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Who's afraid of Bogeyman?

Wer hat Angst vorm schwarzen Mann
von

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Wo ist Cassis?

Wir liefen durch den Wald.

Und das schon ziemlich lange, wenn ich mich recht erinnerte.

Nachdem wir aus dem Kino gekommen waren und uns noch einige Zeit mit Taubenjagen vergnügt hatten, hatte die Lehrerin von Monsters und Cassis’ Klasse uns gefunden.

Also hatten wir uns wieder getrennt.

Ich erinnerte mich noch genau an Cassis’ Blick.

Sie hatte mich zur Seite genommen und mich wieder so eindeutig angestrahlt.
 

„Ich bin der glücklichste Mensch auf der Erde!“, hatte sie geflüstert, „Weil du der Mensch bist, der meinen Bruder rettet!“

Ich hatte sie verständnislos angestarrt und ihr erklärt, dass er mich hasste.

Aber das schien ihr klar gewesen zu sein.

„Hass ist ein leidenschaftliches Gefühl. Er ist so stark, so tief in einem verwurzelt und von Hass ist es nur ein kleiner Schritt zur Liebe. Bo redet über jeden schlecht, doch von dir habe ich noch nichts Schlechtes gehört. Du musst ihm sehr wichtig sein!“
 

Diese Worte hallten in der Leere meines Kopfes wieder und wieder.

Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass Bogey mich mögen könnte, das war so… bizarr.

Ich starrte auf Bogeys Rücken, wie er sich vor mir her über den Weg bewegte.

Heute war ein guter Tag gewesen.

Und schuld daran war Bogey.

Er hatte mich vor einem langweiligen Dahinvegetieren bewahrt und den Tag zu einer guten Sache gemacht.
 

„Wir sind gleich da!“, sagte er gerade.

„Sag mal, Bogey?“, murmelte ich und er drehte sich halb zu mir um.

Sein Blick war genauso undeutbar wie immer.

„Was?“, fragte er ziemlich unfreundlich.

„Kannst du… kannst du mich eigentlich leiden?“

Ich hasste mich dafür, ihn das zu fragen.

Doch ich musste es einfach wissen, um heute Nacht schlafen zu können.

Einen Moment lang sah er mich einfach nur an, dann drehte er sich um und legte beide Hände auf meine Schultern.

Ganz langsam kam er mir immer näher, bis nur noch wenige Zentimeter unsere Gesichter voneinander trennten.

Ich wich nicht zurück, sondern sah nur mit klopfendem Herzen zu ihm auf.

Als könnte mein Körper sich nicht entscheiden, ob er Angst vor Bogey hatte, oder sich von ihm angezogen fühlte.

Dann sagte er ganz leise und mit kalter Stimme:
 

„Ich hasse dich, Shady!“
 

Mir lief ein angenehmer Schauer den Rücken hinunter.

Hätte Cherry das gesagt, wäre ich traurig gewesen und hätte mich gefragt, was ich falsch gemacht hatte, doch bei Bogey…

Es lag so viel Emotion in seiner Stimme.

Es klang so von Herzen, wie er das sagte!

Bogey sah mich noch einen Moment lang an, dann ging er weiter und ich folgte ihm.

Seltsamerweise musste ich feststellen, dass ich glücklich war.

So glücklich wie schon lange nicht mehr.
 

Um Punkt sieben Uhr standen wir vor der Jugendherberge.

Genau wie er es gesagt hatte.

Frau Wendiger stand da, in der Hand eine Uhr und sah uns überrascht an, als wir so unglaublich pünktlich auf sie zukamen.

Doch das milderte nicht ihre Wut.

Cherry stand neben ihr und trat nervös von einem Bein auf das andere.

Tinkerbell stand neben ihr und hatte einen Arm um sie gelegt.
 

Bogeys Blick ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.

Auch Frau Wendiger schien allen Mut aufzubringen, um ihre Strafrede zu schmettern.

„Wie könnt ihr das wagen!“, rief sie dennoch laut und wütend, „Das ist eine Schulveranstaltung, ich sollte euch direkt wieder nach Hause schicken. Das ist eine Unverschämtheit, haben eure Eltern euch nicht erzogen? Die Verantwortung für euch liegt bei mir…“
 

Und so weiter.

Ich seufzte leise und sah Bogey an.

Er sah zurück und dann lächelte er.

Ich lächelte zurück.

