Zum Inhalt der Seite

Namida Bandits

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Flügel

Bücher, was waren das noch gleich für Dinger? Ach ja, diese merkwürdigen, eckigen und schweren Teile, in denen sich Letter an Letter und Zeile an Zeile reihten, die, wenn man des Lesens dieser mächtig ist und es richtig macht, manchmal sogar einen Sinn ergeben. In Zeiten des Internets und der öffentlichen Medien verkam die Rolle des Buches immer mehr zu der eines Luxusartikels, an den die meisten Menschen, selbst wenn es ums Schenken geht, als Letztes denken. Wo waren sie geblieben, jene Meisterwerke, von Hand gesetzt, Seite für Seite, in Lederleinen, Broschur und Pappe, mit Federzeichnungen, Initialen und Vignetten verziert?
 

Hier in der Stadt konnte man sie noch finden. Unter dem Kastanienbaum, neben einer Gaststätte, ein kleines Antiquariat. Hier standen sie noch Reihe an Reihe und liebevoll von Hand entstaubt und archiviert. Jene Kunststücke, die einst das Leben vieler Menschen veränderten und ihnen als Inspiration galten. Von der handgeschrieben Sammlung eines großen Komponisten, bis zu den, in Passe Partout gefassten, Mezzo Tinto Zeichnungen eines der bedeutenden Künstler der Renaissance, neben allerhand Belletristik und Jugendstilblüten wie der „Insel“, stand hier einsam ein … Manga …
 

Ein Manga? Ein von der Größe her unauffälliges, dafür umso farbiger und bunter, weil neuwertig gedrucktes Taschenbuch, ein Comic, und doch gleichzeitig so viel mehr. Nie hat es eine Form der kommerziell Angewandten Kunst so liebevoll und sagenhaft leicht in die Herzen junger Leser in Deutschland geschafft. In ihrem Ursprungsland Japan gelesen von und konzipiert für alle Altersschichten, machen sie den größten Anteil an Einnahmen in Buchhandel und Exportlektüre aus. Dort in der U-Bahn, in der Mittagspause, beim Arztbesuch gelesen, von Konzernoberhäuptern, Hausfrauen, Bauarbeitern und Schulmädchen gleichermaßen geliebt, ist der Manga neben technischen Geräten und jenen heißbegehrten Automobilen wohl der größte Exportschlager aus dem Land der aufgehenden Sonne. Alles fing vor langer Zeit mit ausklappbaren Leporellos japanischer Künstler wie Katsushika Hokussai an, dann mit kleinen Bildunterschriften und einem inhaltlichen Zusammenhang versehen, entstanden schnell kleine Bücher, die der Unterhaltung der Obrigkeit dienten, und vielleicht vergleichbar mit den Werken von Wilhelm Busch sind.
 

Doch wie kam nun dieses kleine Buch in das Antiquariat?
 

„Vanessa! Zum dreißigsten Mal! Lass deine 10-minuten-Lektüre nicht immer im Regal für die Neubestellungen liegen!“, ein paar blonde Locken wippten rechts und links neben der spießigen Brille hin und her, als Frau Sabine Neumann das kleine aufwendig gestaltete Comicbuch vor ihrer Tochter auf den Tisch knallte. „Wie sieht denn das aus! Wenn das ein Kunde sieht!“
 

Vanessa bedachte dies zur mit einem Augenrollen, als sie aus dem Blickwinkel ihre Mutter mit schnellen Schritten zu einem anderen Regal gehen, ein altes Buch liebevoll in die Hand nehmen und eine schwärmende Maske aufsetzen sah. Wie konnte jemand, der Bücher dermaßen liebte, nur so mit ihrer derzeitigen Lieblingslektüre umgehen?
 

Sabine Neumann konnte eben nicht verstehen, was ihre Tochter an dem fand, was sie salopp als Schund abtat. Dabei hatte sie sich nie einen Manga auch nur aus der Nähe angesehen. Wenns hoch kam, warf sie von Weitem einen abfälligen Blick darauf, oder benutzte einen um arglos unschuldige Fliegen zu zerquetschen.
 

