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Stolen Dreams Ⅹ

von

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1. Kapitel

Dass Albanien nicht zu den wohlhabendsten Ländern Europas gehörte, war schon lange kein Geheimnis mehr. Tirana konnte vielleicht noch einigermaßen mit anderen Hauptstädten mithalten, aber am Stadtrand war davon nichts mehr zu sehen. Hier tummelten sich scharenweise Obdachlose, Straßenkinder und Händler, für die es immer schwieriger wurde, zahlende Kunden zu finden, herum.

Mitten in den Ruinen eines verwahrlosten Gebäudes, das weiß Gott vor wie vielen Jahren eingestürzt war, saß ein Junge, dessen gesamter Körper von Staub und Schweiß bedeckt war. Er wischte sich über die feuchte Stirn, schaute sich nach etwas um, das irgendeinen Wert besaß, aber konnte beim besten Willen nichts finden. Der Anführer seiner Gang hatte ihm aufgetragen, nach Kleidung zu suchen, die es hier angeblich geben sollte, doch der Junge hatte schon seit Sonnenaufgang gesucht und immer noch nichts gefunden.

Seufzend gab er auf und ließ sich auf dem staubigen Boden nieder. Zwar saß er im Schatten, aber die sommerliche Hitze erreichte ihn selbst hier. Was würde er jetzt nicht alles für eine Flasche mit kühlem frischem Wasser tun...
 

„Alron!“, rief jemand und kam auf den 13-Jährigen zu. „Hast du schon etwas?“

„Leider nicht.“

„Dann such weiter. Ledion hat gesagt, die Sachen müssten im Erdgeschoss sein.“

„Anstatt dich zu beschweren, könntest du mir ja helfen“, schlug Alron schnippisch vor, wofür er einen tadelnden Seitenhieb bekam.

„Mach endlich. Je schneller wir hier fertig sind, desto schneller können wir nach Hause.“

Alron seufzte, ehe er sich aufrichtete und wieder an die Arbeit machte. ''Nach Hause'' war der Keller eines Hauses, dessen Teile, die über der Erdoberfläche lagen, nicht mehr zu gebrauchen waren. Jemand, der es gewohnt war, ein Dach über den Kopf zu haben und in einem gemütlichen Bett zu schlafen, würde sich weigern, einen Keller zu betreten, in dem der Schimmel an den Wänden wuchs und gelegentlich eine Ratte vorbeikam, aber im Vergleich zu anderen Unterkünften war der Keller, den Ledion und seine Gang für sich beanspruchten, ein ziemlich guter Unterschlupf. Immerhin war man vor Regen und Kälte geschützt – meistens zumindest – und Schutz vor der erbarmungslosen Sonne gab es auch.
 

Was Ledion anging: Er war 21 Jahre alt und der Anführer einer Gang, die ausschließlich aus Straßenkindern bestand. Die Ordnung in jener Gang war recht einfach – die Jüngeren machten die Drecksarbeit, die keiner machen wollte, und dafür wurden sie von den Älteren beschützt, die ihnen als Gegenleistung nicht nur eine Unterkunft, Nahrung, Drogen, Kleidung und manchmal auch andere Güter brachten, sondern auch aufpassten, dass keiner der Kleinen an andere Gangs oder Menschenhändlern gerieten, welche die Kinder in ihre Bordelle bringen und dort so lange für sich arbeiten lassen wollten, bis die Minderjährigen starben oder ihrem Leid selbst ein Ende setzten.

„Ich glaube, hier ist etwas!“, rief Alron, als er einen Schrank entdeckte, der sich dank seines entstellten Erscheinungsbild kaum vom Rest der Umgebung abhob. Das rissige Holz wies an vielen Stellen Kerben und Kratzer auf, die Farbe splitterte ab und das linke Vorderbein fehlte. Alron hätte sich schon längst den Inhalt des Schrankes angesehen, wenn das blöde Ding nicht abgeschlossen wäre.

„Zu Seite“, wies Alrons Begleitung ihn an, woraufhin der Junge sich zügig zurückzog und von sicherer Entfernung aus beobachtete, wie der andere Junge den Schrank aufzubrechen versuchte.
 

Eine gezückte Metallstange, die früher mal das Bein eines Tisches gewesen war, und ein lautes Knacken später landete die eine Tür des Schranks auf dem Boden und wirbelte genug Staub auf, um eine ganze Gruppe von Kindern zum Husten zu bringen. Alron kniff die Augen zu und zog sich den Saum seines fleckigen T-Shirts über Mund und Nase.

„Und?“, fragte er, während sich der Staub langsam legte. „Was ist drin?“

Als Antwort wurde ihm eine Wasserflasche gereicht, die Alron gierig an sich riss. Während er eifrig trank, sah er zu dem Schrank, der bis zum Rand mit Kleidung und Handtüchern gefüllt war. Ledion würde sich freuen – so viel stand jetzt schon fest.

Nachdem Alron seinen Durst gestillt und seiner Begleitung die Wasserflasche zurückgegeben hatte, packte er gemeinsam mit dem anderen Jungen so viel, wie seine dünnen Arme tragen konnten, und rannte zurück zum Keller, wo Ledion zwar zufrieden lächelte, aber zu besorgt war, um sich wirklich freuen zu können.
 

„Wir hatten vorhin eine Auseinandersetzung mit ein paar Kerlen von Luans Gang“, erzählte er, während er vorsichtig das Blut von dem Gesicht eines jungen Mädchens wische. „Es wird verheilen, aber bis dahin wird sie nicht arbeiten können.“

So ziemlich jedes Mädchen in Ledions Gang arbeitete als Prostituierte. Natürlich war das kein Job, dem gerne nachgegangen wurde, aber diese Mädchen hatten keine andere Wahl. Entweder taten sie es unter dem Schutz von Ledion, der als Gegenleistung einen Teil ihrer Einnahmen verlangte, oder sie taten es alleine, ungeschützt und in der Gefahr, vergewaltigt zu werden oder an einen Menschenhändler zu geraten.

Während Alron beim Versorgen der Wunden half, schickte Ledion ein paar andere Jungs los, um die restlichen Sachen aus dem Schrank zu holen. Wie sich herausstellte, waren die Klamotten ausschließlich für Frauen gemacht, aber das dämpfte die Freude nur wenig. Alron war das Ganze sowieso egal; alles, für das er sich interessierte, war die Belohnung, die er von Ledion bekam: Ein in Papier gerolltes, fingerlanges Ding, von dem man das eine Ende anzündete und sich das andere zwischen die Lippen steckte.
 

Alron wusste nicht, dass das, was er da rauchte, Marihuana war. Er wusste nicht, dass er langsam, aber sicher sein Gehirn und den Rest seines Körpers ruinierte. Er wusste nicht, dass er mit jedem Joint seine Abhängigkeit vertiefte und bald auch andere Drogen ausprobieren würde. Was er aber wusste, war, dass dieses Kraut den einzigen Grund darstellte, warum er sich nicht schon längst die Kugel gegeben hatte.

Marihuana ließ ihn vergessen, wie beschissen sein Leben war. Dass er der Sohn einer mittlerweile toten Prostituierten und eines unbekannten Mannes war. Dass er sowohl seinen Bruder als auch seine Schwester verloren hatte. Dass er weder lesen noch schreiben konnte. Dass er niemals einen richtigen Job und ein richtiges Leben haben könnte. Dass er niemals wie die wohlhabenden Menschen aus dem Fernsehen sein könnte. Dass er schon bei seiner Geburt dazu verdammt gewesen war, wie seine minderjährige Mutter zu enden. Dass er seinen zwanzigsten Geburtstag wahrscheinlich nicht erleben würde. Dass er einmal für einen 500-Lek-Schein in das Auto eines Fremden gestiegen war, der Sachen mit ihm gemacht hatte, die ihn jedes Mal, wenn er sich an sie erinnerte, heftig zum Weinen brachten. All diese Dinge existierten nicht mehr, wenn Alron rauchte.
 

Als der Junge wieder aufwachte, lag er auf einer der gammligen Matratzen, die im Keller als Schlafplatz dienten. Er konnte sich nicht daran erinnern, wie er hierher gekommen war, aber allem Anschein nach hatte er sich in seinem Rausch dort niedergelassen und war eingeschlafen.

„Alron!“, rief Ledions Stimme aus dem Nebenraum. „Komm mal her!“

Angesprochener erhob sich von der Matratze, aus der einige Federn herausragten, und trottete zu Ledion, der gerade mit einem fremden Jungen redete. Dass neue Mitglieder eines Tages im Keller standen, war keine Besonderheit, aber Alron konnte schon auf dem ersten Blick erkennen, dass dieser Junge anders war.

Das Auffälligste an ihm war sein Aussehen. Normale Straßenkinder sahen aus, als würden sie auf einer Müllhalde leben, was nicht selten auch der Fall war. Sie hatten fettige Haare, die wie ein Stück schimmliger Teppich an ihrem Kopf hafteten, schmutzige Kleidung voller Risse, zahlreiche Narben, gelbe Zähne, die wie die Beißer eines Nagetieres aussahen, und meistens rochen sie nach Abfall. Mit anderen Worten: Ihr Äußeres spiegelte die Qualität ihres Lebens wider.
 

Dieser Junge hingegen war das genaue Gegenteil. Er hatte eine ordentliche Frisur und seine gepflegten schwarzen Haaren besaßen einen gesunden Glanz. Seine Zähne waren fast so weiß wie Papier und sein Gesicht erweckte nicht den Eindruck, die Zielscheibe fremder Fäuste zu sein. Alles in einem sah er so makellos wie die Menschen im Fernsehen aus, was Alron irritierte. Was machte ein Junge wie dieser hier?

„Hallo“, begrüßte der Unbekannte ihn. „Ich bin Tarek.“

Tarek hatte ein hübsches Gesicht und ein noch hübscheres Lächeln. Obwohl er seinem Aussehen und seiner Stimme nach zu urteilen eindeutig ein Junge war, hatte er irgendetwas Feminines an sich. Sein Gesichtsausdruck wirkte niedlich und auch ein bisschen frech.

„H-hi“, stotterte Alron nervös. Er kam sich vor, als wäre er einer Prinzessin begegnet. „Ich heiße Alron.“

Die beiden lernten einander kennen und kamen sich näher, aber je mehr Alron über Tarek herausfand, desto mehr wuchs seine Verwunderung, denn Tarek konnte nicht nur lesen und schreiben, sondern auch eine andere Sprache sprechen, die er ''Englisch'' nannte.
 

Einerseits fand Alron es cool, mit so einem außergewöhnlichen Jungen befreundet zu sein, aber andererseits machte es ihn auch ein wenig traurig, dass jemand, der so viel Potenzial hatte, auf der Straße gelandet war. In der ersten Woche, die Tarek in Ledions Gang verbrachte, wurde er nicht nur von Alron, sondern auch von den anderen Kindern unzählige Male gefragt, warum er so sauber und gesund war und warum er so viel wusste und ob er sogar schon einmal zur Schule gegangen war, aber seine Vergangenheit war etwas, über das Tarek nie sprach. Ein einziges Wort zu diesem Thema reicht vollkommen aus, um ihn verstummen zu lassen.

Die Aufnahme eines so nützlichen Mitglieds war ein Grund zu Freude, aber leider hielt die Euphorie nicht lange an. Es gab Stress mit Luans Gang und eines der Mädchen starb an den Folgen einer heftigen Auseinandersetzung.

„Alron, ich weiß, dass dir das nicht gefallen wird, aber es muss sein“, sagte Ledion eines Tages, als das Geld und die Güter noch knapper ausfielen, als sie ohnehin schon waren. „In der Nähe des Stadtzentrums gibt es eine Straße, die halbwegs sicher sein müsste. Könntest du--?“
 

„Nein! Alles nur das nicht!“, schrie Alron panisch, als er erkannte, dass Ledion von ihm wollte, dass er seinen Körper verkaufte. Eigentlich war das eine reine Mädchensache, aber es gab auch Kunden, die für Jungs zahlten und je jünger und zierlicher diese Jungs waren, desto besser standen die Chancen.

„Alron“, sagte Ledion streng. „Das war keine Bitte, sondern ein Befehl. Wir brauchen das Geld.“

Angesprochener wimmerte verzweifelt. Wenn er den Worten seines Anführers keine Folge leistete, würde man ihn früher oder später aus der Gang schmeißen.

„Hey... du bist nicht alleine dort. Die Mädchen gehen mit und Shkodran und Kushtrim werden auf euch aufpassen.“

Alron schluckte nervös, ehe er zögernd nickte. Er wusste, dass es Ledion keinen Spaß machte, ihm diese Aufgabe zu erteilen, aber Prostitution war der schnellste und einfachste Weg, an Geld zu kommen. Außerdem--

„Darf ich mitkommen?“

Alron und alle anderen Anwesenden drehten sich augenblicklich zu Tarek um, der trotz der Gaffer recht gelassen blieb.
 

„Natürlich darfst du“, antwortete Ledion, der ebenfalls für einen Moment verwundert war, dass jemand wie Tarek den unbeliebtesten Job übernehmen wollte. „Aber... willst du das auch?“

„Sonst hätte ich ja nicht gefragt, oder?“

„Gut. Tu, was du nicht lassen kannst.“

Damit war die Diskussion beendet. Während die Mädchen sich schnell fertig machten, in ihre freizügigen Klamotten schlüpften und hastig ihre Haare und ihr Gesicht auf Vordermann brachten, ging Alron zu Tarek.

„Das ist echt nett von dir Tarek, aber... du musst das nicht für mich machen.“

„Schon gut. Ich mache es eigentlich nur, weil ich mal an die frische Luft will und dem Zentrum einen kleinen Besuch abstatten wollte.“

„Tarek, du scheinst das falsch verstanden zu haben. Das wird kein Spaziergang, sondern... du weißt schon was. Wir kriegen Geld dafür, dass irgendwelche Männer...“ Er brach ab und schüttelte den Kopf. „Es ist so unbeschreiblich... ekelerregend.“
 

Tarek klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. Er war jetzt schon fast drei Wochen ein Teil von Ledions Gang und sein Äußeres hatte sich verändert, aber trotzdem war er immer noch Welten davon entfernt, wie Alron auszusehen. Wahrscheinlich bunkerte er Shampoo und andere Sachen in dem Rucksack, den er mitgebracht hatte und wie seinen Augapfel hütete.

„Tarek.“ Ledion war zu den beiden Jungs gekommen. „Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber... hast du es schon mal getan? Mit 'nem Kerl, meine ich.“

„Nicht einmal mit einem Mädchen.“

Ledion und Alron warfen sich vielsagende Blicke zu. Tarek hatte ganz offensichtlich keine Ahnung, in was er sich da hineingeritt--

„Ich kann mir denken, was du jetzt sagen willst“, sagte Tarek. „Bevor ich das Geld nicht habe, soll ich nicht ins Auto steigen, und wenn's geht, dann nur mit Kondom.“

„Um die Kondome musst du dir keine Sorgen machen, schließlich kannst du nicht schwanger werden.“

„Das macht mich aber nicht immun gegen Geschlechtskrankheiten.“
 

Alron musste sich ein Grinsen verkneifen. Tarek war nicht nur schlau, er war auch noch schlauer als Ledion, was diesem überhaupt nicht zu gefallen schien.

„Wie ich sehe, bist du bestens informiert. Dann kann ich ja ruhig etwas mehr von dir erwarten.“

Mit diesen Worten wandte er sich ab. Tarek und Alron marschierten gemeinsam mit den Mädchen und den beiden Beschützern zu der Straße, von der Ledion gesprochen hatte, und warteten auf die ersten Kunden.

Alron sah verunsichert zu Tarek, der mit seinem attraktiven Gesicht, der schwarzen Mähne, den sanften braunen Augen und dem kleinen zierlichen Körper sicherlich nicht lange warten musste. Er fiel zwischen den anderen Jugendlichen auf wie ein bunter Hund und würde die Freier anlocken wie eine Sonnenblume es mit Bienen tat.

„Tarek, kann ich dich mal was fragen?“

„Nur zu.“

„Wie alt bist du?“

„Was würdest du denn schätzen?“

„Ähm... zwölf?“
 

Tarek lachte sein schönes Lachen, das von einem Engel hätte stammen können.

„Ich bin 16, aber mach dir keine Sorgen – du bist bei Weitem nicht der Erste, der mich jünger einschätzt.“

Alron versuchte ebenfalls zu lachen, aber es gelang ihm nicht. Es war einfach so unfair. Tarek sah super aus, besaß mehr Wissen als alle Mitglieder aus der Gang zusammen und schien einen unsichtbaren Schutzschild zu haben, der ihn vor dem Schmutz der Straße bewahrte. Dieser Junge war ein Gott.

Die Zeit verging, doch die Freier schienen sich nur für die Mädchen zu interessieren. Gerade als Alron vorschlagen wollte, gemeinsam mit Tarek nach Hause zurückzukehren, hielt ein schnieker Wagen am Straßenrand und ließ sein Fenster herunterfahren, woraufhin ein dunkelhaariger Mann mit einer dicken Warze zwischen den Augenbrauen zum Vorschein kam. Zögernd und mit vor Unbehagen zitternden Knien ging Alron auf das Auto zu, aber dessen Fahrer hatte anscheinend kein Interesse an ihm.

