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Once upon a time

Eine Sammlung von märchenhaften Kurzgeschichten
von

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Die Geschichte des Geschichtenerzählers

Am Anfang war das Wort und das Wort war bei uns. Wir sprachen dieses Wort aus, schrieben es auf und überlieferten es bis in die heutige Zeit. Jenem ersten Wort sind unzählige weitere gefolgt, inzwischen füllen diese Worte Millionen und Abermillionen von Schriftstücken. Dicht aneinander gereiht stehen diese Schriftstücke, von Steintafeln bis hin zum gebundenen Buch, in den Regalen der heiligen Archivhallen. Jeden Tag kommen neue Berichte hinzu, denn die Welt steht niemals still. Über jedes Ereignis, jedes Lebewesen kann hier nachgelesen werden. Jede Begebenheit wurde festgehalten, denn wir sind die Hüter des heiligen Archivs, die Geschichtensammler.

Die verlorenen Kulturen der Menschheit sind nicht wirklich verloren. Ganze Regalreihen bergen die Geheimnisse von Atlantis, verkünden den Glanz der Mayas, erzählen von den Tagen Pompejis. Die Antike war ein goldenes Zeitalter voller Mythen und Wunder, die beinahe vergessen wurden, aber wir berichten von ihnen. Alle Fragen der Geschichte können wir beantworten. Welche zahlreichen Schätze verbrannten in der sagenumwobenen Bibliothek von Alexandria? Im heiligen Archiv befinden sich die Abschriften der Werke, die für die Menschheit für immer verloren sind. Auch das verschollene zweite Buch der Poetik von Aristoteles befindet sich in unserem Besitz.

Wir waren Zeuge, wie die große Sphinx von Gizeh ihre Nase verlor. Wir wissen, wo sich der sagenhafte Garten Avalon tatsächlich befand. Wir kennen die Wahrheit über den heiligen Gral, wo das Bernsteinzimmer zu suchen ist, wer Jack the Ripper wirklich war. Jedes Geheimnis .der Geschichte ist uns bekannt. Auch die Frage, ob zuerst das Huhn oder das Ei da war, können wir beantworten.

Aber um die Antworten zu geben, müssten wir Kontakt zu den Menschen aufnehmen. Doch wir sind nur Beobachter, Zeugen der Geschichte, Archivare des Wortes. Unsichtbar durchstreifen wir die Welt, sammeln Informationen und bringen sie in die heiligen Archivhallen.

Nur eine von uns hat sich jemals einem Menschen offenbart. Rawiyas Geschichte ist somit selbst im Archiv zu finden. Vor langer Zeit, als die Menschen noch nicht blind für Wunder waren und noch an Mythen glaubten, wandelte Rawiya durch die Welt, um Geschichten zu sammeln. Bei einem ihrer Streifzüge traf sie auf einen jungen Mann, der seinerseits durch die Lande zog, um Geschichten zu sammeln. Er wurde später ein bekannter Geschichtenerzähler bei den Menschen seiner Zeit und auch heute noch kennt man seine Werke.

Kurzentschlossen folgte Rawiya dem jungen Mann, in der Hoffnung durch ihn neue Geschichten erfahren zu können. Von Ort zu Ort wanderte der Sammler, gefolgt von der kleinen, unsichtbaren Rawiya. In jedem Ort lief der Besuch des Mannes gleich ab. Als erstes suchte er den Marktplatz auf, setzte sich an den Brunnen und begann seine Geschichten zu erzählen. Manche Menschen blieben stehen und lauschten seinen Erzählungen, Kinder scharrten sich um ihn, um gebannt an seinen Lippen zu hängen, aber nach einiger Zeit verloren sie das Interesse. Der schmale Geldbeutel des jungen Erzählers blieb weiterhin fast ungefüllt und neue Geschichten erfuhr er selten. So zog er weiter zur nächsten Stadt und Rawiya folgte ihm. Sie empfand Mitleid für den Geschichtensammler, dem das Glück einfach nicht hold war.

Als er eines Nachts unter einer großen Eiche lagerte, entschloss sich Rawiya, ihm gegenüber zu treten. „Du musst den Menschen wahre Geschichten erzählen, Geschichten, die das Leben schrieb, dann werden sie dir zuhören“, sprach sie und setzte sich zu ihm an das Feuer.

Zuerst war der junge Mann sprachlos vor Schreck, aber er erholte sich rasch von dem Schock, denn zu jener Zeit geschah es noch oft, dass mythische Wesen mit den Menschen verkehrten. „Wie meinst du das? Geschichten sind doch Geschichten. Sie unterhalten die Menschen“, erkundigte er sich.

Rawiya schüttelte den Kopf. „Nicht jede Geschichte ist eine Geschichte. Sie muss einen Funken Wahrheit enthalten, um die Menschen zu fesseln. Selbst in den Sagen und Märchen ist ein wirklicher Kern enthalten. Wenn sie nicht in dieser Welt passiert sind, so doch in einer anderen.“

Der junge Mann betrachtete sie lange Zeit und sann über ihre Worte nach. Dann und wann warf er einen weiteren Zweig in das Feuer. Endlich richtete er das Wort wieder an sie: „Was ist deiner Meinung nach eine gute Geschichte, die wahr ist und die Menschen fesseln wird?“

Rawiya lächelte. „Es gibt unzählige Geschichten dieser Welt. So viele, dass sie ein ganzes Archiv füllen. Und ich kenne sie alle, denn ich bin eine Geschichtensammlerin…“

Sie erzählte ihm die ganze Nacht bis zum Morgengrauen die Geschichten und Geheimnisse, die im heiligen Archiv zusammengetragen wurden. Die Augen des jungen Geschichtenerzählers wurden groß vor Staunen und er saugte jedes ihrer Worte auf und behielt es im Gedächtnis.

Als die Sonne aufging, stand Rawiya auf. „Das sollte genügen. Setze deine Wanderung fort und erzähle die Geschichten, die du von mir gehört hast, und du wirst sehen, dass die Menschen genauso gebannt sein werden wie du.“ Sie nickte dem jungen Mann zu und verschwand genauso plötzlich, wie sie aufgetaucht war.

Der Geschichtenerzähler blickte noch einige Augenblicke zu dem Fleck, an dem sie verschwunden war, und erhob sich dann langsam, um ihrem Ratschlag Folge zu leisten. Ihm war bewusst, dass sie ihm ein großartiges Geschenk gemacht hatte, und hütete ihre Geschichten wie einen Schatz in seinem Herzen.

In der nächsten Stadt erzählte er, was er von Rawiya gehört hatte. Die Menschen versammelten sich um ihn, wie die Motten das Licht umschwärmen. Am Ende des Tages war sein Geldbeutel reich gefüllt. Von diesem Geld erstand er Tinte, Federn und Pergament und machte sich daran, die Geschichten aufzuschreiben.

Durch diese Schriften gelangte er zu großer Bekanntheit. Aber ein Fragment seines Werkes ist bis zum heutigen Tage verschollen, nämlich die Geschichte, wie er, der Geschichtenerzähler, auf Rawiya, die Geschichtensammlerin, traf.

Zumindest ist in unserem Archiv diese Begebenheit nachzulesen. Wir besitzen sogar zwei verschiedene Ausführungen dieser Geschichte: Eine Abschrift des verschollenen Fragments des jungen Mannes und einen Bericht von Rawiya, den sie nach ihrer Rückkehr im Archiv einreichte.



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