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Centuries

von

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Kapitel 5

„Du, Zero?“

 

„Mh.“ Er brummte abwesend, während er das Ladekabel seines altersschwachen Klapphandys aus der Steckdose zog und in seiner Reisetasche verstaute. Ein prüfender Blick durch den Raum bestätigte ihm, dass er alles eingepackt hatte und nur noch schnell ins Bad musste, um seine Kulturtasche zu holen. Karyu machte diesem Vorhaben jedoch einen Strich durch die Rechnung, weil er so praktisch mitten im ohnehin beengten Zimmer stand, dass er sich an ihm hätte vorbeiquetschen müssen, um ins Badezimmer zu gelangen.

„Setz dich doch. Du gehst mir nur im Weg um, wenn du hier herumstehst.“ Er versuchte sich an einem nonchalanten Lächeln, auch wenn er sich nicht überwinden konnte, dem anderen direkt ins Gesicht zu sehen. „Was wolltest du gerade eigentlich fragen?“

 

„Ehm …“, begann Karyu in seiner so typischen, etwas verschüchtert wirkenden Art, ließ sich auf dem Bett nieder und zupfte an einem abstehenden Stück Nagelhaut herum. Auch er mied seinen Blick, wie Zero feststellte. Er seufzte unhörbar, hasste diese unangenehme Anspannung, die zwischen ihnen herrschte. Aber daran war nichts zu ändern und er sollte lieber fertigpacken, statt seinen Kollegen analysieren zu wollen. Gerade, als er das Bad betreten und seine Kulturtasche geholt hatte, hörte er Karyus Stimme erneut.

„Ich begreife noch immer nicht, was da gestern mit uns passiert ist.“

 

„Da geht es dir wie mir“, gab er zu, während er langsam zurück zu seiner Reisetasche und somit zwangsläufig auch auf Karyu zuging, der genau neben ihr saß.

 

„Ich meine, das ist doch seltsam, dass niemand etwas mitbekommen haben will, oder? Und warum sind wir uns beide sicher, dass wir viel länger in diesem dämlichen Fahrstuhl gesteckt haben, als es den Anschein macht? Da stimmt doch irgendwas nicht. Ich komme mir schon vor, wie in einer dieser Akte X Folgen.“ Karyu versuchte sich an einem selbstironischen Grinsen, aber als Zero seinen Blick erwiderte, erkannte er ein beinahe ängstliches Flackern in seinen Augen.

 

„Ich glaube kaum, dass wir gestern von Außerirdischen entführt wurden, wenn es das ist, was du vermutest“, scherzte er, zog den Reißverschluss seiner Reisetasche zu und setzte sich mit etwas Abstand neben Karyu aufs Bett. „Vermutlich haben wir beide wirklich nur falsch auf die Uhr gesehen, was anderes ergibt doch gar keinen Sinn.“ Er hasste es, seinem Freund etwas vormachen zu müssen, aber was hätte er anderes sagen sollen? ‚Hey, Karyu, höhere Mächte haben versucht, uns umzubringen, und Hizumi, der übrigens eine Art Schutzengel ist, hat uns vorm Schlimmsten bewahrt.‘ Ja, genau das würde Karyus Nerven beruhigen, ganz sicher.

 

„Aber, dass niemand etwas bemerkt haben soll …“

 

„Die Angestellte war allein im Foyer und du hast selbst gesehen, wie beschäftigt sie war. Neben unserem Aufzug gibt es noch drei weitere allein im Eingangsbereich des Hotels, da fällt es vermutlich nicht auf, wenn einer davon mal über einen längeren Zeitraum nicht kommt, wenn man ihn ruft. Das war nur eine Verkettung seltsamer Zufälle, mehr nicht. Versuch, dir nicht länger Gedanken darüber zu machen, okay? Wir haben heute Abend eine Show abzuliefern.“

 

„Mh …“, brummte Karyu und rieb sich über die Augen. „Du hast ja recht, es fällt mir nur schwer, nicht weiter darüber nachzudenken.“

 

„Glaub ich dir, aber versuch es wenigstens.“ Zero zauberte ein hoffentlich aufmunterndes Lächeln auf seine Lippen und legte für einen kurzen Moment seine Hand auf Karyus Knie. „Wir sollten dann mal losgehen, die anderen warten sicherlich schon.“ Bevor er seinen Worten jedoch Taten folgen lassen konnte, hielt er in jeder Bewegung inne. Sein Freund hatte einen seiner langen Zöpfe zwischen Daumen und Zeigefinger genommen und spielte gedankenverloren wirkend damit. Die Bewegung zog ganz leicht an seiner Kopfhaut, nicht schmerzvoll, vielmehr derart angenehm, dass ihm ein Schauer über den Rücken rann. „Was machst du?“, hörte er sich fragen, obwohl er nicht einmal bemerkt hatte, dass seine Lippen sich bewegten.

 

„Ich mag die Zöpfe.“ Karyus Stimme klang wie aus weiter Ferne und als sich ihre Blicke trafen, stockte ihm der Atem. Ihr Beinahe-Kuss kam ihm wieder in den Sinn, ebenso wie sein Traum vor wenigen Stunden. Er schluckte schwer, als ihm der andere immer näher zu kommen schien …

 

„Komm schon, Leader, wir haben noch eine dreistündige Autofahrt vor uns.“ Ein schmales Lächeln zierte seine Lippen, als er seinen Zopf aus Karyus Fingern zog, sich erhob und äußerlich so tat, als wäre gerade nichts geschehen. Innerlich vibrierte er jedoch förmlich und hatte Mühe, ruhig und kontrolliert zu atmen.

‚Nur mit der Ruhe, Zero, alter Junge‘, dachte er im Stillen. ‚Lass dir bloß nicht anmerken, dass dein Herz wie wild rast.‘

Er schulterte seine Reisetasche und wollte schon das Zimmer verlassen, aber Karyu hatte sich noch immer keinen Millimeter von der Stelle gerührt.

„Erde an Karyu?“ Er schnippte ihm leicht gegen die Stirn, was ihn aufzuwecken schien. Diesmal war Zeros Grinsen ehrlich, als er in das teils erschrockene, teils verwirrte Gesicht seines Gegenübers sah. „Bist du im Sitzen eingeschlafen oder was?“

 

„Nein, ich … war nur gerade in Gedanken.“

 

„Und da hab ich dir schon so oft gesagt, dass du nicht denken sollst, weil dir das nicht bekommt.“

 

„Haha.“

 

Zero atmete erleichtert aus, als endlich Bewegung in den Großen kam und sie gemeinsam das Zimmer verlassen konnten. Karyu wirkte noch immer grüblerisch, doch gleichzeitig fühlte er seine musternden Blicke beinahe körperlich auf sich. Verdammt, das war nicht gut. Er wollte gar nicht wissen, was der Gitarrist in seinem Oberstübchen gerade ausbrütete.

