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Once upon a time

Eine Sammlung von märchenhaften Kurzgeschichten
von

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Das geheimnisvolle Tal

In die tiefsten Urwälder im Herzen Afrikas hat sich beinahe nie ein Mensch hin verirrt. Die Touristen der Safarireisen haben dieses Fleckchen Erde nicht einmal in ihren kühnsten Träumen gesehen.

Riesige Bäume nehmen die Sicht auf das große Tal mitten im Dschungel. Dichtes Unterholz und Lianen versperren den Weg zwischen den Bäumen hindurch. Und im Westen erstreckt sich eine steile Felswand, von der ein mächtiger Wasserfall donnernd hinunter in das Tal rauscht.
 

Vor vielen Jahren hatte ein Mann zuletzt dieses Tal betreten. Der unermüdliche Forscher Dr. John Cairn war auf einer seiner Expeditionen von seinen Kollegen getrennt worden. Dr. Cairn war ein begnadeter Afrikaforscher, und so vergaß er alles um sich herum, wenn er afrikanische Pflanzen untersuchte. Er skizzierte gerade eine eindrucksvolle rote Blüte der Montbretie in sein Notizbuch, als seine Reisegruppe weiterzog und ihn mutterseelenallein zurückließ. Sein Fehlen wurde erst einige Zeit später bemerkt.

Der gute Doktor klappte sein Notizbuch zu und verstaute es fürsorglich in seinem Rucksack. Erst dann stellte er fest, dass er allein im Dschungel war. Von seinen Kollegen war weit und breit keine Spur.

„Jessas!“, rief er aus, riss seinen Tropenhelm vom Kopf und verstrubbelte sein Haar. Dies tat er immer, wenn er ein schwerwiegendes Problem zu lösen hatte. „Wo sind denn alle geblieben? Professor Grey? Doktor Williams? Mister Irving?“ Seine Rufe hallten durch den dichten Urwald, doch er bekam keine Antwort.

Aufs Geradewohl schlug er sich seinen Weg durch den Dschungel, in der Hoffnung seine Reisegruppe wieder einzuholen. Doch leider lief er dabei in die vollkommen falsche Richtung. Das Unterholz zwischen den hohen Bäumen wurde immer dichter und unwegsamer, aber Dr. Cairn lief beharrlich weiter. Zahlreiche Kratzer und Schrammen hatte er sich schon zugezogen und schließlich verfing er sich so in den Lianen, dass er sich nur schwer wieder befreien konnte. Verschwitzt und völlig erschöpft lehnte er sich gegen einen Baumstamm und seufzte ergeben: „Vielleicht sollte ich wieder umkehren. Diesen Weg können sie niemals mit der ganzen Ausrüstung bewältigt haben.“

Genau in diesem Moment vernahm er ein Geräusch, das ihn aufhorchen ließ. Und jeder Gedanke an eine Umkehr war vergessen. Das Trompeten eines Elefanten erklang jenseits der Bäume und seine Artgenossen antworteten.

„Dort muss ja eine ganze Elefantenherde sein“, murmelte der Forscher überrascht und schulterte seinen Rucksack. Mit neuer Energie eilte er durch das Dickicht, immer dem Trompeten entgegen. Eine Herde dieser majestätischen, grauen Riesen in freier Wildbahn zu beobachten war seit langer Zeit der sehnlichste Wunsch von Dr. Cairn. Bereits als kleiner Junge hatte er davon geträumt, denn seine Mutter hatte ihm vor dem Einschlafen meistens Geschichten über Elefanten vorgelesen.
 

Ächzend zwang er sich durch das Gesträuch und stand endlich vor einer wunderschönen Talsenke. Ein klarer See erstreckte sich in dem Tal, in dem ein rauschender Wasserfall mündete. Exotische Vögel saßen in den Baumkronen und stießen ihre melodischen Schreie aus.

Dicht am hinteren Seeufer war die Elefantenherde, die Dr. Cairn mit ihrem Trompeten angelockt hatte, im Schatten der riesigen Bäume versammelt. Fasziniert und vollkommen bewegungsunfähig starrte er auf diese mächtigen Tiere. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Endlich konnte er Elefanten außerhalb von den Gitterstäben der zoologischen Gärten betrachten, und dann gleich eine so große Herde.

Jungtiere tollten zwischen den ausgewachsenen Elefanten herum und wurden von ihren Müttern und Tanten sanft mit einem Rüsselstups zurechtgewiesen, wenn sie es zu weit trieben. Ein riesiger Elefantenbulle rieb sich an einem Baumstamm, dass dessen Äste zitterten. Es war ein beeindruckender Anblick.

Langsam pirschte sich der Forscher vorsichtig an die Herde heran. Im Schutz des Dickichts musste er einfach aus der Nähe einen Blick auf diese sanften Riesen werfen. Sooft hatte er von solch einer Gelegenheit geträumt, hatte sich ausgemalt, wie sich Elefanten in ihrem natürliche Lebensraum verhalten. Doch bisher hatte er bei seinen Forschungsreisen einfach kein Glück gehabt. Löwen hatte er gesehen, Nilpferde, Nashörner, ja sogar Leoparden, aber nirgends hatte er Elefanten entdecken können.

Die Bäume boten ihm genügend Deckung und so konnte er nur einige Meter entfernt die Tiere beobachten. Wie verzaubert sah er den Jungtieren bei ihrem Spiel zu. Der kleinste Elefant unter ihnen eilte dem See zu und verließ das schattige Blätterdach der Bäume.

„Jessas!“, raunte Dr. Cairn leise und rieb sich ungläubig die Augen. Hatte die Hitze Afrikas seinem Verstand so zugesetzt, dass dieser ihm nun schon Streiche spielte? Verwirrt blinzelte er, doch der Anblick blieb gleich. Der kleine Elefant am Wasser war rosa.