Vany rutschte auf dem Stuhl hinter dem Verkaufstresen, der ein antik anmutendes Stilmöbelstück war, hin und her. Sie wartete, wie jeden Tag um diese Zeit, dass ihre Schicht zu Ende war. Warum nur hatte sie ihre Mutter je gefragt, ob sie für eine Taschengeldaufbesserung im Laden arbeiten durfte? Mangafan zu sein war alles andere als billig, kosteten die kleinen Kunstwerke doch durchschnittlich fünf Euro, dazu kamen noch Sonderausgaben wie Art – und Postcardbooks, von Vanys Vorliebe für japanische Musik und den teuren DVD – Veröffentlichungen der „Manga in Bewegung“, den Animes, und den Games mal abgesehen. So viel zu dem Leben eines normalen Otakus.
 

Das Wort Otaku heißt eigentlich nichts anderes als Fan, da es aber japanisch ist, ist es überflüssig zu erwähnen, um welche Art Fan es sich handelt. Doch Vany war einfach nur allein mit ihrer Vorliebe. In ihrer Kleinstadt gab es kaum Otakus und in ihrer Schule, die vor Oberflächlichkeit, Gruppenzwang und Mainstreamgehabe fast aus allen Nähten platzte, war sie ein Nichts, nichts als ein Freak. Blass geschminkt, wasserstoffblond und einfach zu anders um interessant anders zu sein, zu abgehoben, zu extrem, zu verspielt, zu – ja, wir Otakus hassen diesen Ausdruck – „realitätsfern“ …
 

Man sollte eine gelegentliche Flucht in eine gute Geschichte, nicht als Realitätsverlust bezeichnen. Ansonsten hätte jede ältere Dame die abends in ihrem Sessel ihren Lieblingskrimi las und auch sonst jede Leseratte ein psychisches Problem. Ich glaube auch, dass es an den phantasievollen Darstellungen in den Mangas liegt, dass einige Menschen eine plötzliche Reizüberflutung bekommen, wenn sie das erste Mal einen solchen in Händen halten, da ihr kreatives Potential durch Film und Fernsehen, durch Arbeit, Stress und zu vielen Pflichten und Erwartungen - und das durch die Gesellschaft erwartete übermäßige Erwachsensein, was bei einigen eine unnatürliche Seriosität hervorruft, eingeschränkt ist.
 

Das lässt sie schnell in den Trugschluss verfallen, dass es sich um Lektüre für kleine Kinder handle, oder es sich um (um ein Fremdwörterbuch zu zitieren) „durch Darstellung kindlicher Gesichter mit übergroßen Augen verharmloste, gewaltverherrlichende und pornographische Inhalte“ handle – eine Aussage, die jedem Otaku Gift und Galle hervorwürgen lässt. Oder möchte irgendjemand behaupten, das Heidi, oder Biene Maya eben diese Beschreibung verdienen, handelt es sich hierbei doch um zwei der bekanntesten und beliebtesten Animes (!), die je im deutschen Fernsehen gezeigt wurden. Doch Mangas gibt es in jedem Genre und für jedes Alter, auch in Deutschland.
 

Viele eingefleischte Lesefans sind gerne der Meinung von Sabine Neumann: „Das ist doch nicht mal ein richtiges Buch.“ Oder: „Das ist für die, die lesefaul sind.“ Oder: „Da kann ich ja gleich Trickfilme im Fernsehen schauen.“ Sicher, geübte Leser sind mit einem Manga in einer halben Stunde durch , aber Kritiker sollten sich in Erinnerung rufen, für welchen Zweck, diese Bücher gemacht werden. Die Japaner haben keine Zeit, hatten sie nie, (wenn sie nicht in irgendwelchen Tempeln, fernab der Welt vor sich hinmeditieren,) wollten aber auf gute, packende Geschichten nicht verzichten, deshalb ist der Manga das denkbar beste Medium, um eben dieses zu erreichen.
 

Deutschen Schülern geht es oft nicht anders. Wird man doch in einigen Schulen zu Allroundgenies erzogen, die alles kennen, aber von nichts wirklich ne Ahnung haben. Und dass man die tollen und detailreichen Zeichnungen von anderen Menschen zu schätzen weiß, heißt nicht, dass man zu faul ist, selbst seine Phantasie spielen zu lassen. Siehe Fanarts und Fanfictions, in denen sich Otakus zu teilweise verblüffenden Interpretationen ihrer Lieblingsserien hinreißen lassen. Man merkt, das Leben eines Otakus ist kompliziert und facettenreich genug, um ein undurchdringliches Geflecht aus Zusammenhängen zu schaffen, dass für Außenstehende eine andere Welt darstellt.
 

