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In der Hand der Götter

(Ehemals: Der Zorn Exavors)
von

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Des Gottes Zorn

Die kühle modrige Luft ließ Minja erschaudern; seit sie ins Innere des Tempels vorgedrungen waren, musste die Temperatur um wenigstens zehn Grad abgesunken sein. Eigentlich war sie stets über einen sonnengeschützten Ort erfreut, doch die Temperatur war bei Weitem nicht der einzige Grund, der Minja immer näher an ihre drei Freunde heran rücken ließ: Das Licht der vier Fackeln reichte kaum, die Inschriften auf den bröckeligen Wänden zu entziffern und verzerrte jeden Schatten zu einer furchteinflößenden Kreatur.

Ein Glück, dass Kent an alles gedacht hatte: Fackeln, Wasser, Proviant – und ein Glück, dass er sich dazu entschlossen hatte, die drei Mädchen zu begleiten, denn diese Exkursion hatte nie seine Zustimmung gefunden.

„Ein Wunder, dass die Karte uns irgendwohin geführt hat. Auch wenn an diesem Tempel nichts Besonders zu sein scheint“, sagte dieser nun mit gedämpfter Stimme, die dennoch von den Wänden widerhallte.

„Nichts Besonderes, sagst du?“, meldete sich nun Belina zu Wort, welche eiligen Schrittes vorausgegangen war, sodass die Anderen nur noch ihre Fackel in der Dunkelheit schimmern sehen konnten. „Niemand hat ihn bei einem Flug über der Wüste gefunden, das halte ich doch für sehr unnatürlich. Diese Karte scheint eine Art Schlüssel zu sein. Vielleicht ist dies der Tempel eines mächtigen Gottes einer alten Zeit.“

An ihrem Tonfall bemerkten ihre Freunde, dass sie selbst nicht an ihre letzte Behauptung glaubte.

Minja klammerte sich noch etwas fester an ihre Fackel und erwiderte: „Damit macht man keine Scherze.“

Die Älteste der vier, Evita, hatte inzwischen zu Belina aufgeschlossen und schien einen Raum zu untersuchen, der von der großen Kammer, in der sie sich alle befanden, abging: „Hier scheint eine Art Schatzkammer zu sein! Der ganze Boden ist mit Goldmünzen bedeckt! Wir schauen uns das mal an. Ihr könnt ja nachkommen – wenn ihr euch traut.“

Damit verschwanden die Fackeln der beiden Mädchen aus Minjas und Kents Blickfeld, was den Jungen dazu bewegte, seine Freundin bei der Hand zu nehmen und sie rasch in die Richtung zu ziehen, in der er die Schatzkammer vermutete.

Noch ehe die beiden besagte Stelle erreichen konnten, erklang das Geräusch einer sich verschiebenden Steinplatte. Erschrocken rannte Kent die letzten Meter zu der Kammer und musste feststellen, dass sich der Eingang verschlossen hatte. Kurz entschlossen schlug er einige Male heftig gegen die Tür: „Belina, Evita! Hört ihr mich? Ihr scheint irgendeinen Mechanismus ausgelöst zu haben, der die Tür zur Kammer verschlossen hat!“

„Wir haben nichts angefasst!“, erklang Belinas Stimme so gedämpft, dass der Junge sie kaum noch verstand.

„Was machen wir denn jetzt?“, entfuhr es Minja fast panisch, so hatte sie sich den kleinen Ausflug nicht vorgestellt.

Wieder ergriff Kent ihre Hand, dieses Mal, um sie näher an sich heranzuziehen: „Ich brauche das Licht deiner Fackel, auf der Tür ist eine Inschrift.“

„Die sind hier überall“, gab Minja halb ängstlich, halb mürrisch zurück, tat ihrem Freund jedoch den Gefallen und trat näher.

Nun wurde ihr ein weiterer Grund bewusst, aus dem sie die Inschriften bisher nicht hatte entziffern können, es hatte nicht ausschließlich an den schlechten Lichtverhältnissen gelegen: Es handelte sich um ein völlig anderes Buchstabensystem als das, welches ihr Volk zu verwenden pflegte.

Es dauerte einige Zeit, bis Kent aufhörte, die Inschrift mit gerunzelter Stirn anzustarren und sich erneut Minja zuwandte.

„Hier steht, dass jeder, der diese Kammer betritt, den Zorn Exavors erweckt.“, flüsterte er unnötigerweise, denn die Steinwände waren so dick, dass ihn die Mädchen im Innern der Kammer ohnehin nicht hören konnten.

Eine schreckliche Befürchtung stieg in Minja auf, drängte sich gnadenlos in ihr Bewusstsein, doch noch konnte und wollte sie ihr keinen Glauben schenken.

„Wer ist Exavor?“, fragte sie, erneut verschüchtert.

Doch wider Erwarten hatte Kent hierauf keine passende Antwort parat: „Ich weiß es nicht, vermutlich eine Gottheit. Aber viel wichtiger: Wenn die Sonne ein Mal über den Horizont gewandert ist und wieder an genau der selben Stelle steht, wie zu der Zeit, als sich die Tür schloss, werden die Eindringlinge sterben.“

„Was?“, schrie Minja erschrocken auf, doch Kent gebot ihr ruhig zu sein, indem er den Zeigefinger an seine Lippen legte: „Mach ihnen keine Angst, das ist das Schlimmste, was passieren kann.“

„Aber“, begann Minja erneut, dieses Mal mit gedämpfter Stimme, „Wieso kannst du diese Zeichen entschlüsseln?“

„Das ist nichts Besonderes: Es ist die alte Landessprache, mein Großvater hat sie mir seinerzeit beigebracht. Ich beherrsche sie nicht perfekt, aber es genügt“, gab Kent kurz angebunden zurück und erhob dann die Stimme erneut, um mit Belina und Evita zu sprechen. „Wir holen euch da schon raus!“

Daraufhin griff er nach einer alten Vase, die an der Wand stand und schlug damit nach dem Felsentor. Ein greller Lichtblitz durchzuckte für den Bruchteil einer Sekunde den Raum, dann prasselten Scherben über Minja nieder, sodass sie rasch den Arm vor ihr Gesicht hob, um ihre Augen zu schützen.

Als sie wieder aufblickte, sah sie ihre Befürchtung unweigerlich bestätigt: Es musste eine magische Kraft geben, welche das Tor verschlossen hielt. Die Wände mochten porös wirken, doch rohe Gewalt vermochte ihnen keinen Kratzer zuzufügen; fast schien es, als habe der Lichtblitz jegliche Berührung von Tor und Vase verhindert.

Kent schüttelte nur den Kopf, er schien nicht daran zu denken, einfach aufzugeben: „Es muss einen anderen Weg geben.“

„Du hättest mich vorwarnen können“, gab Minja mit leicht zittriger Stimme zurück, sie hatte sich heftig erschrocken, „Aber was ist mit dieser Einkerbung neben der Tür?“

Fahrig fuhr Kent mit der Hand über die beschriebene Vertiefung: Sie hatte die Form einer Tempelkatze und es schien, als gäbe es ein passendes Gegenstück dazu.

„Ich weiß es nicht“, gab Kent beinah niedergeschlagen zurück, „Wir sollten in die Stadt zurückfliegen, in der wir diese verfluchte Karte erstanden haben und den Verkäufer nach diesem Tempel fragen. Wenn es jemanden gibt, der etwas darüber wissen könnte, dann er. Wir haben keine Zeit zu verlieren!“

An die gefangenen Mädchen gewandt rief er noch: „Wir holen Hilfe, teilt euch euer Wasser ein. Keine Angst, wir sind in Null Komma Nichts zurück!“, bevor er auf der Stelle kehrtmachte, und in Richtung Ausgang voraus lief.

Einige Sekunden verweilte Minjas Blick noch völlig perplex auf der verschlossenen Felsentür. Wie hatte das nur geschehen können? Wieso gerade ihnen? Tränen sammelten sich in ihren Augen und drohten, ihr über die Wangen zu fließen, doch sie wischte sie fort, sagte sich, sie müsse Vertrauen haben.

Dann riss sie sich von dem Anblick los und folgte Kent hastig, in der Angst, ihn zu verlieren und den Ausgang nicht wiederzufinden.
 

Kaum, da Minja und Kent die Treppen, welche zurück an die Oberfläche und aus dem Tempel hinaus führten, hinaufgestiegen waren, schlug ihnen die altbekannte Hitze der endlosen Wüste mit voller Wucht entgegen und brachte Minja sogar ins Wanken. Allerdings könnte man als Grund hierfür auch die Erschütterung anführen, die sich zeitgleich vollzog.

Da er seine Besitzer ausgemacht hatte, war der mächtige Wüstendrache, welcher vor dem Tempel gewartet hatte, aufgesprungen und hatte sich aufbruchbereit gemacht; sein mächtiger Schweif peitschte unablässig durch den losen Sand, von dem er sich farblich kaum abhob.

Minja wollte gerade auf seinen Rücken klettern, als Kent sie noch einmal zurück rief: „Warte! Lass uns eine Sonnenuhr anfertigen und den Stand der Sonne zum jetzigen Zeitpunkt markieren. Wie sollen wir sonst wissen, wann uns die Zeit davon läuft?“

Das war es, wofür sie ihren Freund so schätzte: Er dachte stets an Dinge, die ihr selbst nie in den Sinn kommen würden, und die doch durchaus notwendig oder zumindest von großem Nutzen waren.

Sie waren ein gutes Team. Während Kent einen großen Kreis in den Sand zeichnete und den Stand der Sonne markierte - hierbei zog er noch ein wenig Zeit ab, die sie im Innern des Tempels verbracht hatten - suchte Minja nach einem großen, länglichen Stein, der den Schatten werfen sollte. Auf der Rückseite des Tempels wurde sie fündig, der Felsblock hatte sich offensichtlich aus der Mauer gelöst. Mit aller Kraft las sie ihn auf und trug ihn zurück an den Eingang, neben dem Kent bereits ungeduldig auf sie wartete. Gemeinsam platzierten sie den Stein hochkant in der Mitte des Kreises und ihr Werk war vollbracht.

„Gut, das hätten wir geschafft. Die Sonne muss gerade ihren höchsten Stand erreicht haben, als wir den Tempel betreten haben, präg' dir das gut ein. Ich habe die Sonnenuhr extra nach Norden ausgerichtet, so wie es in jeder Stadt gemacht wird“, erklärte Kent, während er bereits auf den Rücken des Wüstendrachens kletterte, welcher sich in der Zwischenzeit gelangweilt erneut niedergelegt hatte.

„Du denkst wirklich an alles“, antwortete Minja anerkennend, bevor auch sie auf dem Rücken des Drachens Platz nahm; über ihr Tun hatte sie das mulmige Gefühl, welches sich in ihrer Brust ausgebreitet hatte, fast vergessen, doch nun drängte es sich erbarmungslos erneut auf. „Wir haben keine Zeit zu verlieren!“

Wie auf Kommando erhob sich das geflügelte Wesen schwerfällig und doch elegant in die Lüfte, wobei es mit seinen Schwingen große Mengen von Sand aufwirbelte und so seine beiden Reiter zum Husten brachte.

„Wir haben es eilig, mein Junge“, sprach Kent zu dem Drachen gewandt. „Du weiß sicher noch, in welcher Stadt der Basar war, den wir besucht haben. Bring uns so schnell wie möglich dorthin zurück.“

Sofort beschleunigte das Ungetüm und Minja musste sich an Kents Hüfte festklammern, um nicht herunter zu fallen. Zudem trieb der Flugwind ihr schwarzes Haar in alle Richtungen um ihren Kopf herum, sodass ihr Blick verschleiert blieb, doch ihren Freund loszulassen, um sich das Haar aus dem Gesicht zu streichen, wagte sie nicht.

„Wie lange brauchen wir bis zu der Stadt?“, rief sie gegen den Wind an.

„Genau so lang, wie wir hier her gebraucht haben. Wenn Pantaleon so schnell vorankommt, wie bisher, vielleicht eine Stunde, ein wenig mehr“, antwortete Kent in Gedanken versunken und tätschelte den Hals des riesigen Wüstendrachens.

Während er gespannt dem Horizont entgegen blickte, kämpfte Minja noch immer mit ihrem Haar, schaffte es jedoch schließlich eine Hand von ihrem Vordermann loszulösen und sich die widerspenstigen Strähnen hinter das linke Ohr zu streichen.

Sie bewunderte Kent im Stillen, er war so völlig anders als sie und ihre Freundinnen – behielt stets einen kühlen Kopf und wusste immer, was zu tun war.

Schließlich sagte sie: „Du kannst gut mit Drachen umgehen, er folgt dir aufs Wort. Wenn ich ihm etwas sage, ignoriert er es einfach.“

Ein leicht frustrierter Unterton war in ihrer Stimme mitgeschwungen, doch hauptsächlich suchte Minja einen Fluchtweg aus ihren Gedanken, die sie an die zurückgelassenen Freundinnen fesselte. Etwas in ihr wusste, dass es in diesem Moment keinen Zweck hatte, sich damit zu belasten, denn ihr Handlungsspielraum war nun stark eingeschränkt.