Während seiner ganzen Forscherkarriere hatte er schon von weißen Tigern, blonden Waschbären und anderen ungewöhnlich gefärbten Tieren gelesen oder gehört, aber noch nie zuvor hatte er etwas über rosafarbene Elefanten erfahren. Das war doch absolut unmöglich. Es gab zwar äußerst seltene weiße Elefanten, aber ansonsten handelte es sich doch bei diesen Tieren um graue Riesen.

Der riesige Elefantenbulle hörte auf, sich am Baumstamm zu reiben, und schritt stolz und majestätisch auf die Wiese. Auch er war rosa gefärbt, als er aus dem Schatten trat. Langsam schloss sich die Herde ihm an. Ein Elefant nach dem anderen verließ den Schatten, so dass die warmen Sonnenstrahlen auf ihre rosarote Haut schienen.

Dr. Cairn sah ihnen atemlos hinterher. Was für eine Entdeckung! Eine Herde von über zwanzig rosa Elefanten lebte in diesem Tal mitten im tiefsten Dschungel Afrikas. Und er war der erste Mensch, der diese außergewöhnlichen Tiere zu Gesicht bekam. Damit würde er in die Geschichte eingehen. Dr. John Cairn, der Entdecker der rosaroten Elefanten! Alle Afrikaforscher dieser Welt würden ihn beneiden. Er würde zahlreiche Auszeichnungen bekommen. Vielleicht sogar einen Nobelpreis für diesen glücklichen Fund.

Sehnsüchtig blickte er noch einmal zu den Elefanten und entschloss sich dann, das Tal zu verlassen. Wenn er zu seinem Ausgangspunkt zurückkehren würde, würden seine Kollegen und die anderen Begleiter auf dieser Expedition ihn bestimmt leichter wieder finden. Wenn sie ihn gefunden hatten, würden sie ihn zurück zum Lager bringen und von dort aus könnte er die Welt über seine Entdeckung informieren. Und dann wäre er mit einem Schlag berühmt.

Leise schlug er sich wieder in das Unterholz. Im Tal trompeteten die rosa Elefanten, als würden sie ihren Entdecker verabschieden.
 

Als er die Pflanze mit den prachtvollen roten Blüten erreichte, ließ er sich ins Gras sinken. Sein Herz raste noch immer, so aufgeregt war er über seine wundersame Entdeckung. Das würde für großen Wirbel in der Forscherwelt sorgen und weltweit Schlagzeilen machen. Loxodonta africana rosea Cairni. So könnte er diese spezifische Elefantengattung nennen. Schnell kramte er in seinem Rucksack nach seinem Notizbuch, um diesen grandiosen Namen gleich festzuhalten. Dabei entdeckte er die Flasche Scotch, die er für einen besonderen Moment dieser Reise mitgenommen hatte. Und wenn die Entdeckung des Jahrhunderts kein besonderer Moment war, dann wusste er auch nicht, wofür er diese Flasche sonst öffnen konnte.

Also goss er sich etwas Scotch in seinen Zinnbecher und erhob diesen. „Auf euch, ihr rosaroten Elefanten. Zum Wohl!“ Mit großen Schlucken leerte er den Becher und goss sich erneut ein. Schließlich konnte es noch dauern, bis man ihn hier fand. Da konnte ein kleines Schlückchen Scotch mehr schon nicht schaden. Nach einer Weile war die Flasche dann doch gänzlich geleert und Dr. Cairn wäre beinahe eingenickt, als sich seine Reisegruppe näherte. Sie waren sofort umgekehrt, als sie sein Verschwinden bemerkten, und hatten überall nach ihm gesucht.

Erfreut sprang John Cairn auf und lief wankend seinen Kollegen entgegen. „Profeschor Grey! Doktor Williamsch! Mischter Irving! Schie werden esch mir nischt glauben, aber isch habe roscha Elefanten entdeckt. Eschte roscha Elefanten!!!“

Mr. Irving schüttelte den Kopf und raunte: „Er hat wohl eher den Boden der Scotch-Flasche entdeckt.“

„Na, na, Dr. Cairn“, meinte Professor Grey und klopfte ihm väterlich auf die Schulter, „Kommen Sie mit, wir bringen Sie zu unserem Lagerplatz. Und dort schlafen Sie erst einmal Ihren Rausch aus und morgen werden Sie garantiert keine rosa Elefanten mehr sehen.“ Nachsichtig schob der Professor seinen über rosa Elefanten lallenden Kollegen vor sich her in Richtung Lager. Niemand wollte Dr. Cairn in diesem Zustand glauben.

Am nächsten Morgen wachte er sehr verkatert und mit rasenden Kopfschmerzen in seinem Zelt auf. Aber als er beim gemeinsamen Frühstück wieder die rosa Elefanten zur Sprache brachte, erntete er nur ungläubige Blicke und mitleidiges Kopfschütteln. Der Scotch musste es wirklich in sich gehabt haben.

Durch gutes Zureden erklärten sich seine Kollegen doch noch bereit, mit ihm das Tal zu betreten und einen Blick auf die Elefanten zu werfen. Aber wie sehr Dr. Cairn sich auch bemühte, den Weg in das versteckte Tal fand er nicht mehr. Er selbst war sich hinterher auch nicht mehr so sicher, ob er nicht doch alles nur geträumt oder durch den Scotch Halluzinationen bekommen hatte.
 

So kam es, dass das versteckte Tal, in dem rosa Elefanten leben, ein Geheimnis blieb. Von dem Tag an hieß es aber, dass Betrunkene nicht nur weiße Mäuse, sondern auch rosa Elefanten sehen würden.



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