Deshalb war Vany auch schon zu einer Außenseiterin mutiert, nicht zuletzt wegen ihrer extravaganten, von der japanischen Musikrichtung Visual Kei inspirierten Kleidung, die sie zum Großteil selber schneiderte. Sie hatte nicht viele Freunde, und keine die ihre Interessen mit ihr teilten. Also schaute sie wie jeden Tag nach der Schule und ihrer Schicht, das Nachmittagprogramm des Senders RTL 2, der, neben anderen Sendern, eine kleine Auswahl von mehr oder weniger erfolgreichen Animes zeigt, die sich aber eher an jüngere Zuschauer richten, oder durch aufwendige Retusche und einem Szenenschnitt dar an Verstümmelung herankam, dazu gebracht wurden.
 

Zur Zeit war Naruto der größte Renner, bei dem sogar die Synchronisation in die Bestimmungen der FSK gequetscht wurde, wobei jeder Harry Potter, sogar Heidi offener mit den Worten „Tod“ und „Hass“ umging. Hier wurde „verschleppt“, „sauer reagiert“ (*lach*), oder man „hatte Wut“. Es handelte sich dabei um eine Ninjaserie. Eigentlich ein Genre, bei dem man davon ausgehen konnte, dass es ein wenig herzhafter zuging, aber naja, die deutschen Fans bekamen halt nur das zu sehen, was von der US-Version noch übrig wahr. Trotzdem hatte die Serie Vany schon damals bei ihrer Erstveröffentlichung in der Banzai! einem Mangasampler, der mit der japanischen Ausgabe der Shonen Jump vergleichbar ist, in ihren Bann gezogen.
 

So saß sie halt jeden Nachmittag da und schaute, las nebenbei, zeichnete und spielte Bassgitarre. Die Musik war Vanys zweite große Leidenschaft. Inspiriert von J-Rock Bands und Visual Kei Acts wie Dir en Grey, Gackt, The GazettE, und ihrem Vorbild dem Mädchenschwarm und Gitarrengott -miyavi- und dem GazettE-Bassisten Reita, dessen Markenzeichen eine Nasenbinde war, die er ständig trug. So saß sie stundenlang da und übte vor sich hin, zum Leidwesen ihrer Mutter, die ihrerseits Violine und Klavier bevorzugte.
 

Vanys Eltern verstanden sich schon lange nicht mehr, stritten nur noch. Von einem harmonischen Familienleben war keine Rede. Vany hatte niemanden mit dem sie sich austauschen konnte, ihrem Vater war so ziemlich alles egal, er hatte seinen Job verloren und gammelte nur noch zu Hause rum, ihre Mutter war den ganzen Tag damit beschäftigt, sich darüber auszulassen, dass niemand mehr die gute alte Handarbeit an Büchern zu schätzen wusste, und die Zeit immer schnelllebiger und undurchsichtiger würde. Sie hasste die neuen Medien – paradoxerweise bezog sie die meisten Einnahmen aus Buchverkäufen im Internet.
 

Vany hingegen durfte das Teufelsnetzwerk nie benutzen. Weshalb sie auch noch nie über jenes mit anderen Otakus in Kontakt getreten war und sie war auch noch nie auf einer Convention gewesen. Ihre Mutter hatte dies einfach nur als Ansammlung von Freaks und Karneval abgetan, dafür würde sie ihrer Tochter kein Geld geben. Tatsächlich ging es auf Conventions bunt zu. Denn viele Otakus verkleideten sich hier als einer ihrer Lieblingscharaktere, und so wirkt das Treiben vielleicht ein bisschen wie Fasching, aber den Otakus ist das egal. Es ist eine Möglichkeit für einen Tag in eine andere Rolle zu schlüpfen, eine andere Person zu sein. Und da die meisten Teilnehmer an solchen Veranstaltungen die Charaktere kennen, scheint es so als wäre man selbst bekannt, jeder wird mit Namen angesprochen, man wird fotografiert und gebeten etwas in ein sogenanntes Conhon, eine Art Poesiealbum, dass jeder Congänger individuell gestaltet, zu schreiben oder zu zeichnen, was manchmal an eine Autogrammstunde herankommt. Es gab regelrechte Cosplay-Wettbewerbe, in denen die Darsteller, neben den Kostümen, auch ihre schauspielerischen Fähigkeiten zur Schau stellen und dafür mit von den Veranstaltern gesponserten Preisen belohnt werden.
 