„Nein, der andere“, sagte er mit seiner rauen Stimme und deutete auf Tarek.
 

Natürlich meinte er Tarek. Wie konnte er auch nicht Tarek meinen, wenn die einzige Alternative ein Junge namens Alron war, den das Leben als Straßenkind schon unzählige Male durchgekaut, heruntergeschluckt und wieder ausgekotzt hatte?

Tarek zeigte immer noch keinerlei Anzeichen von Angst. Er ging auf den Mann zu und redete kurz mit ihm, ehe er einige Geldscheine in die Hand gedrückt bekam und ins Auto stieg.

Alron schluckte nervös und beobachtete, wie der Wagen an der nächsten Ecke verschwand. Ein ungutes Gefühl sagte ihm, dass dies das letzte Mal gewesen war, dass er den unbeschwerten Tarek gesehen hatte, denn das, was später zurückkam, würde nichts weiter als eine leblose Hülle von dem Jungen sein. Das konnte Alron aus eigener Erfahrung bestätigen.

Es dauerte nicht lange, bis auch der 13-Jährige zu einem Auto gepfiffen wurde, das man allerdings kaum noch ''Auto'' nennen konnte. ''Fahrender Schrotthaufen'' wäre passender.

Augen zu und durch. In spätestens einer Stunde wird es vorbei sein.
 

Mit diesem Gedanken lag Alron richtig. Eine knappe Stunde später kam er zu der Stelle zurück, an der die anderen auf ihn warteten, aber kaum hatte er sie erreicht, fiel er vor ihnen auf die Knie und brach in Tränen aus.

Es war so widerlich gewesen. Er wollte es nie wieder machen.

„Hey, reiß dich zusammen“, sagte Shkodran fordernd, obwohl man auch Mitleid aus seiner Stimme hören konnte. „Nur noch ein paar Stunden und dann ist es geschafft, okay?“

„Nein“, wimmerte Alron schluchzend. „Bitte. Ich halte das nicht aus.“

Shkodran und Kushtrim sahen sich gegenseitig an, ehe Letzterer einsah, dass es keinen Sinn hatte, den immer noch weinenden Alron hochhob und sich zum Gehen abwandte. Kushtrim rief währenddessen die Mädchen zusammen, damit sie gemeinsam nach Hause gehen konnten. Sie hatten sich gerade erst in Bewegung gesetzt, als ihnen plötzlich Tarek entgegenkam, der nicht nur voller guter Laune ein Lied summte, sondern auch mit einer goldenen Kette herumspielte, der er um den Hals trug.
 

„Tarek“, sagte Shkodran. „Wo... wo hast du diesen Schmuck her?“

„Mein Freier hat ihn mir geschenkt“, flötete Angesprochener heiter. „Ziemlich cool, ne?“

„Dir ist klar, dass du das Ledion überreichen wirst, oder?“

„Natürlich. Ich bin nur scheiße froh, dass ich seine Erwartungen erfüllen konnte.“

Alron konnte seinen Ohren nicht trauen. Selbst Prostitution hatte Tareks Schild nicht einmal einen Kratzer zugefügt. Im Gegenteil – sie hat ihn noch stärker gemacht.

„Hör auf, so auffällig damit herumzuwedeln, und komm“, wies Kushtrim Tarek an. „Wir gehen nach Hause.“

Im Keller konnte niemand – selbst Ledion – glauben, was Tarek an einem einzigen Abend für einen enormen Gewinn gemacht hatte. Der Junge gab zu, dass er nicht wusste, ob die Kette aus echtem Gold bestand, aber Ledion versicherte ihm, dass das kein Problem war. Für diese Kette würde er ohne Zweifel eine Menge Geld bekommen.

Obwohl Alron eine Szene abgezogen und nicht besonders viel verdient hatte, belohnte Ledion ihn mit nicht nur einem, sondern gleich drei Joints, die Alrons Tränen beim Trocknen halfen. Auch Tarek bekam Marihuana angeboten – aber er lehnte es ab.
 

„Nein danke“, sagte er in aller Seelenruhe, während die anderen Kinder ihn anstarrten, als hätte er vor ihren Augen Geld verbrannt. „Ich glaube, ich brauche etwas Stärkeres.“

Ledion lachte bloß und führte Tarek zu seiner Ecke, wo er ihm etwas zeigte, von dem Alron nicht viel mitbekam. Er bemerkte bloß, dass es um eine kleine Tüte mit hellem Pulver ging und Tarek eine knappe Viertelstunde später auf der anderen Straßenseite hing und sich die Seele aus dem Leib reiherte.

„Hey, alles okay?“, fragte Alron, der es trotz seines Rausches geschafft hatte, zu Tarek zu gehen.

„Mir ging's schon besser“, gab der Junge zu und spie ein bisschen Flüssigkeit aus. „Alron, kannst du ein Geheimnis für dich behalten?“

„Was auch immer du mir jetzt sagst, ich werde es gleich sowieso vergessen haben.“

„Gut, dann hör mir zu: Der Typ, er hat mir die Kette nicht geschenkt.“

„Welcher Typ?“, fragte Alron, dessen Kurzzeitgedächtnis unter dem Marihuana sehr zu leiden hatte.

„Ich habe sie ihm geklaut. Direkt nachdem ich ihm eine leere Bierflasche übergezogen und ins Land der Träume geschickt habe. Ich lasse mich doch nicht von so einem Schwein entjungfern.“

Alron hatte keinen blassen Schimmer, um was es ging, aber er verstand, dass Tarek mal wieder unter Beweis gestellt hatte, dass er etwas Besonderes war, was Alrons These nur bestätigte.

Tarek war ein Gott.

2. Kapitel

Tarek gehörte schon seit über einem Monat zu Ledions Gang, die ihn wie einen König behandelte. Alle sahen in ihm einen intelligenten, unbesiegbaren und allwissenden Gott mit einem selbstsicheren Lächeln, aber niemand bemerkte, was hinter jenem Lächeln steckte.

Sie wussten nicht, dass Tarek jedes Mal, wenn er sah, wie Ledion und die stärksten Kerle seiner Bande ihre Messer putzten, am liebsten schreiend weggerannt wäre. Sie wussten nicht, dass er nachts wach auf der Matratze lag und stumm weinte, weil seine Träume ihm schreckliche Bilder gezeigt hatten. Sie wussten nicht, warum er sein bisheriges Leben hinter sich gelassen hatte oder dass er von der Polizei gesucht wurde. Sie wussten nur, dass Tarek zu den wenigen Jugendlichen gehörte, denen Ledion Heroin erlaubte, aber darüber machten sie sich keine Gedanken.

Heroin war für Tarek die einzige Möglichkeit, seine Fassade aufrecht zu erhalten. Alron hatte gesagt, dass man all seine Sorgen vergaß, wenn man einen Joint rauchte, aber Tarek konnte ihm da nicht zustimmen. Marihuana hatte ihn nicht vergessen lassen, was geschehen war. Es hatte die Bilder von seinen Eltern nicht ausgelöscht. Tarek sah sie immer noch, wenn er die Augen schloss.
 

Heroin war da anders. Zwar hatte Tarek sich bei den ersten Malen erst übergeben und dann mehrere Stunden lang nutzlos in der Ecke gehockt, aber danach war es besser geworden und nun konnte er die volle Wirkung von Heroin verspüren, die wahrhaft wunderbar war.

Wenn Tarek Heroin nahm, fühlte er sich genau so, wie andere ihn sahen – unbesiegbar. Ihm wuchsen Flügel und dann flog er einfach davon, weg von der Gewalt, weg von Albanien, weg von seinen Erinnerungen, weg von seinen Eltern, deren Körper voller Blut waren, weg von der Angst, weg von dem Ereignis, das Tareks Kindheit brutal in Fetzen gerissen hatte. Wenn Tarek Heroin nahm, betrat er das Paradies.

Der einzige Haken an der Sache war, dass Heroin nicht ewig anhielt. Sobald die Wirkung nachließ, wurde Tarek aus dem Himmel gerissen und wieder im Keller abgesetzt, wo es nach Schweiß, Kotze und Krankheiten roch, minderjährige Mädchen sich prostituierten und Kinder sich mit Drogen zudröhnten. Hätte jemand Tarek gesagt, dass er mal als Straßenkind enden würde, hätte Tarek ihn ausgelacht, aber jetzt war er tatsächlich hier.
 

Der Junge lag auf einer schimmligen Couch, die während seiner Abwesenheit irgendwie ihren Weg in den Keller gefunden hatte, und überlegte, was er tun sollte. Nur wenige Meter von ihm entfernt befand sich ein Mädchen in seinem Alter. Sie hatte sich bei der letzten Auseinandersetzung mit Luans Gang eine kleine Verletzung zugezogen, die eigentlich schon längst hätte verheilt sein sollen.

Träge und lustlos erhob sich Tarek von dem Sofa und begab sich auf die Suche nach Ledion. Er suchte den ganzen Keller nach seinem Boss ab und fand anschließend heraus, dass er sich die Mühe umsonst gemacht hatte. Ledion war die ganze Zeit neben dem Mädchen gewesen und Tarek hatte ihn bloß nicht gesehen.

„Le-äh-Boss, kannst du--?“, begann er, doch der Ältere brachte ihn mit einem warnenden Blick zum Schweigen.

„Ich kann jetzt nicht, Tarek. Geh woanders nach Heroin betteln.“

„Aber du bist der Einzige, von dem ich welches kriegen ka--“
 

„Hältst du endlich die Klappe?!“, fauchte Ledion wütend und schmiss einen leeren Eimer nach Tarek, der hastig auswich. „Wir haben jetzt wirklich wichtigere Sorgen.“

Tarek verdrehte die Augen und verschwand im Nebenzimmer. Er wollte warten, bis Ledion mit seinen wichtigen Angelegenheiten fertig war, aber nach nur wenigen Minuten kam ein Junge zu ihm, dessen Namen Tarek vergessen hatte. Er wusste jedoch, dass es der Bruder von dem verletzten Mädchen war.

„Hi“, murmelte der Junge verlegen. „Ledion will nicht, das ich dich mit einbeziehe, aber... könntest du mal nach Ariane sehen? Eigentlich sollte es ihr besser gehen, aber sie kommt einfach nicht auf die Beine.“

„Klar, kann ich machen“, erwiderte Tarek, obwohl er ein schlechtes Gefühl bei der Sache hatte. Am Anfang war Ledion noch wie alle anderen beeindruckt von ihm gewesen, aber mittlerweile behandelte er Tarek wie einen Hund und jeder wusste, warum er das tat. Er hatte Angst, dass Tarek seinen Platz einnehmen könnte, was Tarek selbst ziemlich albern fand. Er besaß kein Interesse daran, der nächste ''Boss'' – seit Neuestem wollte Ledion so genannt werden – zu werden.
 

Tarek folgte dem Jungen zu dessen Schwester Ariane, kniete vor ihr nieder und ignorierte Ledions aggressiven Blick. Ariane schien Fieber zu haben und ihre vermeintlich harmlose Verletzung war gerötet und angeschwollen.

„Ich bin kein Arzt, aber ich denke, dass das eine bakterielle Infektion ist. Wir brauchen Antibioti--“

„Und wo sollen wir das her bekommen, Scherzkeks?“, zischte Ledion angriffslustig. „Vielleicht ist dir das nicht aufgefallen, aber wir sind kein Krankenhaus. Wir haben keine Medikamente.“

„Tja – dann wird sie sterben.“

Während Arianes Bruder erschrocken Luft holte, packte Ledion Tarek am Arm und zog ihn grob durch den Keller, bis er seiner Ecke erreichte, die nur dem Boss bestimmt war.

„Tarek“, sagte Ledion viel freundlicher als zuvor und holte eine kleine Tüte aus einem der abschließbaren Fächer. „Siehst du das hier?“

Tareks braune Augen hafteten sich sofort an die Packung. Außenseiter saßen darin bloß helles Pulver, aber Tarek sah so viel mehr: Er sah Erlösung, er sah ein Ticket in eine bessere Welt, er sah--
 

Bevor er sich daran hindern konnte, griff er nach der Tüte, aber Ledion entzog sie ihm und seine Hand schnappte nichts als Luft.

„Hör mir gut zu, Tarek. Diese Portion wird ganz alleine dir gehören, wenn du uns dieses verdammte Zeug besorgst, wovon du geredet hast. Es ist mir egal, woher es kommt oder was du dafür tun musst; Hauptsache, es wird Ariane retten.“

Tarek nickte eifrig, den Blick immer noch auf die Tüte gerichtet. Für Heroin würde er absolut alles tun und wenn er ''absolut alles'' sagte, dann meinte er das auch.

„Ach ja, und noch was“, fügte Ledion hinzu. „Wenn du möchtest, kann ich dir zeigen, wie man sich das Zeug spritzt.“

Tarek nickte erneut. Bis jetzt hatte er das Pulver nur geschnieft und er konnte es kaum erwarten, es sich direkt in die Blutbahn zu jagen und eine noch bessere Wirkung zu verspüren.

„Du kannst dich auf mich verlassen, Boss.“

„Gut. Und nimm bitte Alron mit; der Junge hat eindeutig zu wenig zutun.“
 

Keine fünf Minuten später eilte Tarek mit zügigen Schritten durch das Zentrum von Tirana. Er ging so schnell, dass es einem Laufen glich und Alron große Mühe hatte, nicht zurückzufallen.

„Jetzt renn doch nicht so“, flehte der Jüngere, aber Tarek hörte ihn gar nicht. Seine Gedanken drehten sich vollkommen um die Tüte mit dem hellen Pulver, das er in vollen Zügen genießen würde, sobald--

„Tarek, jetzt warte doch mal!“, rief Alron und packte den anderen Jungen am Ärmel, aber dieser riss sich los und legte noch einen Zahn zu. Er hatte sich seinen Plan, wie er an die benötigten Medikamente kommen würde, schon längst zurechtgelegt.

Obwohl Tarek gesucht wurde und auch die lokalen Medien von ihm berichteten, musste er keine Angst haben, in der Stadt erkannt und gefangen zu werden. Sowohl die Polizei als auch normale Bürger hatten Besseres zu tun, als nach einem Jungen zu suchen, dessen Fund ihnen keinen Vorteil bringen würde. Die Vermisstenanzeige war sowieso nur aufgegeben wurden, weil irgendetwas mit dem Jungen passieren musste. Er hatte nichts verbrochen oder ähnliches. Zumindest noch nicht.
 

„Äh... Tarek, was hast du vor?“, fragte Alron nervös, als er und Tarek vor einem Krankenhaus ankamen, vor dem einige Leute standen, die zwar nicht wie die perfekten Menschen aus dem Fernsehen, aber auf jeden Fall gesunder und besser als Obdachlose aussahen. „Du willst doch nicht ernsthaft dort reingehen, oder?“

„Nein, ich will nur so tun. Pass auf: Du wartest einfach hier, okay? Ich bin in zehn Minuten wieder da.“

Bevor Alron etwas erwidern konnte, hatte Tarek sich bereits in Bewegung gesetzt. Er betrat das Krankenhaus durch den Haupteingang, tat so, als würde er im Wartezimmer nach einem Platz suchen, und verschwand dann unauffällig durch eine Tür, welche mit ''nur für Personal'' beschriftet war.

Seine Mutter hatte früher hier gearbeitet. Sie war gemeinsam mit zwei anderen Frauen für alle Patienten zuständig und maßlos überfordert gewesen, weil es massenhaft Verletzte und Bedürftige, aber nicht ausreichend Geld für genug Personal gab. Tarek hatte seine Mom schon öfters von der Arbeit abgeholt; er kannte sich in diesem Gebäude bestens aus.
 

Nachdem er durch einige Flure gegangen und einem alten Mann begegnet war, der wirres Zeug faselte und vermutlich aus seinem Zimmer ausgebrochen und sich verlaufen hatte, erreichte er einen Raum, in dem Verbandszeug und Spritzen gelagert wurden. Er nahm ein paar Verbände und eine Flasche Desinfektionsspray für Ariane und ein halbes Dutzend Spritzen für sich. Wenn er sich das flüssige Glück injizierte, wollte er dafür keine dreckige Nadel von Ledion nehmen und sich mit irgendwelchen Krankheiten anstecken.

Die Tür öffnete sich und eine von Moms ehemaligen Arbeitskollegen betrat den Raum. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn, griff nach einem Verband, ließ ihn fallen, hob ihn hastig auf und huschte wieder in den Flur. Tarek, der sich hinter einem großen Schrank versteckt hatte, kam zögernd hervor und ging zum benachbarten Raum, dessen Zugang einen Code verlangte, der für Tarek aber kein Problem war. Er drückte auf die Tasten und trat in das Zimmer. Auf dem Tastenfeld waren nun seine Fingerabdrücke und die Kamera über der Tür nahm ihn auf, aber Tarek hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern. Alles, woran er denken konnte, war seine Belohnung.
 