Ich wusste nicht, was so lustig war, aber irgendwie konnte ich mich nicht beherrschen.

Mein Mund öffnete sich, wie von alleine, zu einem befreienden Lachen.

Frau Wendiger verstummte, Cherry starrte mich fassungslos an und Bogey fiel in mein Lachen ein.

Da standen wir nun, kurz davor von der Schule verwiesen zu werden, und lachten.

„Ich…“

Frau Wendiger unterbrach sich noch einmal.

In den ganzen vier Jahren, die sie nun schon meine Lehrerin gewesen war, hatte ich nicht ein einziges Mal Freude gezeigt.

Und nun lachte ich.

Es fühlte sich gut an, irgendwie richtig.

Nicht so falsch wie das Lachen, was die anderen lachten, es war freier.

„Sie können uns ruhig nach Hause schicken!“, meinte Bogey und grinste breit und zufrieden, „Aber das war es wert!“

Er zwinkerte mir zu und ging dann hinein.
 

Langsam hörte ich auf zu lachen und ein seliges Lächeln blieb zurück, was sich nach und nach verflüchtigte.

„Oh Shady!“, quietschte Cherry auf einmal und fiel mir um den Hals.

Doch der Moment war vorbei.

Irgendwie war ich wieder ruhig.

„Schon gut, Cherry! Ist ja alles in Ordnung!“, murmelte ich und sah zu Tinkerbell hinüber.

Der grinste mich auch an.

„Endlich, ich dachte schon du wärst die Depression in Person!“

„Bin ich auch!“, knurrte ich.

Dann gingen wir hinein zum Essen.
 

Während alle am Tisch saßen und Suppe in sich hineinschaufelten, starrte ich abwesend aus dem Fenster.

Hunger hatte ich nicht, mein Essen kühlte unberührt vor sich hin.

Ich dachte nach.

Die Hauptbeschäftigung meines Lebens, denke ich.

Immer und immer wieder nachdenken.

„Ich hasse dich…“

„Hast du was gesagt?“, fragte Cherry neben mir und ich zuckte zusammen.

„Nein… ich war nur in Gedanken!“, meinte ich und sah zu ihr hinüber.

„Dann aber ziemlich weit weg!“, kommentierte Tinkerbell und Cherry und er grinsten sich an.

Ich sah zwischen ihnen hin und her.

„Ich gehe schon mal!“, meinte ich dann und ließ die beiden alleine.

Nun saßen sie zu zweit am Tisch.

Ich hätte ja blind sein müssen, hätte ich diese Blicke nicht gesehen.
 

Auf dem Zimmer saß Bogey auf seinem Bett und hörte mit geschlossenen Augen Musik.

Ich tat es ihm nach und ließ mich auf mein Bett fallen.

Dann starrte ich auf die Latten des oberen Bettes.

Überall standen Sprüche, die Leute geschrieben hatten, die es für wichtig gehalten hatten, sich im Holz zu verewigen.

Wenn sie meinten, dass das der einzige Weg war, sich bemerkbar zu machen, bitte!

Langsam fielen mir die Augen zu.

Alles, was ich jetzt noch hören konnte, waren die sanften Klänge der Musik in meinen Ohren.

Normalerweise hörte ich Metal.

Aber irgendwie war heute nicht der richtige Tag dafür.
 

„Hallo, jemand zu Hause?“

Ich zuckte zusammen.

Wer es wohl diesmal geschafft hatte, mich zu erschrecken?

Ich war einfach zu abwesend.

Tinkerbell legte den Kopf schief und sah mich an.

„Jetzt schon!“, meinte ich und sah zu ihm und Cherry, die den Blick abwandte und rot wurde.

Langsam hob ich eine Augenbraue.

Sie hielt seine Hand und sah ziemlich verlegen aus.

„Sag schon, Tinkerbell!“

Sag es schon, damit ich wieder meine Ruhe habe.

Tinkerbell grinste.

„Wir sind zusammen!“, sagte er dann feierlich.

„Meine Glückwünsche!“, nuschelte ich und strubbelte dem Schwarzhaarigen durch die Haare, weil sie gerade in Reichweite waren.

Dass er sich darüber lautstark beschwerte, war mir egal.

Darum ging es ja auch nicht.

Ich musste nur irgendwie zeigen, dass ich mich freute, ohne zu Lächeln.

Ich wollte nicht schon wieder Lächeln, das hatte ich heute doch schon gemacht.
 