Es gibt Videospielcontests, Showgruppen, die das Cosplay in Geschichten und Tänzen perfektioniert haben, Karaoke, Zeichenworkshops und vieles mehr, was das Otakuherz höher schlagen lässt. Vor allem aber gab es die Gemeinschaft. Man hatte einfach Spaß und scherte sich nicht drum, sich mal zum Deppen zu machen, oder anders zu sein. Hier war jeder ein Freak – und stolz darauf. Alle lachten über dieselben Witze und es war egal, wie alt man ist, oder woher, auch aus welchem Land, oder sozialen Umfeld man kam.
 

Auch Vany war ein Cosplayfan, sie bewunderte nur immer die Fotos in den Zeitungen für die entsprechende Zielgruppe der Otakus, wie zum Beispiel die AnimaniA, oder die Peach, ein J-Life-Style-Magazin, wie auch die Koneko, in denen sie sich ständig über alles Neue aus Japan informierte. Tatsächlich schneiderte sie gerade selbst an einem Kostüm für Rikku, einem beliebten Nebencharakter aus dem Videospielklassiker Final Fantasy X, dass in ihrem Zimmer vor einer Wand mit Postern von ihren Lieblingsbands und Keshir Nheira, den sie für seine Fotos und Zeichnungen vergötterte, auf einer Schneiderpuppe hing. Daneben die Play Station 2, die sie sich von ihrem Cousin aus Berlin ausgeliehen hatte, der jetzt nur noch Nintendo Wii spielte. Es bestand ja auch ein Unterschied darin, ob man nur ein paar Knöpfe drückte, oder sich gleich komplett interaktiv mit dem Controler in einer virtuellen Welt bewegen konnte. Vany war hingegen einfach nur froh über die Knöpfe.
 

Sie hatte vor langer Zeit, na ja, in ihrer präpubertären Zeit mit dreizehn, oder so, mit ihrer Mutter, die Vereinbarung geschlossen, dass ihr Zimmer ihr Reich war, in dem der Rest der Familie nichts zu suchen hatte.
 

Doch von Zeit zu Zeit missachtete Sabine Neumann dieses Abkommen. Sie klopfte nicht einmal. „Du, deine Tante Annelie hat angerufen, du möchtest auf ihrer Geburtstagsfeier spielen, tu ihr doch den Gefallen“, meinte sie mehr im Befehlston als fragend.
 

Wieder rollte Vany mit den Augen. Bei Tante Annelie zu „spielen“, bedeutete nicht Bass, sondern Flöte zu spielen. Es bedeutete eines von diesen kleingeblümten Kleidern ihrer Mutter zu tragen, keine Schminke…
 

Während Vany noch überlegte, ob alle in der Familie sie immer noch für eine Grundschülerin hielten, trabte ihre Mutter munter durchs Zimmer und zupfte vertrocknete Blattstücke aus der Zitronenmelisse, die auf dem Fenster stand. Sie schaute sich um. Und entdeckte natürlich die Poster, die Vany gerade erst aufgehängt hatte. „Ist das ein Mann?“, meinte sie und zeigte auf Gackt.
 

„Ja, natürlich ist das ein Mann!!“
 

„Der ist ja geschminkt…“
 

„Ja…und?“
 

„Reagier doch nicht immer so patzig!“, eigentlich war Sabine diejenige, die patzig reagierte. „Na ja, zumindest ist es ein Mann… Ich dachte schon, du stehst auf Frauen“, immer dieser abfällige Ton, der nach Intoleranz klang.
 

Vany konnte das einfach nicht ausstehen. Visual Kei Acts waren für ihren auffälligen und femininen Kleidungs- und Schminkstil bekannt. Das war aber genau das, was die Fans so liebten. Manchmal wurde sogar die Musik dabei zur Nebensache, aber Vany empfand beide Faktoren, als mindestens gleichwertig.
 