Als er sich vor das Regal mit den Antibiotika stellte, bemerkte er, dass er eigentlich keine Ahnung hatte, welches er brauchte. Die Flaschen hatten verschiedene Größen und Farben und waren mit Bezeichnung beschriftet, die wie eine komplizierte Sprache klangen, doch nirgendwo gab es einen Hinweis, was bei einer bakteriellen Infektion benötigt wurde... falls das, woran Ariane litt, überhaupt eine bakterielle Infektion war. Tarek hatte nämlich nur eine Vermutung ausgesprochen.

Schulterzuckend griff er nach einer Flasche, die einen hübschen Grünton besaß, und hoffte, dass er das Richtige erwischt hatte oder der Placeboeffekt Ariane heilen würde. Anschließend verließ er das Krankenhaus genauso unauffällig, wie er es betreten hatte, und traf auf Alron, der draußen auf ihn gewartet hatte und sich unsicher umschaute.

„Ich hab' das Zeug. Komm, lass uns gehen.“

„T-tarek, kann ich dich mal was fragen?“

„Nur wenn du währenddessen nicht stehen bleibst.“

„Wie hast du das geschafft? Und warum bist du in allem, was du machst, so unmenschlich gut?“
 

Tarek wollte sich gerade in Bewegung setzen, als er plötzlich innehielt und sich zu Alron umdrehte. Auf seinem hübschen Gesicht lag nicht der übliche sorgenlose Ausdruck mit dem charmanten Lächeln, sondern eine deprimierende Ernsthaftigkeit, die sagte: „Du hast keine Ahnung, was du da sagst.“

Wortlos wandte sich Tarek von Alron ab und machte sich nach Hause auf, wo Ledion ihn schon ungeduldig erwartete. Er desinfizierte und verband Arianes Wunde, verabreichte ihr das Antibiotikum, obwohl er keine Ahnung hatte, was das Medikament anrichten könnte und was für eine Dosis angemessen war, und sah anschließend hoffnungsvoll zu Ledion, der sich trotz seiner Angst, dass Tarek ihm früher oder später von seinem hohen Posten schubsten würde, eingestehen musste, dass dieser Junge schon wieder etwas vollbracht hatte, zu dem normale Straßenkinder nicht imstande waren.

„Komm“, sagte Ledion und legte einen Arm um Tareks Schultern. „Ich gebe dir das, was du verdient hast.“

Er zeigte ihm, wie man das Pulver in eine Flüssigkeit umwandelte, und machte sich keine Gedanken darüber, wo Tarek eine noch in Plastik verpackte Spritze herhatte.
 

Den ersten Unterschied zum Schniefen spürte Tarek sofort. Das Heroin setzte nicht langsam ein, sondern riss ihn von einem Moment auf den anderen von den Füßen. Es baute ein Schloss für ihn, verbannte alle Probleme und Sorgen ins Land, das nicht existierte, und ließ alles um ihn herum verschwinden.

Ein Haufen armer Kinder, die niemals die schönen Seiten des Lebens sehen würden – weg.

Tareks Vater und seine blutüberströmte Leiche – weg.

Seine Mutter, die wahrscheinlich gerade im Knast saß – weg.

Tarek, der gesucht wurde, weil er ein Zeuge war, der... welcher Zeuge? Welches Verbrechen? Diese Dinge gab es nicht mehr.

Der Junge schaffte es irgendwie zur Couch und ließ sich dort sinken. Er wusste weder, dass die Spritze ihn über die Grenze der Abhängigkeit geschubst hatte, noch, dass er soeben eine Hölle betreten hatte, die seine momentane Situation wie ein Paradies erschienen ließ. Er befand sich auf dem direkten Weg zum Teufel höchstpersönlich.

3. Kapitel

Hätte Tarek gewusst, was Heroin mit ihm anstellen würde, hätte er Ledion das Zeug aus der Hand geschlagen und ihn angeschrien. Er war nicht vollkommen ahnungslos gewesen. In der Schule und in den Medien hieß es immer, dass Drogen böse seien, und Tarek hatte sich aus Langeweile mal über die Wirkung und Folgen verschiedener Substanzen informiert, aber dass Heroin wirklich so schlimm war, hatte er nicht geahnt und seine Einstellung, dass eh alles scheißegal war, hatte nicht besonders viel geholfen, die Finger von dem Zeug zu lassen.

Ohne Heroin hätte es vielleicht noch Hoffnung gegeben. Tarek hätte sich der Polizei stellen, im Gericht aussagen, danach in eine Pflegefamilie oder ein Kinderheim kommen und ein halbwegs normales Leben führen können. Das wäre sicherlich eine Möglichkeit gewesen, aber... Tarek hatte sich dagegen entschieden. Er wollte seinem alten Leben den Rücken kehren und nie wieder zurückblicken.

Aber all das war sowieso nicht mehr wichtig. Alles, was für Tarek noch eine Bedeutung hatte, war Heroin. Helles Pulver, das einen, nachdem man es durch Hitze zum Schmelzen gebracht und sich anschließend injiziert hatte, ins Land der schönsten Träume und wildesten Vorstellungen beförderte.
 

Leider war Heroin teuer und Ledion hatte nicht immer welches auf Lager. Er sagte Tarek, dass er ihm eine Portion geben würde, wenn er dafür bezahlte, und Tarek, dessen Gedanken bereits vollständig von der Droge vergiftet worden waren, stimmte zu, wissend, dass es für ihn nur eine einzige Möglichkeit gab, schnell an eine Menge Geld zu kommen.

Prostitution.

Tarek erschauerte bei dem Gedanken. Er wollte seine Unschuld nicht an einen alten, dreckigen, widerlichen und perversen Mann verlieren, der in ihm nur ein Stück Fleisch sah. Das war das Klischee eines Freiers und Tarek konnte nach ein paar Fragen an die Mädchen aus Ledions Gang bestätigen, dass das Klischee nicht der Wahrheit entsprach, aber ziemlich nah an ihr grenzte.

Freier waren nicht zwingend alt und dreckig, aber es stimmte, dass die meisten von ihnen ungewöhnliche Fetische und Vorlieben hatten, die so abstoßend waren, dass sie sie nicht mit normalen Menschen ausleben konnten, sondern stattdessen jemanden bezahlen mussten, der den Mist schweigend mitmachte und sich nicht darüber beschwerte, wie einen Gegenstand behandelt zu werden.
 

Eines der Mädchen hatte gesagt, dass man ganz selten auch mal Glück haben und jemanden erwischen konnte, der sich bloß mit Minderjährigen vergnügte, weil er momentan keine Lebensgefährtin oder einfach zu viel Geld besaß. Tarek hatte ihr aufmerksam zugehört, aber schon längst beschlossen, dass er es nicht so weit kommen lassen würde. Sein Plan war es, sich einen Freier auszusuchen, den er betrügen oder ausrauben konnte. Das würde zwar langfristig nicht funktionieren, aber an die Zukunft dachte Tarek nicht. Für ihn zählten nur die nächsten Stunden und die Belohnung für seine Mühe. Über das, was danach kam, konnte er nicht nachdenken; Das Heroin ließ solche Gedanken nicht zu.

Sobald es draußen dunkel wurde, verließ Tarek den Keller und stellte sich an eine Straße, an der bereits einige Kinder standen. Mehr als die Hälfte von ihnen waren jünger als Tarek, was ihn verstört die Stirn runzeln und weiterziehen ließ. Er erreichte einen Straßenrand, auf dem weniger los war, aber bei dem Anblick der Autos, die hier vorbeifuhren, machte der Junge instinktiv zwei oder drei Schritte rückwärts.
 

Der erste Mann könnte vom Alter her Tareks Vater sein, grinste ihn dreckig an und fuhr weiter. Der zweite war noch älter, hielt an und antwortete auf Tareks Frage, was für Vorlieben er hätte, dass er Dinge verlangen würde, die man normalerweise eher auf der Toilette tun würde, woraufhin Tarek sich auf dem Absatz umdrehte und fast kotzen musste. Der dritte war ziemlich jung, höchstens zwanzig, und wirkte recht sympathisch, aber Tarek rannte trotzdem weg. Irgendetwas sagte ihm, dass er morgen nicht mehr leben würde, wenn er in dieses Auto stieg.

Genervt schlenderte Tarek durch die Straßen. Es war bestimmt schon eine ganze Stunde vergangen und er war seinem Heroin keinen einzigen Schritt näher gekommen. Vielleicht sollte er--

Als Tarek in eine schmale Straße einbog, fiel ihm etwas Glänzendes ins Auge. Neugierig ging er darauf zu und entdeckte ein Auto, das wirklich schnieke aussah. Es war pechschwarz, besaß ein sauberes Schimmern und fiel zwischen den Schrottkarren in der Nähe auf wie ein bunter Hund. Tarek kannte sich mit dem Wert von Fahrzeugen nicht aus, aber er würde seine Hand darauf verwetten, dass diese majestätische Schönheit eines Sportwagens so viel wert war wie ein ganzer LKW voller Heroin.
 

„An deiner Stelle würde ich meine Finger davon lassen.“
 

Erschrocken fuhr Tarek herum und erblickte einen Mann, den er gar nicht wahrgenommen hatte, weil er zu sehr von dem hübschen Auto abgelenkt gewesen war. Der Kerl schien aus dem Ausland zu stammen; sein Albanisch hatte einen seltsamen Akzent und mit seinen strohblonden Haaren fiel er noch stärker auf als das Auto, das... ihm gehörte?

Der Mann lehnte sich gegen die Autotür, holte sein Handy hervor und führte ein Gespräch in einer Sprache, die Tarek nicht verstand. Der Junge starrte wie ein kleines Kind zu dem Mann hoch und musterte ihn von oben bis unten. Er überragte Tarek um mehr als einen ganzen Kopf und hatte einen muskulösen Körper, blasse Haut und zwei Augen, die vom Weiten blau aussahen, aber sich bei näherer Betrachtung als eine Mischung aus blauer, grüner und grauer Farbe herausstellten.

Der Mann beendete sein Telefonat, ließ das Handy in der Innentasche seiner Jacke verschwinden, seufzte genervt und sah zu Tarek.

„Du bist ja immer noch hier. Müsstest du um diese Uhrzeit nicht zu Hause sein?“

„Glaub mir, ich würde, wenn ich eins hätte.“
 

„Was machst du dann hier draußen?“

„Was würdest du denn vermuten?“, erwiderte Tarek, woraufhin der Mann verstand, dass es sich bei seinem Gegenüber um ein Straßenkind handelte. Tarek konnte ihm dieses Missverständnis nicht verübeln, schließlich tat er alles in seiner Macht Stehende, um sein Äußeres nicht verkümmern zu lassen.

„Ein paar Scheine müssten genügen“, fügte er hinzu, woraufhin der Blonde seine Augenbrauen hob, die ihm Vergleich zu seinen Haaren eher dunkel waren.

„Danke für das Angebot, Kleiner, aber ich muss ablehnen. Du bist mir zu jung“, sagte er und stieg in sein Auto.

„Ich bin 16.“

„Ja, und ich bin Putin.“

Tarek meinte, diesen Namen irgendwann mal in der Schule gehört zu haben, aber ihm fiel kein Gesicht dazu ein. Wortlos beobachtete er, wie der Mann die Tür hinter sich schloss und den Motor starten wollte, als er plötzlich einen kurzen Anruf bekam, der nur eine halbe Minute dauerte.
 

Der blonde Typ seufzte so dramatisch, als hätte er den Glauben an die Menschheit verloren, und rieb sich müde über das Gesicht, ehe er das Fenster herunterfahren ließ und zu Tarek schaute.

„Hast du irgendwelche Bedingungen?“

„Nur mit Kondom und kein komisches Zeug.“

„Definiere ''komisch''.“

„Alles, was eklig oder abartig ist.“

„Steig ein.“

„Erst das Geld.“

Der Mann holte sein Portemonnaie hervor und drückte Tarek wahllos ein paar Scheine in die Hand. Für einen kurzen Augenblick spielte der Junge mit dem Gedanken, schnell wegzurennen, aber das Risiko, dass der Mann ihn einholen könnte, war ihm zu groß. Außerdem schien der Kerl eine Menge Knete zu besitzen. Wenn es Tarek gelingen sollte, ihn in die Ohnmacht zu befördern und auszurauben, könnte er sich vielleicht einen Lebensvorrat an Heroin und ein besseres Leben leisten.
 

Tarek stieg ins Auto, stellte sich vor und führte ein wenig Smalltalk mit dem Mann, der, wie er herausfand, auf den Namen Jakov hörte und aus Russland kam. Auf die Frage, was ein Russe in Albanien machte, antwortete er bloß, dass er wegen einer Geschäftsreise hier war und in einer halben Woche wieder gehen würde.

Nach einer kurze Weile kamen die beiden an einem kleinen, aber luxuriösen Hotel an, das Tarek schon einige Male gesehen hatte. Sein Vater war ein hohes Tier bei der Polizei gewesen und hatte auch mit Beamten aus anderen Ländern zusammengearbeitet, von denen die meisten hier übernachtet hatten.

Jakov parkte auf einem der Parkplätze, die sich direkt vor dem Eingang befanden, und führte Tarek zu seiner Residenz, das kein gewöhnliches Zimmer, sondern das Penthouse war. Tareks braune Augen fielen sofort auf die Lampe, die neben dem Bett auf dem Nachttisch stand. Ihr Ständer sah schwer aus. Tarek müsste sie nur zu fassen kriegen und sie Jakov mit voller Wucht auf den blonden Schädel hauen.

Ich glaube nicht, dass es ihn groß stören wird, wenn ich sein Geld mitgehen lasse. Ich meine... bei dem Reichtum, den er anscheinend besitzt, wird er den Verlust nicht mal bemerken.
 

Während der Junge über weitere Möglichkeiten nachdachte, den Russen zu hintergehen, zog sich dieser in aller Seelenruhe seine dünne Jacke aus und hing sie über die Lehne eines Stuhls. Er legte sein Handy – etwas, das Tarek sich auf jeden Fall unter den Nagel reißen würde – auf dem Tisch ab und entledigte sich seiner goldenen Armbanduhr, die Tarek ebenfalls nicht hier lassen würde. Anschließend setzte er sich auf das Bett und sah seinen Gast nachdenklich an.

„Kannst du mir irgendwie beweisen, dass du wirklich 16 bist?“

„Ich bin nur noch fünf Monate von 17 entfernt, aber nein, ich kann es dir nicht beweisen. Du wirst mir vertrauen müssen.“ Jakov wirkte nicht überzeugt. „Ich verstehe nicht, warum das so ein Problem für dich ist. Der Durchschnitt aller Kinder, die sich verkaufen, ist etwa zwölf. Volljährige wirst du da draußen nicht finden; niemand will die.“

„Es ist ein Problem für mich, weil ich nicht später herausfinden möchte, dass ich es mit einem Kind getrieben habe.“

Tarek blinzelte verwirrt. Hatte er sich das nur eingebildet oder zeigte dieser Mann wirklich so etwas wie Anstand? Irgendwie bereute er seine Entscheidung, ausgerechnet Jakov als sein Opfer gewählt zu haben, aber der Kerl hatte sowieso mehr Geld als er brauchte.
 

„Ich verspreche es dir – ich bin 16 und somit in dem Alter, in dem ich dir bewusst meine Einwilligung zum Sex geben kann. Können wir jetzt, wo das geklärt ist, endlich anfangen?“

„Du kannst es wohl kaum erwarten, hm?“

Tarek lächelte und dachte an all das Geld, das er Jakov aus der Tasche ziehen würde. Er ging auf den Russen zu, setzte sich auf seinen Schoß und schlang die Arme um seinen Hals. Ein souveränes Gefühl machte sich in ihm breit, aber er fühlte sich nicht mehr ganz so selbstsicher, als Jakov ihn plötzlich küsste und anfing, seine dominante Seite zu zeigen.

Tarek gab sein Bestes, sich nicht zu verkrampfen. Er spürte Jakovs Lippen auf seinem Mund und zwei warme Hände unter seinem T-Shirt, wo sie ihm zärtlich, aber auch verlangend über die nackte Haut strichen. Für Tarek war so intimer Kontakt mit einem anderen Mann ungewöhnlich, weil er es noch nie zuvor getan und auch nicht in den Medien gesehen hatte, aber um ehrlich zu sein... es war eigentlich nur halb so wild. Irgendwie hatte er es sich viel schlimmer vorgestellt.

Jakov löste sich kurz von Tarek, um ihm das Oberteil auszuziehen, ehe er wieder die rosigen Lippen des Jungen in Anspruch nahm. Tarek erwiderte den Kuss sogar leicht, während er flüchtig nach links sah, wo die Lampe stand. Er hatte nur eine einzige Chance.
 