„Bist du jetzt sauer?“, platzte Cherry besorgt heraus.

Ich sah sie erstaunt an.

„Wieso?“, fragte ich verwirrt.

Sie wurde wieder rot.

„Na, weil ich jetzt in den Pausen mit Tinkerbell abhängen und viel mehr mit ihm machen will als mit dir!“

Sie sah zu Boden.

Einen Moment lang war ich überrascht, dann widersprach ich ihr.

„Ich bin nicht sauer, wird ja eh mal Zeit, dass du glücklich wirst!“

„Ich BIN glücklich!“, sagte sie heftig.

Ich nickte.

„Eben!“

Und dann zwang ich mich zu einem Lächeln.

Das Lächeln war eben doch ein fester Bestandteil der Kommunikation von Menschen.

Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, das würde sich wohl niemals ändern.

Hoffentlich verstand sie das.
 

„Ihr seid zu laut!“, knurrte Bogey in diesem Moment und warf Cherry und Tinkerbell einen Todesblick zu.

Dann sah er, dass sie Händchen hielten und die rötliche Färbung von Cherrys Gesicht.

„Aha!“

Ein hinterhältiges Grinsen zog sich über seine Lippen.

Cherry sah ihn verlegen an, dann lächelte sie.

Ich schloss die Augen und lehnte mich zurück.

Es war gut, dass Cherry endlich mal mehr mit jemandem zu tun hatte, der weder so komisch wie ich oder bösartig wie Bogey war.

Es tat ihr einfach gut, ihr als Person.

Mit diesem Gedanken schlief ich dann viel später auch ein.
 

Es geschah mitten in der Nacht.

Denn mitten in der Nacht begann mein Handy zu klingeln.

Mit einem wütenden Knurren wurde Bogey wach und brummte irgendetwas Unverständliches, während er mit einer Hand fahrlässig unter sich in meine ungefähre Richtung schlug.

Tinkerbell bewegte sich unruhig und stieß dabei einen Chuck mit Glöckchen um, welcher natürlich sofort bimmelte.

Verschlafen griff ich in die ungefähre Richtung meines Handys und schmiss es natürlich prompt ebenfalls vom Nachttisch.

„Scheiße…“

Knurrend tastete ich den Boden nach dem munter weiterklingelnden Gerät ab.

„Shady!“, rief Bogey genervt, „Mach das weg!“

„Bin dabei!“, brummte ich und fand endlich das Handy.

Meine Güte!

Es war noch nicht einmal Morgen und meine Laune war jetzt schon im Arsch.
 

Ich klappte das Handy auf und meldete mich:

„Wenn das jetzt nicht wichtig ist, bring ich dich um!“

„Shady, bist du das?“

Meine schlechte Laune machte Unbehagen platz.

Monster.

„Was ist den los?“, fragte ich und gähnte, „Es ist vier Uhr!“

„Cassis ist abgehauen!“

Sofort verflog das schläfrige Gefühl.

„Was?“, fragte ich und setzte mich auf, wobei ich mir den Kopf unsanft am Bett stieß.

„Ihre Eltern haben mich angerufen!“, erklärte mein kleiner Bruder schnell, „Sie können sie nicht finden und Bogey ist auch nicht zu erreichen!“

„Wie ist das passiert?“

Ich stand auf und suchte meine Hose auf dem dunklen Zimmerboden, wo ich sie am letzten Abend zurück gelassen hatte.

Inzwischen schienen auch Tinkerbell und Bogey bemerkt zu haben, dass etwas nicht stimmte und setzten sich verschlafen auf.

„Sie haben gerade erst einen Abschiedsbrief gefunden und Cassis ist noch nicht allzu lange verschwunden!“, erklärte Monster und ich zog meine Hose an und suchte nun die Schuhe.

„Wo kann sie denn hingegangen sein?“, fragte ich weiter, während ich mir die Vans über die nackten Füße zerrte und nach einem Shirt angelte.

„Steh auf, Bogey!“, sagte ich dann und hörte wieder Monster zu, welcher Wortreich beteuerte, dass er nicht die geringste Ahnung hatte.

„Ich geh mit Bogey los und helfe suchen!“, sagte ich und Bogey kletterte verwirrt von seinem Bett und zog sich an.

„Das ist toll von dir, Shady!“, meinte Monster, er klang total aufgelöst.

„Wo bist du?“, fragte ich und zerrte mir die Sweatjacke über das T-Shirt.

Dabei behinderten mich die Verbände an meinem Arm etwas, die ich nach der unangenehmen Situation im Bus umgebunden hatte, doch schließlich klappte es und nun musste ich nur noch auf Bogey warten.

„Zu Hause!“, schniefte Monster.
 

Ich zerrte Bogey hinter mir her aus dem Zimmer.

„Was soll das, Shady!“, zischte der und funkelte mich böse an.

Ich beachtete ihn nicht.

„Ist dein Vater zu Hause, Monster?“, fragte ich und ein dumpfes Gefühl der Angst umschloss mein Herz.

„Nein!“, murmelte Monster.

„Dann ist es ja gut! Suchst du mit ihren Eltern auch?“, sagte ich müde, „Wir suchen die Buslinien zur Fähre ab!“

„Ok!“, meinte Monster, „Ich sag’s ihren Eltern, wir sehen uns!“

Ich legte ohne ein weiteres Wort auf und schlich mit Bogey durch den Gang.

Mir war klar, dass, wenn Frau Wendiger uns jetzt erwischte, uns nichts mehr vor dem Verweis retten konnte.

„Cassis ist verschwunden, wir suchen sie jetzt!“, erklärte ich Bogey, während ich versuchte, die Tür nach draußen aufzumachen.
 

„Lass mich mal!“, murmelte Bogey, in seinem Blick sah ich Sorge und Verwirrung.

Mit einigen geschickten Bewegungen brach er das Schloss auf und wir rannten zum Wald.

Ich wollte gar nicht wissen, woher er so gut Schlösser knacken konnte.

War ja auch egal.

Das einzige, was jetzt zählte, war, Cassis wiederzufinden.

Ich konnte mir nicht erklären, wieso sie weglaufen sollte und auch in Bogeys Gesicht stand Ratlosigkeit.

Ich stolperte hinter ihm her den Weg entlang.

Dabei erzählte ich ihm das wenige, was ich wusste.

Noch war es dunkel, es würde erst in frühestens einer Stunde hell werden, ich lief wie blind hinter Bogey her.

Scheiße, warum war ich nur nachtblind?

Alles sah schwarz aus, nur Bogeys Lieblingspulli - das einzige, das er besaß, was nicht schwarz war - war ein wenig zu sehen.

In diesem Moment übersah ich eine Wurzel… eigentlich hatte ich sie gar nicht gesehen.

Tatsache war, dass ich mich hinlegte.

Bogey hielt an und drehte sich genervt aufseufzend um.

Ich knickte mit dem Bein um, doch ich unterdrückte jegliches Schmerzensgeräusch und rappelte mich wieder auf.
 

Ich fluchte und humpelte auf Bogey zu.

Es tat schrecklich weh, mehr noch als ich erwartet hatte.

Wieder sank ich zur Seite, doch ich nahm mich zusammen.

Sie war Bogeys Schwester!

Was zählte da schon mein dummer Fuß!

„Los, weiter!“, drängte Bogey und nahm mein Handgelenk, um mich weiterzuzerren.

Ich stolperte ihm klaglos nach.
 

Der Wald schien kein Ende nehmen zu wollen.

Der schnellste Weg war querfeldein und genau den nahmen wir.

Bogey schob die Äste beiseite und stürmte zwischen den Stämmen her, ich folgte ihm blind wie ich war.

Kaum zu glauben, dass ich diesem Jungen einmal so sehr vertrauen musste.

Ich hatte nicht geglaubt, dass das passieren konnte.

Doch so war es.
 

Als endlich ein schwaches Licht zwischen den Ästen leuchtete, hätte ich vor Erleichterung am Liebsten geheult.

Vor uns lag die Bushaltestelle.

Mit schnellen Blicken überflog Bogey den Fahrplan.

„Es fahren heute nur zwei Busse zu dieser Zeit. Glaubst du, dass sie in einem von denen ist?“

Er sah mich fragend an.

Ich sah mir die Fahrpläne auch an und schob mir die Kapuze meiner Sweatjacke über die zerstrubbelten Haare, während ich nachdachte.

„Ich weiß es nicht, aber wir werden es wohl probieren müssen, oder?“

Bogey zuckte mit den Schultern und nickte.

„Der eine kommt jetzt, der andere in einer Stunde!“, sagte er, „Beide fahren nach Norden, bis zum Meer!“

„Wenn sie nach Norden will, muss sie so oder so zur Fähre wollen!“, murmelte ich schulterzuckend.

Entweder sie war schon gefahren, oder sie war in einem Bus; in diesem oder dem nächsten…
 

Oder in dem vor einer Stunde?
 

„Da kommt der Bus!“

„Willst du mitfahren? Dann warte ich hier?“, schlug ich vor und sah Bogey dabei an, als hätte ich Zahnschmerzen.

„Nee, du fährst und ich warte!“

Es war wirklich schwer, meine Erleichterung zu verbergen.

Dann nickte ich Bogey noch zu und stieg möglichst ohne zu sehr zu humpeln in den Bus ein.

Hier war es wenigstens nicht dunkel und ich war auch nicht alleine.

Ganz vorne im Bus saß eine ältere Dame und las in einem Buch.

Irgendwo in der Mitte lag ein Penner über zwei Sitzen und schnarchte laut.

Schweigend ging ich nach ganz hinten und setzte mich ans Fenster.
 

In diesem Bus war Cassis schon mal nicht.

Aber vielleicht stieg sie noch zu, so unwahrscheinlich es auch war.

Auf jeden Fall wollte ich bis zur Fähre fahren und da auf Bogey warten.

Vielleicht schafften wir es ja, bis acht Uhr wieder zurück in der Jugendherberge zu sein, wenn nicht mussten wir eh die Schule wechseln.

Ich seufzte leise.

Was war das nur für eine Klassenfahrt?

Anscheinend war es diesmal unmöglich einfach die Zeit abzusitzen und zu warten, bis man wieder zu Hause war.

Wenn man da überhaupt wieder hinwollte.

Ich wollte es eigentlich nicht.

Ich verband nichts außer Monster mit dem Haus, in dem wir zusammen mit unserem Vater lebten.

Mit diesem selbst am allerwenigsten.

Wie lange hatten wir schon kein Wort mehr miteinander gewechselt?

Ich wusste es nicht mehr wirklich.

Bestimmt drei Jahre lang war ich ihm ausgewichen und hatte es geschafft im selben Haus zu leben, ohne ihn auch nur anzusehen.

Manchmal begegneten wir uns auf dem Flur.

Dann quetschte ich mich an ihm vorbei und lief schnell in mein Zimmer.
 

Ich seufzte leise.

Wieso kamen gerade jetzt diese Erinnerungen hoch?

Langsam schlug ich den Kopf gegen die Scheibe.

Weg! Geht weg und nervt mich nicht länger!

Nach einiger Zeit, genau genommen einer Stunde und einigen Minuten, hatte der Bus endlich seinen Bestimmungsort - die Fährendocks - erreicht.

Langsam stieg ich aus und ließ mich auf die nächste Mauer fallen.

Es wurde nun allmählich hell, es war bereits fünf Uhr.

Möwen flogen bereits jetzt über die Kais und riefen nach den anderen.

Es lag keine Fähre im Hafen, sie würde erst um sechs Uhr fahren.

Das stand zumindest auf dem Schild, dass neben der Bushaltestelle stand.

Langsam erhob ich mich wieder und ging auf den nächstbesten Kai und ganz nach draußen.

Vor mir lag das Meer und der Wind riss an meinen Haaren.

Dort irgendwo auf der anderen Seite sprach man kein Deutsch mehr und das gar nicht so weit entfernt.

Wenn Cassis da rüber kam…
 

Ich drehte mich seufzend um.

Sie konnte hier überall sein, es war schließlich eine große Stadt mit einem großen Hafen.

Doch nur dieser eine Bus fuhr von unserem zu Hause bis zum Hafen durch.

Vielleicht war sie ja doch noch irgendwo in der Nähe.

Während ich das Dock entlanglief, erwachte der Hafen zum Leben.

Alle möglichen Leute schienen hier zu nachtschlafender Zeit aufzustehen und ihre Arbeit zu beginnen.

Kein Beruf, den ich wählen würde.

Aber ich musste das ja auch nicht, vielleicht war es ja ihr Lebensinhalt.

„So finde ich sie nie!“, knurrte ich.

„He, Junge!“

Ich sah auf.

Ein freundlich aussehender Mann stand da über die Reling seiner Yacht gebeugt und sah zu mir hinunter.

Es musste wohl das größte Schiff hier sein, wenn man die Fähre und die ganzen Tanker mal außer Acht ließ.

Eben das größte Privatboot.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte ich.

Er zog an seiner Zigarette und grinste.

„Die Frage ist eher, ob ich dir helfen kann!“, stellte er richtig, „Du siehst so aus, als würdest du etwas suchen!“

Ich nickte.

„Ich suche ein Mädchen! Sie müsste hier irgendwo herumlaufen! Aber ich kann nicht aufs Fährengelände gehen, um nachzusehen, ob sie da ist, ich habe kein Geld dabei!“

Der Mann grinste noch ein wenig breiter.

„Komm zu mir auf die Yacht! Wenn du dich auf die Fahrerkabine setzt, kannst du das Gelände sehen, ich habe auch ein Fernglas hier!“
 

Ich stieg zu ihm auf das Boot und er führte mich zu einer kleinen Leiter, die auf die Fahrerkabine führte.

Er stieg hinauf und ich folgte ihm.

Tatsächlich konnte man das Fährengelände von hier aus sehen.

Eine ganze Reihe Autos wartete bereits auf die Fähre, die allerdings nicht sehr bald kommen würde.

„Das sind die armen Reisenden, die die letzte Fähre gestern verpasst haben!“, erklärte der Mann und setzte sich.

Ich ließ mich neben ihm nieder.

Er war ziemlich alt, ich schätze ihn auf siebzig, vielleicht älter.

„Hier, Junge, nimm das Fernglas!“

Ich dankte ihm und nahm das Fernglas.

Dann begann ich sorgfältig das Gelände abzusuchen.

„Die Jugend von heute ist rastlos!“, sagte er nebenbei und rauchte vor sich hin, „Wenn sie an einem Ort ist, will sie sofort wo anders hin. Sie weiß nicht, was Ruhe bedeutet!“

Ich nickte, das stimmte.

Wahrscheinlich kamen hier jedes Jahr viele Jugendliche und Kinder vorbei, die von zu Hause davongelaufen waren, um für ein neues Leben überzusetzen.

Ich suchte die Leute ab und der Alte neben mir wartete geduldig.

Dann sah ich sie.

Da stand Cassis, mitten zwischen all den Leuten.

Sie sah so verloren aus, ihr hübsches Gesicht war müde und traurig.
 

„Ich hab sie!“, sagte ich leise, „Aber keine Ahnung, wie ich da hinkommen soll!“

Wie nebenbei holte ich meine eigenen Zigaretten hervor und zündete mir eine an.

„Du solltest nicht rauchen!“, riet mir der Alte, „Es macht nicht glücklich!“

„Aber abhängig!“

Er nickte.

Dann lächelte er mir zu, ich zwang mich, sein Lächeln zu erwidern.

„Weißt du was? Ich fahre dich hinüber!“

Ich sah ihn erstaunt an.

Der Alte gluckste vergnügt und zog mich hinter sich her in die Fahrerkabine.

Dann ließ er den Motor an.

Ich wurde unruhig.

Was hatte er nur vor?

„Dürfen sie denn überhaupt auf das Fährgelände fahren?“, fragte ich misstrauisch.

„Ich bin oft in den umliegenden Orten und hole dort Briefe ab, die mit der Fähre hinüber sollen!“, erklärte er und die Lachfalten in seinem Gesicht wurden ein wenig tiefer, als er lächelte, „Gestern habe ich es nicht mehr geschafft, aber ich habe noch ziemlich viele Briefe! Wenn du mir hilfst, sie von Bord zu tragen, kannst du gerne mit hinüberfahren! Und dann nehmen wir deine Freundin mit zurück!“

Ich nickte und bedankte mich überschwänglich.

Kaum zu glauben, was ich wieder für ein Glück hatte!
 

Langsam dockte die Yacht an einen kleinen Seitenhafen des großen Fährgeländes.

Mit mehreren Kisten voller Briefe beladen folgte ich dem Alten von der Yacht.

Der lachte vergnügt, während er mir den Weg zeigte.

„Kann man dich einstellen? Du bist wirklich gut!“

„Ich komme nicht von hier!“, erklärte ich, „Sonst eigentlich gerne!“

„Ach, James! Ein neuer Haussklave, oder was?“, rief irgendjemand meinem Retter zu, der grinste nur heiter.

„So!“, meinte er dann und drehte sich zu mir um, „Hier kannst du die Kisten hinstellen! Und jetzt hol dein Mädchen, ich warte solange. Lass dir ruhig Zeit, wenn man so alt ist, wie ich, hat man nicht mehr so viel zu tun!“

Ich dankte ihm noch einmal und lief dann in die Richtung, in der ich Cassis gesehen hatte.

Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass Bogey wohl gerade mit dem Bus an der Haltestelle ankam.

Da sah ich sie.
 

Cassis!
 

Sie stand mit dem Rücken zu mir und mit hängenden Schultern da und starrte vor sich hin.

Ich lief auf sie zu.

Am Horizont war schon die Fähre zu sehen.

Das war nun egal, ich konnte nicht zulassen, dass Cassis mit dieser Fähre fuhr!

Nicht jetzt!

Ich griff nach ihrer Hand.

Erschrocken fuhr sie herum und starrte mich ungläubig an.

„Shady? Aber… was…?“

„Glaubst du, ich schaue zu, wie du einfach abhaust?“

Ich sah sie ruhig an.

Sie konnte jetzt nicht gehen.

Ich hatte Monsters Blicke gesehen, dies war das Mädchen.

Es war wohl die schlechteste Wahl, die er hatte treffen können, Bogey würde rasen.

Aber wenn er Cassis liebte, dann konnte sie nicht einfach verschwinden.

„Komm wieder mit!“, bat ich leise.

„Aber…“, sie sah zu Boden, „Ich bin verliebt… Bogey wird mich niemals loslassen, wenn ich bleibe!“

„Und deine Liebe willst du deswegen einfach alleine zurücklassen? Denkst du überhaupt nicht an ihn?“

Sie sah wieder auf.

„Ich…“

Diesmal war ich es, der sie unterbrach.

„Komm nach Hause und ich rede mit Bogey… du kannst doch auch mit ihm reden, ihr seid doch sonst auch unzertrennlich!“

Wieder wanderte ihr Blick auf den Boden.

Ich ließ sie los und hob ihre Tasche auf meine Schulter.

„Wieso… bist du hier und nicht… Monster?“

„Monster sucht woanders. Wir haben uns das Gebiet aufgeteilt!“

„Aber du bist doch auf Klassenfahrt… was ist, wenn du fliegst?“

„Dann fliege ich eben! Bogey sucht dich doch auch! Und Monster, deine Eltern… selbst Cherry und der Neue würden dich suchen, wenn ich sie geweckt hätte!“

Sie sah mich mit großen Augen an, dann nickte sie und sah beschämt zu Boden.

„Es ist feige, einfach wegzulaufen!“

„Es ist mutig, in ein fremdes Land gehen zu wollen, um seine Liebe nicht zu verlieren!“

Wir wussten beide, dass das nicht stimmte, doch sie antwortete nichts mehr, sondern ging mir still nach zu der Yacht.

Die musterte sie mit großen Augen.
 

„Wie kommst du dazu, mich mit einer Yacht zu suchen?“, fragte sie, als wir auf der Fahrerkabine saßen und Wind und Sonne genossen, während James uns auf einer kostenlosen Rundfahrt einmal um den ganzen Hafen und zurück ans Dock schipperte.

„Ich sah wohl ziemlich verzweifelt aus!“, meinte ich schulterzuckend.

Dann nahm ich mein Handy und rief Bogey an.

Der hatte inzwischen den gesamten Hafen auf den Kopf gestellt, war in das Fährgelände eingebrochen und fauchte mich total wütend an, weil ich ihm nicht früher Bescheid gesagt hatte.

Ich hörte ihm nicht zu, sondern warf einen Blick auf meine Uhr.

Zehn nach sechs.

Bis wir wieder in der Herberge waren, war es bestimmt viertel vor acht.

Schule ade!

Ich seufzte leise.

„Danke, dass du mich gesucht hast!“

Ich sah Cassis von der Seite an.

„Ich könnte es Monster doch nicht antun, dass du einfach verschwindest!“, murmelte ich, „Schließlich betet er dich mehr an, als je einen anderen Menschen zuvor!“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  nama-kuriimu
2009-02-03T17:01:29+00:00 03.02.2009 18:01
hachhhhhhh!!!
ich liebe deine ff abgöttisch!
ich find die einfach unglaublich toll
an einigen stellen musste ich quietschen, weil die so süß und putzig waren!!!!!!!!!!
und das will was heißen!!!
ich quietsche nie!!!!!!!
bin schon mega gespannt wie es so weitergehen wird!
also dann!
mach weiter so!


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