„Das werden ja immer mehr … Ich glaube, du hast zu viel Geld, junge Dame“, die Mutter deutete unmissverständlich auf das Bücherregal mit den Mangas.
 

„Du gibst doch auch zu viel Geld für Bücher aus“, eine Aussage die zweifelsohne stimmte. „Aber im Vergleich zu dir, kaufe ich Bücher.“
 

„Ach, Mama, mach dir doch mal die unsagbare Mühe, setzt dich´n Stündchen hin und lies mal einen.“
 

„So einen Schund les ich doch nicht!! Ich bin erwachsen und du bist langsam auch schon zu alt dafür…“
 

„Dafür ist man nie zu alt! Du liest doch auch noch Märchen.“
 

„Das sind wunderbar gebunden und illustrierte Meisterwerke, die pädagogisch wertvoll und romantisch sind.“
 

„Und ich lese wunderbar illustrierte Comicbücher, die pädagogisch wertvoll, romantisch und dazu noch spannend sind.“
 

Damit klappte auch schon die Tür. Vanys Vater kam nach Hause und mit ihm auch das Geschrei und die Scherben. Vany hatte längst aufgehört, sich in die Angelegenheiten ihrer Eltern einzumischen, ebenso wenig wie diese am Leben ihrer Tochter Teil haben wollten. Also setzte sie sich im Lotussitz auf ihr Bett, den MP3-Player an und mit voller Lautstärke ließ sie sich von den melodiösen Klanglinien, den Gitarrenriffs und der Stimme von GazettE-Sänger Ruki, die sich manchmal zu einem dämonenhaften Fauchen verzerrte, beschallen.
 

Später am Abend, als selbst ihre Eltern leiser wurden, war sie schließlich bei Déspair’s Ray angekommen. Mit dem Album [coll:set] hatte ihre Liebe zur japanischen Musik angefangen. Genauer gesagt mit dem Lied „Tsuki no Kyoku -fallen-“ Ein düsteres Lied, leicht erotisch angehaucht und schön. Erinnerungen an den Mond, so die Übersetzung. Sie hatte es sich immer wieder angehört. Schließlich schlief sie darüber ein.
 

°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°
 

Das Klingeln des Weckers holte sie jäh aus ihren Träumen zurück. Schule, wieder dort hin, wo sie niemand so recht akzeptierte, niemand sie wollte und niemand sie verstand. Es gab einige Jungs, die Vany interessant fanden, aber auch Angst hatten, sie anzusprechen. Schließlich wollte niemand mit einem Freak zusammen sein. Vany war jetzt 18 Jahre alt und hatte noch nie einen Freund. Eigentlich war ihr das auch egal, aber sie wäre auch mal gerne ausgegangen.
 

Der Tag begann wie jeder andere auch. Mit Sticheleien aus der Tussiecke und den merkwürdigen Blicken der Jungs, und den Sprüchen von denen, die sich immer über sie lustig machten. In der Schule, so kurz vorm Abi konnte Vany es sich nicht leisten, sich über solche Dinge aufzuregen. Sie fand es wichtiger, gute Noten zu schreiben. Alle rollten schon immer mit den Augen, wenn die Kunstlehrerin ansagte, wer die beste Arbeit geschrieben oder die beste Zeichnung gemacht hatte. Und tatsächlich hatte sie ein besonderes grafisches Talent, was aus ihrer Vorliebe für das Zeichnen von Mangafiguren entstanden war. Auch ihre Singstimme konnte sich hören lassen. Die musischen Fächer und Astronomie waren ihre Lieblingsfächer. Die Lehrer hatten auch längst begriffen, dass sie nicht nur ehrgeizig und fleißig war, sondern auch, dass ihre soziale Intelligenz sehr hoch war, deshalb hatte sie auch keine Probleme sich mit ihnen auf eine reife Art zu unterhalten, nur der Kontakt zu Gleichaltrigen fiel ihr schwer.
 

Das einzige, wo sie sich ein wenig abreagieren konnte, war der Sportunterricht. Gerade hatten sie Judo. Aber wieder einmal hatte sie keinen Partner zum Trainieren. Das war manchmal ein richtiger Kindergarten. So blieb nur noch Sara übrig. Vany hatte kein Problem mit dem leicht übergewichtigen, schüchternen Mädchen, das offenbar Angst vor ihr hatte.
 