„Natürlich, Pantaleon kennt mich, seit er aus dem Ei geschlüpft ist“, ging Kent rasch auf das neue Thema ein, als hätte er nur auf diese Gelegenheit gewartet. „Du warst noch nicht auf der Drachenfarm meines Vaters, oder? Sie liegt ziemlich weit draußen, damit die Frischlinge keinen Schaden anrichten können. Pantaleon hat mich bisher immer zuverlässig in eure Stadt getragen, wenn ich Besorgungen für meinen Vater erledigen sollte, er ist ein guter Junge.“

„Vor allem ist er“, an dieser Stelle zögerte Minja, bevor sie schloss, „groß!“

Als hätte der Wüstendrache diesen Satz gehört, flog er jäh eine enge Schneise, während der Minja beinah von seinem Rücken gerutscht wäre. Nun erneut ängstlich klammerte sie sich an Kent fest, der sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte und beruhigend mit der Handfläche über die Schuppen des Drachens fuhr.

Um seine Freundin erneut abzulenken, sagte er: „Es ist schon seltsam, eigentlich sollten wir nur frisches Gemüse besorgen, ich meine auf dem Basar. Mir kam dieser Trödelhändler, der euch die Karte verkauft hat, von Anfang an suspekt vor.“

„Aber einen Schatz haben wir damit entdeckt. Sicher hat vor uns lange Zeit niemand diesen Tempel betreten“, rechtfertigte Minja ihr Handeln, obgleich ihre Gedanken zurück zu Belina und Evita abschweiften.

„Ein hoher Preis für einen Schatz“, sprach Kent leise, damit Minja es nicht hören konnte, doch diese tat das Misslingen dieses Versuches kund, in dem sie ihm in die Seite kniff.

„Idiot!“, schrie sie aufgebracht, dann fuhr sie ruhiger fort: „Du glaubst doch nicht, dass wir es nicht schaffen, die beiden da raus zu holen?“

Nun hatte Kent genau das erreicht, was er hatte vermeiden wollen: Er hatte Minja geängstigt. Und so sprach er mit sanfter Stimme: „Natürlich nicht. Wir haben noch jede Menge Zeit! Und Evita ist schließlich bereits im Alter einer Frau, sie kann auf Belina Acht geben.“

„Ja... Aber auch, wenn sie bereits eine Frau ist, manchmal habe ich das Gefühl, du bist erwachsener als sie“, antwortete Minja schüchtern und beobachtete Kents Hinterkopf, obwohl dieser ihr nichts über seine Reaktion verraten würde.

„Vielleicht“, gab er nach kurzer Zeit zurück und hüllte sich dann in Schweigen, sodass Minja den Blick am Körper des Drachens herab und an seinen mächtigen Schwingen vorbei gen Boden schweifen ließ, wo große und kleine Sanddünen, hier und da eine Palme, unter ihnen hinwegrasten.

Die Sonne brannte ihr auf den Hinterkopf, doch sie spürte sie kaum; jeden Tag wurde sie mit ihr konfrontiert und so hatte sie sich an die Hitze des Tages gewöhnt.

„Fast wie die Geier“, fuhr es ihr durch den Kopf, da sie weit unter sich eine Silhouette ausmachte, welche einem Vogel glich.

Erster Anhaltspunkt

Es war nur noch eine Fackel, welche die dunkle Kammer erhellte, die Zweite hatten sie auf Belinas Vorschlag hin gelöscht, um die Brenndauer zu verdoppeln.

„Verdammt, wieso musste gerade uns so etwas passieren?“, fluchte diese nun auch so laut, dass Staub von der Decke rieselte.

Niemals hatte sie sich erträumt, in einer Tempelanlage gefangen zu sein – sicher, oft hörte man von Unglücken ähnlicher Natur und doch spürte jeder tief im Innern, dass es ihm selbst niemals widerfahren würde. Doch nun war es geschehen und das konnte Belina nicht so einfach hinnehmen.

„Beruhige dich erst mal“, riet Evita, die sich auf einer großen Steinkiste, vermutlich einer Art Sarg, niedergelassen hatte und die Beine baumeln ließ. „Wir wollten doch ein Abenteuer und hier haben wir es!“

Statt zu antworten, verschränkte Belina nur die Arme vor der Brust, nahm die Fackel aus einem alten Tonkrug, der ihr als Halter gedient hatte, und begann jede Ecke der relativ geräumigen Kammer zu untersuchen. Jede Wand massiv wie die andere, auch wenn sie alle einen maroden Eindruck machten und, auch kein Luftzug ließ die Flamme der Fackel erzittern, sodass das einzige Geräusch der Atem der beiden Mädchen war – zusammen mit dem Klirren der Goldmünzen auf dem Boden der Kammer, wenn Belina durch den Raum ging.

Eine Fluchtmöglichkeit schien nicht zu bestehen.

„Sie werden Hilfe finden und uns hier raus holen, oder?“, fragte Belina nach einiger Zeit mit belegter Stimme, stellte die Fackel in den Krug zurück und blickte zu Evita hinüber, welche nur lächelte.

„Natürlich“, nickte sie. „Es dauert sicher nicht mehr lange, immerhin nimmt Kent sich der Sache an, er weiß immer, was zu tun ist.“

„Aber ich weiß nicht, ob es klug ist, sich immer nur auf andere zu verlassen.“
 

Immer wieder blickten Minja und Kent besorgt zum Himmel empor, um den Stand der Sonne zu überprüfen, sie hatten mehr Zeit für den Flug benötigt, als sie gedacht hatten. Nun streiften sie über den Basar, auf dem sie vor einigen Stunden die geheimnisvolle Karte erstanden hatten, welche sie erst in diese missliche Lage gebracht hatte. Pantaleon hatten sie vor der Stadtmauer zurückgelassen, nachdem sie ihn mit frischem Wasser für seine Mühen belohnt hatten.

„Hier irgendwo muss der Stand gewesen sein“, sagte Minja mehr zu sich selbst denn ihrem Begleiter und drehte sich auf der Stelle, um den Platz zu überblicken, was im Gewühl der einkaufenden Menschen nicht ganz einfach war.

Kent jedoch ging zielstrebig an ihr vorbei und blieb zwischen zwei Ständen stehen, blickte nach links auf frisches Obst und nach rechts auf handgefertigte Tonkrüge und winkte schließlich Minja zu sich heran, welche sogleich näher trat.

„Genau hier ist der Stand“, nickte Kent bestimmt und verschränkte die Arme vor der Brust.

Nachdem Minja sich einige Sekunden verwirrt umgeblickt hatte, fragte sie: „Wie meinst du das? Ich sehe ihn nicht!“

„Weil er nicht mehr da ist, oder kannst du dir diese riesige ungenutzte Standfläche anders erklären?“, fuhr Kent mit ungeduldigem Unterton fort.

Erst jetzt bemerkte es Minja auch, im Durcheinander der kreuz und quer laufenden Menschen war ihr gar nicht aufgefallen, dass ihr Freund auf einer regulären Standfläche stand, welche jedoch nicht genutzt wurde – und das war mehr als ungewöhnlich, da jeden Morgen zahlreiche fliegende Händler in die Stadt kamen, die sich mühten, noch eine freie Fläche für den Tag zu ergattern.

„Aber wieso ist er verschwunden? Der Basar ist erst spät am Abend beendet, er muss den Stand doch bezahlen, das ist kein bisschen lukrativ“, fragte Minja an Kent gewandt, doch dieser war bereits an den neben liegenden Obststand getreten und in ein Gespräch mit einer stämmigen Verkäuferin verwickelt, sodass Minja rasch erneut an seine Seite trat.

„Wo ist der Trödler, der seinen Stand neben deinem hatte?“

„Das war ein komischer Vogel“, raunte die Verkäuferin mit überraschend tiefer Stimme. „Den hab ich hier noch nie gesehen, hat meine Kunden ständig von der Seite angequatscht.“

In Gedanken zog Kent die Stirn kraus – etwas Ähnliches hatte er beinahe befürchtet, denn auch die von ihm erstandene Karte war alles andere als gewöhnlich: „Das heißt du weißt nicht, wo er jetzt ist?“

„Keine Ahnung, fragt mal den Töpfer da hinten“, schlug die stämmige Frau vor und brüllte dann in ohrenbetäubender Lautstärke über den Markt: „Frische Orangen! Die besten in der Gegend!“

Nachdem Kent und Minja einen kurzen Blick gewechselt hatten, wandten sie sich also an den zweiten Nachbarstand des Trödlers.

Der Töpfer war ein älterer Mann, der bereits weißes Haar hatte und bei seiner Begrüßung demonstrierte, über wie wenige Zähne er nur noch verfügte: „Hallo Jungchen, bei mir gibt es die langlebigsten Gefäße der ganzen Stadt! Vergiss bloß das Porzellan, das taugt nichts.“

„Natürlich, wir haben zu Hause nur Tonkrüge“, lächelte Minja den Töpfer an, woraufhin sie sich einen verwirrten Blick Kents einfing. Nachdem sie ihm jedoch zugezwinkert hatte, glaubte er ihre Taktik zu durchschauen.

„Du bist ein braves Kind“, lachte der Alte erfreut, „was möchtest du kaufen?“

„Heute nichts, aber das hole ich sicher nach“, schmeichelte sie ihm weiter, „Es würde mich interessieren, wo der Trödler, der seinen Stand neben deinem hatte, jetzt ist. Mir scheint, er hat uns betrogen.“

Wieder einer dieser Blicke, doch Minja ignorierte ihn.

„Lass mich nachdenken“, überlegte der Töpfer laut. „Er ist vor einer knappen Stunde verschwunden – Ja, siehst du die runde Strohhütte da hinten? Das ist eine Schenke, da ist er rein und seitdem nicht wieder zurückgekehrt, wenn ich mich recht erinnere.“

„Danke, das ist wirklich nett von dir“, lächelte Minja kokett und wandte sich zum Gehen. „Einen guten Verkauf, wünsche ich noch.“

Und als Kent und Minja nun auf die beschriebene Schenke zusteuerten, winkte ihnen der Alte und lachte nur.

„Das war eine wirklich gute Idee, vielleicht hätte er uns nichts verraten, wenn wir ihm nicht sympathisch erschienen wären“, lobte Kent Minjas Idee, doch diese schüttelte nur den Kopf: „Sicher hätte er uns gesagt, was wir wissen wollten, doch vermutlich hätte uns das einiges gekostet.“

Daraufhin schenkte Kent ihr einen anerkennenden Blick, diese Art der Weitsicht kannte er von seiner Freundin nicht – doch es schien, als würde nun auch sie erwachsen und verantwortungsbewusster, damit auch bedachter, obwohl sie erst in sechs Jahren einundzwanzig und damit volljährig werden würde.
 

In der Schenke war es stickig und stank nach Alkohol. Betrat man den Raum, so war der hintere Teil der Bar kaum noch zu erkennen, so dick hing Pfeifenrauch in der Luft, doch deutlich zu erkennen war der verwunderte und zugleich missbilligende Gesichtsausdrucks des Schankmanns, als er Minja und Kent hineinkommen sah.

Die stickige Luft schlug den beiden so heftig entgegen, dass Minja zunächst einige Sekunden inne hielt und die Nase kraus zog.

„Hier drinnen herrscht wirklich schlechte Luft“, klagte sie halblaut, folgte Kent dann jedoch weiter in den Schankraum hinein, sodass sie den gesuchten Trödler bald ausfindig machen konnten.

Er saß am hinteren Teil der Bar, vor sich ein halb geleerter Krug und schien mit sich selbst zu sprechen: „Weißt du, das ist ein mieses Geschäft, ja, das sag ich dir, ein ganz, ganz mieses Geschäft!“

Seine Worte waren nicht klar, sodass die beiden zunächst nur schwer verstehen konnten, was er sagte, doch es genügte um eindeutig festzustellen, dass er mehr als nur diesen einen Krug geleert haben musste.

Vorsichtig trat Kent näher an den Trödler heran, Minja blieb ein Stück hinter ihm zurück.

„Ein bisschen früh für ein Gelage“, grüßte Kent den Mann missbilligend und runzelte die Stirn, als dieser jäh nach seinem Bierkrug griff und damit wild herumfuchtelte.

„Was willst du, Bürschchen? Ich bin ein hart arbeitender... Mann!“

„Das sehe ich“, gab Kent trocken zurück und wich vor dem, auf ihn zu sausenden, Bierkrug zurück. „Du hast uns heute Morgen eine Karte verkauft. Was weißt du über den Tempel, zu dem sie führt?“

Der betrunkene Trödler hielt einen Moment inne und dachte nach, was ihm schwer zu fallen schien, dann sagte er klarer als zuvor: „Ich weiß nichts darüber, die Karte hat mir eine verrückte Frau angedreht. Die wohnt im See einer Oase, dieses Weibstück!“

Mit gerunzelter Stirn wandte sich Kent zu Minja um, die auf seinen Blick hin nur die Achseln zuckte: Sprach dieser Mann nur im Rausch oder meinte er wirklich, was er sagte?

„Und wo befindet sich diese Oase?“, hakte Kent weiter nach.

„Gar nicht so weit von hier“, lallte der Betrunkene weiter, legte eine kurze Pause ein und sagte dann, wobei er seinen Krug versehentlich über seinem Schurz leerte: „He, Moment! Wieso will so ein Kind wie du das wissen? Du willst mir das Geschäft streitig machen!“

Jäh versuchte der Mann, fast zwei Köpfe größer als Kent, auf zu springen und sich auf den Jungen zu stürzen, doch er war so betrunken, dass ihm seine Glieder nicht mehr recht gehorchen wollten. Ehe er sich doch von seinem Stuhl hoch raffen konnte, hatten die beiden Jugendlichen die Schenkeb fluchtartig verlassen.
 

