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Verwirrt Leben

Autor:  -Broeckchen-
Ich bin durcheinander.

Ich würde so gern in Berlin bleiben. Dort studieren. Es gibt Menschen, die ich nicht zurücklassen will. Ich habe Angst vor überfüllten Hörsälen, vor dem völligen Auf-sich-allein-gestellt-sein, vor unwirschen und überforderten Dozenten...
Ich konnte noch nie das, was alle anderen hin bekamen.

Aber in Berlin ist es so teuer. Ich hab heute mal herumgerechnet. 1500 Euro bräuchte ich monatlich, um alle Basics zu bezahlen. 1500 Euro. Wo sollte ich das herkriegen, ohne einen Kredit aufzunehmen?

In Trier schrumpft der Betrag auf etwa 630 Euro monatlich. Dafür reichen BaFöG und Rente locker.

Die in Berlin wollen mich. Man merkts. Sie telefonieren mir nach, geben mir Infos, die sie sonst nicht rausgeben, jeder dort scheint meinen Namen zu kennen. In einer kleinen Klasse zu lernen, mit 20 Mitstudis Seite an Seite... das klingt so viel besser als der Gedanke an den überfüllten, riesigen Hörsaal.

Französische Grenze. So weit weg von zuhause. Kein mal eben Mama fragen, ob sie mir ein Formular erklären kann. Keine Treffen mit den Freunden mehr. Verlorene Geschichten, verlorene Kontakte. In Weitweg bin ich vor Einsamkeit krank geworden. Warum sollte es dort anders sein?

Meine Mutter, die so häufig richtig liegt, ist für Trier. Ich merke es. Schon dass ich zum Vorstellungsgespräch in Berlin gehen will, macht sie sauer. Etwas, dass wir gern vergessen, wenn wir erwachsen werden, ist: Erwachsene haben das auch mal durchgemacht. Sie haben ein langes Leben hinter sich, voller Erfahrungen. Sie kennen die Welt, in die wir uns erst hineintasten, schon lange, sie kennen uns seit unserer Geburt - und die meisten von ihnen raten uns nur zu dem, was sie für das Richtige für uns halten.

Was Erwachsene so gern vergessen ist, dass man ein Leben lang die Dinge bereut, die man nicht getan hat. Ich habe in meinem Leben so einige Dummheiten begangen und werde vermutlich noch viele begehen, ob ich nun hineinstolpere oder offenen Auges ins Unglück plumpse. Aber von vielen dieser Momente weiß ich, dass es mich ein Leben lang gequält hätte, wäre ich anders an sie herangegangen. Lernen funktioniert am besten über Versuch und Fehlschlag. Ich mache nicht einfach, was ich will... sondern versuche, meine seelischen Fühler auszustrecken und kennenzulernen, wie sich die Dinge im Vorhinein anfühlen und ankündigen, die gut - und die, die schlecht für mich sind.
Das ist so unglaublich kompliziert.

Wenn ich irgendwann zufrieden sein will, brauche ich - wie jeder Mensch - irgendwo in mir das Gefühl, dass ich selbst in die Richtung wollte, in die ich gegangen bin. Wo bleibt sonst mein Verdienst daran? Das FSJ war häufig hart und unangenehm für mich, aber ich konnte es machen, weil ich wusste: Das war meine Entscheidung.
Vielleicht hätte ich irgendwann selbst nach Trier gewollt. Vielleicht würde ich es wollen, wenn meine Mutter nicht so extrem dafür wäre. Es ist wie Zimmeraufräumen. Egal wie fest ich es mir vornehme, sobald meine Mutter mich dazu auffordert, kann ich mich nicht mehr dazu durchringen.

Ich will meine Entscheidung treffen, selbst. Aber ich will auch nicht dumm und pubertär sein und Rum-Tum-Tuggah mäßig einfach nur das Gegenteil von dem tun, was meine Eltern mir sagen, weil sie es doof finden.

Was soll ich tun?

Ich glaube, ich brauche Abstand. Vielleicht sollte ich mich eine Weile abkapseln, um mir über einige Dinge klarer zu werden. Irgendwohin gehen, wo es still ist, und die Stille auf mich wirken lassen.