 

„Hast du schlafen können?“

 

„Ehm, was?“ Nun war Zero es, der in den letzten Augenblicken mit seinen Gedanken gefühlt meilenweit weg gewesen war und nicht einmal mitbekommen hatte, dass sie die Treppen nach unten genommen hatten. Karyu traute dem Aufzug wohl ebenso wenig wie er selbst, was? „Tschuldige, ich hab dich nicht verstanden. Was hast du gesagt?“

 

„Ich wollte nur wissen, ob du die Nacht über besser geschlafen hast?“

 

„Wieso, seh ich so aus?“ Er schielte zur Seite und lächelte seinen Kollegen schief an. „Sag bloß nichts Falsches, sonst nehm ich dir das übel.“

 

„Und da wollte ich gerade feststellen, dass deine Augenringe weniger geworden sind.“

 

„Augenringe? So was hab ich gar nicht.“

 

„Stimmt.“ Karyu lachte, ein Laut, der Zeros Magen in kribbelnde Aufruhr versetzte. „Soll ich trotzdem fahren, damit du noch etwas Augenpflege machen kannst?“

 

„Wenn du die anderen beiden überzeugt bekommst, dich fahren zu lassen, sag ich nicht nein.“ Obwohl es guttat, mit Karyu herumzualbern, musste er zwangsläufig wieder an ihren Beinahe-Unfall denken. „Aber nur, wenn du dir sicher bist, dass du auch wirklich fahren … willst“, setzte er daher nach, blieb kurz stehen und musterte den anderen kritisch.

 

„Du kennst doch das Sprichwort, dass man gleich wieder aufs Fahrrad steigen soll, wenn man mal runtergefallen ist, oder? Ich kenn mich. Wenn ich zu viel darüber nachdenke, krieg ich nur Angst vorm Autofahren und damit wäre niemandem geholfen.“

 

„Mh, okay, das versteh ich. Aber du sagst Bescheid, wenn du abgelöst werden willst, in Ordnung.“

 

„Großes Indianerehrenwort.“

 

„Karyu?“

 

„Mh?“

 

„Du bist ein Doofkopf, hat dir das schon mal jemand gesagt?“

 

„Ja, du, gefühlt jeden Tag.“

 

Der Große lachte herzhaft, als sie im Foyer ankamen, wo Hizumi und Tsukasa bereits am Empfang auf sie warteten. Er würde ihren Sänger darauf ansetzen, seine übernatürlichen Augen offen zu halten, damit er, wie es Karyu so schön ausgedrückt hatte, seine eigenen würde pflegen können.

 

„Na, alles klar?“, erkundigte sich Tsukasa, während der Leader ihre Zimmerschlüssel einsammelte, um auszuchecken.

 

„Alles bestens“, murmelte Zero und suchte die Taschen seiner Jacke nach seiner Zigarettenschachtel ab, zog sich eine der Kippen heraus und klemmte sie sich in den Mundwinkel. „Ich warte draußen auf euch, okay?“, nuschelte er und verließ mit geschulterter Reisetasche das Hotel. Draußen atmete er tief die frische Luft ein, bevor er sich die Zigarette ansteckte.

 

„Bist du schlecht drauf?“

 

Ein wenig erschrocken hob er den Kopf, weil er nicht damit gerechnet hatte, dass ihm einer seiner Kollegen nach draußen gefolgt war. Tsukasa lächelte verschmitzt, als wäre ihm seine Reaktion nicht entgangen, und begann ebenfalls zu rauchen.

 

„Nö, wie kommst du darauf?“

 

„Du bist noch wortkarger als sonst.“

 

„Ich bin nur noch immer müde, das ist alles. Wollen wir schon mal vorgehen? Meine Tasche wird schwer.“

 

Der Drummer nickte und gerade, als sie sich in Bewegung gesetzt hatten, stießen auch Hizumi und Karyu lauthals debattierend zu ihnen.

 

„Mann, Hizumi, ich hab dir schon hundert Mal gesagt, dass das Management nicht für Zimmerservice aufkommt. Was hast du überhaupt bestellt, dass die fast tausend Yen verlangt haben?“

 

„Nichts Besonderes, ich hatte nur Hunger, es war spät und die Läden hatten schon zu. Was hätte ich deiner Meinung nach also machen sollen?“

 

Zero verdrehte die Augen, schaffte es jedoch nicht, das schiefe Schmunzeln zurückzuhalten, das sich bei den Worten seiner beiden Kollegen auf seine Lippen schlich.

„Jedes Mal dasselbe, was?“, flüsterte er so leise, dass nur Tsukasa, der direkt neben ihm lief, ihn hören konnte.

 

„Um ehrlich zu sein, hatte ich ja schon drauf gewartet.“ Der Drummer scherte sich nicht darum, dass man sein Amüsement nur zu deutlich auf seinem Gesicht sehen konnte. „Wenn du mich fragst, macht Hizumi das nur, um unseren Leader zu ärgern.“

 

Karyu indes grummelte etwas Unverständliches in seinen nicht vorhandenen Bart und ging mit ausladenden Schritten an ihnen vorbei. Hizumi und seine deutlich kürzeren Beine hatten Schwierigkeiten, mit dem Großen mitzuhalten, und so rief er quer über den Parkplatz: „Jetzt mach doch kein Drama draus. Sobald wir wieder zu Hause sind, kriegst du das Geld. Ich hatte nur nichts mehr auf dem Konto.“

 

„Komischerweise hast du in solchen Momenten nie was auf dem Konto“, maulte Karyu und wirbelte herum, um ihren Sänger anzustarren. Bevor er jedoch noch etwas hätte sagen können, verlor sein Gesicht plötzlich jegliche Farbe und seine Augen weiteten sich. Zunächst verstand Zero nicht, was er sah, aber instinktiv hatte er zu rennen begonnen und war mit wenigen Schritten an der Seite seines Freundes angekommen.

 

„Hey, ist alles in Ordnung mit dir?“

Karyus Oberarm zitterte, als er ihn stützend umfasste, und er bemerkte, dass die Hände des Großen zu festen Fäusten geballt waren. „Was ist denn los?“

 

„Ni… Nichts.“ Karyu schloss die Augen und schüttelte den Kopf, während er bemüht ruhig ein- und wieder ausatmete. „Ich dachte nur, ich hätte jemanden gesehen.“

 

„Wen denn?“

 

„Nicht so wichtig.“ Das Lächeln, welches er ihm daraufhin schenkte, war wacklig und seine Gesichtsfarbe ähnelte noch immer mehr vergorener Milch als einem gesunden Teint.

 

„Red keinen Blödsinn, Karyu. Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“ Auch Zero blickte sich auf dem Parkplatz um, konnte jedoch außer einem Geschäftsmann in einem schwarzen Anzug, der gerade in seinen Wagen stieg, keine Menschenseele entdecken.

 

„Lass gut sein. Ich hab mich getäuscht.“ Karyu machte sich los, drehte sich von ihm weg und fuhr sich durch die Haare, während er auf ihren Minivan zuging.

 

„Okay, was war das gerade?“ Tsukasa wirkte so verwirrt, wie Zero sich fühlte, nur zwischen Hizumis Augenbrauen hatte sich eine steile Falte gebildet, als würde er scharf über etwas nachdenken.

 

„Hizu, hast du gesehen, was ihn so …“ Ja, was eigentlich? Hatte Karyu Angst gehabt oder war er geschockt gewesen diese Person, wer auch immer sie gewesen war, hier zu sehen?

 

„Nein, ich hab nichts mitbekommen“, murmelte der Kleinste ihrer Runde lang gezogen und schüttelte den Kopf. „Kommt schon, lasst uns losfahren, sonst müssen wir uns nachher wieder so hetzen.“ Hizumi und Tsukasa gingen an ihm vorbei und waren kurz darauf im Van verschwunden, während er noch immer nachdenklich den Parkplatz musterte. Eine Gänsehaut jagte ihm über den Rücken, als der Wind auffrischte und sich unter seine Jacke stahl. Verdammt, was ging hier vor sich?

 

~*~

 

Die Fahrt nach Nagoya war, genau wie das Einchecken im Hotel, ereignislos verlaufen und so waren sie mehr als pünktlich am Klub angekommen, in dem sie heute Abend spielen würden. Er hatte versucht, Karyu noch einmal auf sein seltsames Verhalten auf dem Parkplatz anzusprechen, aber der Große hatte abgeblockt und sich bis jetzt effektiv hinter den Vorbereitungen für die Show verstecken können. Jetzt jedoch saß der Leader neben ihm in einer Wolke von Haarspray an der langen, ziemlich heruntergekommen wirkenden Spiegelfront, die ihnen zum Schminken und Stylen diente.

 

„Du weißt, dass sie schon tot sind?“, neckte er, während er seine Zöpfe mit deutlich gezielteren Sprühstößen des Haarlacks dazu brachte, etwas von seinem Kopf abzustehen. Karyus schwarz geschminkte Augen erwiderten seinen Blick und mit einem lang gezogenen Seufzen, das müder klang, als es die Situation rechtfertigte, stellte er die Dose beiseite.

 

„Irgendwann rasiere ich mir einen Militärschnitt, dann brauch ich mich mit den Zotteln nicht mehr herumschlagen“, murrte er und zupfte frustriert an dem Gemüse auf seinem Kopf herum. Zero hätte bei dem Anblick am liebsten laut aufgelacht, beließ es jedoch bei einem halben Schmunzeln, stand auf und stellte sich hinter ihn.

 

„Darf ich?“ Er ließ seine Hände über Karyus Kopf schweben und begann erst, sich der armen Strähnen anzunehmen, nachdem sein Freund genickt hatte. „Ich denke, das Management wäre von so einem Radikalschlag nicht sonderlich begeistert“, scherzte er, was Karyu ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Mit nur wenigen Handgriffen hatte er die recht verklebten, dunkelblonden Haare soweit in Form gebracht, dass sie in etwa als Frisur zu erkennen waren. „So, wenn du sie dir nicht waschen willst, ist das alles, was noch rauszuholen ist.“

 

„Nee, zum Haarewaschen ist keine Zeit mehr und … mh, sieht doch gar nicht so übel aus.“ Er grinste ihn über die Reflexion im Spiegel breit an. „Danke dir.“

 

„Nicht dafür.“ Zero drehte sich weg und war bereits einen Schritt auf seinen eigenen Platz zugegangen, als er es sich noch einmal anders überlegte, stehen blieb und Karyu musterte. „Verrätst du mir nun endlich, wen du geglaubt hast, auf dem Parkplatz zu erkennen?“

 

„So hartnäckig kenn ich dich gar nicht.“ Karyu runzelte die Stirn und schaute ihm über den Spiegel teils fragend, teils belustigt entgegen. „Warum interessiert dich das so?“

 

„Weil du ausgesehen hast, als würdest du jeden Moment umkippen oder einen Herzinfarkt bekommen. Also bitte, wer würde sich da keine Sorgen machen?“

 

„Du hast dir Sorgen um mich gemacht?“

 

„Natürlich hab ich das.“

 

Karyus Augen waren kugelrund geworden und sein Mund stand einen kleinen Spalt breit offen. Wäre er über die unverhältnismäßige Reaktion seines Freundes nicht so erstaunt gewesen, hätte er sich bei diesem Anblick vermutlich scheckig gelacht. So jedoch erwiderte er für einen langen Moment nur stumm Karyus Blick, bevor sie beide von Makoto, einem ihrer Tontechniker, aus ihrer Starre gerissen wurden.

 

„Sorry, dass ich euch unterbrechen muss, aber es gibt Probleme mit deinem Verstärker, Karyu. Kannst du ihn dir mal ansehen? Wenn es blöd läuft, musst du heute Abend das Ersatzgerät hernehmen.“

 

„Oh, nein.“ Karyu seufzte und war kurz davor, sich durchs Haar zu fahren, aber blitzschnell hatte Zero seine Finger um das Handgelenk des anderen gelegt und ihn damit effektiv daran gehindert, erneut ein Vogelnest auf seinem Kopf zu bauen.

 

„Die Haare sind tabu, bis du auf der Bühne bist, verstanden.“

 

„Ja, Mama.“

 

„Ich geb dir gleich Mama.“ Er grinste und scheuchte den Großen davon, nicht aber ohne ihn vorher daran zu erinnern, dass er ihm noch eine Antwort schuldig war.

 

~*~

 

Trotz der technischen Schwierigkeiten hatten sie pünktlich mit der Show beginnen können. Seine Antwort hatte er noch immer nicht erhalten, aber nun, wo er endlich wieder auf der Bühne stand, waren die vielen Gedanken und Sorgen, die er sich ständig um Karyu machte, beinahe vergessen. Der Rhythmus von Tsukasas Drums und die tiefen Töne seines Basses vibrierten durch seine Knochen, während Karyus melodisches Gitarrenspiel und Hizumis Gesang einen herrlichen Kontrast zum Jubeln und Kreischen ihrer Fans bildeten. Die Luft schien zu kochen, machte ihm das Atmen schwer, und die vielen Scheinwerfer, die auf sie gerichtet waren, trugen nur dazu bei, dass er sich wie in einem Hexenkessel fühlte. Der Schweiß lief ihm in Strömen den Rücken hinunter, perlte über sein Gesicht und dennoch wäre er gerade nirgendwo lieber gewesen.

Tsukasa zählte einen weiteren Song ein, der Letzte, bevor sie sich eine kurze Pause gönnen würden. Seine Finger krampften, als er den nächsten Akkord anschlug, aber ein kurzes Schütteln genügte, um sie wieder zum Funktionieren zu bringen. Augenblicke wie diese, in denen ihm bewusst wurde, wie weit sie alle in den letzten fünf Jahren gekommen waren, schafften es immer wieder, ihn in ehrfürchtiges Staunen zu versetzen. Er verließ seinen Platz auf der rechten Seite, ging weiter nach vorn, bis er kurz vorm Bühnenrand innehielt und auf das Meer ihrer Fans herabsah. Strahlende Gesichter blickten zu ihm auf. Auf manchen konnte er Spuren von Tränen erkennen, auf den meisten spiegelte sich jedoch dieselbe ausgelassene Freude wider, die auch er in dieser Sekunde empfand. Er ging vor ihnen auf die Knie, spielte einen Herzschlag lang nur für sie. So sehr war er in seinen eigenen Empfindungen gefangen, dass er zunächst nicht verstand, warum ihr Kreischen plötzlich noch lauter, noch frenetischer geworden war. Bis er eine Präsenz hinter sich fühlte, einen langen Arm, der sich sanft um seine Brust legte, Finger, die sein Kinn zur Seite drückten und warme Lippen, die angedeutet, zart wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, über seine Haut wisperten. Seine Lider fielen zu, sein Mund öffnete sich, um einen Laut freizulassen, der sich im Lärm der Menschen und ihrer Musik verlor. Jegliche Fähigkeit einen vernünftigen Gedanken zu fassen hatte ihn verlassen, und es war lediglich der Routine seiner Finger zu verdanken, dass er nicht zu spielen aufhörte.

 

So schnell dieser surreale Moment gekommen war, so schnell war er wieder verschwunden, und hatte es dennoch geschafft, ihn gänzlich aus dem Konzept zu bringen. Er wusste nicht, wie er den Song beendet hatte oder wie er hinter die Bühne gelangt war. Das Nächste, dem er sich wieder bewusst wurde, war Karyu, den er mit einer Hand gegen die schmutzig graue Betonwand ihres Aufenthaltsraums gedrückt hielt. Zero bekam kaum Luft und brodelnde Wut, die sich nicht entscheiden konnte, ob sie sich gegen den Gitarristen oder sich selbst richten wollte, ließ seinen Magen rumoren.

 

„Was hast du dir dabei gedacht?“, zischte er und ließ erst von ihm ab, als Karyu seine Hand über die seine legte. So, als hätte ihn diese flüchtige Berührung verbrannt, zuckte er zurück und verschränkte abwehrend seine Arme vor der Brust. „Seit wann geben wir Fanservice, ohne es vorher abgesprochen zu haben? Verdammt, du kannst froh sein, dass ich mich da draußen nicht verspielt hab!“

 

„Tut mir leid. Ich hab nicht nachgedacht.“

 

„Ja, so wie du nie nachdenkst, bevor du irgendeinen Mist machst.“ Er drehte sich um, konnte es gerade nicht ertragen, in Karyus Gesicht zu sehen. Er wusste, dass er überreagierte und dass er den Leader mit seinem Verhalten verletzte, aber er konnte nicht aus seiner Haut. „Lass in Zukunft einfach deine Griffel von mir, hörst du.“ Er stürmte aus dem Raum und steckte sich im Gang, der zur Bühne führte, eine Zigarette an. Tief atmete er den Rauch in seine Lungen und wünschte sich, er könnte sich beruhigen. Aber seine Hände zitterten noch immer und sein Herz sehnte sich zurück nach diesem kurzen Moment, in dem er Karyu erneut so nah gewesen war. Gott, er fühlte sich wie ein Junkie auf Entzug, der das charakteristische Aroma seiner ganz persönlichen Droge bereits auf der Zunge geschmeckt hatte, bevor sie ihm wieder weggenommen wurde.

 

„Wenn du endlich aufhören würdest, dir alles zu verbieten, würde es euch beiden besser gehen.“ Hizumi lehnte plötzlich neben ihm, ohne dass er bemerkt hätte, wie er dorthin gekommen war. Im Gegensatz zu ihm wirkte der andere tiefenentspannt, während er einen großen Schluck aus seiner Wasserflasche trank, bevor er ihn kritisch musterte. „Denkst du nicht, dass du etwas streng mit ihm gewesen bist?“

 

„Mit Karyu kann man nicht streng genug sein, sonst kommt der noch öfter auf so dämliche Ideen“, maulte er und zog so heftig an seiner Zigarette, dass der heiße Rauch in seiner Kehle brannte. Er verzog das Gesicht und vernichtete den Rest unter seiner Schuhsohle. „Und, was meine Verbote angeht, die musst du schon mir überlassen.“

 

„Ja, man sieht ja, was dabei rauskommt, wenn man alles dir überlässt.“

 

„Was soll das nun wieder heißen.“

 

„Nichts weiter, nur dass sich Karyu da drinnen gerade selbst zerfleischt und du hier draußen genau dasselbe tust. Und warum das alles? Weil du zu stur bist, euch beiden dieses ständige Leid endlich zu ersparen.“

 

„Das hat nichts mit Sturheit zu tun und gerade du solltest das am besten wissen.“

 

„Red es dir nur weiter ein, vielleicht glaubst du irgendwann einmal tatsächlich daran.“ Hizumi funkelte ihn aus wütend zusammengekniffenen Augen an, was ihn derart aus der Fassung brachte, dass er für einen Moment nicht wusste, wie er reagieren sollte. „Du weißt, wie fragil Karyus Selbstbewusstsein ist. Wir müssen noch einmal raus auf die Bühne und dein Ausbruch ist gerade echt zum falschen Zeitpunkt gekommen, wenn ich das mal so sagen darf.“

 

„Tja, daran hätte er denken sollen, bevor er mir vor Hunderten unserer Fans so auf die Pelle rückt. Unabgesprochen!“

 

„Zero …“ Sein Name aus Hizumis Mund klang wie ein Seufzen und der andere wirkte mit einem Mal eher am Ende seiner Geduld angekommen als wirklich verärgert. Zero öffnete den Mund, um sich und sein Handeln zu verteidigen oder wenigstens irgendetwas zu sagen, das seine Wut auf Karyu aufrechterhalten würde.

 

„Fuck“, murmelte er stattdessen kaum hörbar und verbarg sein Gesicht hinter beiden Händen, als knochentiefe Erschöpfung den Platz des Ärgers in ihm einnahm. „Ich weiß doch, dass er sich nichts dabei gedacht hat, aber …“

 

„Woher willst du das wissen.“

 

„Weil die Vorstellung, es würde mehr dahinterstecken, schlicht und einfach unerträglich wäre.“

 

Hizumi schnaubte.

„Manchmal würde ich dich am liebsten so lange durchschütteln, bis du endlich vernünftig wirst.“ Eine warme Hand legte sich auf seine Schulter, drückte kurz zu, bevor er spürte, wie sich der Sänger von ihm entfernte. „Aber nachdem das nicht meine Aufgabe ist, sag ich unserem Großen jetzt lieber, dass schon wieder alles in Ordnung kommen wird, bevor er sich noch mehr in Selbstvorwürfen verliert.“

 

Zwei Herzschläge lang spürte er noch Hizumis Blick auf sich, als würde der andere auf eine Reaktion von ihm warten. Aber Zero starrte nur wie versteinert auf die von ihm ausgetretene Zigarette, die eine schwarze Aschespur auf dem abgetretenen Linoleumboden hinterlassen hatte. Einen kurzen Moment gönnte er sich den Luxus, sich vorzustellen, was wäre, wenn Hizumi rechtbehalten würde. Wenn hinter Karyus Taten mehr als nur Unüberlegtheit stecken würde. Wenn er sich ihren Beinahe-Kuss, die Anziehung zwischen ihnen, die im Hotelzimmer geherrscht hatte, nicht nur eingebildet hätte. Wenn er seine eigenen Gefühle für den Gitarristen zulassen, ihnen Raum bieten würde. Ja, was wäre dann? Sein Herz flatterte aufgeregt in seinem Brustkorb und es fühlte sich beinahe so an, als wäre es glücklich. Zero hingegen lächelte traurig. Diese Gedanken waren zu gefährlich, um sie zuzulassen. Er stieß sich von der Wand ab, ging zurück in ihren Aufenthaltsraum und schälte sich aus seinem verschwitzten Oberteil. Er mied Karyus Blick, obwohl er ihn auf sich fühlen konnte, und streifte sich eines der T-Shirts über, die sie extra für diese Tour hatten drucken lassen. Mit geübten Handgriffen brachte er sein verschmiertes Make-up wieder in eine Form, die gewollt aussah, und straffte die Schultern, bevor er zu den anderen ging, die an der Tür auf ihn gewartet hatten.

 

„Bereit, die Meute da draußen noch einmal zum Ausflippen zu bringen?“ Tsukasa grinste in die Runde, vibrierte beinahe mit all der Energie, die durch seine Adern zu fließen schien.

 

„Na, aber immer doch!“, rief Hizumi aus und schlug gegen die ausgestreckte Handfläche des Drummers. Karyus Reaktion hingegen bestand aus einem schwachen Nicken, aber bevor Tsukasa sich beschweren oder fragen konnte, was mit ihm los sei, war er bereits von Hizumi davongezogen worden. Manchmal hasste er den Sänger dafür, dass er ihn zwang, sich seinen Dämonen zu stellen, aber was sein musste, musste eben sein.

 

„Hör mal, Karyu“, begann er und setzte sich in Bewegung, froh darüber, dass der Leader ihm ohne Weiteres folgte. „Ich hab überreagiert und dafür möchte ich mich entschuldigen.“

 

„Schon gut“, murmelte Karyu mit einem derart niedergeschlagenen Unterton in der Stimme, dass er ihm kein Wort glaubte.

Wäre Zeit gewesen, hätte er ihn zurückgehalten, um diese dumme Sache ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. So jedoch konnte er nur dabei zusehen, wie sein Freund die drei Stufen zur Bühne hinaufstieg und sich unter dem anschwellenden Jubel der Massen mit gehobenen Armen feiern ließ. Vor den Kopf gestoßen blieb er für einen weiteren Augenblick reglos stehen und starrte ihm hinterher. Hatte er sich verhört oder hatte Karyu im Vorbeigehen tatsächlich noch gesagt, dass es ihm sehr leidtue, weil er wisse, wie wenig Zero von Fanservice, vor allem mit ihm, halten würde.

‚Oh, Karyu, du könntest nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein.‘

 

~*~

 

Der Rest des Konzerts war eine verschwommene Erinnerung an mechanische Bewegungen, ohrenbetäubend laute Geräusche und ein Meer von nichtssagenden Gesichtern, die ineinander zu verschwimmen begannen. Sie hatten die Show beendet, ja, aber Freude hatte sie ihm nicht mehr bereitet. Karyus Worte zogen wie in einer Dauerschleife durch seinen Kopf und sein Herz schmerzte jedes Mal, wenn er sich an den besiegten Ausdruck in den schönen Augen zurückerinnerte. Diesmal war er schuld daran, dass es Karyu nicht gut ging, und dieses Wissen war unerträglich.

Dennoch hatte er nicht noch einmal versucht, mit ihm zu reden, und saß stattdessen nun mit seiner Band in einer abgedunkelten Nische eines Klubs. Tsukasa hatte darauf bestanden, dass sie heute alle zusammen feiern gingen, und Zero hatte nicht den Elan für Gegenargumente gehabt.

 

„“Ma~ann, Zero. Da leiern wir dem Management schon eine weitere Übernachtung aus den Rippen, damit wir nicht mitten in der Nacht heimfahren müssen und Party machen können, und dann hockst du hier miesepetrig an deiner Cola nuckelnd herum.“

 

„Nicht jeder kann so ein Gesellschaftstier sein, wie du eines bist, Tsukasa.“ Von irgendwoher zauberte er ein schiefes Lächeln auf seine Lippen, von dem er wusste, dass es seine Augen nicht erreichte, und zog provokant am Strohhalm seines Getränks. „Außerdem solltest du aufhören, dich zu beschweren, immerhin brauchen wir jemanden, der morgen keinen Kater hat, um wieder nach Hause zu kommen, oder etwa nicht?“ Für einen langen Moment schaute ihm der Drummer nur sprachlos ins Gesicht, bevor man mehr als deutlich erkennen konnte, dass auch bei ihm der Groschen gefallen war.

 

„Verdammt, damit hast du tatsächlich recht.“

 

„Siehst du.“ Nun war sein Schmunzeln ehrlicher geworden, einfach, weil es immer wieder schön war, Tsukasa beim Sortieren seiner Gedankenbeobachten zu können. Besonders unterhaltsam wurde es, wenn der Drummer, so wie jetzt, schon einige Bier intus hatte und seine Denkprozesse damit auf ein fast schon komödiantisch langsames Niveau fielen.

„Und nur, weil ich mich mit Cola am Einschlafen hindere und einfach mal nichts tue, heißt das ja nicht, dass ich nicht eine prima Zeit habe.“

 

„Wem willst du damit was vormachen?“ Der skeptisch hochgezogenen Augenbraue hätte es nicht bedurft, aber so unterstrich sie nur Tsukasas Unglaube. Wenigstens blieb es ihm erspart, darauf eine Antwort zu finden, als Hizumi an ihren Tisch zurückkehrte.

 

„Guckt mal, wen ich eingesammelt habe.“ Der Sänger grinste so breit, als würde er ihnen einen ungetrübten Blick auf sein Gebiss gestatten wollen, und stützte mit spielerisch anmutender Leichtigkeit einen betrunkenen Karyu, während er mit der anderen Hand ein Tablett mit vier gefüllten Gläsern balancierte.

 

„Wow, das muss man dir lassen, sollten wir mit der Band irgendwann keinen Erfolg mehr haben, kannst du überall als Kellner anfangen“, stellte Zero mit nicht wenig Respekt in der Stimme fest, deutete erst auf das Tablett und dann auf Karyu, dem mittlerweile schon die Augen zugefallen waren.

 

„Das ist alles eine Sache der Übung, stimmt’s Tsukatchi?“

 

„He~! Du machst mich schon wieder irgendwie schlecht, oder? Ich weiß zwar nicht wie, aber hör auf damit.“

 

„Was denn? Ich hab doch gar nichts gesagt.“

 

Zero schüttelte belustigt den Kopf und war aufgestanden, um Karyu mehr schlecht als recht auf die Sitzbank zu manövrieren, während sich Sänger und Drummer kabbelten. Die beiden hatten sich wirklich gesucht und gefunden. Sowohl in ihrer Fähigkeit, mehr zu trinken, als gut für sie war, als auch darin, sich ständig soweit hochzuschaukeln, dass man als Außenstehender nicht wusste, ob das, was sie taten, noch als Zankerei durchging oder schon ein handfester Streit war. Dank Karyu war er jedoch so weit abgelenkt, dass er sich zumindest über Letzteres erst einmal keine Gedanken zu machen brauchte.

 

„Wie kannst du dich in so kurzer Zeit nur so abgeschossen haben?“, murmelte er, ohne eine Antwort zu erwarten. Karyus Nuscheln war auch nicht als solche zu verstehen und er war schon froh, den Großen überhaupt dazu bewegen zu können, seinen Kopf nicht auf ihm, sondern lieber auf der Tischplatte abzulegen. Gemütlich sah zwar anders aus, aber wer saufen konnte, konnte auch die Rückenschmerzen am nächsten Tag ertragen. Als er sich dabei ertappte, wie er Karyu die komplett zerzausten Haare aus dem Gesicht streichen wollte, wachte er aus dem Zustand geistiger Umnachtung, die ihn in der Gegenwart des anderen ständig zu befallen schien, auf und setzte sich wieder anständig hin. Hizumis wissender Blick ruhte auf ihm, den er jedoch geflissentlich ignorieren konnte. Wenigstens hatte Tsukasa nichts mitbekommen und spielte lieber mit dem kleinen Papierschirmchen, mit dem der Cocktail dekoriert war, den Hizumi ihm mitgebracht hatte.

 

„Immer wieder schön, wie man ihm mit so Wenig solche Freude bereiten kann“, stellte Zero fest und wusste gerade wirklich nicht, ob er lachen oder den Kopf über das Verhalten seines Kollegen schütteln sollte.

 

„Wenigstens einer, der pflegeleicht ist.“ Selbst wenn er den Seitenhieb akustisch nicht verstanden hätte, Hizumis Blick sprach Bände. Zero presste die Lippen aufeinander, um nichts Falsches zu sagen. In den letzten beiden Tagen hatten seine Emotionen schon verrückt genug gespielt, da musste er jetzt zusätzlich nicht noch einen Streit vom Zaun brechen.

„Hier“, meinte der Sänger in diesem Moment mit einem beinahe versöhnlichen Unterton in der Stimme und schob ihm einen der Cocktails zu. „Ist auch alkoholfrei.“

 

„Danke.“ Er lächelte ehrlich, als er sein Glas in die Mitte hielt, damit seine Freunde anstoßen konnten. Selbst in Karyu war wieder Leben gekommen, auch wenn seine Versuche, die Gläser der anderen zu treffen, erst von Erfolg gekrönt waren, als Tsukasa ihn feixend dirigierte.

 

„Wenn’s um Alkohol geht, wird selbst unser Karyu wieder munter.“

 

„Sei nich immer so gemein zu mir, Hizu.“

 

„Bin ich doch gar nicht.“

 

~*~

 

„Wieso bin ich noch gleich mit euch heute Abend ausgegangen?“, ächzte Zero und versuchte, Karyus schwankenden Gang erneut auszugleichen. Der Arm des Gitarristen lag schwer um seine Schultern, sein Kopf lehnte gegen seinen eigenen und alles in allem schien er nicht viel von seiner Umgebung mitzubekommen.

 

„Weil ich mich sonst um zwei Betrunkene hätte kümmern müssen.“ Hizumi, der Tsukasa mehr zu tragen als zu stützen schien, wirkte tiefenentspannt, als er durch die Lobby ihres Hotels auf die Aufzüge zuging.

 

„Wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte ich dich mit deinem Schicksal alleingelassen.“

 

„Uh, das trifft mich jetzt.“

 

„Hizumi.“ Zero blieb stehen, was Karyu erst einige Sekunden später registrierte und sie beide unter dem amüsierten Kichern des Sängers beinahe zu Boden gehen ließ. „Lach du nur“, knurrte er, versuchte, sich unter dem Gewicht seines Freundes wieder etwas gerader hinzustellen, und sah dann mehr als nur etwas skeptisch den silbernen Schiebetüren des Fahrstuhls zu, wie sie sich langsam öffneten. „Ich weiß nicht, ob ich da wirklich einsteigen will.“

 

„Willst du Karyu lieber drei Stockwerke nach oben dirigieren? Komm schon rein.“ Hizumi machte eine ungeduldige Handbewegung, wobei sein Blick ihm wohl sagen sollte, dass Karyu und ihm nichts passieren konnte, solange er in der Nähe war.

 

‚Schön wärs‘, dachte er, entschied sich jedoch dazu, dem anderen zu vertrauen und einzusteigen. Würden die Mächte erneut etwas versuchen wollen, hätte er somit wenigstens seinen persönlichen Schutzengel dabei.

 

Besagter Schutzengel hatte recht behalten und während er mit Tsukasa noch zwei Etagen höher fuhr, war Zero mit seiner Last im dritten Stockwerk ausgestiegen und schwankte nun über den Flur. Obwohl an Karyu nicht viel dran war, war er dank seiner Größe unglaublich unhandlich und er schickte innerlich ein Stoßgebet an alle Götter, als sie endlich das Zimmer des Gitarristen erreicht hatten.

 

„So, da sind wir. Wo ist dein Schlüssel?“

 

„Hosentasche“, nuschelte Karyu, ohne auch nur den Kopf von seiner Schulter zu nehmen. Zero seufzte leise. Ihm blieb heute wirklich nichts erspart.

„Andere Seite.“ Nun kicherte sein Freund betrunken, was ihn zu einem herzhaften Augenrollen verleitete, obwohl er ein kleines Schmunzeln nicht unterdrücken konnte.

 

„Das hättest du auch gleich sagen können“, murrte er dennoch, pfriemelte den gefundenen Schlüssel ins Schloss und bugsierte Karyu in den nur schummrig von den Straßenlaternen vor dem Hotel erleuchteten Raum. Am Bett angekommen half er ihm, sich zu setzen, und blickte eine ganze Weile auf ihn herab.

„Kommst du allein klar?“, fragte er schlussendlich, nachdem der andere sich noch immer kein Stück bewegt hatte.

 

„Mhmh“, brummte Karyu und begann, an den Knöpfen seines Hemdes zu zupfen, ohne auch nur einen geöffnet zu bekommen. Ein ehrliches Schmunzeln legte sich auf Zeros Lippen und er konnte nicht umhin wieder einmal festzustellen, dass der andere eindeutig niedlicher war, als es gerechtfertigt sein sollte.

 

„Das seh ich“, stellte er sarkastisch fest und ging vor seinem Freund auf die Knie, um ihm wenigstens dabei zu helfen, die Schuhe loszuwerden.

 

„Warum kannst du mich nicht leiden?“ Karyus Worte kamen so unerwartet, dass er in jeder Bewegung innehielt und nicht anders konnte, als ihm erschrocken ins Gesicht zu sehen. „Ich will doch nur mit dir befreundet sein.“ Die vom Alkohol glasigen Augen waren traurig, während sie auf ihn herabsahen und für einen schwindelerregenden Moment fühlte er sich, als würde dieser Blick all seine Barrieren einreißen können.

 

„Wir sind Freunde“, hörte er sich sagen und sein Herz brach bei dem zweifelnden Lächeln, das sich auf Karyus Lippen geschlichen hatte.

 

„Sind wir das?“

 

„Hör mal, Karyu.“ Er stellte den Schuh beiseite, den er dem anderen gerade ausgezogen hatte und hockte sich auf seine Waden. „Wenn es um vorhin geht … Ich sagte doch schon, dass ich überreagiert hab und das mir das wirklich leidtut.“

 

„Nein, die Sache mit dem Fanservice war meine Schuld. Es war dumm und unüberlegt, aber ... Es hat mir halt mal wieder gezeigt, dass ich recht habe.“

 

„Was meinst du?“

 

„Ich bin mir sicher, wäre es Hizumi gewesen, hätte es dich nur halb so sehr gestört.“

 

„Das stimmt doch gar nicht.“

 

„Ach, nein?“

 

„Nein …“

 

„Warum stößt du mich dann immer fort? Warum fühlt es sich ständig so an, als würde ich dir auf die Nerven gehen oder als wäre ich etwas Abstoßendes, das man kaum ertragen kann?“ Karyu presste die Lippen aufeinander, als seine Stimme beim letzten Wort versagte und senkte den Blick.

 

„Karyu, ich …“ Es hätte so vieles gegeben, was er in diesem Augenblick gern gesagt hätte, aber nichts, was er wirklich sagen konnte. „Das bildest du dir nur ein“, endete er also lahm und hasste sich selbst dafür, nicht über seinen Schatten springen und Karyu das sagen zu können, was er im Augenblick so dringend hören zu wollen schien.

 

„Geh, ich komm schon allein klar.“

 

„Aber …“

 

„Geh einfach, ich will allein sein.“ Karyu ließ sich zur Seite fallen, kehrte ihm den Rücken zu und zog die Beine an. Er selbst fühlte sich wie versteinert, konnte einige lange Momente nichts weiter tun, als seinen Freund stumm zu betrachten und das Brennen seiner Augen zu ignorieren. Nur langsam erhob er sich, zupfte die Bettdecke unter Karyu hervor und breitete sie über ihm aus.

 

„Schlaf gut“, wisperte er, aber erhielt keine Antwort. Langsam ging er zur Tür, legte die Hand auf die Klinke und drückte sie herunter. „Ich empfinde dich nicht als abstoßend, Karyu, ganz im Gegenteil.“ Seine Stimme war so leise, dass er sich nicht sicher sein konnte, ob der andere ihn überhaupt hatte hören können, bevor er das Zimmer verließ.

 

~*~

They say we are what we are

But we don't have to be

I'm bad behavior but I do it in the best way

I'll be the watcher

Of the eternal flame

I'll be the guard dog of all your fever dreams

 

I am the sand in the bottom half of the hourglass, glass (Glass)

I try to picture me without you but I can't

~*~
 


 


Nachwort zu diesem Kapitel:
So, hier wäre es also, das nächste Kapitel. Diesmal bin ich nicht recht zufrieden damit, aber besser ist es nicht geworden. Seht es als eine Art Charakterstudie an oder als näheren Einblick in die Dynamik zwischen Zero und Karyu. Ich hoffe, dass im nächsten Kapitel wieder mehr passiert und wünsche euch bis dahin trotzdem viel Spaß beim Lesen. Feedback wäre wie immer ein Träumchen und wenn ihr Anregungen habt, immer her damit. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Ryo-ki
2023-02-10T03:01:03+00:00 10.02.2023 04:01
Es freut mich, dass es so nahtlos weitergeht. Und dann ist da schon wieder Karyus Verunsicherung. Außerdem ist es irgendwie herrlich, wie Zero alles für Karyu zu rationalisieren versucht und dieser das trotzdem nicht akzeptieren will (ein Hoch auf Karyus Bauchgefühl). Wobei ich mich frage, wieso Zero Karyu nicht zumindest alles erklären will und dadurch langsam in diese Richtung leitet, selbst wenn er jetzt vielleicht noch nicht alles, was er selbst schon weiß, aufdecken würde. Ich bin mir nicht sicher, aber wenn sie sich in den vorigen Leben wiedergefunden hatten, hat Karyu dann auch Zero erkannt? Oder immer nur Zero Karyu? Wenn ersteres zutrifft, dann würde es doch ohnehin Sinn ergeben, wenn Zero Karyu langsam einweiht und damit wäre das Rationalisieren überflüssig.
Meh, Zero und seine großen Sprüche. Er nimmt mir schon wieder die Möglichkeit zu wissen, was Karyu gedacht hat. Erst versteckt er sich, jetzt das. Und warum glaube ich nur, dass Karyu Zero fragt, ob dieser schlafen hat können, weil er selbst es nicht konnte - zumindest erholsam -, da er so richtig komische Träume hatte?
Ah, wie schön, dass Tsukasa sich Zero gegenüber einbringt. Bislang ist er ja doch ein bisschen eher am Rand mitgelaufen (ist aber auch schwer, das immer gut auszugleichen, wenn die anderen eine so tragende Rolle spielen und ich habe ja immer noch die Option im Hinterkopf, dass auch Tsukasa eine hat, die bislang nur nicht zu erkennen und er deswegen ganz absichtlich im Hintergrund ist).
Und zur Hölle, was sieht Karyu dort. Oder eher wen. Reine Erinnerung? Traum der letzten Nacht? Noch etwas ganz anderes? Und warum schweigt er so darüber? Ich will das doch auch wissen. Und ich glaube Hizumi kein Wort, dass er nicht gesehen hat, was diese Reaktion bei Karyu ausgelöst hat.
„Ich geb dir gleich Mama.“ Den muss ich einwerfen, denn ich wusste schon bei Karyus Antwort, dass Zero darauf was sagen würde und ich mag sehr, wie genau er das macht. xDD
Du hast die Stimmung auf dem Live so unglaublich schön eingefangen und dann der Fanservice, so schön aus dem Nichts. Leider reagiert Zero wieder so unglaublich intensiv. Und so sehr ich ihn zu einem Teil verstehen kann, leide ich jedes Mal mit Karyu mit. Nicht nur, weil ich Zeros Reaktion ja ohnehin nicht für für richtig halte, vor allem nicht mehr mit allem, das er weiß, sondern hauptsächlich, weil Karyu das eben nicht wissen kann - und weil auch Karyu nur ein Mensch ist. Zero hatte sich gerade völlig in der Musik verloren, er war gelöster. Unabhängig davon, ob Karyu nun von außen durch andere Kräfte angestachelt wird oder nicht, je gelöster ein Mensch ist, desto größter die Gefahr, dass er auch anderen Dingen nachgibt. Und egal, was Zero sich einredet, so langsam müsste er doch mal erkennen, dass Karyu da wirklich Gefühle für ihn hat. Das zeigt Karyu ständig, das betont Hizumi ... Ob sie echt sind oder von außen gesteuert, für beides ist Karyu nicht auf einer rationalen Ebene verantwortlich. Also kann er das auch nicht rational kontrollieren, schon gar nicht, wenn er gerade völlig gelöst ist. Dann so angegangen zu werden, das ist echt viel, was Karyu da aushalten muss.
Dennoch ist es schön, dass Zero sich immerhin dafür entschuldigt und das sogar zeitnah. Dass er - jedenfalls für den Moment - schon zu viel Schaden angerichtet hat, überrascht mich dennoch nicht. Und wenn ich dazu Karyus geringes Selbstwertgefühl sehe, dann sind auch dessen Gedanken, dass Zero nichts von Fanservice gerade mit Karyu hält, nicht verwunderlich. Oder auch Karyus Frage später, als er betrunken ist.
Wie hat Hizumi es geschafft, dass Zero Karyu mehr oder weniger durch die Gegend schleppt und nicht er selbst? So muss Zero Karyu ja schon wieder in seine Nähe lassen. Aber das birgt ein paar schöne Lacher, selbst wenn der Fahrstuhl dann schon wieder zu Unbehagen führt, das lockerst du mit der Schlüsselsuche sofort wieder auf. Und trotzdem kommt das (ich habs ja eben schon erwähnt), was kommen musste: Gedanken verschwinden eben nicht und wenn sie dich so viel beschäftigen, wie das bei Karyu sein muss, dann hilft auch Alkohol nicht, er lockert höchstens die Zunge. Aber ich hoffe, das hilft Zero endlich, zu erkennen, dass er für Karyu sehr wichtig ist, auf einer völlig anderen Ebene als die anderen.
Das Ende des Kapitels ist dadurch sehr herzzerreißend, auch wenn ich Karyu total verstehen kann (und das nur im nicht alkoholisierten Zustand, den Rest kenne ich nicht, aber ich vermute, der Alkohol verstärkt das nur). Hoffentlich hat Zero nicht zu viel Schaden angerichtet. Sie waren auf einem guten Weg im Umgang miteinander. Aber jetzt sehe ich wieder total den Zero aus dem 1. Kapitel vor mir.


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