Irgendwie hatte sie die Zeit mit ihr rumbekommen. In der Umkleide unterhielten sich die Mädels über Kerle, Alkohol und Partys, damit konnte Vany auch nichts anfangen. Sie würde wieder einfach nach Hause gehen und sich langweilen, allein mit ihrer Musik, das Gebrüll ihres Vaters ertragen, die ewigen Phrasen ihrer Mutter und den Haussegen, der zweieinhalb mal schiefer hing als der Turm zu Pisa.
 

Sie schlenderte zurück zu ihrem Schließfach. Sie seufzte, fühlte sich wie immer einsam. Ihr war langweilig. Es war einfach frustrierend. Sie sah eine Horde ihrer Mitschüler auf sich zu kommen, eine rempelte sie an. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie warf derjenigen einen bösen Blick zu, was wieder ein paar Sprüche nach sich zog. Auch das noch … Sie hatte ihre Jacke beim Musikraum vergessen. So ging sie in den anderen Flügel zurück. Und plötzlich hielt sie inne.
 

Sie hörte Musik, ein Klavier spielte. Nicht irgendeine Melodie. Sondern… ihr Lied, Tsuki no Kyoku -fallen- … aber … Sie ging auf die Tür zum Musikraum zu. Träumte sie? Nein. Da spielte tatsächlich jemand dieses Lied. Unbewusst legte sie die Hand an die Tür. Sie überkam eine Gänsehaut. Wer schaffte es, dieses Lied so gefühlvoll zu spielen … und zu singen … wie sie kurz darauf fest stellte. Sie hörte eine weiche Frauenstimme, die sanft die japanischen Worte formte.
 

Sie schloss die Augen, musste wissen, wer das war! Ihre Finger krallten sich in den hellen Stoff der Jacke. Sie zitterte. Sollte sie einfach reingehen und schauen, wer da war? Einmal im Leben, sei kein Hasenfuß! Sie drückte die Klinke ganz leise herunter, und schaute um die Ecke. Ihre Herzschläge beschleunigten. Sie wurde unweigerlich ein wenig rot, als sie eine schlanke, dunkelhaarige Frau, mit einem lockigen Seitenzopf an den schwarz-weißen Tasten sitzen sah. Ihre Augen waren dunkel geschminkt und geschlossen, weil sie sich auf das Singen konzentrierte.
 

Vanys erster Gedanke war, dass sie glaubte, noch nie eine so schöne Frau gesehen zu haben. Es machte wahrscheinlich der Gesamteindruck und die Faszination, die von ihrer Performance ausging. Sie trug eine schwarze Jacke mit vielen silbernen Reißverschlüssen, mit kleinen Sternen als Anhänger, durch die sie eine rote Korsage blitzen sah, die mit schwarzer Spitze besetzt war, ein beigefarbenes Haarband und schwarze gekringelte Ohrringe. Ein kurzer Faltenrock, der aussah als würde er zu einer japanischen Schulmädchenuniform gehören und schwarze Stiefel, in denen sie schwarze hohe Strümpfe trug. Wie hypnotisiert starrte Vany auf die onyxfarben lackierten Nägel der Finger, die immer noch sanft über die Tasten glitten. An ihrem Ringfinger sah sie einen dicken, schweren Ring mit einem Wolfskopf. Sie erkannte dies schließlich schnell als Merchandiseartikel zu Final Fantasy 7 Advent Children.
 

Dann beendete die geheimnisvolle Sängerin das Lied und schon ging die Tür auf und einige der Musiklehrer und die Leiterin vom Schulchor, in dem auch Vany war, standen darin. „So, Sukaina, können wir dann anfangen?“, fragte sie und hatte auch in diesem Moment schon das blonde Mädchen auf einem der Stühle entdeckt. „Oh, hallo Vanessa, seid ihr befreundet?“, fragte sie und deutete abwechselnd auf beide.
 

„Nein, ich … ich … hab nur zu gehört.“
 

Sukaina lächelte.
 