Spoiler
Übrigens: Dankeschön, JPunkt. Ich hab grad einen Dankbarkeitsanfall und das muss mal raus. Danke für die Küsschen obwohl du vorher meine vereitert-entzündeten Mandeln abgetupft hast. Danke für ein Zuhause in all den Nächten in denen sich meines nicht wie eines anfühlte. Danke für deine Nähe in Manker. Danke für Anspornstandpauken wenn ich mit Pflichten nicht in die Gänge kam. Danke für ehrliche, neutrale Meinungen, auch wenn sie mir nicht gefielen. Mama weiß gar nicht, was ich eigentlich an dir habe.
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Datum: 06.08.2010 12:21
Süßes Karamell, ein Geschmack von purem Wohlgefallen streichelt meinen Gaumen, während ich, nachdenklich kauend, diese Zeilen verfolge. Als ich am Ende angelangt bin und zur Kommentarfunktion weiter geklickt habe, halte ich inne. Was kann ich einer Freundin in diesem Moment raten?
"Tu, was du für richtig hälst", ist mein erster Gedanke, aber er ist nicht sonderlich hilfreich. Wenn auch viel Wahres darin steckt, wer kann schon mit hunderprozentiger Sicherheit sagen "Das ist richtig" und "Das ist falsch"?
Möhrchen hat mir immer wieder voller Begeisterung von ihrer Heimatstadt erzählt, von Berlin, DER Stadt überhaupt. Nun gut, für mich ist es nicht DIE Stadt, aber es ist die Stadt, aus der die beste Band der Welt kommt, es ist unsere Hauptstadt und praktisch Dreh- und Angelpunkt von Deutschland. Natürlich wäre es, rein vom finanziellen her, günstiger nach Trier zu gehen. Doch was nutzt einem ein bisschen mehr Geld, wenn man nicht glücklich wird?
Ich lasse meine Gedanken nach Leipzig schweifen. Dort wäre ich auch weit weg von zu Hause, ich wäre auf mich allein gestellt. Alleine ein Leben führen, für mich sorgen, lernen, leben. Noch habe ich keinerlei Gefühl deswegen. Vielleicht liegt es daran, weil ich mein Leben lang schon den Drang nach Freiheit spüre, danach auszubrechen und irgendwo neu anzufangen. Es gibt kaum etwas, was mich in meinem kleinen Heimatdorf hält.
Mein Karamell ist alle und ich komme von Leipzig weg. Sicher ist es irgendwo auch ein großes Stück Arbeit, ich werde ebenfalls nicht zu Mama gehen und mit ihr Aufgaben durchsprechen können. Dabei wäre sie eine große Hilfe, sie hat die gleiche Ausbildung gemacht. Ich muss alleine klarkommen und das ist es, was einem immer wieder ein mulmiges Gefühl in die Magengegend zaubert.
"Ich will nicht, dass du unglücklich wirst", schreibe ich also. "Geh nicht dahin, wo andere dich haben wollen. Geh dahin wo DU sein willst. Selbst, wenn du dafür einen Kredit in Kauf nehmen musst. Wenn Berlin dich will, warum solltest du dann nach Trier gehen? Es ist schon richtig, Erwachsene haben mehr Erfahrung und vor allem Eltern haben oft einen guten Riecher, aber was bringt dir das? Es ist dein Leben und du musst eigene Wege gehen. Als Kind ist man vielleicht noch die gegangen, die die Eltern ausgesucht haben, gerade jetzt ist es Zeit für neue, eigene. Es ist richtig, dass du deine eigenen Entscheidungen treffen willst. Das hat nichts mit Pubertät und Trotz zu tun, für mich klingt das mehr nach Reife und Mut."

Ich möchte nicht, dass meine Werbrieftaube etwas tut, was sie später bereut. Wenn ihr Gespür sie nach Berlin leitet, sie eher dort festhält, dann wird es die richtige Wahl sein. Bei mir und meiner Entscheidung, nach Leipzig zu gehen, ist es was anderes. Weit weg zu von zu Hause, doch zu Hause plagt mich Einsamkeit, die mich in Depressionen treibt und eingehen lässt. Leipzig lockt mit einer Freundin, mit einem Neuanfang, mit vielen, neuen Bekanntchaften. Und mit der großen Stadt, nach der ich mich hier auf dem Land sehne. Es zieht mich dahin, ich will fort vom Dorf und raus in die Stadt.
Möhrchen hingegen will bleiben, wo sie ist, weil es viele Dingen gibt, die sie dort halten. Freunde und Familie, die Liebe zur Stadt. In Trier droht sie wahrscheinlich einzugehen, wie eine Blume, die kein Sonnenlicht mehr bekommt. Die Vorstellung missfällt mir gänzlich und ich rümpfe die Nase.
"Ich kenne einen Ort, an dem man Abstand gewinnen kann", schreibe ich weiter. "Ich glaube, davon hab ich dir schon erzählt. Es ist der Innere, sichere Ort. Jeder hat ihn in sich. Du musst nur die Augen schließen und nach ihm suchen. Nach einem Ort, an dem du dich vollkommen sicher und wohl fühlst. Da, wo du dich fallen lassen kannst und einfach nur für dich bist. Diesen Ort können nur diejenigen betreten, denen du den Zugang gewährst. Alles, was negativ und böse ist, was dir nur schaden will, hat keinen Zutritt. Es bleibt draußen. Oder du sperrst es weg. Du nimmst den Tresor, den es an diesem Ort gibt und sperrst alles, was nicht in deine innere Oase gehört, da rein. Dann ist es fort und kann dich nicht mehr plagen. Versuch es mal. Such nach deinem inneren Ort. Es kann alles mögliche sein, ein Zimmer, ein offenes Feld. Vielleicht ein See, ein Strand oder das Meer. Eine Landschaft, Berge oder Täler, egal ob im Herbst, im Sommer, Frühling oder Winter. Egal ob bei Tag oder Nacht. Du kannst den Ort so bauen, wie du dich wohl darin fühlst, denn nur dafür ist er gemacht."

Ich muss schmunzeln. Eine wunderbare Übung. Ich hoffe, dass sie helfen kann. Das Abkapseln ist kein Prozess, bei dem man mit dem Körper irgendwohin geht. Meist geht nur der Geist, die Seele sucht sicht einen stillen Platz, denn sie ist es, die die gesuchte Ruhe aufsaugt.
"Nimm dir Zeit, so viel zu brauchst und so viel sein muss", lasse ich Bröckchen noch wissen. "Ich kann dich verstehen, dass du hin und hergerissen bist, darum sind überschnelle Entscheidungen oft genau die falschen. Geh dahin, wo dich deine Fühler hinlenken. Es wird das richtige sein."
Ich bin ein Mensch der Worte, die Welt erscheint mir still
Zu füllen aller Orte, mit Text wie ich es will
Mein Leben ist ein Märchen, erzählt von mir daselbst
Ich bin ein Mensch der Worte - ein Poet
[Schandmaul - Der Poet]


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