Jakov ließ den Albaner von seinem Schoß gleiten, drückte ihn rechts neben sich auf die Matratze und beugte sich über ihn, die Lippen immer noch auf die seines Gegenübers gepresst. Eigentlich waren Jugendliche und junge Männer wie Tarek genau sein Typ, aber das Wissen, dass wahrscheinlich schon andere Kerle an den Stellen waren, die er sich vornehmen wollte, störte ihn ein bisschen.

Tarek beobachtete, wie Jakov von seinem Mund abließ und an seinem Hals weitermachte. Jetzt war die perfekte Gelegenheit. Die Lampe stand nur wenige Dezimeter von ihm entfernt. Er musste bloß seine Hand nach ihr ausstrecken, langsam, damit Jakov keinen Verdacht schöpfte, sie ergreifen und dann--

Seine Fingerspitzen und die Lampe trennten nur noch ein paar Zentimeter, als sich plötzlich eine kräftige Hand um Tareks zierliches Handgelenk schlang. Im gleichen Moment versenkte Jakov seine Zähne in Tareks Halsbeuge und biss so fest zu, dass dem Jungen ein überraschter Schrei entwich.

„Du kleines Miststück“, fauchte der Ältere. Er setzte sich aufrecht hin und sah zornig auf Tarek nieder, der erst jetzt realisierte, was passiert war. Jakov hatte seinen Unterarm umfasst und drückte so fest zu, dass es wirklich wehtat.
 

„J-jakov, ich--“

„Spar dir deine Ausreden.“

Mit einem starken Ruck wurde Tarek vom Bett gezogen. Von der unerwarteten Bewegung völlig überrumpelt, verlor er beinahe das Gleichgewicht, aber Jakov hatte ihn an beiden Handgelenken gepackt und ließ partout nicht los.

„Was sollte das werden, hm? Wolltest du mich angreifen?“

„Nein, i-ich... ich wollte nur, dass--“

„Ich aufhöre? Das hättest du nur sagen müssen.“ Er legte eine Hand auf Tareks Schulter und schüttelte ihn einmal kräftig. „Sei wenigstens ehrlich, Tarek. Du wolltest eine ziemlich miese Nummer abziehen.“

Tarek schluckte nervös und sah hilflos zu Boden. Alles war so schnell passiert; gerade eben hatte er die Situation noch unter Kontrolle gehabt und jetzt--

„Zieh dich aus“, befahl Jakov, woraufhin Tarek ihn geschockt ansah.

„N-nein“, stammelte er ängstlich. „Hör zu, i-ich gebe dir de-dein Geld zurück und--“

„Vergiss es, Tarek, so leicht kommst du mir nicht davon.“
 

Der Junge erkannte, dass er keine andere Wahl hatte. Zögernd lockerte er seinen Gürtel, öffnete seine Jeans und ließ sie zu Boden gleiten. Seine Schuhe und Socken hatte er schon davor ausgezogen. Jetzt trug er nur noch seine Boxershorts, die um jeden Preis anbehielt; er würde lieber sterben als nackt von einem fremden Mann gesehen zu werden.

Kaum hatte er sich von seiner Hose getrennt, wurde er von Jakov gepackt und über dessen Schoß gelegt. Eine große Hand klatschte auf seinen nur von einer dünnen Stoffschicht geschützten Hintern und ließ ihn erschrocken Luft holen.

„Sag mir, Tarek, haben dir deine Eltern nie beigebracht, dass man andere Leute nicht anlügen soll?“ Ein weiterer Hieb folgte. „Oder sogar beklauen?“

„Nimm deine Hände von mir“, knurrte der Junge zwischen zusammengebissenen Zähnen. Er verstand erst jetzt, in welcher Lage er sich befand – er war alleine mit einem Mann, der ihm kräftemäßig um Welten überlegen war und weiß Gott was mit ihm anstellen könnte.

„Sei still“, zischte Jakov und schlug ganze vier Male zu. „Du sprichst nur, wenn du gefragt wirst.“
 

Tarek mahlte wütend mit den Kiefern und stemmte seine nackten Füße gegen den gefliesten Fußboden, was ein leises Quietschen erzeugte. Die Schmerzen, die jeder Hieb durch sein Gesäß jagte, waren alles andere als angenehm, aber was ihn wirklich ärgerte, war diese demütigende Position. Er wollte sich aus Jakovs Griff winden und ihm in seine überlegen schmunzelnde Visage schlagen.

„Lass mich gehen!“

„Du wirst absolut nirgendwo hingehen, bevor du deine Lektion nicht gelernt hast“, erwiderte Jakov ruhig und verteilte weitere Schläge auf Tareks Hintern. Immer wieder traf er mit seiner Handfläche die Kehrseite des Jungen, der die Qual schweigend hinnahm, obwohl er am liebsten wütend geschrien hätte. Wäre er eine Katze oder ein Hund, würde er jetzt so laut knurren, dass es einem zerstörerischen Gewitter glich.

Jakov legte eine Pause ein und gönnte Tareks pochendem Gesäß eine Pause, ehe er den Saum seiner Boxershorts umfasste und nach unten zog, woraufhin ein geröteter Hintern zum Vorschein kam und Tarek wie am Spieß zu schreien begann.
 

„Sei ruhig“, fauchte Jakov und verpasste ihm einen ziemlich harten Schlag. „Ich lasse mich nicht übers Ohr hauen und erst recht nicht von jemanden wie dir. Du wirst diesen Raum erst wieder verlassen, wenn du mir versprichst, keine Leute mehr zu beklauen.“

„Fick dich, du arrogantes Stück Scheiße!“

Jakov ließ sich das nicht gefallen. Er hieb so lange auf den entblößten Hintern ein, bis die karamelfarbene Haut einen scherzhaft aussehenden Rotton angenommen hatte und Tarek sich nicht mehr wehrte.

„Lass mich los“, wisperte der Junge, der die Schmerzen kaum noch aushalten konnte und mit seinen Tränen kämpfte. „Das war nicht Teil unserer Abmachung.“

„Erstens war es das sehr wohl – das hier ist weder ekelerregend noch abartig – und zweitens bist du hier derjenige, der sein eigenes Ding durchziehen wollte.“ Er holte weit aus, schlug Tarek mit so einer Wucht auf das Gesäß, dass der Kleine aufschrie, und ließ seine Hand auf der glühenden Haut liegen. „Wie wäre es mit einer Entschuldigung?“

„Wie wäre es, wenn du deine Hand von meinem Arsch nimmst?“, giftete Tarek gereizt, woraufhin Jakov genervt seufzte und beschloss, diese Bestrafung nicht zu beenden, sondern den nächsten Schritt zu gehen.
 

Er ließ von Tarek ab und befahl ihm, sich so vor das Bett zu hocken, dass seine Knie den Boden berührten und sein Oberkörper auf der Matratze lag.

„Ganz ehrlich, Tarek: Du solltest froh sein, dass du an mich geraten bist. Andere Menschen hätten an meiner Stelle noch ganz andere Dinge mit dir gemacht“, sagte Jakov, während er seinen Gürtel aus den Laschen seiner Jeans zog. „Und jetzt entschuldige dich.“

„Es tut mir leid... dass ich ausgerechnet so ein Arschloch wie dich erwischen musste.“

Jakov quittierte das mit einem Hieb seines Gürtels. Das Leder klatschte laut auf die ungeschützte Haut und entlockte dem Jungen einen Schmerzensschrei.

„Es tut mir leid!“, rief der Kleine panisch und spürte, wie ihm die ersten Tränen über das Gesicht liefen. Er hätte sich niemals auf Jakov einlassen sollen.

„Sehr schön. Und jetzt versprichst du mir, die Finger vom Eigentum fremder Menschen zu lassen.“

Tarek antwortete nicht sofort, was Jakov als Anlass sah, ihm einen weiteren Schlag zu verpassen, woraufhin der Junge sofort nachgab.

„Ich verspreche es!“, jammerte er. „Bitte, hör auf!“
 

Jakov fand auch, dass es genug war, aber nicht, bevor er noch einmal weit ausholte und so feste zuschlug, dass Tarek einen Schrei von sich gab, der durch Mark und Bein ging, und sich vor Schmerz aufbäumte. Bis jetzt hatte er seine Tränen mehr oder weniger unterdrücken können, doch nach diesem Schlag verlor er die Kontrolle und begann mitleiderregend zu schluchzen. Jakov hingegen war höchst zufrieden. Jemanden zu bestrafen und zu erziehen, der nicht parieren wollte oder sich danebenbenahm, war genau sein Ding. Jetzt fehlte nur noch, dass er dem Jungen als Belohnung für das Ertragen der Schmerzen einen Orgasmus bescherte und ihn anschließend in seinen Armen hielt und liebkoste. Genau so sah für Jakov eine zufriedenstellende Nacht aus, aber Tarek würde nach dem ersten der drei Dinge sicherlich weder das zweite noch das letzte zulassen.

„Zieh dich an, dann bringe ich dich zurück“, sagte der Russe, während er auf sein Handy schaute und enttäuscht feststellte, dass ihm ein gewisser Jemand immer noch keine Antwort geschickt hatte. Er sah im Augenwinkel, dass Tarek hastig seine Klamotten zusammenklaubte, und griff nach seinem Portemonnaie, um dem Jungen ein wenig Trinkgeld zu geben, als er plötzlich hörte, wie die Tür ins Schloss fiel. Tarek hatte sich in Windeseile angezogen und Reißaus genommen.

4. Kapitel

Alron hatte Tarek noch nie so wütend erlebt. Schon bevor der 16-Jährige den Keller betrat, konnte man die Spannung in der Luft spüren, und als er dann schließlich erschien, bekam Alron die Befürchtung, Tarek würde jeden Moment explodieren und alles im Umkreis von drei Meilen dem Erdboden gleichmachen.

„Was ist passiert?“, fragte der Jüngere, woraufhin Tarek ein aggressives Schnauben von sich gab, das klang, als würde er Feuer speien.

„Gar nichts!“, zischte er so wütend, dass Alron erschrocken zurückwich, und ging zu Ledion, dem er ein paar Geldscheine vor die Füße schmiss. „Da.“

„Redest du so mit deinem Boss?“

„So rede ich mit jemanden, dem ich gleich den Arsch aufreißen werde, wenn er mir nicht sofort meinen Stoff gibt!“

Ledion überlegte für einen kurzen Moment, Tarek zurechtzuweisen und ihm ein paar Manieren einzuprügeln, aber ein zorniger Gott war niemand, mit dem er sich anlegen wollte, weshalb er schweigend das Geld aufsammelte und Tarek anschließend eine Tüte mit hellem Pulver überreichte.
 

Fünf Minuten später hatte sich Tareks Wut in Luft aufgelöst. Er hing wie ein Sandsack auf dem Sofa, lächelte zufrieden und schaute verträumt zur Zimmerdecke, an der sich die Spinnen tummelten. Er stellte sich vor, wie Jakov mit seinem Sportwagen unterwegs war und plötzlich von Männern ausgeraubt wurde, die sein schönes Auto demolierten, ihm sein gesamtes Geld abnahmen und ihn so sehr zusammenschlugen, dass er ins Krankenhaus musste.

Diese Vorstellung erfüllte Tarek mit tiefster Zufriedenheit. Er saß auf seinem goldenen Thron und rückte die mit Juwelen verzierte Krone zurecht, die schief auf seinem Kopf hing. Seine Eltern, die Männer, die ihm in dieser Nacht begegnet waren, und ein gewisses blondes Arschloch lagen unter dem roten Teppich und sahen gierig zu ihm hoch, aber völlig egal, wie sehr sie sich anstrengten, sie konnten Tarek nicht erreichen. Der Junge war unantastbar, unerreichbar und unsterblich.

Einige Stunden später sah die Welt nicht mehr so rosig aus. Tarek lag immer noch auf der Couch; er drehte sich auf den Bauch, weil sein Hintern wehtat und ihn daran erinnerte, was dieser arrogante Wichser mit ihm getan hatte.
 

Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, werde ich Steine auf sein Auto werfen. Was denkt dieser Arsch eigentlich? Dass er Sonderrechte besitzt, weil er reich ist? Dass ihm die ganze Welt inklusive ihrer Bewohner gehört? Dass ihm ein bisschen Geld das Recht gibt, seine körperliche Überlegenheit auszunutzen? Menschen wie er sind Abschaum.

Tarek zitterte vor Wut und Abscheu, aber auch aus einem anderen Grund. Er krümmte sich zusammen, presste beide Hände auf seinen Mund und begann nahezu lautlos zu weinen. Früher, als er noch bei seinen Eltern gewohnt hatte, war es ihm so gut wie Jakov ergangen. Er hatte Bildung, Geld, Sicherheit und all die anderen tollen Dinge gehabt, die man für ein gutes Leben brauchte, und jetzt, wo er sie verloren hatte, kam die Personifikation seines alten Lebens um die Ecke und schlug ihm wortwörtli--

„Tarek? Bist du wach?“

Angesprochener wischte sich eilig die Tränen aus dem hübschen Gesicht, ehe er sich aufrichtete, umdrehte und direkt in das Gesicht von Ledion sah, der einen knappen Meter vor ihm stand.
 

„Sorry wegen vorhin, Boss“, entschuldigte sich Tarek eilig, weil das Letzte, das er jetzt gebrauchen konnte, eine Standpauke war. „Ich... hatte eine ziemlich anstrengende Nacht.“

„Das glaube ich dir, aber ich wollte mit dir über etwas anderes reden.“ Ledion verschränkte die Arme vor der Brust. „Es geht um das Heroin. Wenn du so weitermachst, wirst du abhängig.“

„Und dann?“

„Dann wirst du dir entweder ständig welches spritzen müssen, was selbst du nicht finanzieren kannst, oder du endest wie der letzte Boss, der sich mit 'ner Überdosis den Rest gegeben hat.“

„Mach dir keine Sorgen um mich“, erwiderte Tarek gelassen. „Ich habe das unter Kontrolle.“

Ledion hob abschätzig die linke Augenbraue, ehe er sich von dem Jungen abwandte und in seine Ecke zurückzog. Tarek sah ihm nachdenklich hinterher und ging nach draußen, wo die Sonne gerade aufging und die ohnehin schon unerträglich schwüle Luft noch weiter erhitzte.
 

Nachdem er Alron gefunden hatte, der ein paar Straßen weiter zwischen zwei Mülltonnen hockte und an einer Käserinde knabberte, zogen die beiden durch das Viertel und schauten, ob sie irgendetwas Nützliches auftreiben konnten. Sie gaben sich wirklich Mühe, doch fanden leider nichts und waren nach gewisser Zeit so demotiviert, dass sie aufgaben und sich mit anderen Dingen beschäftigten. Tarek brachte Alron das Lesen bei, indem er Wörter auf den sandigen Boden schrieb und Alron sie auszusprechen versuchte, aber auch das wurde schnell langweilig.

Sie kehrten zum Keller zurück, wuschen sich mit abgestandenem und nach Müll riechendem Regenwasser die Mischung aus Staub und Schweiß von der Haut und legten sich aufs Ohr. Alron schlief wie ein Baby und träumte von den Buchstaben, die ihm beigebracht worden waren, aber Tarek wachte nach nur wenigen Stunden wieder auf, weil es ihm ziemlich mies ging. Seine Beine taten weh, er hatte Bauchschmerzen und vereinzelte Schweißperlen liefen über seine gebräunte Haut, obwohl ihm gar nicht warm war. Er zog sich hinter dem gammligen Sofa zurück und wollte seine Ruhe haben, aber natürlich musste Ledion ihn genau jetzt ansprechen.

„Tarek, ich habe eine Aufgabe für dich. Ich will, dass du... ist alles okay?“
 

Angesprochener zwang sich zu einem Nicken und ächzte leise. Eine kleine Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass eine Dosis Heroin genau das wäre, was er jetzt brauchte, um dieses Unwohlsein loszuwerden.

„Sicher?“, harkte Ledion nach.

„Ja, ich... ich hab' nur Kreislaufprobleme.“

„Okay. Also, wegen der Aufgabe... wir haben ein kleines Geldproblem.“

„Haben wir das nicht immer?“

„Ja, aber diesmal ist es besonders schlimm. Ich will, dass du uns ein wenig hilfst. Ob du es dafür mit 'nem Kerl treibst oder jemanden ausraubst, ist mir egal, Hauptsa--“

„Muss das sein? Mir geht es echt nicht gut. Kannst du nicht jemand anderen schi--?“

„Ach ja, wen denn? Die Mädchen, die sich alle wortwörtlich den Arsch aufreißen, die Kerle, die den ganzen Tag unterwegs sind, oder die beiden faulen Säcke, die nichts Besseres zu tun haben, als planlos durch die Stadt zu laufen?“
 

Tarek verstand, dass damit er und Alron gemeint waren, und seufzte genervt. Seine Beine schmerzten, als hätte er einen Muskelkater der ganz üblen Sorte, aber das hielt Ledion nicht davon ab, die beiden Jungs aus dem Keller zu schmeißen und ihnen nachdrücklich zu sagen, dass sie sich nützlich machen sollten.

„Und was tun wir jetzt?“, murmelte Alron und rieb sich verschlafen über das Gesicht. „Bitte nicht... das, was die Mädchen machen.“

„Keine Sorge, darauf hab' ich auch keinen Bock. Lass uns jemanden beklauen.“

Alron nickte und machte sich mit Tarek auf die Socken. Es war ein scheußliches Gefühl, jemanden, der genauso arm wie man selbst war, zu berauben, aber sie hatten keine andere Wahl. Das Leben auf der Straße war hart und unfair.

„Wir sollten uns aufteilen, dann geht es schneller“, sagte Tarek, als er und Alron eine T-förmige Kreuzung erreichten. Sie einigten sich darauf, in einer Stunde wieder zu diesem Ort zurückzukehren, und gingen getrennte Wege.
 

Es dauerte nicht lange, bis Tarek auf ein paar Mädchen im Alter von etwa zehn Jahren stieß, die am Straßenrand auf die abartigen Männer warteten, aber er brachte es nicht übers Herz, ihnen ihr Geld abzunehmen. Das, was sie für diese unaussprechlichen Dinge bekamen, war lächerlich wenig und dann mussten sie auch noch einen Großteil an ihren Zuhälter oder den Boss ihrer Gang abtreten und... nein, diese Mädchen litten bereits genug.

Tarek wandte sich von ihnen ab und stieß kurz daraufhin auf eine kleine Gruppe junger Männer, die--

Als Tarek erkannte, dass er es hier mit Mitgliedern von Luans Gang zu tun hatte, machte er auf dem Absatz kehrt und rannte um sein Leben. Bis jetzt war er der konkurrierenden Gang noch nicht persönlich begegnet und dem nach zu urteilen, was er von ihr gehört und gesehen hatte, war das auch ganz gut so.

Sein drittes potenzielles Opfer war eine alte Frau, die sicherlich ein bisschen Geld in ihrer Tasche trug, aber der Mann, der sie begleitete – vermutlich ihr Sohn oder ein anderer Verwandter – sah aus, als könnte er Tarek innerhalb weniger Sekunden einholen und zusammenschlagen, und darauf konnte der Junge getrost verzichten.
 

Nach der erfolglosen Stunde blieb Tarek nichts anderes übrig, als an den Treffpunkt zurückzukehren und zu hoffen, dass Alron mehr Glück gehabt hatte. Er wartete, doch von dem 13-Jährigen fehlte jede Spur. Tarek wurde langsam nervös. Befürchtend, dass dem Jüngeren etwas zugestoßen sein könnte, folgte er der Straße, die Alron eingeschlagen hatte, und kam wenige Minuten später zu einer Kurve, hinter der er Stimmen vernehmen konnte.

„Ich weiß nicht, wo er ist, aber ich wollte mich gleich mit ihm treffen. Dann kann ich ihn zu Ihnen schicken, wenn Sie möchten.“

Das ist Alron. Redet er über mich? Und wenn ja, mit wem?

Tarek hatte eine ungute Vermutung, die sich leider bestätigte, als die andere Person antwortete.

„Danke, das wäre sehr hilfreich.“

Er spähte um die Hausecke, die aus einer rotbraunen Mauer bestand, und sah das, was er ohnehin schon wusste. Alrons Gesprächspartner war niemand Geringeres als ein gewisses blondes Arschloch mit einem protzigen Sportwagen.
 

„Darf ich Sie fragen, aus welchem Land Sie kommen?“, fragte Alron, der so fasziniert von dem Ausländer und dessen Auto war, dass er Tarek, der sich eigentlich in seinem Sichtfeld befand, überhaupt nicht wahrnahm.

„Aus Russland.“

„Echt? Ich dachte, Sie kommen aus Deutschland.“

„Warum denkst du das?“

„Wegen Ihrem Aussehen. Tarek hat gesagt, dass alle Menschen in Deutschland blonde Haare und blaue Augen haben.“

Während Jakov, der Tarek den Rücken zugedreht hatte und ihn deswegen nicht bemerkte, leise lachte, zog Tarek sich hinter die Mauer zurück und schlug seine Hand lautlos gegen seine Stirn. Er hatte gesagt, dass es ein Klischee war, dass alle Menschen in Deutschland so aussahen, und nicht dass das der Wahrheit entsprach.

„Ich hoffe mal, dass er dir nicht auch die anderen Dinge erzählt hat, die über Deutsche gedacht werden“, sagte Jakov. Allein seine tiefe Stimme zu hören, löste Aggressionen in Tarek aus. Er wollte diesem arroganten Wichser so heftig ins Gesicht schlagen, dass ihm die Zähne ausfielen.
 

Mutig kam er hinter der Hausecke hervor und rief mit klarer Stimme: „Alron, komm von diesem Mann weg!“

Jakov sah nicht zu Tarek, sondern zu Alron, um zu schauen, ob er auf den Befehl hören würde, aber Alron hatte die Entfernung zwischen sich und Tarek bereits überwunden und versteckte sich hinter dem Älteren. Das Vertrauen zu seinem Gott war größer als die Bewunderung des Russen.

Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen. Grillen und andere Insekten zirpten leise, Autobremsen quietschten einige Straßen weiter und irgendwo in der Ferne bellte ein Hund. Die Sonne war schon lange untergegangen, aber es war immer noch unerträglich heiß. Tareks dünnes T-Shirt klebte an seiner Haut und einige seiner schwarzen Haarsträhnen hafteten feucht an seiner Stirn.

„Ganz ruhig, Kleiner, ich will nur mit dir reden.“

Als Antwort fauchte Tarek ein paar Schimpfwörter, die so heftig waren, dass Alron erschrocken Luft holte.

„Du solltest dich glücklich schätzen, dass ich nicht weiß, was du gerade gesagt hast“, erwiderte Jakov gelassen, aber mit einem leichten Anflug von Zorn. „Kommst du jetzt?“
 

„Vergiss es“, zischte Tarek hasserfüllt, ehe er sich umdrehte und zügig von dannen zog. Alron folgte ihm wie ein zweiter Schatten.

„Kennst du diesen Mann?“

Tarek wollte antworten, dass Jakov jemand war, der es mit Kindern trieb und sich nicht an Vereinbarungen hielt – dass das eine Lüge war, interessierte ihn nicht – aber dann fiel ihm ein, dass Alron ihn danach fragen würde, was daran so schlimm war. Freier, die sich Minderjährige suchten und mit ihnen Dinge taten, die an einer Vergewaltigung grenzten, waren gang und gäbe.

„Halt dich von ihm fern“, presste Tarek zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Er ist die Sorte Mensch, die einen zum Kotzen bringt.“

Die beiden Jungs bogen in die nächste Straße ein und steuerten direkt auf den Keller zu, für den sie leider noch einiges an Weg zurücklegen mussten. Tarek wunderte sich, warum Jakov so schnell aufgegeben hatte, doch er hatte sich zu früh gefreut.

„Bist du wütend wegen gestern?“
 

Hätte Tarek etwas in der Hand gehabt, würde er diesen Gegenstand jetzt nach Jakov werfen, der in sein Auto gestiegen war und neben den zwei Jugendlichen herfuhr.

„Komm schon, Kleiner, ich will nur mit dir reden. Ich bezahle dich auch.“

„Schieb dir dein Geld in den Arsch“, fauchte Tarek zurück und beschleunigte sein Tempo. Alron musste laufen, um mit ihm Schritt halten zu können.

„Tarek, warte“, murmelte der Jüngere zaghaft. „Warum lässt du dich nicht auf ihn ein? Er hat Geld.“

„Ja, und weißt du, was er noch hat? Ein gewaltiges Ego, eine scheußliche Arroganz und den Glauben, dass er etwas Besseres ist, nur weil er Geld besitzt.“

„Aber wenn wir mit leeren Händen nach Hause kommen, wird Ledion uns umbringen...“

Tarek ging weiter und ignorierte sowohl Alron als auch Jakov, der immer noch neben ihnen auf der Straße fuhr.

„... und keinen Stoff geben.“

Er blieb so abrupt stehen, dass Alron beinahe gegen seinen Rücken prallte.
 

„Tarek?“

Angesprochener antwortete nicht, sondern ballte die Hände zu Fäusten und knirschte mit den Zähnen. Die Schmerzen in seinem Bauch und in seinen Beinen waren bis jetzt nur stärker geworden und Tarek würde absolut alles dafür tun, an sein geliebtes Heroin zu kommen, das mit seiner schmerzlindernden Wirkung genau das war, was er jetzt brauchte. Er musste nur seinen Stolz herunterschlucken und zu diesem Kotzbrocken ins Auto steigen...

„Ich will das Doppelte von gestern“, verlangte er und sah zu Jakov, dessen triumphierendes Grinsen ihn fast zum Explodieren brachte.

„Das ist ziemlich viel, wenn man bedenkt, dass ich nur mit dir reden werde.“

„Drei Straßen weiter gab es einen Typen, der das Gleiche gesagt hat. Er sitzt jetzt wegen Vergewaltigung und Ermordung einer Achtjährigen im Gefängnis.“

„Willst du mir unterstellen, dass ich lüge?“

„Lügen musst du nicht – du tust auch so, was dir gerade in den Kram passt.“
 

„Pass auf, Tarek: Wir fahren jetzt zu mir, dann reden wir miteinander und danach werde ich dir Geld geben. Sollte es zu etwas Sexuellem kommen, was ich aber bezweifle, weil du offensichtlich keine Lust hast, werde ich mich dafür erkenntlich zeigen, aber das ist völlig optional. Ich möchte wirklich nur mit dir reden.“

„Wenn du mir etwas zu sagen hast, dann tu es doch einfach.“

„Nur unter vier Augen.“

Tarek hatte ein mieses Gefühl bei der Sache. Er wollte nicht, dass sich die Geschehnisse von gestern wiederholten oder Jakov etwas noch Schlimmeres tat, aber... der Kerl war eine sichere Geldquelle. Es hing von ihm ab, ob Tarek heute noch sein Glück im Pulverform kriegen würde, ohne das er einfach nicht leben konnte.

Mach es einfach, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Selbst wenn er dich vergewaltigt – sobald du dir den nächsten Schuss setzt, ist das alles nicht mehr präsent. Augen zu und durch.

Tarek seufzte, ehe er in den Sportwagen von Jakov stieg und mit dem Russen hinter der nächsten Ecke verschwand.

5. Kapitel

„Also – was willst du?“

Jakov antwortete nicht, sondern ließ sich seufzend auf das große Doppelbett fallen, dessen weißer Bezug gut zu den hellen Fliesen passte. Generell sah dieses Zimmer umwerfend aus; die Möbel bestanden aus hochwertigem Holz, kühle Nachtluft kam durch die riesigen Fenster und zupfte sanft an den sandfarbenen, bis zum Boden reichenden Gardinen und es gab eine Tür zur Dachterrasse, die mit einem Pool ausgestattet war und einen großartigen Ausblick auf die Stadt bot. Allerdings konnte man Letzteren nicht genießen – niemand stand gerne im luxuriösen Penthouse und sah auf hungernde Kinder, Leid und Elend nieder.

„Ich möchte dir ein Angebot unterbreiten“, sagte Jakov schließlich und setzte sich aufrecht hin. Tarek hatte mittlerweile auf der bronzefarbenen Couch Platz genommen. „Wie du vielleicht noch weißt, werde ich bald nach Hause zurückkehren. Morgen früh, um genau zu sein.“

„Schön, dann bin ich dich endlich los.“

Jakov seufzte erneut. „Ich wollte dich fragen, ob du mitkommen möchtest.“
 

„Warum sollte ich das wollen?“

„Ach, ich weiß nicht... vielleicht weil ich dir Dinge bieten kann, die dir echt nicht schaden würden? Dinge wie warme Mahlzeiten, ein Dach über dem Kopf, medizinische Versorgung, Sicherhei--“

„Und was willst du als Gegenleistung?“

„Dass du mein persönliches Spielzeug wirst.“

Tarek verspürte plötzlich das dringende Bedürfnis, sich zu übergeben. Was ihn an der Vorstellung störte, nackt auf Jakovs Schoß zu sitzen und einen bestimmten Part seines Körpers zu berühren, war weder die Tatsache, dass Jakov ein Kerl war, noch dass er mit ihm Sex hatte, sondern die Erinnerung an den gestrigen Abend, an dem Jakov jedes ''Nein!'' und ''Bitte hör auf!'' bewusst ignoriert hatte.

„Nein danke. Vergewaltigen lassen kann ich mich auch woanders.“
 

„Ich habe dich nicht vergewaltigt und das werde ich auch nicht.“

„Für das, was du gestern getan hast, habe ich dir keine Einwilligung gegeben und das wusstest du auch.“

„Das war kein Sex, sondern nur eine Bestrafung.“

„Wenn du mich wirklich nur bestrafen willst, dann mach es wie ein Mann und schlag mir in die Fresse.“

„Nein. Das würde dein hübsches Gesicht ruinieren“, sagte Jakov mit einem arroganten Schmunzeln, für das Tarek ihm gerne aufs Maul geschlagen hätte. „Um zum Thema Einwilligung zurückzukommen – Sex werden wir nur haben, wenn du einverstanden bist, bei Bestrafungen bist du jedoch meinen Launen ausgeliefert. Sei ein artiger Junge, dann hast du auch nichts zu befürchten.“

Tarek meinte die Magensäure schon schmecken zu können.
 

„Jakov, ich werde jetzt meine ehrliche Meinung mit dir teilen. Wahrscheinlich wirst du mich dafür wieder schlagen, aber das Risiko ist es mir wert.“

Angesprochener wollte etwas erwidern, aber Tarek ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Dort draußen gibt es abscheuliche Menschen. Menschen, die nicht nur Sex mit jemanden wollen, sondern auch verlangen, dass man sich tot stellt, sich mit Blut oder Fäkalien einreibt oder so tut, als wäre man ein Grundschulkind.“

„Solche Vorlieben besitze ich nicht, falls du darauf hinauswillst“, sagte Jakov angewidert, aber Tarek ignorierte ihn.

„Als du mich gestern mehrmals gefragt hast, ob ich wirklich 16 bin, habe ich dich für einen anständigen Menschen gehalten. Ich war positiv überrascht, nur um danach enttäuscht zu werden. Du bist genauso unmenschlich und krank wie die anderen Menschen dort draußen.“

„Achte auf dein Mundwerk, Kleiner, sonst liegst du gleich über meinem Knie.“
 

„Oh, Verzeihung, habe ich dich etwa beleidigt? Mag Jakov es nicht, wenn die Menschen um ihn herum ihm ausnahmsweise mal nicht in den Arsch kriechen, sondern ihm zeigen, was für ein egoistisches Arschloch er ist?“

„Tarek--“

Der Kleine erhob sich von dem Sofa, auf dessen Lehne er sich mit den Armen abstützte, während er seine Kehrseite zu Jakov drehte.

„Na los, mach es doch!“, rief er wütend und sah den Russen über seine Schulter hinweg an. „Schlag mich und vergeh dich an mir! Ignorier meine Schmerzensschreie! Behaupte, es sei nur halb so wild gewesen! Scheiß auf meine Menschenwürde! Schließlich bin ich nur ein käuflicher Gegenstand!“

„Tarek, es reicht jetzt.“

„Sorry, Jakov, ich kann dich nicht hören. Dein gewaltiges Ego ist zu laut. Es sagt: ''Scheiß auf den Jungen; Hauptsache, ich habe meinen Spaß''!“
 

Jakov ließ sich das nicht länger gefallen. Er überwand den Abstand zwischen sich und Tarek, packte ihn am Oberarm und drückte so feste zu, dass der Junge gequält ächzte.

„Es reicht jetzt, Tarek. Noch ein einziges Wort und wir werden das von gestern wiederholen.“

„Damit würdest du nur beweisen, dass ich recht habe“, presste der Kleine zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, woraufhin Jakov ihn nach draußen auf die Dachterrasse zog.

Tarek dachte im ersten Moment, dass der Ältere ihn über das Geländer werfen wollte, und begann sich zu wehren, aber gegen jemanden, der nicht nur zehn Jahre älter, sondern auch eineinhalb Köpfe größer war, hatte er keine Chance.

„Schau sie dir an“, verlangte Jakov und deutete auf eine Gruppe junger Mädchen, die am Straßenrand standen und auf einen Freier warteten. „Möchtest du so enden? Willst du ein billiges Stück Fleisch sein, das--?“
 

„Lass mich los!“, rief Tarek, aber das machte es nur noch schlimmer. Jakov schubste den Jungen nach rechts, drängte ihn in die Ecke und zeigte auf ein paar andere Leute; diesmal waren es einige Männer, die sich um einen brennenden Mülleimer versammelt hatten und mit irgendetwas zugange waren.

„Siehst du diese Junkies dort? Einer von ihnen ist vor ein paar Stunden gestorben. Seine Freunde haben ihn ''beerdigt'', indem sie ihn im nächstbesten Müllcontainer entsorgt haben.“

„Warum erzählst du mir das alles?“

„Weil du anscheinend nicht verstehst, was dort draußen wirklich los ist. Das ist kein Spielplatz, Tarek. Such dir Hilfe, bevor es zu spät ist.“

„Du bist der Letzte, den ich um Hilfe bitten würde!“, fauchte der Kleine, dem es endlich gelungen war, sich von Jakov loszureißen. Das Geschrei der beiden hallte durch die Straßen und brachte die Menschen in der Nähe dazu, neugierig nach der Quelle des Streites zu suchen, aber niemand konnte sie finden.
 

„Bitte gib mir noch eine Chance“, sagte Jakov, dessen kurzes blondes Haar von dem kühlen Wind zerzaust wurde. „Ich kann dir nahezu alles geben, was du willst.“

„Warum bist du so besessen von mir? Wir kennen uns erst seit gestern.“

„Ich weiß es nicht. Irgendetwas an dir lässt mich nicht zur Ruhe kommen.“

Tarek schwieg. Der Wind wurde immer stärker und blies ihm erbarmungslos das schwarze Stirnhaar in die Augen.

„Hast du momentan noch andere... ''persönliche Spielzeuge''?“, fragte er, als der Wind sich wieder beruhigt hatte.

„Nein.“

„Hattest du welche in der Vergangenheit?“

„Nein. Das waren bloß gewöhnliche Beziehungen, die nicht lange gehalten haben.“
 

„Kann ich den armen Kerlen, die sich mit dir abgeben mussten, nicht verübeln. Du bist ein Arschloch, Jakov. Niemand ist freiwillig in deiner Nähe. Alle sind nur hinter deinem Geld her. Und da bin ich keine Ausnahme.“

Mit diesen Worten ging Tarek wieder rein, nahm die Geldscheine an sich, die Jakov auf dem Tisch für ihn bereitgelegt hatte, und wollte das Zimmer verlassen, aber der Blonde hielt ihn auf.

„Ich werde morgen nicht mehr hier sein. Willst du wirklich gehen?“

„Ja. Ich glaube, die Erfahrung, dass man mit Geld nicht alles erreichen kann, wird dir guttun.“

Hätte Tarek zu diesem Zeitpunkt gewusst, was in den folgenden Wochen passieren würde, wäre er vor Jakov auf die Knie gegangen und hätte ihn angefleht, ihn mitzunehmen, aber unwissend, wie er damals noch war, ließ er den Russen hinter sich und verschwendete keinen einzigen Gedanken an ihn.
 

„Da bist du ja endlich“, war das Erste, das Tarek hörte, als er in den Keller zurückkehrte. „Alron hat uns alles erzählt. Wer ist der blonde Typ?“

„Ein Arschloch“, antwortete der Junge und überreichte Ledion das Geld. „Wo ist mein Stoff?“

„Den kriegst du gleich. Zuerst erklärst du mir, warum du nur so wenig Beute nach Hause bringst.“

Tarek blinzelte irritiert. „Wenig?“ Das, was Ledion von ihm erhalten hatte, war mehr als der gängige Preis, den jemand für eine halbe Stunde Spaß bezahlte. Jakov war echt großzügig gewesen, wenn man bedachte, dass er nur mit Tarek geredet hatte.

„Ja, wenig. Alron hat gesagt, dass der Kerl stinkreich wäre. Warum hast du ihm nicht mehr Geld abgeschwatzt?“

„Weil der Geizkragen sich geweigert hat. Wie bereits gesagt – er ist ein Arschloch.“

Der Blick, dem ihm Ledion daraufhin zuwarf, gefiel Tarek überhaupt nicht und auch das Gemurmel im Hintergrund kam ihm nicht ganz koscher vor.
 

„Gib's zu: Er hat dir mehr gegeben, aber du hast was für dich abgezweigt.“

„Nein, habe ich nicht“, knurrte Tarek ungeduldig, aber niemand schien ihm glauben zu wollen. „Warum sollte ich das tun?“

Ledion antwortete nicht, sondern starrte den Jüngeren feindselig an. Zwar war er nicht so groß und stark wie Jakov, aber trotzdem eindeutig zu groß und zu stark für Tarek.

„Weißt du was, Boss, warum überzeugst du dich nicht selbst davon, was für ein geiziger Unmensch er ist? Von mir aus kannst du ihn beleidigen, bedrohen, berauben – soll mir recht sein.“

Das milderte Ledions Laune, wenn auch nur ein bisschen. Nachdem er von Tarek die Adresse des Hotels erfahren hatte, zog er mit einem halben Dutzend kräftiger Gorillas von dannen, sodass neben den schwachen Kindern, die sich schnell verzogen, nur Alron und Tarek zurückblieben. Letzterer schüttelte enttäuscht den Kopf und würdigte den Kleineren keines Blickes.
 

„T-tarek, ich... es tut mir leid! Ledion hat mir die ganze Zeit Fragen gestellt und-- Tarek, warte!“

Angesprochener konnte nicht warten, selbst wenn er es gewollt hätte. Ungeduldig ging er zur Ledions Ecke, wo er sich das kleine Päckchen nahm, das für ihn bestimmt war, und machte sich danach zu seinem Rucksack auf, um eine der unbenutzten Spritzen zu holen, die er damals aus dem Krankenhaus geklaut hatte.

Wenige Augenblicke später war die Welt wieder strahlend bunt und schimmernd. Tarek hing auf dem Sofa, das mittlerweile zu seinem Lieblingsplatz geworden war, und schaute mit halb offenen Augen auf einen unbestimmten Punkt in der Luft. Die Magenkrämpfe und Schmerzen in seinen Beinen verschwanden, als wären sie nie da gewesen, und alles war wieder ruhig, friedlich und schön.

„Bitte, Tarek, es tut mir leid. Können wir uns jetzt wieder vertragen?“, flehte Alron, aber Tarek hörte ihm gar nicht zu. Seine Gedanken waren bei Jakov, der sich jetzt, wo Tarek ihn abgelehnt hatte, wahrscheinlich einen anderen Jungen suchen und ihm das gleiche Angebot unterbreiten würde.
 

Reiche Menschen sind so komisch. Ich meine... wir kennen uns seit etwa 24 Stunden und schon will er mich zu seinem Mitbewohner machen. Natürlich wäre es ein gewaltiger Fortschritt, von der Straße wegzukommen und in einer Villa zu leben, aber... bevor Jakov nicht lernt, was Einwilligung bedeutet, stellt er keine Option dar. Ich lebe lieber auf der Straße als diesen Wichser ertragen zu müssen.

Tarek sah zur Seite und erblickte Alron, der zu weinen angefangen hatte und ihn immer noch darum bat, ihm zu verzeihen.

„Ledion hat einfach nicht locker gelassen“, murmelte er, während Tränen über sein gebräuntes Gesicht liefen.

Ich bin mir sicher, dass Jakov abzulehnen das Richtige war, aber... wie soll es jetzt weitergehen? Ich kann nicht für immer Leute beklauen oder auf reiche Vollidioten hoffen. Früher oder später muss ich das tun, was die Mädchen machen, und was das Heroin betrifft, hatte Ledion recht. Ich entwickle langsam eine Sucht.

„Tarek...“
 

„Ist ja gut, ich verzeihe dir“, erwiderte der Ältere leicht genervt, woraufhin Alron sich die Tränen vom Kinn wischte und beschloss, Tarek auf seiner Reise ins Wunderland zu begleiten. Er hatte seit einer knappen Woche ebenfalls mit dem Heroin angefangen, nicht nur weil ihm das Marihuana langsam nicht mehr reichte, sondern auch weil er wie Tarek sein wollte. Tarek, der Gott, der große Bruder und der einzige Junge, der sich nicht wegen seiner körperlichen Unterlegenheit über ihn lustig machte, weil er selbst unterdurchschnittlich klein war.

Alron hatte sich eine Portion Heroin aufgehoben, die zu groß für eine Dosis und zu klein für zwei war. Nach kurzem Nachdenken entschied er sich trotzdem für die erste Möglichkeit, erhitzte den gesamten Rest und injizierte ihn sich dann mit der gleichen Nadel, die er immer benutzte und die jedes Mal, wenn sie in seinen Arm stach, eine Entzündung verursachte. Anschließend gesellte er sich zu Tarek und versank langsam im Land der wildesten Träume und Vorstellungen, völlig unwissend, dass er es nie wieder verlassen würde.

6. Kapitel

Zu beschreiben, wie der Geruch des Todes roch, war ungefähr so unmöglich wie jemandem, der nur den Geschmack von Zucker und Zitronen kannte, zu erklären, wie Salz schmeckte.

Tarek kannte den Geruch des Todes. Es war mitten in der Nacht, als er ihn zum ersten Mal in seinem Leben wahrnahm. Der Rauch einer erlöschenden Kerze, bitteres dickflüssiges Gift, verdorbene Früchte – der Tod roch wie eine Mischung aus diesen und noch anderen Dingen.

Tarek hatte so etwas noch nie erlebt. Es kam aus der unteren Etage, krabbelte die Treppe empor, kroch unter seiner Zimmertür hindurch und riss ihn aus dem Schlaf. Verwundert zog er die Kopfhörer aus seinen Ohren und sah sich in seinem Zimmer um, als würde er jemanden erwarten, doch da war niemand.

Draußen fand im Stockdunkeln ein Gewitter statt. Starker Regen trommelte gegen die Fenster und grelle Blitze zuckten so plötzlich und unerwartet wie Schüsse über den Himmel und dann kam das Donnern, das wie ein brodelnder Kessel klang, der jeden Moment explodieren würde.
 

Tarek konnte nicht erkennen, was ihn geweckt hatte. Das Gewitter hatte schon vor dem Einschlafen begonnen, daran konnte es also nicht liegen, und auch sonst war in den letzten Minuten nichts geschehen... oder doch?

Etwas Seltsames lag in der Luft. Es war kein Geruch, sondern vielmehr ein Gefühl, dass jetzt, in diesem Moment, und hier, in diesem Haus, etwas Schlimmes passierte. Tarek konnte es spüren. In seiner unmittelbaren Nähe geschah etwas.

Er kletterte von seinem Bett und bahnte sich seinen Weg zur Tür. Der Boden war bedeckt mit Büchern, Kleidung, Müll und anderen Sachen, die Tarek schon seit Monaten aufräumen sollte. Ein Blitz schlug draußen irgendwo hinter einem Haus ein und erleuchtete für den Bruchteil einer Sekunde die Nacht.

Mit zitternden Händen öffnete Tarek die Tür und schlich in den Flur. Seine nackten Füße tapsten leise durch den Gang und die hölzerne Treppe herunter. Die dritte Stufe von unten ließ er bewusst aus; sie hätte geknarzt und ihn verraten.
 

Im Erdgeschoss herrschte absolute Stille, was sehr ungewöhnlich war. Tareks Eltern hatten sich in letzter Zeit sehr oft gestritten und auch wenn man sie gerade nicht schreien hörte, gab es andere Geräusche, die darauf hindeuteten, dass es mal wieder Stress gegeben hatte. Knallende Türen, zuschlagende Schränke, zerschmetterndes Geschirr; Tareks Eltern ließen ihren Frust gerne an den Möbeln aus, anstatt sich vor den Augen ihres Kindes zu prügeln, was leider auch vorkam.

Als Tarek das erste Mal eine körperliche Auseinandersetzung zwischen den beiden gesehen hatte, war er schockiert gewesen. Sein Vater, ein fast zwei Meter großer, stämmiger Riese mit den Muskeln eines Türstehers, hatte seine Mutter, eine zierliche Elfe, die nicht einmal eineinhalb Meter groß war, geschlagen und ihr dabei versehentlich die Nase gebrochen. ''Versehentlich'' hieß, es war nicht sein Ziel gewesen, aber das änderte die Härte seiner Tat nicht.

Tarek war damals so entsetzt gewesen, dass er seine Mutter zu überreden versucht hatte, sich von dem Arschloch scheiden zu lassen, aber sie hatte bloß den Kopf geschüttelt und sich das Blut vom Kinn gewischt.
 

„Lass gut sein, Tarek. Es war eine einmalige Sache und wird nicht noch einmal vorkom--“

Es kam erneut vor.

„Es war meine Schuld. Ich hätte ihn nicht provozieren sollen. Aber mach dir keine Sorgen, er wird damit aufhö--“

Er hörte nicht auf.

„Bitte ignorier es einfach. Das ist nur eine Phase, die bald endet. Dein Vater macht gerade eine schwierige Zeit durch. Er wird sich ändern und--“

Das Einzige, das sich änderte, war, dass immer mehr Blutergüsse auf Moms Körper erschienen, manche sogar in ihrem Gesicht. Tarek hätte ihr so gerne geholfen, aber er wusste nicht, wie er das tun sollte. Die Polizei zu rufen kam nicht infrage – sein Vater hatte dort nicht nur das Sagen und jeden unter seiner Kontrolle, sondern auch genug Macht, Tareks Mutter das Sorgerecht für ihren Sohn zu entziehen und sie ins Gefängnis werfen zu lassen.
 

Warum musste Tarek ausgerechnet jetzt an den Streit zwischen seinen Eltern denken, wenn doch momentan alles ruhig und friedlich war? Wahrscheinlich waren die beiden schon längst ins Bett gegangen und es gab überhaupt keinen Grund, im Erdgeschoss herumzutigern.

Er überlegte, ob er wieder nach oben gehen sollte, und beschloss, sich in der Küche etwas zu trinken zu holen, damit er wenigstens nicht umsonst nach unten gekommen war. Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, war mittlerweile viel stärker geworden. Es folgte Tarek wie ein zweiter Schatten, während er durch den Flur ging, an der Tür vorbeikam, die zum Wohnzimmer führte, und--

Das Wohnzimmer lag in völliger Dunkelheit, aber als plötzlich ein Blitz über den Himmel zuckte und den gesamten Raum für einen kurzen Augenblick beleuchtete, konnte Tarek es sehen. Es war nur eine halbe Sekunde oder sogar noch weniger gewesen, aber das Bild hatte sich bereits in sein Gedächtnis gebrannt. Er würde sich selbst ganze Jahrzehnte später noch an diese Nacht erinnern.
 

Mom stand vor dem Sofa, die Hände auf den Mund gepresst und die braunen Augen vor Schock weit aufgerissen. Nur einen knappen Meter von ihr entfernt befand sich Dad. Er lag auf dem Boden, alle Gliedmaßen von sich gestreckt, und rührte sich nicht. Sein weißes Hemd war voller blutroter Flecken und ein Messer steckte in seiner Brust. Die Klinge glänzte wie das Auge eines gefährlichen Tieres, auch als der Blitz bereits verschwunden war.

Tarek wusste nicht, wie lange er im Türrahmen gestanden und mit offenem Mund in die Dunkelheit gestarrt hatte, und er wusste auch nicht, wie er wieder nach oben gekommen war. Sein Körper bewegte sich wie von alleine, während er seinen Rucksack nahm, alles Nötige zusammenpackte und vor Panik so schnell atmete, dass er fast ohnmächtig wurde. Im nächsten Moment stieg er aus dem Fenster und kletterte an der Regenrinne nach unten. Kaum war er im Vorgarten angekommen, nahm er die Beine in die Hand und rannte so schnell er konnte von der kleinen Villa weg. Er hatte keine Ahnung, ob Mom ihn bemerkt hatte oder was sie gerade machte, ob die Polizei auf dem Weg hierher war oder überhaupt von dem Vorfall in Kenntnis gesetzt worden war, aber alles in ihm schrie danach, wegzurennen und nie wiederzukommen. Wie ein Irrer rannte er durch die finstere Nacht und das Einzige, das ihn verfolgen konnte, war der Geruch des Todes.
 

Als Tarek aufwachte, dachte er zuerst, es sei reiner Zufall gewesen, dass er von der Ermordung seines Vaters geträumt hatte, aber kaum war er richtig zu sich gekommen, erkannte er, dass es kein Zufall war. Diese Erkenntnis rammte eine unsichtbare Faust in seinen Magen und sorgte dafür, dass er aufschreckte.

Er saß auf dem gammligen Sofa im Keller und hatte einen Geruch in der Nase, den er überall wiedererkennen würde. Es fühlte sich an, als würde eiskaltes Wasser über seinen Rücken fließen. Kleine Tierchen bissen in seine Haut und seine Nase brannte, als würden zwanzig Raucher gleichzeitig ihren Qualm in sein Gesicht blasen.

Tareks erste Idee war Alron zu wecken und ihn zu fragen, ob er das auch spürte. Der Jüngere lag einige Meter entfernt auf einer der dreckigen Matratzen. Bei dem Versuch, vom Sofa aufzustehen, fiel Tarek hin und schlug sich das Knie auf. Seine Beine bestanden aus modrigem Schlamm und sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Er kam sich vor, als würde er durch ein Moor waten, während er sich zu Alron kämpfte, der schlief... oder zumindest den Eindruck erweckte, er würde schlafen. Tarek ergriff seine Schulter und wollte ihn wachrütteln, als ihm plötzlich auffiel, wie kalt Alrons Haut war. Verdächtig kalt, um genau zu sein.
 

„Nein“, hauchte Tarek so leise, dass er sich selbst nicht verstehen konnte. Er griff mit beiden Händen nach Alrons Schultern und schüttelte ihn so kräftig durch, dass Alrons Kopf hin und her schwang und sein Nacken ungesund knackte. Wie gut, dass er davon nichts mehr spürte.

„Alron!“, schrie Tarek auf einmal so laut, dass seine Ohren schmerzhaft ziepten. „Alron, nein! Wach auf! BITTE!“

Seine Stimme wurde immer höher und heiserer, ehe sie schließlich brach und die ersten Tränen über Tareks hübsches Gesicht liefen. Wie hatte er so etwas nur zulassen können? Alron hatte ihn als sein Vorbild, seinen großen Bruder, seinen Gott angesehen und Tarek, die Person, dem diese Verehrung und dieses Vertrauen geschenkt worden war, hatte ihn im Stich gelassen. Sein Tod hätte verhindert werden können... wenn Tarek bloß aufgepasst und nicht immer nur an sich selbst gedacht hätte.

Tarek krümmte sich zusammen, presste sein Gesicht gegen Alrons Brust und ließ seinen Tränen freien Lauf. Sein verzweifeltes Schluchzen hallte durch den ganzen Keller und lockte die anderen Kinder und Jugendlichen an, die sich neugierig um die Leiche und den immer noch weinenden Tarek versammelten und nur mutmaßen konnten, was passiert war.
 

„Was ist hier los?“

Ledion bahnte sich seinen Weg zu Tarek, dessen Körper bei jedem Luftholen zuckte, und legte eine Hand auf die Schulter des Jüngeren, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen, aber der Kleine bekam davon überhaupt nichts mit. Geistlich stand er in dem Wohnzimmer der Villa, in welcher er vor nicht allzu langer Zeit noch gelebt hatte, und starrte auf Dads leblosen Körper nieder. Er war immer auf Moms Seite gewesen, aber nach diesem Ereignis hatte sich das geändert.

Tareks Meinung nach war der Tod das Schlimmste, das man einem Menschen antun konnte. Man konnte einen Mord nicht entschuldigen, nicht verzeihen und erst recht nicht rückgängig machen. Das traf zwar auch auf andere Grausamkeiten wie zum Beispiel Vergewaltigungen zu, aber selbst jemand, dessen Leben durch so eine scheußliche Tat erschüttert wurde, konnte danach wieder aufstehen, das Geschehene verarbeiten und sein Leben fortführen, auch wenn es schwierig war und manchmal sogar unmöglich erschien. Der Tod hingegen war das Ende – es gab keine Möglichkeit, sich von ihm zu erholen.
 

„Tarek, ich rede mit dir!“, rief Ledion gereizt. Er versuchte schon seit drei Minuten, den Jungen zum Reden zu bringen. „Und geh endlich von Alron runter! Er kriegt keine Luft!“

„Ähm... Boss?“ Eines der älteren Mädchen hatte Alrons steifes Handgelenk ergriffen. Mit feucht werdenden Augen sah sie zu Ledion, der daraufhin verstand, was geschehen war.

„Fuck.“

Es dauerte nicht lange, bis auch die anderen Kinder zu der Erkenntnis kamen, dass Alron gestorben war. Angst und Trauer breitete sich unter ihnen aus und Ledion erkannte, dass er etwas sagen musste, auch wenn er keine Ahnung hatte, was jetzt angebracht wäre. Schweigend beobachtete er, wie Tarek von dem Leichnam weggezerrt wurde. Der einst so beliebte und gepriesene Gott war jetzt nur noch ein kleines Häufchen Elend.

„Er ist an einer Überdosis Heroin gestorben, nicht wahr?“

Tarek nickte so schwach, dass es kaum als Nicken zu erkennen war, während Ledion die Arme vor der Brust verschränkte. Ihm war soeben aufgefallen, dass das hier die perfekte Gelegenheit war, diesen Jungen, der für ihn nur Ärger und ungewollte Konkurrenz darstellte, aus seiner Gang zu werfen.
 

„Warum hast du das zugelassen?“, fragte er vorwurfsvoll, woraufhin Tarek langsam den Kopf hob und sich mit einer Hand die Tränen aus dem Gesicht wischte.

„Was?“, wisperte er leise.

„Ich habe dir mehrmals gesagt, dass du auf ihn aufpassen sollst.“

„Nein... das hast du ni--“

„Er hat wegen dir mit diesem Teufelszeug angefangen! Du hast ihn da mit reingezogen!“

„Das ist nicht wahr.“

„Und ob das wahr ist! Hör auf, die Schuld von dir zu weisen, Tarek! Du warst hier! Du hättest aufpassen sollen! Warum hast du ihn sterben lassen?!“

Tarek wollte etwas erwidern, aber nach nur wenigen Silben brach er erneut in Tränen aus. Shkodran, ein junger Mann, der etwa so groß und stark wie Ledion war, stellte sich schützend vor ihn.
 

„Das reicht jetzt. Es wird niemandem helfen, einander die Schuld zuzuschieben. Und davon abgesehen ist es deine Aufgabe, die Jüngeren zu schützen, Boss.“

Ledion sah aus, als würde er seinem Gegenüber jeden Moment an die Kehle springen. „Du bist also auf seiner Seite, hm?“

„Hier gibt es keine Seiten. Wir sind eine Familie – wir sollten zusammenhalten.“ Er schüttelte enttäuscht den Kopf. „Schau dich an, Ledion. Dein Neid macht dich völlig blind.“

Die beiden erinnerten an zwei wilde Tiere, die gleich aufeinander losgehen würden. Im Hintergrund herrschte durchmischtes Gemurmel. Es war schon lange kein Geheimnis mehr, dass Ledion befürchtete, Tarek würde ihm seinen Platz als Anführer wegnehmen, und die Meinungen dazu könnten nicht verschiedener sein. Einige fanden, dass jemand wie Tarek gut für eine Führungsposition geeignet wäre, während andere lieber einen muskelbepackten, Furcht einflößenden Mann wie Ledion als Boss hätten. Tarek selbst fand, dass er mit der Verantwortung nicht umgehen konnte und ruhig alles so bleiben sollte, wie es war, aber seine Ansicht schien keinen zu interessieren.
 

„Seitdem Tarek hier ist, hat er nur für Ärger und Zwietracht gesorgt“, zischte Ledion.

„Und für eine Menge Geld“, fügte Shkodran hinzu. „Und für die Medikamente, mit denen er Ariane das Leben gerettet hat.“

„Er hat nicht annähernd so viel Geld nach Hause gebracht wie die Mädchen. Und was Ariane angeht: Es gibt keine Beweise, dass sie wirklich gestorben wäre. Das war bloß eine Behauptung von Tarek, dem komischerweise alles geglaubt wird, was er je sagt. Er könnte behaupten, dass morgen der Weltuntergang wäre, und ihr würdet es ihm glauben. Hat euch nie jemand beigebracht, dass man auch mal selbst nachdenken sollte?“

„Er--“

„Und was ich wegen der Aufregung fast vergessen hätte“, rief Ledion und sah sich um, als wollte er sich vergewissern, dass auch alle ihm zuhörten. „Wir waren in dieser Nacht bei dem blonden Kerl, von dem Alron uns erzählt hat.“ Er machte eine dramatische Pause und sah zu Tarek, der immer noch mit seinen Tränen kämpfte.
 

„Wir wären wegen dir beinahe gestorben, du blödes Arschloch.“

„Das stimmt“, sagte Kushtrim, einer der Gorillas, mit denen Ledion zum Hotel aufgebrochen war. „Dieser Mann besitzt eindeutig mehr Geld als er ausgeben kann und trotzdem wollte er uns nichts abgeben. Er hätte uns gnadenlos überfahren, wenn wir nicht rechtzeitig ausgewichen wären.“

Tarek lachte humorlos auf. So ein Verhalten konnte wirklich nur von Jakov stammen.

„Findest du das lustig?“, knurrte Ledion, woraufhin ein verbittertes Lächeln auf Tareks wohlgeformten Lippen erschien.

„Er hätte euch nicht überfahren. Das hätte für unschöne Dellen in seinem Auto gesor--“

Der Rest seines Satzes blieb ihm im Hals stecken, als er von Ledion eine Ohrfeige erhielt, die ihn zu Boden riss.

„Geh!“, wies der Ältere ihn sichtlich aggressiv an. „Geh und komm nie wieder! Du schadest uns nur!“
 

Tarek hatte damit gerechnet, dass einige Kinder vielleicht mit Protest reagieren würden, aber niemand sagte etwas. Selbst Shkodran blieb stumm und sah wie alle anderen zu Tarek, der sich langsam aufrichtete und die schmerzende Wange hielt.

„Okay. Dann gehe ich halt.“

Er wollte seinen Rucksack holen, in dem er seine Sachen aufbewahrte, aber Ledion riss ihm das Ding aus der Hand, öffnete ihn und schüttete den Inhalt auf den Boden. Unbenutzte Spritzen, Zahnpasta, Shampoo, Seife, Ersatzkleidung und andere nützliche Gegenstände kamen hervor.

Das bunkerst du dort also die ganze Zeit“, sagte Ledion und ließ den nun leeren Rucksack achtlos fallen. „Du kleines, selbstsüchtiges, egoistisches Stück Scheiße.“

Niemand konnte es Tarek verübeln, dass er diese Sachen für sich lagerte, aber man fand es auch gemein und unfair, dass er das tat. Seine restliche Beliebtheit löste sich innerhalb weniger Sekunden in Luft auf.
 

Tarek versuchte sich zu rechtfertigen, aber es war hoffnungslos. Ledion packte die Gelegenheit beim Schopf und schob den Jungen die Schuld für Alrons Tod und das Elend der anderen Kinder in die Schuhe. Das Ganze endete damit, dass Tarek von Kushtrim festgehalten, von Ledion mehrmals geschlagen und getreten und anschließend nach draußen gebracht wurde, wo man ihn grob zu Boden stieß.

„Lass dich noch einmal hier blicken und ich werde dich eigenhändig in Stücke reißen“, fauchte Ledion triumphierend, ehe er wieder nach drinnen ging und die Tür schloss. Seine kleine Armee von Kindern und Jugendlichen folgte ihm.

Tarek blieb reglos liegen. Sein Fall hatte eine Menge Staub aufgewirbelt, der nun langsam nach unten rieselte und sich auf seiner Kleidung verteilte. Zögernd richtete er sich auf und begann trotz seiner Schmerzen zu laufen, wobei er ein gewisses Hotel als Ziel hatte. Er hätte nie gedacht, dass er das mal sagen würde, aber der Moment war tatsächlich gekommen. Er wollte zu Jakov.

7. Kapitel

Als Tarek am Hotel ankam, war er völlig außer Atem. Keuchend und japsend kam er vor der Rezeption zum Stehen und wurde von der Frau, die dort saß, mit gerunzelter Stirn angeschaut.

„Ähm... kann ich dir irgendwie helfen, junger Mann?“

„Jakov“, brachte Tarek nach Luft schnappend hervor und hielt sich an der hölzernen Kante fest. „Sie wissen schon, der Typ im Penthouse, groß, blond, kräftig, schnieke Karre, eindeutig Ausländer... ist er noch hier?“

Sie blinzelte bloß.

„Komm schon, Sie wissen genau, wer gemeint ist. Ist er noch hier?“

„Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber er hat bereits ausgecheckt.“

„Und wann?“

„Kurz vor Sonnenaufgang, glaube ich.“
 

Tareks braune Augen huschten zur Uhr, die über der Rezeption hing und leise tickte. Es war fast halb elf. Jakov musste bereits über alle Berge sein.

„Scheiße...“

Ohne der Frau, die irritiert ihre rechte Augenbraue hob, eine Erklärung zu geben, wandte er sich von ihr ab und verließ das Hotel. Was zur Hölle sollte er jetzt tun? Ohne den Schutz einer Gang war er hilfloses Freiwild. Er brauchte jemanden, bei dem er unterkommen konnte, ansonsten würde er nicht mehr lange leben.

In der vagen Hoffnung, dass Jakov vielleicht doch noch nicht abgereist war, suchte Tarek den Parkplatz des Hotels und die nähere Umgebung ab, aber von dem Russen fehlte jede Spur. Tarek war übel vor Stress. Hätte er gewusst, dass die Dinge sich so entwickeln würden, wäre er auf Jakov eingegangen, aber woher hätte er denn ahnen sollen, dass Ledion so eine hinterlistige Schlange war?
 

Nach einer Weile blieb Tarek nichts anderes übrig als aufzugeben. Er setzte sich auf den Bürgersteig, zwang sich zur Ruhe und dachte darüber nach, was er jetzt tun sollte. Er hatte nichts – kein Essen, kein Wasser, kein Dach über dem Kopf, kein Heroin – und eine Idee, wie man wenigstens eines dieser Dinge beschaffen konnte, fehlte ebenfalls.

Tarek überlegte, ob er sich vielleicht in dem Haus seiner Eltern verstecken konnte – Wenn Dad tot und Mom im Gefängnis war, müsste es doch leerstehen, oder? – als sich plötzlich ein unerwarteter Schmerz in seinem Körper breitmachte. Er dachte für einen Moment, jemand hätte auf ihn geschossen.

Der Schmerz verschwand genauso schnell, wie er gekommen war, aber danach erschien er immer wieder in Wellen, gemeinsam mit Übelkeit und dem Bedürfnis, sich zusammengekrümmt auf den Boden zu legen. Man musste kein Genie sein, um zu erkennen, dass das Entzugserscheinungen waren. Tarek fand sie unerträglich, nicht zuletzt weil jetzt einer der ungünstigen Zeitpunkte dafür war.
 

Der Junge wusste nicht, wie lange er auf dem Bürgersteig gesessen und seine Schmerzen verflucht hatte, aber irgendwann kam einer der Anwohner und scheuchte ihn hinfort. Tarek fragte den Typen, ob er ihm vielleicht helfen könnte, aber alles, was er damit erreichte, war, dass er mit einer leeren Bierflasche beworfen wurde, der er gerade noch rechtzeitig ausweichen konnte. Er sah zu, dass er Land gewann, und begab sich auf die Suche nach einem Unterschlupf, während sein Körper sich anfühlte, als würden Teile von ihm aus Sandpapier bestehen und an seinen Organen kratzen.

Es dauerte nicht lange, bis er beinahe einigen Mitgliedern von Luans Gang in die Arme lief, die ihn sofort erkannten und nicht lange zögerten, sondern sogleich die Jagd auf ihn eröffneten. Tarek machte so schnell Kehrt, dass er nicht einmal nachsehen konnte, wie viele Kerle ihn nun verfolgten, aber er würde auf vier oder fünf Jugendliche tippen, die alle größer, stärker und leider auch schneller als er waren.
 

Tarek wusste nicht, was man mit ihm anstellen würde, sobald man ihn gefangen hatte, und er konnte auch getrost darauf verzichten, das herauszufinden. Blindlinks sprintete er durch eine enge Gasse, überquerte die dahinter liegende Straße und--

Er verstand erst, dass das seltsame Licht, das ihn von der Seite anstrahlte, zu einem Auto gehörte, als er quer über die Motorhaube rollte, von der Windschutzscheibe rutschte und nicht gerade sanft auf dem Boden aufkam. Ohne einen Gedanken an den Autofahrer oder die Verletzungen, die er sich zugezogen haben könnte, zu verschwenden, rappelte er sich auf und rannte weiter. Alles tat ihm weh, aber eine Pause zu machen, kam nicht infrage.

Als Tarek schließlich doch seine Geschwindigkeit drosseln musste, weil ihn seine Kraft verließ, bemerkte er, dass die Schläger von Luans Gang ihn nicht mehr verfolgten. Zuerst war er erleichtert, doch dann erkannte er den Grund dafür.

Er war direkt in das tote Viertel gelaufen.
 

Das tote Viertel hieß nicht so, weil es als ausgestorben oder menschenleer galt – im Gegenteil, sobald es dunkel wurde, herrschte hier reges Treiben. Von außen sah es so aus, als würden die Leute sich bloß einen netten Abend in einer der zahlreichen Bars und Kneipen machen, aber was die Menschen in Wirklichkeit anlockte, waren die Bordelle und der Schwarzmarkt. Jeder in der Nähe wusste, dass man hier alles bekommen konnte, was man wollte, sei es Waffen, Drogen, vom Aussterben bedrohte Tiere, Organe oder sogar Menschen – die einzige Bedingung war, dass man genügend Geld besaß. Die erfolgreichsten und skrupellosesten Gangs der Stadt verkehrten hier und genau das war das Problem: In diesem Ort wimmelte es nur so von Menschen, die für Tarek eine Gefahr darstellten. Sobald sie herausfanden, dass der Junge zu niemandem gehörte und völlig hilflos war, würden sie wie wilde Tiere über ihn herfallen und ihm alles nehmen, aus dem sich Geld machen ließ. Tarek sah bereits, dass er plötzlich ohnmächtig werden und danach entweder mit frischen Operationswunden oder in einem dunklen Keller aufwachen würde. Ledion hatte ihn und die anderen Kinder fast täglich daran erinnert, diesen Teil der Stadt nicht zu betreten, und ihn das tote Viertel genannt.
 