„Ich dachte ja nur, ihr seid euch ähnlich“, meinte die dunkelblonde, schlanke Frau mit den kurzen Haaren und den sympathischen Lachfältchen an den Augen und bedachte sie mit einem vielsagenden Blick, denn sie wusste, dass Vanessa mit niemandem in ihrer Klasse so richtig warm wurde. „Du kannst gerne hier bleiben und zuhören …“
 

Bald schon klärte sich die Sache auf. Sukaina kam aus Hamburg, die Stadt, in der Vany wohnte war nicht weit entfernt von der Millionenmetropole. Ihre Musiklehrerin war eine Bekannte, die sie gebeten hatte, ein Solo bei der diesjährigen Übergabe der Abiturzeugnisse zu singen. So spielte sie also noch ein Lied an: “May be this time, I’ll be lucky, May be this time its fair, may be this time for the first time love wont’t hurry away…”, das Lied kannte Vany schon, doch diesmal traf es sie. Auch die Lehrer waren ganz fasziniert.
 

Am Ende waren vier Menschen berührt und applaudierten. „Ich würde sagen, du bist engagiert!“, schließlich wurde sich noch kurz über dies und jenes ausgetauscht und schon packte Sukaina wieder ihre Tasche, mit den Glöckchen dran und den vielen einlaminierten, bunten Animebildern und Fotos von einigen J-Rock und Visual Kei Bands, unter anderen auch von -miyavi-, die mit Sicherheitsnadeln darauf befestigt waren.
 

Sie blieb kurz bei Vany stehen und beschaute deren Anhänger an ihrem Ohrring, ein Lächeln verriet, dass sie das kleine rote Wölkchen mit weißem Rand sofort als das Symbol der Organisation Akatsuki aus Naruto identifizierte. „Ah, eine von uns… Ich bin Maki’-san.“, meinte sie nur, gab ihr die Hand und verschwand mit sagenhaft leichten Schritten im dunklen Flur. Kurz vor der Feuerschutztür blieb sie stehen. „Worauf wartest du?! Komm…“
 

Vany kam nicht drum herum einen Augenblick lang dumm aus der Wäsche zu schauen, dann verzog sich ihre Miene zu einem breiten Lächeln. Und sie stürmte hinter der neuen Bekanntschaft her. Eine von uns …
 

Sukaina… äh, Maki’ erklärte ihr, dass das ihr Mexx-Nick sei, ein Username bei dem beliebten Otakuforum Animexx. Es sei die Abkürzung für makige, was so viel wie Locke heißt, der Namenszusatz –san sei lediglich eine Höflichkeitsfloskel der Japaner, so wie bei uns das Fräulein, es wird sehr viel wert darauf gelegt, natürlich sah Maki’ das nicht ganz so eng. „Und hast du auch einen Nick?“
 

„Nein, meine Mutter lässt mich nicht ins I-Net.“
 

„Aber du kannst doch trotzdem einen Kosenamen haben … Dann erfinden wir einen für dich. Mal sehen …Was würde denn zu dir passen?“ Sie überlegten auf dem Nachhauseweg hin und her und nebenbei bemerkte Vany, dass Maki’ fast dieselben Serien und Musik mochte wie sie. Das löste etwas in ihr aus, dass sie lange nicht gespürt hatte. Glück. Ähnlichkeiten machen glücklich und sind Balsam fürs Selbstbewusstsein.
 

Plötzlich schien es so, als würde Vany weiße Schwingen tragen, zum ersten Mal hatte sie mit jemandem so etwas wie Insiderwitze, und sie war gar nicht mal schlecht darin, solche zu reißen. Diese Flügel waren Maki’ schon aufgefallen, als sie noch unsichtbar waren und so entschied sie irgendwann, das Hane gut zu ihr passen würde, was das japanische Wort für Flügel war.
 

„Bin ich dann Hane-san?“
 

„Wohl eher Hane-chan…“, meinte ihre neue Freundin und knuffte ihr die Wange. Chan war die Anrede für kleine Kinder und niedliche Personen… ^.^
 

°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°
 

Dieser Tag hatte alles anders gemacht. Und als Vany nach Hause kam, war sie zu Hane geworden … Es war still. Ihr Vater hatte sich betrunken und war eingeschlafen. Und als sie durch die Küchentür schaute, sah sie ihre Mutter am Tisch sitzen mit blitzenden Tränen in den Augen und in ein Buch vertieft – in Clover, einem Manga von Clamp …



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück