr?“, rief Jack aus, doch Sheza schüttelte schnell den Kopf, bevor er seine Waffe ziehen konnte. Wieder zeigte sie auf Jack und machte eine Geste, die auf seine Größe anzuspielen schien.
 

„Ich glaube, sie will damit sagen, dass er größer war, als Ihr“, mutmaßte Norrington.
 

Trotz der angespannten Lage verdrehte Jack die Augen. Es war nicht sonderlich schwer, ihn an Körpergröße zu übertreffen. Trotzdem ärgerte er sich jedes Mal wieder aufs Neue, wenn man ihn darauf aufmerksam machte.
 

„Was Ihr nicht sagt“, antwortete er deshalb schnell, um seine Befangenheit zu überspielen, doch Norrington schien keine Notiz von ihm zu nehmen.
 

„War es ein Weißer?“, fragte er Sheza. Als sie nicht antwortete, zupfte er kurzerhand an der Haut auf seiner Handfläche und sie nickte hastig. „Potho!“
 

„Ein Weißer, der ungefähr meine Größe hatte“, fasste Norrington zusammen, als wäre Jack nicht in der Lage, eins und eins zusammenzuzählen.
 

„Das schränkt den Kreis der Verdächtigen erheblich ein“, erwiderte er sarkastisch, doch seine Worte schmeckten bitter wie Galle. Sie hatten keine Chance. Wie sollten sie die Kinder jemals wieder finden, wenn sie noch nicht einmal Namen und Gesicht ihres Gegenspielers kannten? Und warum dachte er überhaupt über „sie“ im Plural nach? Irritiert von seinen eigenen Gedanken warf er Norrington einen fragenden Blick zu, der Admiral schien jedoch ganz anderen Befürchtungen nachzuhängen. Donnergrollen drang von ferne zu ihnen herüber und Jack erinnerte sich an die ungewöhnliche Schwüle des Nachmittags. Ein Gewitter war aufgezogen und es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis sich die Natur über Port Royal entlud. Sheza zuckte zusammen, und als sie ihre Hand in seine schob, drückte er sie unbewusst. Sie sah ihn an und aus ihren Augen strahlte trotz aller Verzweiflung der unerschütterliche Glaube an seine Fähigkeit, alles wieder in Ordnung zu bringen. Ihm schwindelte, doch noch im gleichen Atemzug stahl sich die Opiumtinktur zurück in sein Bewusstsein.
 

„Wir müssen hier weg“, sagte er unvermittelt und glaubte plötzlich, die Situation in aller Klarheit vor sich zu sehen. „Sie werden bald merken, dass eines der Kinder fehlt und zurückkommen. Bis dahin müssen wir hier verschwunden sein.“
 

Er erwartete, dass Norrington unnötig viele Fragen stellte oder erneut die Beherrschung verlor, doch er wirkte ganz ruhig, als wäre ihm selbst schon ähnliches durch den Kopf gegangen.
 

„Wohin?“, fragte er. „In die Stadt könnt Ihr nicht gehen. Wenn Euer Verfolger wusste, dass Ihr hier seid, dann weiß er auch von Euren Kontakten in Port Royal. Ich fürchte, Euer Plan die Stadt heute zu verlassen wurde bereits verraten.“
 

Jack nickte. Er dachte an Anamaria, kämpfte die Regung jedoch augenblicklich nieder und rief sich stattdessen das Opium zurück ins Gedächtnis.
 

„Was wollt Ihr also tun?“
 

Mit einem Schlag wurde Jack klar, warum Norrington so ruhig blieb. Er war ein Soldat und selbst unter widrigen Umständen bereit zu tun, was getan werden musste. Allerdings schien der Mord an seiner Haushälterin die Lage erschwert und sein Urteilsvermögen getrübt zu haben.
 

„Die Frage ist falsch gestellt“, sagte Jack vorsichtig, um nicht mit der Tür ins Haus zu fallen. „Eigentlich müsste es heißen: Was wollen wir tun?“
 

Ein Blitz erhellte den Dachboden und ließ Norringtons Haut seltsam bleich erscheinen. Der Ausdruck in seinen grünen Augen war erstaunt, beinahe ungläubig, und Jack fühlte das unwahrscheinlichste aller Gefühle in sich aufsteigen: Mitleid. Der arme Mann musste eine Menge durchgemacht haben, wenn er sich schon zu einem Bürodiener hatte degradieren lassen. Jacks Besuch hatte sein ganzes Leben aufs Neue durcheinander gebracht, und nun sah es tatsächlich so aus, als würden Ruhe und Ordnung auf ewig der Vergangenheit angehören.
 

„Wir?“, fragte er tonlos.
 

„Wenn Ihr hier bleibt, werden sie Euch töten.“ Es war keine mögliche Option, sondern eine Feststellung, die Jack an Anamarias Worte erinnerte:
 

„Diesmal hast du dich mit jemandem angelegt, der eine ganze Nummer zu groß für dich ist.“
 

Zweifellos war der Verfolger der Kinder kein gewöhnlicher Mann. Er war ein fanatischer Irrer, bereit, über Leichen zu gehen um zurückzuerlangen, was er glaubte zu besitzen. Natürlich waren Menschen kein Besitz, doch Jack wusste längst, dass es allzu weltfremd gewesen wäre, an diese Prämisse zu glauben. Ein Leben zählte nichts - gleich, ob es zu einem Kind oder einem Admiral gehörte.
 

„Aber sie sind hinter Euch her“, stellte Norrington mit zitternder Stimme fest. „Was habe ich …?“
 

„Ihr habt eine ganze Menge damit zu tun“, unterbrach ihn Jack hastig. „Eine ganz Menge mehr als diese unglückselige Straßenhure. Oder Eure Haushälterin.“
 

Es donnerte erneut und Norrington schluckte so heftig, dass der Adamsapfel unter seinem Kragen hervortrat. Er öffnete den Mund, doch bevor er etwas sagen konnte, erfüllte Shezas Stimme den Dachboden.
 

„Schnell!“, sagte sie entschlossen. „Wir gehen!“
 

Es schien, als hätte Norrington nur auf eine konkrete Anweisung gewartet. Mit gestrafften Schultern nickte er Sheza zu und wandte sich dann an Jack.
 

„Könnt Ihr reiten?“



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