„Meine Güte, was ist denn plötzlich in ihn gefahren?“, keuchte Minja, da sie neben Kent ein ganzes Stück entfernt der Schenke stehen geblieben war.

„Menschen haben sich nicht mehr unter Kontrolle, wenn sie zu viel getrunken haben“, gab Kent schlicht zurück und seufzte. „Aber egal, wir haben die Informationen, die wir brauchen.“

„Du denkst also wirklich, er hat die Karte von einer Frau aus einem See?“, fragte Minja daraufhin in zweifelndem Tonfall und blickte sich auf dem Basar um. Immer noch herrschte reges Treiben um sie herum, doch es ebbte langsam ab. Wie spät es wohl sein mochte?

„Lass uns auf die Sonnenuhr im Stadtzentrum schauen“, setzte sie nach und schritt voran, zwischen den verschiedenen Ständen des Basars hindurch.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Kent nun verspätet auf Minjas Frage, er hatte eine gute Minute darüber nachgesonnen. „Ich denke, er hat die Karte einer Frau in der Nähe einer Oase abgekauft, das ist alles. Außerdem haben wir keinen anderen Anhaltspunkt, was bleibt uns übrig?“

Gerade nickte Minja und setzte zu einer bestätigenden Antwort an, da Kent erschrocken auffuhr: „Die Karte! Wo ist sie? Ohne sie werden wir den Tempel nicht wiederfinden!“

Von Kents panischer Stimme angesteckt tastete Minja hastig die Taschen ihres weiten Leinenkleides ab, ihr Herz setzte für eine Sekunde aus – doch dann zog sie die Karte hervor.

„Hier ist sie“, seufzte sie daraufhin erleichtert und hielt sie Kent demonstrativ vor sein Gesicht. „Tu mir den Gefallen und erschreck mich nie wieder so! Dein Wüstendrache hat zwar einen extrem guten Orientierungssinn, aber da seit Jahren oder Jahrhunderten niemand mehr in diesem Tempel gewesen ist, scheint sie eine Art magischer Schlüssel zu sein – unser Dorfältester hat mir einmal davon erzählt.“

„Tut mir Leid, ich dachte wirklich Evita hätte die Karte bei sich gehabt, als die beiden in der Schatzkammer eingesperrt wurden – ich hoffe, sie geraten nicht in Panik da drin“, gab Kent gedankenversunken zurück, sodass er nicht bemerkte, dass Minja stehen geblieben war und noch einige Meter weiter ging, bevor er sich suchend nach ihr umwandte.

Sie hatten die Sonnenuhr bereits erreicht und das Mädchen starrte auf die große runde Scheibe, welche hier nicht einfach in Sand gemalt, sondern völlig aus Stein gefertigt war.

„Nur noch drei Stunden bis zum Sonnenuntergang“, stellte Kent laut fest, da er die Sonnenuhr zu Rate zog. „Mach dir keine Sorgen, das heißt bis zum nächsten Morgen sind es jetzt noch fünfzehn Stunden und bis die Sonne am nächsten Tag ihren höchsten Stand erreicht ziemlich genau zwanzig. Das ist mehr als genug Zeit, diese Oase wird ganz in der Nähe sein.“

„Ja“, sagte Minja langsam, den Blick immer noch nicht von der Sonnenuhr gelöst, „aber die Zeit vergeht einfach schneller, als mir lieb ist.“

Die Frau im See

„Das ist einfach sinnlos! So werden wir diese Frau nie finden“, fluchte Minja laut und kniete neben dem kleinen See der Oase nieder, um sich das staubbedeckte Gesicht zu waschen.

Sie war frustriert, sie hatten viel zu viel Zeit mit der Befragung von Einwohnern verschwendet, als sie sich leisten konnten. Wer konnte denn sagen, dass es diese Frau wirklich gab und ob sie ihnen helfen konnte und es auch tun würde?

Die Angst um ihre Freundinnen gepaart mit dieser Frustration hatte ihr Tränen in die Augen getrieben, welche sie jedoch unauffällig mit dem klaren Wasser der Oase weg zu waschen vermochte.

Seufzend ließ sich Kent ein Stück entfernt von ihr nieder, mit dem Rücken an Pantaleon gelehnt, welcher die letzten Stunden allein hier am See verbracht hatte und schon gelangweilt den Kopf hängen ließ. Es mutete fast an, als habe er Mitleid mit den beiden Menschen.

„Niemand hier hat etwas von einer Frau gehört, die alte Karten verkauft oder gar den Ruf hat, in einem See zu leben – Metapher oder nicht. Aber das ist noch lange kein Grund aufzugeben, es ist nicht die einzige Oase in der Nähe, wer weiß welche der Trödler gemeint hat“, versuchte Kent seine Freundin zu beruhigen, doch die Erschöpfung konnte er nicht völlig aus seiner Stimme verbannen.

„Das habe ich nach der ersten möglichen Oase auch gedacht!“, fluchte Minja weiter und richtete sich zu voller Größe auf. „Aber was, wenn wir nie die Richtige finden? Das Befragen der Einwohner und vor allem der Flug zu den Oasen dauert viel zu lang, viele können wir nicht mehr abklappern. Sieh doch, die Sonne geht schon unter.“

Resigniert brach sie ab, ließ den Kopf hängen und betrachtete ihr Spiegelbild im See, dann flüsterte sie: „Ich hoffe es geht ihnen gut.“

„Komm“, rief Kent jäh scheinbar erneut voller Energie, sprang auf, trat an Minja heran und reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen. „Wenn wir hier noch eine halbe Ewigkeit herum sitzen und nichts tun, hilft uns das auch nicht weiter. Pantaleon scheint sich auch etwas erholt zu haben, er wird uns sicher schnell zur nächsten Oase bringen und mit etwas Glück ist es die Rechte.“

Seufzend ergriff Minja seine Hand und erhob sich, klopfte dann den Sand von ihrem Kleid und wartete, bis Kent auf den Rücken des Wüstendrachens geklettert war, um es ihm dann nach zu tun.

Pantaleon ließ ein fröhliches Grölen ertönen, als er nun einen kurzen Sprung machte und sich, noch in der Luft, mit den Flügeln schlagend weiter empor hob. Schon bald war die Oase unter ihnen nur noch ein grüner Fleck mit einem kleinen Gewässer in der Mitte, rund herum Spielzeughäuser, vor denen geschäftige Ameisen umher wuselten und der eisige Flugwind ergriff wieder Besitz von den Empfindungen der beiden Freunde.
 

Die erste Fackel war bereits fast zur Gänze herunter gebrannt, sodass Belina rasch die übrig Gebliebene in der verbliebenen Flamme der ersten Fackel entzündete. Diese Gelegenheit nutzte sie gleich, um sich die klammen Finger zu wärmen.

„Es ist wirklich sehr kalt hier unten, das ist mir als wir rein kamen gar nicht so stark aufgefallen“, meinte sie dabei und seufzte. „Immerhin können wir davon ausgehen, dass es auch in der Nacht nicht mehr viel kälter wird, nicht so wie oben. Falls wir nicht längst Nacht haben. Es müssen schon einige Stunden vergangen sein, seit Kent und Minja fort sind. Was denkst du?“

Während sie noch den letzten Satz aussprach, wandte sie sich zu Evita um, welche damit beschäftigt schien, die Goldmünzen auf dem Boden zu untersuchen.

„Was machst du da?“, fuhr Belina sie nun an, sodass sie endlich zu ihr aufblickte.

„Ich schaue, aus welchem Jahrhundert die Münzen hier stammen, ich will doch wissen, wie alt unser Abenteuer schon ist“, grinste diese, strich sich das braune Haar aus der Stirn und suchte vergeblich nach einer eingeprägten Jahreszahl auf den Goldmünzen.

„Könntest du bitte damit aufhören?“, rief Belina erzürnt und machte einige hastige Schritte auf ihre Freundin zu: „Ich finde das alles hier überhaupt nicht komisch, ich habe keine Ahnung wie lange ich diese Kälte hier noch aushalte und Hunger habe ich auch!“

„Es ist echtes Gold, du hast einige der Münzen schon platt getreten, siehst du?“, lächelte Evita nur drehte eine platte Münze zwischen zwei Fingern. Sie funkelte im Schein der beiden Fackeln.

„Du spinnst ja“, murmelte Belina nach einer kurzen Pause halblaut, in der sie sich gefragt hatte, ob es Evita verrückt machte, hier eingesperrt zu sein, oder ob sie die Situation nicht einmal erkannt hatte.

Natürlich wusste Belina, dass mit ihrer älteren Freundin nicht alles in Ordnung war, wie es von Außen schien, schon immer hatte sie in einigen Situationen sehr ungewöhnlich reagiert, doch so auffällig war es noch nie gewesen.

Fröstelnd rieb sich Belina die Oberarme mit den Handflächen warm.

„Hoffentlich kommen die beiden bald zurück“, fuhr es ihr durch den Kopf.

Fast zur selben Sekunde erlosch die länger gebrauchte Fackel endgültig und ließ einen feinen Faden aus Rauch zurück, welcher zur Decke emporstieg und sich in feinen Schwaden aufzulösen schien.
 

Die Nacht war sternenklar, wie fast jede, sodass die Temperatur seit dem Sonnenuntergang um mehrere Grad abgesunken war und der Flugwind des Wüstendrachens trug seinen Teil zu der herrschenden Kälte bei.

Nur mit ihrem dünnen Leinenkleid bekleidet, fror Minja bereits, sodass sie sich so eng wie möglich an Kents Rücken schmiegte, um etwas von seiner Wärme zu erhaschen. Keinen der beiden kam dies störend vor, sie kannten sich bereits eine kleine Ewigkeit lang und es war nur von Vorteil für sie beide.

Endlich setzte Pantaleon zum Landeanflug an, sie schienen die Oase beinahe erreicht zu haben. In der Dunkelheit um sie her konnten Kent und Minja nur einige vereinzelte Lichter in Bodennähe wahrnehmen, die auf eine Siedlung hinwiesen.

Auch dem Wüstendrachen war anzumerken, dass ihm die niedrigen Temperaturen des Abends nicht behagten, die Landung des Kaltblüters war plump, viel weniger graziös und geschmeidig als noch vor wenigen Stunden.

Gerade am Boden angekommen, kletterten die beiden Jugendlichen rasch vom Rücken des Drachens, welcher die Gelegenheit nutzte, um sich einzurollen und der Dinge zu harren, die da kommen mochten.

„Wie spät es wohl ist? Es ist sehr unhöflich die Einwohner so spät noch zu stören“, überlegte Minja laut und blickte sich um.

Weit und breit war kein Mensch zu sehen, doch sie waren auch ganz am Rand der Oase gelandet, wo vermutlich auch am Tage kaum reges Treiben herrschte.

„Die zweite, höchstens die dritte Nachtstunde. Wir haben keine Wahl, wir können uns nur weiter durch fragen. Und je schneller wir sind, desto weniger werden sich die Einwohner gestört fühlen“, gab Kent mit fester Stimme zurück und schritt eilig in Richtung des Zentrums der Oase voraus.

Nach kurzem Zögern folgte Minja jedoch auf dem Fuße.
 

Schon nach kurzer Zeit kamen einige Strohhütten in Sicht, die eng gruppiert um eine Art Dorfplatz standen. Vor einer dieser Hütten, sie war mit bunten Perlen behängt und schien daher dem Dorfältesten zu gehören, saß eine kleine Gruppe älterer Männer um ein kleines Feuer gescharrt.

Gelächter wehte zu Kent und Minja hinüber und da sie näher traten, blickten die Männer auf, unter ihnen auch der Dorfälteste, klar an seiner Kleidung aus Tierfell zu erkennen.

„Guten Abend“, grüßte Kent freundlich, „wir sind Reisende aus einer kleinen Stadt am Narle und auf der Suche nach einer Frau in einem See.“

Statt etwas zu erwidern warfen sich die Männer Blicke zu, woraufhin Kent ergänzte: „Das mag seltsam klingen, aber...“

Doch er wurde vom Dorfältesten unterbrochen, welcher sich räusperte: „Mein Name ist Alwis, ich bin der Dorfälteste hier. Mich würde interessieren, wie ihr Kinder davon erfahren habt, wenn ihr von weit her zu uns kommt.“

Nun war es an Kent und Minja Blicke zu tauschen. Schließlich rang sich Minja dazu durch zu fragen: „Was erfahren?“

„Von ihr“, gab Alwis betont zurück, ihm schien nichts daran zu liegen, den Namen der Person preiszugeben, von der er sprach. „Sie ist eine sehr mächtige, jedoch auch sehr unbekannte Göttin, uns kommt die große Ehre zuteil, ihr bei uns in der Oase eine Art Heimat bieten zu können.“

Ein erleichtertes, fast ungläubiges Lachen entrang sich Minjas Kehle und als sie sich beruhigt hatte und ihr schwarzes Haar zurück über die Schulter schob, sagte sie: „Das ist eine wirklich lange Geschichte, Alwis. Nur leider ist die Zeit sehr knapp bemessen, daher müssen wir dich schon bitten, uns zu entschuldigen.“

„Wir wünschen noch eine angenehme Nacht“, fügte Kent höflich hinzu und folgte Minja weiter in die Oase hinein, wo beide den besagten See vermuteten.

„Ihr wollt die Göttin jetzt stören? Ich fürchte sie wird nicht erfreut sein“, rief einer der anderen Männer, welche um das Feuer nicht störenherum saßen noch nach.

„Wir sind so weit gereist, um sie zu treffen, wir haben keinen Wahl“, sagte Kent noch über die Schulter, bevor er und Minja zwischen Palmen verschwanden.
 

„Ich kann es nicht glauben, dass es diese Frau tatsächlich gibt!“, freute sich Minja halb laut, um die Ruhe der Oase nicht zu stören. „Ich zweifelte schon daran...“

„Jetzt werden wir sehen, ob sie auch die Dame ist, der wir diese Karte zu verdanken haben“, antwortete Kent ernst.

Minja hingegen verschränkte die Arme hinter den Kopf und lächelte: „Wie viele Frauen gibt es, die in Seen wohnen? Ich bin zuversichtlich! Eine echte Göttin... Wie hat man sich einer Göttin gegenüber zu verhalten? Ich habe noch nie eine getroffen. Der Dorfälteste hat nicht erwähnt, für was diese lokale Gottheit zuständig ist – ich hoffe nur, sie ist gnädig...“

„Sei doch mal still, da vorne ist der See!“

Und tatsächlich: In völliger Stille lag der See vor ihnen, an seinem Ufer ein kleiner Tempel, wohl für die hier lebende Göttin erbaut. Die schwarze Oberfläche des kleinen Sees wurde von keinem Windhauch gekräuselt und die Mondsichel spiegelte sich in seiner Mitte.

Kaum, da Minja und Kent sein Ufer erreicht hatten, geriet das Wasser jäh in Bewegung, kräuselte sich leicht, schlug dann erst kleinere, dann größere Wellen und schien schließlich genau an der Stelle, an der sich der Mond spiegelte, aufzubrechen. Eine Gestalt stieg aus der Schwärze des Sees empor, eine wunderschöne Frau mit hüftlangem Haar, über und über mit Schmuck behängt, bis nur noch ihre nackten Zehen die Wasseroberfläche berührten.

„Wer wagt es, die Ruhe der Schicksalsgöttin Faraya zu stören?“, donnerte die kräftige und doch angenehme Stimme der Göttin über den See.

„Wir sind Minja und Kent, wir sind weit gereist, um dich zu treffen“, antwortete Kent rasch, um die Göttin nicht mehr als nötig zu verstimmen.

Ein schauriges Lachen erklang: „Natürlich, das ist mir bekannt.“

Mit gerunzelter Stirn tauschten Kent und Minja Blicke. Wenn sie es wusste, aus welchem Grund fragte sie dann?

Nun gut, einer Göttin widersprach man besser nicht, sodass Kent ungerührt fort fuhr: „Ein Trödler hat uns eine Karte verkauft, die angeblich von dir stammt.“

Wie auf Kommando zog Minja besagte Karte unter ihrem Leinenkleid hervor und streckte den Arm aus, um sie der Göttin zu zeigen.

Wieder dieses Lachen: „Ich wusste, er würde euch die Karte verkaufen, ich bin die Göttin des Schicksals.“

„Dann soll es also Schicksal sein, dass zwei unserer Freunde jetzt in diesem Tempel, zu dem die Karte führt, gefangen sind?“, fuhr Minja auf. Langsam aber sicher verärgerte sie Farayas arrogante Art und auch durch einen viel sagenden Blick Kents ließ sie sich nicht beruhigen: „Wenn du die Göttin des Schicksals bist, dann ändere ihr Schicksal!“

Einige Sekunden lang herrschte völlige Stille, in der Faraya die beiden Menschen betrachtete und nachzudenken schien, dann kicherte sie: „Die Würfel sind gefallen, ich kann nichts dafür, Liebes.“

„Was?“, gab Kent verwirrt von sich, doch statt darauf einzugehen, fuhr die Göttin fort: „Allerdings kann ich es ändern, natürlich. Aber das wird euch einiges Kosten, ich arbeite nicht gern, es ist anstrengend.“

Nun horchte Minja auf: „Was würde es uns kosten?“

„Nun, kein Geld, das kann ich nicht gebrauchen“, antwortete Faraya mit einer abwertenden Handbewegung. „Nein, aber eine großzügige Opfergabe im Sinne eines Schmuckstücks... Ich will nicht so geheimnisvoll sein, schon lange begehre ich den so genannten 'Stein des Tigers', ein Schmuckstück von hohem Wert. Es liegt in einer Höhle unter dem Sand der Wüste verborgen, denn es erweckt die Habgier der Menschen, es funkelt heller als die Sonne, ich möchte meine sagenhafte Schönheit damit schmücken.“

„Und wieso besorgst du dir diesen Stein nicht einfach selbst?“, fuhr Minja sie an, woraufhin Kent ihr beschwichtigend eine Hand auf die Schulter legte.

So selbstsicher und mutig hatte er seine Freundin noch nie erlebt, doch er war nicht sicher, ob es klug war, diese neue Seite in Gegenwart einer Göttin zu erproben, er fürchtete ihren Zorn.

„Das ist ganz einfach, meine Liebe“, lachte Faraya beherzt. „Er ist dort unten, unter dem Sand magisch versiegelt. Da er Habgier erweckt, muss das Siegel mit einer Kristallglocke gebrochen werden, die nur ein Mensch mit reinem Herzen aus tugendhaftem Antrieb finden kann.“

Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Viel Glück, legt das Auge des Tigers in den Tempel am Rande des Sees, ich werde euch erscheinen und den Schlüssel für die Tür des Tempels, in dem eure Freunde gefangen sind, überreichen. Wenn es mir beliebt.“

Und unter lautem Gelächter versank die Göttin erneut im schwarz anmutenden Wasser des Sees.

Das Dorf am Narle

Auf dem Weg zurück zu Pantaleon, welcher immer noch am Rande der Oase auf sie wartete, machten Kent und Minja einen Bogen um die Ansammlung der kleinen Strohhütten; keiner von ihnen war in der Stimmung jemandem zu begegnen.

Wieder waren sie fort geschickt worden, beide hatten sich Hilfe von der Göttin des Schicksals erhofft, spätestens nach dem Gespräch mit dem Dorfältesten. So hatten sie nur einen weiteren Hinweis erhalten und die Zeit lief unaufhörlich weiter fort.

„Sie hat nicht einmal gesagt, wie wir an diese Kristallglocke kommen können“, sagte Minja nach kurzer Zeit unvermittelt; eine Mischung aus Zorn und Traurigkeit schwang in ihrer Stimme mit.

Kent warf ihr nur einen Seitenblick zu, verschränkte die Arme vor der Brust und schwieg. Erst nach einer ganzen Weile erhob er die Stimme: „Vielleicht kann Magnus uns weiterhelfen, immerhin hat er früher, als wir noch Kinder waren, in deinem Heimatdorf lange Vorträge über Mythen und Legenden gehalten. Wenn jemand von diesem 'Stein des Tiger' gehört hat, dann er.“

Langsam nickte Minja. Natürlich, Magnus! Sicher gab es kaum eine Sage, die dem Ältesten ihres Dorfes nicht geläufig war.

Die Blicke der beiden Reisenden trafen sich, als Minja den Kopf zu Kent umwandte. Ein leichtes, schüchternes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus und ein Feuer loderte in ihren Augen: Hoffnung, die Hoffnung doch noch eine Chance zu haben, Evita und Belina zu befreien, bevor die Sonne am nächsten Tag wieder ihren höchsten Stand erreichen würde.

„Ich hoffe nur, dass Pantaleon noch nicht in seine Nachtstarre gefallen ist“, bremste Kents ernster Einschub Minjas neu geschöpfte Energie rasch.

„Was meinst du damit?“, wollte sie wissen und erschauderte. Halb war die immer grausamer werdende Kälte Schuld, halb eine böse Vorahnung.

Kent seufzte nur und wandte den Blick gen Boden: „Drachen sind Kaltblüter, sie können sich ab einer bestimmten Temperatur nicht mehr bewegen und ihr Stoffwechsel wird so langsam, dass ihr Körper in eine Starre fällt, bis es wieder wärmer wird. Wenn wir Glück haben, kann uns Pantaleon gerade noch in dein Heimatdorf oder bis zur Drachenfarm bringen. Auf der Farm könnte er sich aufwärmen, wir haben speziell dafür erbaute Gebäude.“

„Was tun wir, wenn dem nicht so ist?“, fragte Minja mit zusammengezogenen Augenbrauen und ergriff reflexartig Kents Hand, deren Wärme sie ein wenig beruhigte und ihren klammen Fingern gut tat.

In Gedanken versunken schüttelte Kent den Kopf, doch er antwortete nicht.
 

Die Flügelschläge des Drachens wurden immer seltener, es war eher ein träges Gleiten, denn ein Fliegen, mit dem er sich einige Meter über dem Sand der Wüste fortbewegte. Und das war es, was Kent Sorgen bereitete: Nicht nur, dass sie so viel länger bis zu Minjas Heimatdorf brauchten, er war auch im Zweifel, ob sie es überhaupt schaffen würden.

Sicher war er sich jedoch, dass Minja hinter ihm eingeschlafen war, denn er musste ihre Arme, die sie um seine Hüfte geschlungen hatte, festhalten, damit sie nicht vom Rücken des Drachens rutschte und einige Meter tief stürzte. Doch es war ihr gutes Recht und Kent konnte es verstehen, immerhin waren die beiden den ganzen Tag fast ohne Pause unterwegs gewesen und da sie kein Geld dabei gehabt hatten, hatten sie auch nichts gegessen.

Passend zu diesem Gedankengang knurrte Kents Magen vernehmlich, wobei Pantaleon den Kopf träge zu seinen Reitern umwandte und müde die Zähne zeigte, als wollte er Kent auslachen.

Langsam und erst kaum merklich verlor der Drache an Höhe, der unter ihm hinweg rauschende Sand kam langsam näher. Kent bemerkte es erst, als bereits Lichter in der Ferne zu erkennen waren, die wohl von Fackeln stammten, die abends am Ufer des Narles entzündet wurden, doch nun ging der Abstieg rasant. In nur wenigen Sekunden kam der schwere Wüstendrache dem Boden um gut einen Meter näher. Das Rumpeln, als seine Krallen den Boden streiften, schreckte Minja auf.

„Kent, was geht hier vor?“, schrie sie entsetzt auf; aus dem Schlaf gerissen war sie sich nicht einmal darüber im Klaren, wo sie sich gerade befand.

„Keine Angst, wir sind schon fast da“, versuchte Kent sie eher schlecht als recht zu beruhigen, als Pantaleon zur Landung ansetzte.

Eigentlich war es weniger eine Landung denn ein zielgerichteter Sturz, denn sie hatte nichts von Pantaleons üblicher Geschmeidigkeit und Eleganz und kaum am Boden blieb der Drache mit einem grunzenden Geräusch reglos liegen.

Rasch kletterten Kent und Minja von seinem Rücken und rannten um ihn herum zu seinem Kopf.

„Was ist los? Geht es ihm gut?“, wollte Minja ängstlich wissen und suchte in der Dunkelheit fast blind wieder einmal nach Kents Hand, um sich daran zu halten.

„Nein, nein, alles in Ordnung. Er ist nur erschöpft und jetzt endgültig in seine Nachtstarre gefallen“, antwortete Kent leise, beugte sich zum Kopf des Drachens hinunter und streichelte ihn, „Für ihn war das heute ein noch anstrengenderer Tag als für uns. Komm, wir hohlen ihm Decken, bis zur Farm hat er es ja nicht mehr geschafft.“

Überrascht blickte Minja auf, sie war die ganze Zeit damit beschäftigt gewesen, nach Kents Hand zu suchen, hatte sie jedoch nicht gefunden und bemerkte erst jetzt, dass sie direkt vor ihrem Heimatdorf Bruch gelandet waren.

„Oh, wir sind ja schon da! Was für ein Glück“, rief sie nun freudig aus und rannte voraus in Richtung der hell leuchtenden Fackeln in der Dunkelheit.
 

„Bist du sicher, dass es ihm da draußen gut geht?“

Minja stand vor der Hütte des Dorfältesten und spähte angestrengt in die absolute Dunkelheit, die um das Dorf herum herrschte.

„Ja, die meisten Drachen schlafen in unserer Farm auch draußen, es sei denn, sie sind krank“, antwortete Kent sachlich, blickte dann jedoch in Minjas Augen und bemerkte, dass sie ernstlich besorgt war, was ihn rührte. „Mach dir bitte keine Sorgen. Viel wichtiger ist es jetzt, mit Magnus zu sprechen. Es muss schon recht spät sein, können wir ihn noch stören?“

„Wir müssen!“, bekräftigte Minja. „Wie spät es wohl sein mag? Bei Magnus in der Hütte steht eine Wasseruhr, danach müssen wir ihn auch fragen. Aber gehen wir doch erst einmal rein!“

Und damit schob Minja das Fell, mit dem der Eingang der Strohhütte verhängt war, zur Seite und trat ein.

„Magnus?“, fragte sie vorsichtig und mit gesenkter Stimme. „Bist du noch wach?“

Es dauerte einige Sekunden, in denen nur das Knistern der Fackeln im Inneren der Hütte zu hören war, dann jedoch Schritte und schließlich erschien ein alter Mann in Minjas Blickfeld.

„Minja, du meine Güte, kommt rein, Liebes“, sagte er für sein Alter ungewöhnlich frisch und eilig und winkte sie zu sich heran.

Sie tat wie geheißen und ihr folgte Kent, der zur Begrüßung den Kopf neigte.

Magnus grinste und präsentierte dabei sein bereits etwas abgenutztes Gebiss, um dann auf einem Schemel Platz zu nehmen. Ihm schien das Ganze wie ein frecher Jugendstreich zu erscheinen, den man Kindern gönnen musste: „Zu so später Stunde, ihr zwei. Deine Mutter, Minja, hat sich große Sorgen gemacht! Du solltest unbedingt zu ihr hinüber gehen. Und was ist mit deinen Eltern, junger Kent?“

„Oh nein, daran habe ich gar nicht gedacht“, entfuhr es Minja erschrocken. „Und Belinas und Evitas Eltern sorgen sich sicher auch.“

„Meinem Vater habe ich gesagt, ich würde bei Minja übernachten“, antwortete Kent erklärend. „Aber darum geht es nicht, wir haben ein Problem, bei dem du uns hoffentlich behilflich sein kannst.“

Der Dorfälteste lachte laut auf: „Natürlich habt ihr ein Problem, Enne wird nicht begeistert sein.“

Enne war Minjas Mutter und tatsächlich legte sie viel Wert auf Gehorsam und war zugleich von dem selben zarten Gemüt wie Minja selbst, weshalb sie sich vermutlich den ganzen Abend gesorgt hatte.

„Das meinen wir nicht“, gaben Minja und Kent zur Selben Sekunde zurück, worauf hin Magnus hellhörig wurde und zwischen den beiden hin und her blickte: „Was ist passiert?“
 

„Hm mh, ich verstehe“, sagte Magnus langsam, nachdem Minja und Kent von der Karte, dem Tempel, Evitas und Belinas Schicksal und auch der Schicksalsgöttin Faraya berichtet hatten. „Die Tür ist also magisch versiegelt, daher hatte es keinen Sinn, Hilfe zu holen, um sie aufzubrechen. Es ist eine große Ehre einer leibhaftigen Göttin zu begegnen, ist euch das klar?“

Bei diesem Satz legte sich Minjas Stirn wie von selbst in Falten: „Eine edle Göttin ist sie nicht gerade, wenn sie uns benutzen will, um ihr Privatvergnügen zu organisieren.“

Es war deutlich zu erkennen, dass sie dieses Verhalten vom Grundzug an missbilligte.

„Von dem 'Stein des Tigers' habe ich gehört. Ein Gott soll ihn in einem Tempel unter der Wüste versiegelt haben, um die Menschen vor seiner bösen Kraft zu wahren“, überlegte Magnus laut, doch Kent unterbrach ihn ruhig und respektvoll: „Diesen Teil der Legende hat uns die Schicksalsgöttin bereits erzählt. Auch, dass der Stein nur mit einer Kristallglocke zu finden ist. Aber wo können wir diese Glocke finden?“

Einige Sekunden lang schien der Dorfälteste nachzudenken, bis er schließlich antwortete: „Die Legende besagt, dass die Kistallglocke nur ein Mensch reinen Herzens in sich selbst finden kann, um zu vermeiden, dass ein Mensch, der dem Charme des 'Stein des Tigers' verfallen würde, an sie gelangt.“

„Aber“, begann Minja verwirrt, doch Magnus zuckte nur die Achseln.

„Mehr besagt die Legende leider nicht, tut mir Leid. Aber ich habe sie bisher auch nicht führ wahr gehalten, muss ich gestehen.“

„Danke, immerhin ein Anhaltspunkt“, nickte Kent freundlich und schickte sich an, die Hütte zu verlassen, wandte sich dann jedoch noch einmal um: „Kannst du uns sagen, wie spät es ist?“

Der Alte erhob sich und trat an einen kleinen Tisch heran, auf dem zwei Krüge standen. Der eine weiter oben, in seiner Wand war ein Loch, durch das kontinuierlich Wasser floss. Da der zweite Krug mit Strichen für den Wasserstand markiert war, konnte Magnus die Uhrzeit ablesen: „Wir haben die fünfte Nachtstunde, ihr solltet nun wirklich zu Enne gehen und sie beruhigen.“

Ein freundliches Lächeln war seine Verabschiedung.
 

Das Aufeinandertreffen mit Minjas Mutter Enne war glimpflicher verlaufen, als es sich Minja und Kent ausgemalt hatte. Fast in Tränen war sie Minja um den Hals gefallen und sie beinahe angefleht ihr nie wieder solche Sorgen zu bereiten, doch nach einer ausführlichen Erklärung hatte sie Verständnis für die Situation der beiden gehabt und ihnen sogar noch einen Brotleib gegeben, bevor sie beide direkt zu Bett geschickt hatte.

Nun saßen sie auf ihren Liegen und aßen, während jeder seinen Gedanken nachhing.

Eigentlich wollte keiner von ihnen Zeit verschwenden, doch abgesehen davon, dass sie es nicht übers Herz gebracht hatten, Enne zu sagen, dass sie sofort wieder aufbrechen würden, hatten sie auch keine andere Wahl, denn Pantaleon würde vor dem Morgengrauen nicht aus seiner Nachtstarre erwachen und ohne ihn würde jeder Weg zu einer mühseligen Aktion werden, die mehrere Stunden dauern konnte, wenn sie sich nicht gar verliefen.

„Ob es Evita und Belina gut geht?“, überlegte Minja laut, während sie an einem Stück Brot kaute und seufzte anschließend hörbar: „Sie haben es nicht so gut wie wir.“

„Dafür müssen sie sich auch nicht so viele Sorgen machen, wie wir“, versuchte Kent sie aufzumuntern, doch es schien nicht zu funktionieren, denn Minja senkte nur den Blick und antwortete nicht.

„Du, Kent?“, fragte sie schließlich leise. „Ich habe Angst, dass wir es nicht rechtzeitig schaffen.“

Eine Zeit lang beobachtete der Angesprochene Minja von der Seite, dann stand er auf, um die Fackeln zu löschen und schon lag der Anbau der Hütte im Dunkel da. Insgeheim hegte er inzwischen die selbe Befürchtung, denn im Morgengrauen würden sie nur noch fünf Stunden Zeit haben, um die Kristallglocke zu finden, den 'Stein des Tigers' zu holen und ihn der Göttin zu bringen, doch konnte er es kaum ertragen, Minja so niedergeschlagen zu erleben.

„Hab keine Angst“, sagte er schließlich, während er sich auf seiner Liege nieder ließ, „gemeinsam schaffen wir es.“

Und trotz der Sorgen, die Minja und Kent belasteten, trieb sie ihre Erschöpfung bald in den Schlaf.

Der Stein des Tigers

Belinas Schritte hallten an den Wänden der Kammer wieder und ließen Evita aufschrecken, welche auf dem Sarg liegend eingenickt war.

„Was machst du da?“, wollte sie wissen und konnte ein herzhaftes Gähnen nicht unterdrücken, wonach sie sich vor Kälte schüttelte und die Hände aneinander rieb.

Belina hatte sich inzwischen zum Boden der Kammer hinab gebeugt und hielt die Fackel, welche sie aus ihrem Halter genommen hatte, an die Wand heran, verharrte kurz, schüttelte dann den Kopf und klopfte prüfend gegen die Steine.

„Die Kammer scheint absolut dicht zu sein, keine Stelle, an der man versuchen könnte, die Steine aus Wand oder Boden zu hebeln. Und egal, wo ich die Fackel auch hin halte, kein Luftzug bewegt ihre Flamme. Das ist wirklich seltsam, die Kammer muss sehr sorgfältig konstruiert worden sein. Pech für uns“, gab sie schließlich zurück, seufzte und trat neben Evita, welche sie anblinzelte.

„Kent und Minja brauchen ganz schön lange, oder?“, wollte diese wissen und betrachtete die goldenen Münzen am Boden der Kammer. „Sie kommen doch zurück, oder?“

„Natürlich!“, fuhr Belina sie unwirsch an.

Wieso dachte ihre Freundin plötzlich an so etwas? Es war doch zuvor fast so erschienen, als wäre es ihr völlig egal, dass sie beide in dieser Kammer gefangen waren und nun das?

„Sie kommen wieder“, bekräftigte Belina ihre eigene Aussage, mehr um sich selbst denn Evita davon zu überzeugen.

Wie viel Zeit wohl vergangen war? Langsam übermannte auch Belina die Müdigkeit.

Was, wenn Kent und Minja nicht zu diesem Tempel zurück fanden? Immerhin war seit Ewigkeiten niemand außer ihnen hier gewesen.

„Du hast Recht“, unterbrach Evita ihren Gedankengang, „sie sind sicher bald zurück.“

In diesem Augenblick erlosch die Fackel.

„Na toll!“, fluchte Belina jäh so laut, dass Evita beinahe vor Schreck vom Sarg gefallen wäre. Sie hasste es, wenn nichts so funktionierte, wie sie es sich vorgestellt hatte.

„Jetzt bleibt uns wohl nichts als schlafen“, meinte Evita fast belustigt, als sie sich wieder gefasst hatte. „Ein wirkliches Abenteuer.“

In der herrschenden Dunkelheit konnte sie die bösen Blicke nicht sehen, die Belina ihr daraufhin zuwarf.
 

„Kent! Kent, wach auf, die Sonne geht bald auf!“

Es war Minjas Stimme, die nur langsam zu ihm vordrang und deren gesprochene Worte erst nach einigen Sekunden einen Sinn zu ergeben schienen.

Sie stand neben seiner Liege, hatte ihn bei der Schulter gefasst und rüttelte ihn vorsichtig, bis er endlich die Augen aufschlug und ihr müde entgegen blickte. Lange konnte er nicht geschlafen haben.

Doch nun dauerte es nicht lange, bis sich Kent aufgesetzt hatte und schon nach seiner Kleidung griff. Minja war bereits in ein neues Leinenkleid gehüllt, welches dem alten bis ins kleinste Detail glich.

„Du hast sicher einen Plan, oder?“, fragte Minja vorsichtig, nachdem sie sich auf ihre Liege gesetzt hatte. Es schien, als hoffte sie es inständig, glaubte jedoch kaum daran.

Eine Zeit lang antwortete Kent nicht. Was sollte er ihr sagen? Nichts hätte er sich sehnlicher gewünscht, denn einen ausgeklügelten Plan, den sie nun Schritt für Schritt abarbeiten konnten. Doch er hatte keine Idee, wie sie an die Kristallglocke gelangen sollten, die sie doch so dringend benötigten, um den 'Stein des Tigers' zu finden.

Die ungewöhnlich lange Stille schien Minja Antwort genug gewesen zu sein. Resigniert ließ sie den Kopf hängen, blickte auf ihre Hände: „Was sollen wir denn jetzt tun? Wo sollen wir nach der Glocke suchen? Wo anfangen?“

Ihre Stimmte begann zu zittern und als sie nun fort fuhr, war es unverkennbar, dass sie kurz vor den Tränen stand: „Nur noch ein paar Stunden.“

Sie verbarg das Gesicht in den Händen und begann leise zu schluchzten.

Kent, der sich inzwischen seinen Schurz umgewickelt hatte, stand nun auf, um sich neben Minja nieder zu lassen und sie tröstend in den Arm zu nehmen. Er wusste es doch selbst nicht, wusste nicht, was zu tun war.

„Und“, setzte Minja erneut mit erstickter Stimme an, „und wenn wir es nicht rechtzeitig schaffen, dann...“

Dieses mal konnte sie sich nicht mehr beherrschen, wurde von ihren Gefühlen übermannt. Die Tränen flossen ihr ungehemmt über die Wangen und heftige Schluchzer schüttelten sie, sodass sie kaum sprechen konnte: „Wir müssen sie retten. Um jeden Preis. Egal, wie schwer es wird, wir müssen!“

Tröstlich strich Kent ihr durchs Haar: „Minja, ich...“

Doch er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden. Ein gleißender Lichtstrahl blendete ihn und als er endlich wieder etwas erkennen konnte, stockte sein Atem.

Minja hatte aufgehört zu weinen, atmete nur noch schwer und wischte sich die Tränen aus den Augen – und sie blickte auf, auf zu einem kleinen kristallenen Glöckchen, welches schillernd und leuchtend vor ihr in der Luft schwebte.

„Kent, was...?“, brachte sie mit leiser Stimme hervor, unterbrach sich jedoch selbst und streckte langsam die rechte Hand nach der Glocke aus. Kaum, da ihre Finger sie umschlossen hatten, schien die Magie zu verpuffen: Die Glocke fiel aus der Luft und auch das gleißende Licht, welches sie umgeben hatte, war verschwunden.

Ganz langsam und vorsichtig öffnete Minja die Hand erneut, um sich davon zu überzeugen, dass nicht auch die Glocke verschwunden war, doch sie lag leicht und zerbrechlich in ihrer Hand.

Ein freudiges Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus und aller Schmerz schien vergessen. Dann blickte sie in Kents Gesicht, welches ebenfalls ein leises Lächeln zu Schau trug: Sie hatten ihn, den Schlüssel zum 'Stein des Tiger' und es blieben noch fünf Stunden, Evita und Belina zu befreien.
 

Die Sonne tauchte gerade am Horizont auf, als Minja und Kent aus der Hütte traten, und färbte den östlichen Himmel in schönste Orange- und Blautöne. Dennoch war es noch bitterkalt, ihre Strahlen genügten noch nicht, um die Luft nennenswert zu erwärmen, sodass Kent nur zu hoffen blieb, dass sein Wüstendrache bereits aus seiner Nachtstarre erwacht war.

„Wollt ihr etwa schon wieder los?“

Es war Ennes Stimme, die durch die morgendliche Stille ungewöhnlich laut zu den beiden Jugendlichen hinüber wehte.

„Es geht nicht anders“, war Minjas knappe Antwort, „wir haben keine Zeit.“

„Dann nehmt euch doch wenigstens etwas zum Essen mit“, schlug ihre Mutter besorgt vor, doch Minja und Kent entfernten sich nun langsam von ihr und winkten zum Abschied, als hätten sie nichts gehört.

„Diese Kinder“, murmelte Enne noch, bevor sie zurück in die Hütte trat, um ihrer täglichen Arbeit nachzugehen.

Es war ihr ganz und gar nicht recht, dass ihre Tochter bereits in der Frühe aufbrach, nur um sich womöglich in Gefahr zu begeben. Doch sie spürte, sie hatte nicht das Recht es ihr zu verbieten – es war nicht nur Minja allein, um die es sich zu sorgen galt.
 

Inzwischen waren Minja und Kent bei Pantaleon angegeben, der in Decken gehüllt sofort den Kopf hob, da er Schritte vernahm und aufgeregt mit dem Schweif durch den Sand peitschte, sodass einige der Decken von seinem Rücken rutschten.

„Na, mein Junge, du scheinst gut geschlafen zu haben“, lächelte Kent den Drachen an und befreite ihn auch von den verbliebenen Decken. „Ein Glück nur, dass du so stark bist, ohne dich hätten wir keine Chance.“

Als wüsste Pantaleon worum es geht, richtete er sich sogleich auf, beugte den Kopf jedoch zu Kent herunter und schnaubte ihm warme Luft entgegen, die ihm das Haar zerzauste.

Nach einer kurzen Streicheleinheit kletterten Kent und Minja auf den Rücken des Drachens, welcher sich für sie wieder im Sand niedergelassen hatte. Noch bevor er sich aufrichten und in die Lüfte erheben konnte, tastete Minja nach der kleinen Kristallglocke, welche sie sich mit einem Lederband um den Hals gebunden hatte; ein Glück, sie war immer noch da.

„Wohin fliegen wir überhaupt?“, wollte sie nun etwas irritiert wissen, da einige kräftige Flügelschläge des Drachens seine Krallen und den Boden trennten.

Es dauerte einige Sekunden, bis Kent antwortete: „Wir nur den Anhaltspunkt, dass der 'Stein des Tigers' irgendwo unter dem Sand verborgen ist. Es bleibt uns nichts übrig als über die Wüste zu fliegen und hin und wieder die Glocke zu läuten.“

Auf einen entsetzten Blick Minjas hin fügte er hinzu: „Hab keine Angst. Es ist doch eine magische Glocke, oder? Ich denke ihr Schall wird weit getragen werden. Und je höher du fliegst, Pantaleon, desto schneller werden wir die richtige Stelle finden, es bleibt genügend Zeit. Auf geht's!“

Und das Dorf unter ihnen schwand dahin, wurde immer kleiner, bis es einer Puppenstadt glich.

„Das ist ganz schön hoch!“, rief Minja ängstlich gegen den Flugwind an - denn Pantaleon hatte sich inzwischen mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit in Bewegung gesetzt - und klammerte sich an Kents Rücken fest.

„Wenn du dich gut festhältst, fällst du nicht“, lachte Kent, verstummte jedoch rasch, als Minja ihm beleidigt in die Seite knuffte. Wieder ernsthaft ergänzte er: „Läute die Glocke, wenn wir Glück haben, sind wir hier schon richtig.“

Vorsichtig zog sie nun die kleine Glocke unter ihrem Kleid hervor und tat wie geheißen. Ihr Klang war nicht von dieser Welt, leise und angenehm, zugleich jedoch, als hallte ihr Ton in einer Höhle wider.

Gespannt blickten die beiden Jugendlichen nach unten auf die Wüste hinab – doch nichts geschah.

„Nein, hier scheinen wir nicht richtig zu sein. Überhaupt, vielleicht ist es eine ganz andere Glocke, als jede, die wir suchen“, meinte Minja mit enttäuschtem Blick auf das kleine Glöckchen; ihr Ton hatte so viel versprechend geklungen, so zauberhaft und magisch.

„Sag doch so was nicht“, gab Kent zurück, die Stirn jedoch in Sorgenfalten gelegt. „Es ist sicher nur der falsche Ort, wir haben noch eine Menge Zeit.“

„Zeit, Zeit!“, rief Minja leicht aufgebracht. „Wie viel Zeit genügt denn, um über die ganze Wüste zu fliegen und nach einem versunkenen Stein zu suchen? Eine Ewigkeit!“

Kurz zögerte Kent, sprach dann jedoch aus, was ihm auf der Zuge lag: „Was ist schon Zeit? Man hat sie, man hat sie nicht und immer fort läuft sie. Die Zeit, die wir messen, ist es überhaupt die wahre Zeit? Kann Zeit nicht viel umfassender sein, als die Stunden, in die wir sie drängen?“

Einen Moment lang dachte Minja über diesen Ausspruch nach, kam dann jedoch zu dem Schluss, dass sie ihn nicht verstand und wischte ihn mit einem Kopfschütteln beiseite: „Das ist jetzt doch völlig egal. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass unsere Zeit nur bis die Sonne ihren höchsten Stand erreicht, geht. Also versuchen wir es noch einmal.“

Erneut läutete sie das Glöckchen, doch wiederum geschah nichts.

So ging es noch einige Male, bis die Sonne schon fast aufgegangen war, dann verlor Minja endgültig die Geduld.

„Das hat doch keinen Sinn!“, fluchte sie laut und ihrem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass sie nicht wusste, ob sie zornig oder traurig sein sollte.

„Beruhig dich doch erst mal. Vermutlich ist die zweite Tagstunde gerade angebrochen, wir können es noch weiter versuchen. Wenn du mir die Glocke gibst, kann ich es auch mal versuchen“, versuchte Kent seine Freundin zu beruhigen.

Diese löste den Knoten des Lederbandes um ihren Hals mit zittrigen Händen und reichte das Glöckchen nach vorn zu Kent, welcher eine Hand danach ausstreckte. Als Minja nun die Kristallglocke in seine Hand fallen ließ, griff er rasch danach, doch er bekam nur noch Luft zu fassen. Der Flugwind hatte die leichte Glocke davon geweht.

„Oh nein!“, rief Minja entsetzt und beugte sich weit über den Rücken des Drachens, um den Sturz der Glocke zu verfolgen.

„Du musst landen, mein Freund!“, wies Kent Pantaleon an. Er versuchte ernst und sachlich zu klingen, doch es war ihm anzusehen, dass nun auch er die verbleibenden Stunden vor seinem geistigen Auge vorüberziehen sah. Ohne die Glocke hatten sie keine Chance den 'Stein des Tigers' für Faraya zu besorgen.

Sofort setzte der Wüstendrache zum Sturzflug an, bei dem sich ein erschrockener Aufschrei aus Minjas Kehle löste und sie sich erneut so fest sie konnte an Kent klammerte, um nicht herunter zu fallen.

Obwohl das Glöckchen viel leichter war als der Drache, schlug es auf dem Boden auf, bevor sie es erreichen konnten, es hatte einfach den geringeren Luftwiderstand geboten. Durch den Sturz aus dieser Höhe konnte auch der weiche Sand den Aufprall nicht abfangen und so zerschellte die Glocke in Tausende feiner Kristallsplitter.

Gerade, als beiden Reisenden das Herz mit einem schmerzlichen Brennen in die Hose zu rutschen drohte, erschien ein grelles Licht, ähnlich dem, als die Glocke vor Minja erschienen war. Es schien im Innern des Kristalls gefangen gewesen zu sein und nun frei zu werden.

Als Minja und Kent endlich wieder etwas sehen konnten, begann die Erde Furcht einflößend zu beben.

„Oh nein, was ist das?“, rief Minja erschrocken aus und ergriff Kents Hand, um sich selbst ein wenig zu beruhigen, doch als direkt vor ihr der Sand in einem tiefen Loch zu versinken schien, half auch das nicht mehr.

Erschrocken sprangen beide Jugendlichen zurück. Das Loch, in dem der Sand versank, breitete sich immer weiter aus und schließlich tauchte ein kleiner Tempel aus seiner Mitte auf und es herrschte wieder Stille.

Es dauerte eine gute Minute, bis sich Kent und Minja wieder gefasst hatten.

„Der Tempel... Hier muss der 'Stein des Tigers' verborgen sein“, sprach Kent leise, fast ehrfürchtig.

Minja benötigte noch einige Sekunden länger, um sich der Situation bewusst zu werden, dann jedoch: „Nichts wie rein, schließlich haben wir keine Zeit!“
 

Im Innern des Tempels war es noch kühl, ja, fast kalt. Vermutlich war diese niedrige Temperatur dadurch zu erklären, dass er seit Jahrhunderten im Sand verborgen gewesen war, doch weder Minja noch Kent verschwendeten auch nur einen Gedanken daran.

Zu ihrem Glück war der ganze Tempel nur ein einziger großer Raum, in dem in der Mitte ein kleines Podest stand. Da sie näher traten, sahen sie auf ihm einen daumenlangen, ovalen Stein liegen, welcher in verschiedenen Orangetönen, aus bestimmten Winkeln bis hin zu Schwarz, schimmerte und funkelte.

„Das muss er sein. Der Name ist gerechtfertigt, ich finde er hat etwas von einem Tiger“, meinte Kent und betrachtete den Stein noch eine Zeit lang, während Minja ihn kurzerhand von seinem Podest nahm und einsteckte.

„Ich weiß nicht, ich habe bisher nur Bilder von Tigern gesehen“, antwortete sie, doch zu einem längeren Gespräch blieb keine Zeit.

Seit Minja den Stein entfernt hatte, war unauffällig feiner Staub und der Decke gerieselt. Nun waren es schon kleine Brocken und der ganze Tempel begann leicht zu beben.

„Was ist das?“, fragte Minja erschrocken, doch Kent packte sie nur bei der Hand und zog sie im Laufschritt in Richtung Ausgang davon.

Gerade, da beide aus dem Tempel gestürmt waren, stürzten große Felsblöcke hinab und verschlossen den Eingang. Keuchend und immer noch mit rasendem Herzen ließen sie sich einige Meter vom Tempel entfernt in den Sand fallen und beobachteten, wie sich der alte Tempel binnen weniger Sekunden in eine Ruine aus Felsbrocken verwandelte.

„Das ist einfach zu viel Aufregung auf einmal“, keuchte Minja und sah sich nach Pantaleon um, welcher bereits hinter sie getrottet war und nur auf die weitere Reise zu warten schien, „Das war wirklich knapp.“

Letzter Anhaltspunkt

Die von Geschäftigkeit zeugenden Geräusche des Dorfes waren am Ufer des kleinen Sees nur noch gedämpft wahrzunehmen, sodass Minja und Kent sowohl das Wasser plätschern als auch den Wind in den Palmen hören konnten. Doch keiner von ihnen ließ sich von der scheinbar friedlichen Atmosphäre beirren, denn die Sonne stand bereits hoch im Osten: Sie hatten keine Zeit zu verlieren.

Hastig steuerten sie Seite an Seite auf den kleinen Tempel am Seeufer zu. Aus der Nähe betrachtet wirkte er noch kleiner, fast winzig und als sie ihn betraten fanden sie abgesehen von einem Altar und einigem Gemüse, welches wohl als Opfergabe diente, nichts vor: Keine prachtvollen Schätze, niemand, der den Tempel bewachte. Diese Faraya schien wahrhaftig nur eine unwesentliche Gottheit zu sein - besaß sie wirklich die Macht, Minja und Kent zu helfen?

„Leg den Stein auf den Altar“, wies Kent Minja an und diese tat wie geheißen, wenn auch zögerlich. Ohne diesen Stein hatten sie nichts mehr in der Hand, mit dem sie die Göttin des Schicksals dazu bewegen konnten, sich kooperativ zu verhalten.

Kaum, da der Stein den Altar berührte, wurde er von einem gleißend hellen Licht erfasst und als das Leuchten ein Ende fand, war er verschwunden.

„Oh nein!“, entfuhr es Minja erschrocken und sie wandte sich rasch ihrem Freund zu, um seinen Gesichtsausdruck zu studieren, darin zu erkennen, ob er mehr wusste, als sie.

„Gehen wir raus zum See, Faraya wird erscheinen, sie ist eine Göttin, ich sie kann ihr Wort nicht so einfach brechen. Wer würde sie dann noch anbeten und für sie opfern?“

Es hatte bestimmt und zuversichtlich geklungen, doch auch er befürchtete das Schlimmste. Viel hatte eine regionale Göttin nicht zu verlieren. Und was hatte sie gesagt? Sie würde helfen, wenn sie den 'Stein des Tigers' in ihren Besitz bringen konnte – wenn es ihr beliebt.

Tatsächlich herrschte vor dem kleinen Tempel nichts als Stille, die Oberfläche des Sees wurde nur vom Wind gekräuselt.

„Das darf nicht wahr sein!“, rief Minja aus, Zorn und Trauer schwangen in ihrer Stimme mit.

Sie hatte dieser Schicksalsgöttin zu keinem Zeitpunkt viel Vertrauen entgegen gebracht, doch eine solche Hinterlist hätte selbst sie ihr nicht zugetraut. Fast von allein ballten sich ihre Hände zu Fäusten, schnitten ihre Fingernägel ihr in die Handflächen. Es war so unfair, so unfassbar ungerecht!

„Faraya! Wir haben den 'Stein des Tigers' geholt, nun erfüll' auch du deinen Teil der Abmachung!“, rief Minja zornig aus.

Erschrocken zuckte Kent zusammen, ihm war nicht wohl dabei, seine Freundin in diesem Tonfall mit einer Gottheit sprechen zu hören; hatte man Göttern nicht Respekt zu erweisen?

Doch es schien gewirkt zu haben, denn wie aus dem Nichts erschien die Göttin des Schicksals am anderen Ufer des Sees, auf einem großen Stein sitzend, ihr Ebenbild auf der Wasseroberfläche betrachtend.

„Ich hoffe ihr verzeiht mir meine Nachlässigkeit, natürlich musste ich erst prüfen, ob es der wahre 'Stein des Tigers' ist, den ihr mir brachtet. Wunderschön ist er, fast meiner Selbst ebenbürtig“, sprach Faraya leise und begann dann laut zu lachen, was Minja und Kent verwirrte Blicke tauschen ließ.

„Wir wollen, dass du unsere Freunde befreist!“, forderte Minja nach einer kurzen Weile, sie hatte das dumpfe Gefühl, dass diese Göttin nicht von sich aus handeln würde.

Noch einen letzten Blick warf Faraya auf ihr Spiegelbild, dann erhob sie sich und verschränkte die mit Goldreifen geschmückten Arme vor der Brust: „Das ist mir wohl bewusst, ich bin die Göttin des Schicksals.“

„Ja, wir haben es verstanden!“, entfuhr es Minja zornig, „Nur leider haben wir keine Zeit für deine Spielchen.“

Erneut Gelächter, welches nun auch Wut in Kents Brust aufsteigen ließ. Faraya war es gleich, was mit ihnen geschah, oder gar mit ihren Freunden, sie hatte nichts als ihr Antlitz im Sinn, doch immer noch konnte oder wollte Kent nicht glauben, dass sie ihr Wort brechen würde.

„Nun, ich habe nicht die Macht eure Freunde zu befreien, ich würde damit Exavors Entscheidung widersprechen und ihr werdet sicher verstehen, dass ich das nicht tun werde, er ist ein mächtiger Gott, alt wie das Land. Doch ich habe hier etwas, mit dem ihr das Siegel der Schatzkammer brechen könnt“, schwebte Farayas Stimme schließlich über den See zu den beiden Reisenden hinüber.

„Du kennst diesen Gott, Exavor? Bitte sag uns, wieso er unsere Freunde einschloss?“, meldete sich nun Kent zu Wort, von seiner Neugierde getrieben.

Er war zwar in der Lage die Inschriften im Tempel zu lesen, doch hatten sie ihm nichts über den Hintergrund des Türmechanismus verraten.

„Exavor ist ein alter Gott, er bezieht seine Macht aus dem Reichtum, den sein Volk ihm übergibt, aus den Opfergaben. So werdet ihr wohl verstehen, wenn er es zu verhindern sucht, dass jemand etwas von seinem Gold entwendet, ob indem der Tempel nur mit Hilfe einer Karte ausfindig zu machen ist oder ein Tor jeden Eindringling festhält“, kicherte Faraya, wohl belustigt darüber, dass die beiden Jugendlichen nichts von dieser Funktionsweise der Opfergaben zu wissen schienen, „Darum brauche ich auch euer Wort, bevor ich euch den Schlüssel zur Kammer überreiche: Entwendet kein Gold, nicht einen Taler, wenn ihr Exavors Zorn nicht erneut auf euch ziehen wollt.“

„Wir geben unser Wort“, antwortete Kent rasch und Minja wiederholte diese Phrase, um sich in den Eid einzubinden und keine weitere Zeit zu verlieren.

Fast zur selben Sekunde, da sich ihre Lippen schlossen, erschien ein kleines Amulett vor ihr in der Luft, nach dem sie griff. Es hatte die Form einer Tempelkatze.

„Was ist das?“, fragte Minja langsam an Kent gewandt, welcher das Amulett aus der Nähe betrachtete und dann nickte.

„Erinnerst du dich an die Vertiefung neben der Tür zur Schatzkammer?“, fragte er, sah sie nicken und fuhr fort: „Dieses Amulett hat die selbe Form, es scheint das passende Gegenstück zu sein.“

„Ganz recht“, lächelte Faraya verschmitzt und drehte noch einmal bewundernd den 'Stein des Tigers' zwischen Daumen und Zeigefinger, „diesen Ausweg erschuf Exavor für die Menschen, welche die Schatzkammer befüllten, er hatte keinen Grund ihnen zu schaden.“

Für einen Moment konnten Kent und Minja nicht anders, als sich stumm anzulächeln, erleichtert, glücklich. Doch schon einige Sekunden später wurde Minja wieder klar, dass sie ihre Freunde immer noch nicht befreit hatten.

„Wie viel Zeit bleibt uns?“, wollte sie daher wissen.

Nach einem kurzen Blick zum Himmel empor, von dem durch die vielen Palmen nur ein Stück zu sehen war, erwiederte Kent rasch: „Wir müssen uns beeilen.“

Damit riefen sie Faraya noch einige Worte des Abschieds zu, bevor sie sich im Laufschritt zurück zum Rand der Oase machten, wo Pantaleon auf sie wartete.
 

Ein leises Plätschern ließ Belina aus ihrem unruhigen Schlaf aufschrecken. Immer noch herrschte undurchdringliche Dunkelheit um sie her, sodass sie jegliches Zeitgefühl verloren hatte.

In den wenigen Sekunden, die sie nun in die Dunkelheit hinein lauschte, schien sich das Plätschern in ein leises Rauschen verwandelt zu haben. Ein Schauder lief ihr über den Rücken und sie tastete in der Dunkelheit nach ihrer Freundin, um sie zu wecken.

„Evita, wach auf, Evita!“, rief sie und rüttelte an der Schulter ihrer Freundin, bis sich diese benommen regte.

„Was ist denn? Es ist doch noch dunkel“, murmelte sie und schien sich auf die andere Seite drehen zu wollen.

„Hier drin ist es immer dunkel!“, fuhr Belina sie jedoch an und packte sie am Arm, um sie hochzuziehen.

Gähnend setzte Evita sich schließlich auf und blinzelte in die Dunkelheit hinein: „Was ist denn? Ich finde das alles auch total aufregend, aber jeder braucht seinen Schlaf.“

„Hörst du denn nichts?“, fragte ihre Freundin eindringlich, sodass Evita schließlich lauschte.

„Wasser. Das ist ein Segen!“

„Das“, begann Belina langsam, „ist sicherlich KEIN Segen. Wo soll hier denn Wasser her kommen, ich habe alle Steine überprüft, nirgends die kleinste Lücke. Und trotzdem...“

Sie stand auf und schickte sich an in Gedanken auf und ab zu gehen, als sie plötzlich feststellte, dass sie selbst das Plätschern zu verstärken schien und keine Sekunde später drang das Wasser in ihre Schuhe ein. Rasch setzte sie sich zurück auf den Sarg, auf dem sie neben Evita geschlafen hatten.

„Das ist nicht nur ein kleines Rinnsal, die ganze Kammer steht schon einige Zentimeter tief unter Wasser“, versuchte sie ihre Befürchtung Evita zu vermitteln.

„Genug Trinkwasser, das ist es doch immer, was wir benötigen. Ein Segen“, stellte Evita die Sache ihrer Meinung nach Richtig, während Belina wütend mit der Faust gegen den Sarg schlug: „Verdammt, wenn das Wasser weiterhin immer schneller steigt, ertrinken wir!“
 

„Kannst du noch etwas schneller fliegen, mein Freund?“, bat Kent seinen Wüstendrachen, dessen Nüstern sich sogleich ein Schnauben entrang.

Fast zeitgleich ertönte ein erschrockener Aufschrei hinter Kents Rücken, als Pantaleon noch schneller mit seinen Schwingen zu schlagen begann.

„Pass auf, dass dir das Amulett nicht auch noch herunterfällt“, wies er Minja schlicht an, statt sie zu beruhigen.

„Das war ja wohl nicht allein meine Schuld“, fuhr die Angesprochene auf, wagte es jedoch nicht ihrem Vordermann zur Strafe für diese Bemerkung in die Seiten zu kneifen, um nicht von Pantaleons Rücken zu stürzen. „Überhaupt, was ist denn mit dir los? Du klingst völlig entnervt.“

Einige Sekunden dachte Kent darüber nach überhaupt nicht zu antworten, entschloss sich jedoch für das Gegenteil; es hatte keinen Sinn seine Wut an Minja auszulassen, sie hatte keine Schuld an ihrer Situation und konnte sie auch nicht verbessern.

„Ich BIN völlig entnervt, das ist es. Und ich verstehe auch nicht, wieso du es nicht bist, wir haben höchstens noch eine Stunde, dann werden wir Belina und Evita nicht mehr helfen können.“

Seine Stirn legte sich fast von selbst in Sorgenfalten, als er darüber nachdachte.

„Hm“, machte Minja langsam und legte den Kopf leicht schräg, „ich weiß es auch nicht, ich habe das Gefühl, dass wir gar nicht zu spät kommen können.“

Damit ließ sie den Blick am Körper des Drachens vorbei in die Tiefe gleiten, doch sie konnte keinen Anhaltspunkt finden, der ihr sagte, wo sie sich befanden oder wie weit es noch bis zum Tempel Exavors war.

Kent seufzte vernehmlich: „Wenn ich mir da nur auch so sicher wäre...“

Die restliche Zeit des Fluges schwiegen sich die beiden Freunde an, während jeder seinen Gedanken nachhing.

Inzwischen war sich Minja ziemlich sicher, dass sie es einfach nicht glauben wollte, dass sie nun zu spät kamen, nachdem sie bereits den Schlüssel erhalten hatten, mit dem sie Belina und Evita befreien konnten. Doch nachdem sie sich darüber im Klaren war, kam erneut auch Angst in ihr auf.

Immer wieder warf sie Blicke zum Himmel empor, die Sonne hatte fast ihren höchsten Stand erreicht, sodass sie die genaue Zeit nicht mehr mit bloßem Auge ausmachen konnte, was sie um einiges nervöser werden ließ. Vielleicht war es bereits jetzt zu spät?

„Da vorn muss es sein“, stellte Kent mit lauter, jedoch belegter, Stimme fest und brachte Minja damit dazu, sich weit nach vorn zu lehnen, um an Kent vorbei und am Hals des Drachens entlang nach vorn zu spähen.

Tatsächlich war ein unscheinbarer Tempel am Horizont aufgetaucht, der sich farblich kaum von dem ihn umgebenden Sand unterschied.

Als Kent nun Minjas Bemühungen den Tempel zu erspähen bemerkte, sagte er hastig: „Minja, halt dich fest, wir landen!“

Und wie auf Kommando neigte sich der Kopf des Wüstendrachens nach unten, sodass sich sein Körper kurz darauf in einer solchen Schieflage befand, dass sich Kent an seinem Hals festklammern musste, um nicht über seinen Hals hinweg zu stürzen.

Kaum eine Minute verging, bis der Drache so weich es mit seinem Tempo möglich war auf dem Boden aufsetzte. Schon als seine Krallen den Boden streiften, waren Minja und Kent von seinem Rücken gesprungen.

Während Kent überrascht feststellte, dass ihre improvisierte Sonnenuhr vom Vortag noch gut erhalten war und auf ihr die Zeit ablas, war Minja bereits Richtung Eingang vorgelaufen.

„Nur noch ein paar Minuten“, stellte Kent erschrocken fest und rannte Minja nach; als er sie erreichte, stand sie bereits vor dem Tor zur Schatzkammer und zog das katzenförmige Amulette unter ihrem Kleid hervor.

Vorsichtig, um das bereits sehr alte und daher bereits etwas bröcklige Amulette nicht zu beschädigen, drückte Minja das Gegenstück in die Fassung neben der Tür.

Ehrfürchtig wicht Minja einige Schritte zurück, als das Amulette zu leuchten begann und sich kurz darauf die Tür zur Schatzkammer mit einem schleifenden Geräusch öffnete, welches auch Kent die Nackenhaare aufstellte.

Das Herz schlug den beiden Freunden bis zum Hals, würden sie Evita und Belina lebend wiedersehen oder waren sie zu spät gekommen?

Schon seit die Tür nur einen kleinen Spalt freigegeben hatte, floss unablässig Wasser aus der Kammer in den Gang hinein.

„Wo komm das her?“, entfuhr es Minja halb panisch und dieses Mal gab Kent ihr tatsächlich keine Antwort; sie erübrigte sich. Es lag klar auf der Hand, dass dies die Methode war, mit der Exavor Eindringlinge bestrafte: Er ließ sie ertrinken.

Als die Tür nun endlich den Weg zur Schatzkammer frei gab, wollten Minja und Kent hinein stürmen, doch nun versperrte etwas Anderes ihnen den Weg.

„Kent, Minja, ihr seid zurückgekommen!“, rief ihnen Belina so laut sie konnte entgegen, auch wenn dies nicht besonders laut war. Sie war vollkommen durchnässt, von den Füßen bis zu ihren Zöpfen, zitterte und schien erschöpft, was wohl der Grund war, aus dem sie sich nicht früher bemerkbar gemacht hatte.

Minjas Herz machte einen Hüpfer: Belina lebte, sie waren rechtzeitig gekommen!

„Oh Gott, ich dachte wir müssen sterben“, schluchzte diese jäh und fiel Minja um den Hals, welche völlig erschrocken feststellen musste, wie kalt die Arme ihrer Freundin waren.

„Von Göttern haben wir erst einmal genug“, meinte Kent daraufhin bitter, er wollte es sich nicht anmerken lassen, doch er war mindestens genauso erleichtert wie Minja, Belina lebend anzutreffen.

„Was ist mit Evita?“, fragte Minja ihre Freundin, Kents Einschub übergehend.

Wie auf ein Stichwort ertönte eine Stimme aus dem dunklen Innern der Schatzkammer, die alle drei Freunde unwillkürlich zusammenzucken ließ: „Ihr seid wirklich gekommen.“

Die Älteste der Gruppe hatte ihr Glück scheinbar eine endlose Minute lang nicht fassen können, denn nun trat auch sie aus der Kammer, langsam und zögerlich: „Nein, auf solche Abenteuer möchte ich in Zukunft verzichten...“

Diese Bemerkung brachte Belina zum Lachen, wohingegen sich Minja und Kent nur verwirrt musterten.

Nach einem kurzen Schweigen schob Kent ein: „Gehen wir schnell nach oben, da ist es wärmer, ihr beide werdet euch noch erkälten.“

Der Wüstensonne Zauber

Die wohlige Wärme der Sonnenstrahlen umhüllte Evita und Belina, als sie aus dem Tempel ins Freie traten. Erst jetzt wurde ihnen bewusst, wie sehr sie die sengende Hitze des Tages und seine Helligkeit vermisst hatten, während sie in der Kammer eingeschlossen gewesen waren.

„Und jetzt nichts wie nach Hause“, murmelte Belina immer noch erschöpft, als die kleine Gruppe auf Pantaleon zustapfte, welcher sie mit einem grollenden Laut begrüßte.

Mit einem leisen, jedoch verräterischen Knistern segelte ein altes Stück Papier zu Boden. Erschrocken tastete Minja nach der Karte, welche sich in der Innentasche ihres Kleides hätte befinden sollen, wandte sich um und las das entfleuchte Pergament vom Boden auf.

„Was...?“, entfuhr es ihr, als sie die Karte wieder in Händen hielt.

Verwundert drehte sie diese hin und her, wendete sie und betrachtete die Rückseite, nur um sie erneut umzudrehen.

„Was ist denn Minja?“, rief Kent ihr zu, als er Belina und Evita auf den Rücken des Wüstendrachens geholfen hatte.

Rasch rannte die Angesprochene zu ihrem Freund hinüber und zeigte ihm die Karte: „Sieh dir das an!“

„Was soll damit sein? Das ist ein Stück Papier, na und? Dafür haben wir wirklich keine Zeit“, fuhr Kent sie an, die Anspannung der letzten Stunden war ihm noch deutlich anzumerken. Zudem sorgte er sich um die beiden durchnässten Mädchen auf Pantaleons Rücken.

„Eben. Das war die Karte, die uns der Trödler verkauft hat. Sie ist leer“, gab Minja unbeirrt zurück und wendete die Karte noch einmal, um Kent das Phänomen zu demonstrieren. „Wir werden den Tempel wohl nie wieder finden.“

„Das stört mich überhaupt nicht“, wehte Belinas bereits erneut entflammter Sinn für trockene Bemerkungen zu ihnen hinüber.

Einen kurzen Blick tauschten Kent und Belina noch, bis auch sie auf Pantaleons Rücken kletterten und gerade, als der Drache mit den Flügeln zu schlagen begann, blickte Kent noch einmal zurück auf das, was er wohl nie wieder sehen würde und was ihm und seinen Freunden so viele Probleme beschert hatte. Da fiel sein Blick auf die improvisierte Sonnenuhr vor dem Eingang des Tempels: Der große Stein in der Mitte warf seinen Schatten genau auf die fünfte Stunde des Tages, die Sonne hatte ihren höchsten Stand erreicht.

Und während Pantaleon mit kräftigen Flügelschlägen den Horizont entgegen strebte, zog Evita etwas aus ihrer Tasche hervor und drehte es zwischen zwei Fingern hin und her. Im Schein der Mittagssonne glitzerte und funkelte die kleine Goldmünze.



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Kommentare zu dieser Fanfic (19)
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Von:  Schreiberliene
2007-11-10T13:43:02+00:00 10.11.2007 14:43
Anmerkung: Dein Kommentar ist einer der etwas kürzeren - Beschwerden darüber werden aber nicht angenommen. XD

Hallo Hoellenhund,
Das Thema eines Wettbewerbs ist der wichtigste Grund für seine Ausrichtung, zumindest sehe ich das so. Und vergleicht man die fünf Beträge, die ich erhalten habe, so ist es dir sehr gut gelungen, die Vorgaben auf Papier zu bringen.
Deine Geschichte beginnt kurz bevor die 24 Stunden starten, und endet kurz nachdem die Mission erfüllt wurde; da das aber keine Rückblenden sind, fallen sie aus dem Rahmen, den du hattest.
Dennoch spielt bei dir der Zeitfaktor eine wichtige Rolle; immer wieder erfährt der Leser, dass die Zeit fortschreitet, dass sie geradezu fliegt; hier sind 24 Stunden das Fundament der Geschichte, und genau darauf wollte ich hinaus.
Deine Geschichte ist hervorragend strukturiert, es gibt einen roten Faden; der Leser merkt, dass alles auf etwas hinausläuft. Gerade das aber macht deine Geschichte auch sehr vorhersehbar; es fehlt der Nervenkitzel, die Spannung, das Unbekannte in deinem Text.
Auch die Figuren sind sehr geradlinig; sie haben ihre Ansichten, ihre Träume und man kann sich durchaus vorstellen, ihnen irgendwo zu begegnen. Ihre Beziehungen unter einander sind klar; vielleicht aber ein bisschen zu klar.
Sie wirken zu steif, zu konzipiert; man weiß als Leser genau, was sie tun, wie sie handeln. Ihre Charaktere sind irgendwo zwischen Realität und Klischee; man kennt deine Protagonisten aus unendlich vielen Geschichten und kann ihre Leben bis ins Greisenalter nachvollziehen.
Man bekommt das Gefühl, dass du dein Handwerkszeug schon halbwegs beherrscht; jetzt wird es langsam Zeit, damit zu spielen, und neues oder zumindest ungewohntes zu kreieren. Die Göttin ist, von der Idee her, interessant; doch sie bleibt flach, eindimensional. Wir kenne solche Charaktere schon so lange, dass sie nichts neues mehr bieten.
Die Geschichte fließt glatt; deine Protagonisten gelangen mit Hilfe der Karte in das Grab, zwei werden eingeschlossen, die anderen fliegen weiter, um Rettung zu holen; es ist der Aufbau eines typischen Halbfantasykinderbuches. Und daran ist nichts verwerfliches; doch es fehlt das gewisse Etwas, das, was uns an deinen Text fesseln, uns berühren wird.
Man liest "In der Hand der Götter" ohne zu lachen, ohne zu weinen, ohne große Emotionen; man ist ein wenig gespannt, was geschieht, doch im Grunde weiß man schon alles. Handwerklich ist es nicht schlecht, doch menschlich hat es mir nicht gereicht.
Das Ende ist gut gewählt; halb hat der Leser diese Wendung zwar schon erwartet, doch es passt und rundet den Text ab.
Es ist natürlich eine Möglichkeit, so zu schreiben, wie du es tust; interessant ist es aber maximal beim ersten Lesen. Deine hervorragende Planung, die Struktur, die ich zumindest glaube, bei dir erkannt zu haben, ist ein bisschen zu offensichtlich. Es wird langweilig.
Doch die Idee, die hinter deinem Werk steht, ist interessant; sie bietet viel Stoff zu weiterspinnen. Und, natürlich, zeichnet dich auch die Tatsache aus, dass du tatsächlich diese Anforderung umsetzen konntest und dabei ein solides, abgeschlossenes Ergebnis hinterlassen hast.
Vielen Dank für deine Mühen.
Anna



Von: abgemeldet
2007-09-09T21:24:42+00:00 09.09.2007 23:24
Wow
war eine echt hammer geile geschichte.
Super gemacht.
Sag mal kommt noch ein zweiter teil raus?
Weil das eine Mädchen eine Münze mit genommen hat, was
die Göttin ja verboten hatte.
bb
Von:  DINO2011
2007-09-06T06:08:56+00:00 06.09.2007 08:08
Nun, ich muss sagen, dass mir die Geschichte sehr gut gefällt. Mir sind keine wirklichen Fehler aufgefallen die ich so bemängeln könnte, zumal mir RS und Kommasetzung ja sowieso ein spanisches Dorf sind -.-". Deine Charas sind durchdacht und haben sich gut entwickelt, sie haben immer nach dem gehandelt was man sich von ihnen vorstellen konnte und dein Stil ist auch sehr gut für diese Geschichte, denn du beschreibst genau das was nötig ist, nicht mehr. Klar, das kommt einem manchmal etwas dürftig vor, aber im Großen und Ganzen passt es schon so.

Eines ist mir aber trotzdem aufgefallen. Es hat mich irgendwie die ganze Zeit über beschäftigt. Und zwar geht es mir dabei um die beiden in der Kammer. Sie sind eingeschlossen, kein Lüftchen weht in der Kammer und ihnen ist klar, dass keine Luft herein oder heraus kommt und doch lassen sie beide Fackeln einfach niederbrennen anstatt sie sofort zu löschen. Nun ist das aber so eine Sache, denn du hast nie beschrieben wie groß diese Kammer ist, bzw. wie hoch sie ist. Ich meine, ab einer gewissen Größe wäre es relativ egal was sie mit den Fackeln machen würden, aber wenn du Kammer sagst klingt das für mich irgendwie so klein, und wenn sie in einem kleinen Raum die beiden Fackeln einfach niederbrennen lassen würden, dann wären sie eher an Rauchgasvergiftung oder an Sauerstoffmangel gestorben als an dem Wasser. Ich weiß, es ist eigentlich nur eine Kleinigkeit, aber trotzdem hat es mich die ganze Geschichte über nicht los gelassen.

Oh, und noch etwas ist mir aufgefallen. Die Göttin hat zum Schluss erwähnt, dass es extrem wichtig ist ja keine Goldmünze mitzunehmen und die beiden geben es dann nicht weiter? Ich meine, sie könnten wegen der Wichtigkeit dieser Tatsache wenigstens einen Gedanken daran verschwenden, das hätte ich nämlich wirklich erwartet, zumindest von deinem männlichen Chara (sry, ich kann mir Namen einfach nicht merken ^^°)

Ah, und dann noch eine kleine Frage zum Abschluss ^^

Du hast den Namen deines Drachen nicht zufällig an Pantaleomon (oder so) aus „Der goldene Kompass“ angelehnt?

Lg DINO

Von: abgemeldet
2007-08-20T09:53:41+00:00 20.08.2007 11:53
uhhhh fertig!!*freu*wird sie jetzt bestraft??XD
Von: abgemeldet
2007-08-13T17:19:32+00:00 13.08.2007 19:19
und ich dachte schon jetzt wärs fertig XDspannend bis zuletztXD
Von: abgemeldet
2007-08-10T22:41:58+00:00 11.08.2007 00:41
also ich kann nur sagen super super^^mach weiter^°^
Von: abgemeldet
2007-08-10T22:40:53+00:00 11.08.2007 00:40
Wow super!!!ich hab mich die ganze zeit voll auf "wenn werwolf und....."
"spezialiesirt"und hab gar nicht daran gedacht deine anderen fanfics zu lesen nun es hat sich gelohnt^^ das schlechte daran is ich kann mich jetzt nicht mehr beschweren wenn du an der weiterschreibst und nicht an der anderen XD

Von: abgemeldet
2007-08-01T19:02:28+00:00 01.08.2007 21:02
Hallöchen

Da sind sie also doch über die Glocke gestolpert :) Aber es ist weiß gott nicht so schlimm wie ich es mir vorgestellt habe. Es bleibt ja noch die Frage, ob die Göttin jetzt ihr versprechen hält oder ob du fies bist ;). Hab einige kleine Rechtschreibfehler erkennen können aber sonst wiedermal klasse Kapi. Freu mich schon aufs nächste.

Mfg Duality
Von: abgemeldet
2007-08-01T09:51:46+00:00 01.08.2007 11:51
Hallöchen

So nun hab ich es auch mal geschafft es durchzulesen :). Muss ja sagen du machst es einem nicht unbedingt leichter wenn du einen so quälst :). Finde das Kapitel gut, konnte auch nichts finden, was ich diesmal zu beanstanden hätte, allerdings würde mich ja zusätzlich noch Interessieren, was oder wer dieser Exavor ist.
Mach weiter so. Ich bin gespannt und ich hoffe die Stolpern jetzt nicht rein zufällig über diese Glocke ;).

Duality
Von: abgemeldet
2007-07-30T19:20:47+00:00 30.07.2007 21:20
Ohhh, schade! So ein kurzes Kapitel =(
Ich hoffe du schreibst bald weiter.
Du sag ma, ist Minja eigentlich in Kent? Oder andersrum? Oder gehts nur um die Freundschaft und nicht auch ein bissl um Liebe? *gespannt*
Sagst du mir bescheid, wenns nächste Kapi da ist?

Mir gefallen die Gespräche sehr gut, wie schon gesagt. Ich bewundere es, dass du so lange Dialoge schreiben kannst... Mir persöhnlich fällt das immer schwer =(

Naja. Bis bald Nacht Hölli!

Minni


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