Als Tarek erkannte, wo er hier gelandet war, blieb er sofort stehen und drehte um. Links, rechts und hinter ihm standen kleine Gruppen von Männern, die über Sport, Politik, Frauen und anderen Kram sprachen. Manche von ihnen hielten Zeitungen, Handys oder Flaschen in der Hand. Sie schienen zu sehr mit sich selbst und ihren Gesprächsthemen beschäftigt zu sein, um von Tarek Notiz zu nehmen, aber das änderte sich schnell. Als Tarek an zwei kräftig wirkenden Männern vorbeiging, sah er, dass der eine seinen Freund anstupste, etwas sagte und unauffällig in Tareks Richtung zeigte.

Verdammt.

Der Junge ließ sich seine langsam aufkommende Panik nicht anmerken, sondern reckte den Kopf nach oben und setzte eine gelassene, fast schon gelangweilte Miene auf. Er musste nur so tun, als wüsste er, wo und warum er hier war, dann würde man ihn vielleicht in Ruhe lassen. Offen zu zeigen, dass er sich verlaufen hatte und ohne Begleitung war, wäre das Dümmste, was er jetzt tun konnte. Er blieb ruhig, auch als die beiden Männer zu ihm aufholten und sich vor ihm aufbauten.

„Na, Kleiner, suchst du nach deinen Eltern?“, fragte einer von ihnen, während der andere grinste, als hätte er ein super günstiges Angebot im Supermarkt entdeckt.
 

„Wenn du mich anfasst, wird mein Boss dir den Arsch aufreißen“, erwiderte Tarek kühl und wünschte sich, er würde wenigstens einen Namen der hohen Tiere der Unterwelt kennen, denn die Männer schienen seine Lüge zu durchschauen.

„Ach ja? Für wen arbeitest du denn?“

„Für jemanden, der dich deine eigenen Eier fressen lassen wird, wenn ich mich wegen dir verspäte.“

Mit diesen Worten und einem arroganten Blick umrundete Tarek die beiden Kerle und ging auf die vor ihm liegende Kreuzung zu. Kaum war er hinter der nächsten Ecke verschwunden, nahm er die Beine in die Hand und betete zu Gott, dass die Typen ihn nicht verfolgen würden. Er rannte in die Richtung, in der Ledions Lager lag, und kam nach einer Weile an der Straße vorbei, wo die Mädchen normalerweise auf ihre Kunden warteten. Noch stand niemand hier; es war ja auch erst früher Nachmittag.
 

Tarek kam eine Idee. Wenn man von ein paar brenzligen Ausnahmen absah, hatte seine Vorgehensweise, seine Freier zu beklauen, immer funktioniert. Vielleicht konnte er einen Schritt weitergehen und sich ihre Wohnung unter den Nagel reißen. Natürlich war das ziemlich riskant und gefährlich, aber was blieb ihm anderes übrig? Zu Ledion zurück konnte er nicht und hier draußen zu bleiben, war auch keine Option.

Tarek ließ sich vor einer brüchigen Mauer nieder und dachte über seinen Plan nach, während seine Schmerzen und sein Unwohlsein immer schlimmer wurden. Das Verlangen nach der nächsten Dosis Heroin wurde mit jeder Minute stärker und drängte die wichtigen Sachen zur Seite. Als es dunkel wurde, war Tarek bereits so weit, dass er für eine Portion des hellen Pulvers wirklich seinen Körper aufgeben würde.

Nach einiger Zeit kamen ein paar Mädchen zur Straße und wenig später erschienen auch schon die ersten Freier. Tarek stellte sich an den Straßenrand und wünschte sich, hier gäbe es eine Sitzgelegenheit. Seine Beine und sein Unterleib schmerzten, als hätte er Nägel im Fleisch stecken.
 

Verschiedene Autos fuhren an Tarek vorbei, aber keines verlangsamte oder hielt sogar an. Tarek nahm es den Fahrern nicht übel, immerhin war wirklich nur ein kleiner Bruchteil dieser Leute an Jungen wie er interessiert, aber es wäre trotzdem echt nett, wenn endlich mal jema--

Tarek entwich ein erleichtertes Seufzen, als endlich ein Auto neben ihm hielt. Seine Schmerzen so gut es ging ignorierend schlenderte er auf den Fahrer zu, der das Fenster nach unten kurbelte und den Jungen dazu einlud, zu ihm ins Auto zu steigen.

Alles, woran Tarek denken konnte, war das Geld und das Heroin, das er sich damit kaufen konnte. Seine Sucht hatte seine Idee und seinen Plan völlig verdrängt und benebelte seine Sinne so sehr, dass Tarek nicht bemerkte, dass ihm der Kerl eigentlich bekannt vorkommen musste. Würde er nicht unter Entzug stehen, wäre er schon längst weggerannt, aber dank seiner Abhängigkeit, die ihn kontrollierte, als wäre er eine willenlose Marionette, stieg er ins Auto, was sich später noch als großer Fehler herausstellen würde.
 

Der Mann sagte etwas, aber Tarek hörte ihm nicht zu. Eine unsichtbare Hand umfasste seinen Magen und drückte darauf herum; er hätte sich am liebsten aus dem Fenster gebeugt und übergeben.

„So, wir sind da“, sagte der Mann plötzlich. Tarek hatte gar nicht mitbekommen, dass sie die etwa zwanzigminütige Fahrt schon hinter sich hatten.

„I-irgendwie... kommt mir ihre Stimme bekannt vor“, murmelte der Kleine benommen. „Haben wir... uns schon mal gesehen?“

Der Mann antwortete nicht, sondern sah Tarek ausdruckslos an, der fast eine ganze Minute brauchte, um zu erkennen, wer da neben ihm saß.

Es war einer der Männer, die er ausgeraubt hatte.

„Was ist los, Kleiner? Hast du dir das Hirn weggekifft oder bist du echt so vergesslich?“ Den Worten folgte ein harter Schlag ins Gesicht. Mit einem grellen Klingeln in den Ohren und tanzenden Sternen vor den Augen versuchte Tarek die Autotür aufzumachen, aber der Mann hatte sie natürlich abgeschlossen.
 

„Du kriegst jetzt das, was du verdient hast. Und glaub ja nicht, dass ich dich dafür bezahlen werde.“

Die Wörter klangen verzerrt und seltsam. Tarek spürte, wie er eine weitere Ohrfeige bekam, an den schwarzen Haaren gepackt und aus dem Auto gezerrt wurde. Unter normalen Umständen hätte er sich vielleicht wehren und aus dem festen Griff befreien können, aber der Zustand, in dem er sich momentan befand, machte das leider unmöglich.

Keine zwei Minuten später fand Tarek sich in einem renovierungsbedürftigen Badezimmer wieder. Ihm fehlte die Erinnerung, wie er ins Haus gebracht worden war, obwohl dieses Ereignis vor nur wenigen Sekunden stattgefunden hatte.

„So, du hinterlistiges Stück Scheiße“, fauchte der Mann und stieß ihn grob zu Boden. „Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du es dir zweimal überlegen, mich zu beklauen.“

Während er mit einer Hand seine Hose öffnete und etwas hervorholte, bei dessen Anblick Tareks Übelkeit sich verschlimmerte, griff er mit der anderen erneut nach den dunklen Haaren von Tarek, der sich daraufhin nach vorne beuge und dem Mann vor die Füße kotzte. Der Entzug, die jetzige Situation, das dreckige Schwein vor ihm – es war einfach zu viel.
 

Der Mann wich angewidert zurück und zog seine Hose wieder nach oben. An seinen vorher noch sauber glänzenden Schuhen haftete nun Erbrochenes. Er fluchte und trat nach Tarek, der immer noch damit beschäftigt war, sich die Seele aus dem Leib zu würgen.

„Gott, du widerst mich an“, fauchte der Mann. „Jetzt habe ich keine Lust mehr, aber glaub ja nicht, dass wir das hier nicht nachholen werden.“

„Haben Sie vielleicht ‘n bisschen Heroin?“

Diese Worte kamen aus Tareks Mund, aber er hatte sie nicht gesagt. Es war seine Sucht, die nur an das eine denken konnte, selbst in dieser Lage. Tarek selbst hingegen war zu hinüber, um auch nur ein vernünftiges Wort von sich zu geben.

„Vergiss es“, zischte der Mann und wandte sich zum Gehen ab. „Von mir hast du gar nichts zu erwarten. Sobald es dir besser geht, werde ich dich ficken, bis dir die Eingeweide aus dem Arsch rutschen, und danach verkaufe ich dich an einen Zuhälter. Irgendwie muss ich das Geld, das du mir geklaut hast, ja wiederkriegen.“

8. Kapitel

Tarek hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so beschissen gefühlt. Er lag in seinem eigenen Erbrochenen, zitterte trotz der sommerlichen Temperaturen und spürte, wie ein Schmerz nach dem anderen durch seinen bebenden Körper jagte. Schweiß lief über seine ungesund blasse Haut und Fliegen schwirrten um ihn herum. Sie wurden bestimmt von dem abartigen Gestank angelockt, den Tarek gar nicht mehr wahrnahm, da er nichts anderes riechen konnte. Seine schwarzen, ursprünglich weichen Haare waren nur noch fettiges, verfilztes Stroh. Alles in einem sah er wie eine Leiche aus; das einzige, was noch fehlte, war, dass sein Herz zu schlagen aufhörte.

Der Mann, der Tarek hier eingesperrt hatte, kam täglich vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Er hatte sich erhofft, sich an dem Jungen vergehen zu können, sobald dieser seinen Entzug hinter sich gebracht hatte, doch anstatt der erwarteten Verbesserung durfte er beobachten, wie sich Tareks Zustand jeden Tag verschlechterte. Die Nachbarn fragten sogar schon, wo dieser bestialische Gestank herkam.
 

Nach knapp zwei Wochen gab er auf. Er betrat wie gewohnt das Bad, packte Tarek an den Haaren und zog ihn ins Schlafzimmer, wo er ihn auf die fleckige Matratze schubste.

„Du bist eine Enttäuschung“, knurrte er und öffnete seinen Gürtel. „Keinen einzigen Lek werde ich für dich bekommen.“

Er ließ seine Hose zu Boden fallen. Tarek blieb reglos liegen, seine braunen, nicht ganz geöffneten Augen waren auf einen unsichtbaren Punkt in der Luft gerichtet. Er rührte sich nicht vom Fleck, selbst als sich eine gierige Hand auf seinen Hintern legte.

„Aber das macht nichts. Die Erfahrung, jemanden zu Tode zu ficken, ist schließlich auch was wert, ne?“

Tarek wusste nicht, ob der Mann diese Worte ernst meinte, aber er war auch nicht sonderlich erpicht darauf, das herauszufinden. Sein Blick wanderte zu dem perversen Schwein, dessen wässrige Augen vor Wollust trieften. Es war doppelt so groß und dreimal so stark wie Tarek; ein direkter Angriff würde also scheitern.
 

Wie gut, dass ihm gerade eine Idee kam.

Als der Mann sich an Tareks Kleidung zu schaffen machen und sie ihm ausziehen wollte, legte der Junge plötzlich beide Hände um das teigige Gesicht – und presste die Daumen in seine Augen.

Der Kerl schrie auf und taumelte zurück, während Tarek sich hastig aufrichtete und nach einem Fluchtweg suchte. Ein winziger Teil seiner Kraft war schon vor einigen Tagen zurückgekehrt, aber er hatte es verborgen, damit er von dem Mann unterschätzt wurde, was anscheinend auch funktioniert hatte.

Tarek sprang vom Bett, stolperte, rappelte sich auf und hetzte Richtung Tür. Er hatte sie fast erreicht, als er auf einmal an den Haaren gepackt und mit einem kräftigen Ruck nach hinten gerissen wurde.

„Du kleines Miststück! Ich werde dir jeden Knochen einzeln brechen!“

Der Mann blutete aus beiden Augen, aber das hielt ihn nicht davon ab, nach Tarek zu langen und seine Fäuste auf ihn einprasseln zu lassen. Seine Wut war größer als der Schmerz.
 

Tarek versetzte ihm einen Tritt in die Weichteile und wich zurück. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und obwohl er geschwächt war und kaum laufen konnte, fühlte er sich so energiegeladen wie schon lange nicht mehr. Er wollte zum zweiten Mal Richtung Tür rennen, aber genau dort stand der Mann, der blind um sich schlug und nicht selten versehentlich die Möbel erwischte, was seine Schmerzen und damit auch seine Wut nur steigerte.

Der einzige alternative Weg aus dem Schlafzimmer war das Fenster. Tarek öffnete es und kletterte bereits auf die Fensterbank, als ihm auffiel, dass er sich nicht wie erwartet im Erdgeschoss befand, sondern im zweiten Stock. Panisch wich er zurück, doch der Mann hatte das Öffnen des Fensters gehört und den Abstand überwunden. Seine großen, zu Fäuste geballten Hände langten nach Tarek, der erst realisierte, was geschah, als er bereits das Gleichgewicht verlor. Vor Angst schreiend versuchte er sich an der Fensterbank festzukrallen, aber es war aussichtslos. Er konnte sich nicht halten.

Tarek fiel fast drei Meter, landete auf der gläsernen Terrassenüberdachung, die bei seinem Aufprall einbrach, fiel drei weitere Meter und kam schließlich auf dem steinernen Boden auf. Das Letzte, das er hörte, bevor er das Bewusstsein verlor, war das Brechen seiner Knochen.
 

~*~
 

Jakov lag rücklings auf der Couch im Wohnzimmer und starrte gedankenverloren nach oben an die kahle Decke. Die Sonne war schon vor ein paar Stunden untergegangen und Jakov war zu faul, das Licht anzumachen, weshalb er sich nun im Stockdunkeln befand. Das Einzige, was er gerade so erkennen konnte, waren der Glastisch und die darauf stehende Vase, auf deren Oberfläche sich das Mondlicht spiegelte.

Jakov seufzte. Er hatte alles – mehr Geld, als er jemals ausgeben könnte, eine Villa voller Gemälde, Vasen, Kunststücke und anderen Kram, den er aus Langeweile sammelte, mehr als genug Zeit für seine zahlreichen Hobbys – und trotzdem fehlte ihm etwas. Er fühlte sich wie ein undankbares Kind.

Ich hätte ihn entführen sollen...

Das, was Jakov zu seinem Glück noch fehlte (zumindest empfand er das so), war niemand Geringeres als Tarek. Der Junge mit den lakritzschwarzen Haaren und den schokobraunen Augen. Gemeinsam mit seiner kakaofarbenen Haut entsprach er genau Jakovs Typ. In Albanien gab es massenhaft junge Männer, die so aussahen, aber Jakov war nur an Tarek interessiert. Er hatte keine Ahnung, wie er es geschafft hatte, in nur 24 Stunden so einen Narren an den Jungen zu fressen; es war einfach so.
 

Dabei war es vollkommen sinnlos, ihm jetzt noch hinterherzutrauern. Dass Jakov Tirana verlassen hatte, lag schon mehrere Wochen zurück, was für Tarek mehr als ausreichend Zeit war, an einer Überdosis oder durch andere Junkies zu sterben. Eigentlich war es für Jakov ein riesiger Abtörner, dass Tarek Gott-weiß-was einnahm, aber er konnte trotzdem nicht aufhören, an ihn zu denken.

Von sich selbst genervt erhob er sich von der Couch, schaltete das Licht an, schlenderte in sein Büro, pflanzte sich vor seinen Laptop und begann durchs Internet zu surfen. Das tat er immer, wenn er sich ablenken musste, und es half auch diesmal.

Nachdem er sich über lustige Katzenvideos amüsiert und über politische Artikel aufgeregt hatte, kam ihm die Idee, sich albanische Nachrichtenseiten anzusehen. Seine sprachlichen Fähigkeiten, die er sich nur für seinen Trip nach Tirana angeeignet hatte, reichten gerade so aus, die Texte zu verstehen, aber nach nur wenigen Minuten hatte er keine Lust mehr. Er war kurz davor, den Laptop zuzuklappen, als ihm plötzlich eine bestimmte Schlagzeile ins Auge sprang.

»Tarek M. gilt weiterhin als vermisst – hat seine Mutter auch ihn auf dem Gewissen?«
 

Jakov musste nicht darüber nachdenken, wie winzig die Wahrscheinlichkeit war, dass dieser Tarek „sein“ Tarek war. Direkt unter der Überschrift befand sich ein Bild von Tarek und zwei Leuten, die vermutlich seine Eltern waren, glücklich lächelnd an einem Strand stehend. Es war die Art von Photos, die man im Sommerurlaub aufnahm und dann in sozialen Netzwerken hochlud.

„Mensch, Tarek, ich wusste ja, dass du etwas Besonderes bist, aber du musst nicht gleich so übertreiben“, murmelte Jakov leise, während er neugierig den Artikel las. Allem Anschein nach hatte sich Folgendes abgespielt:

Tareks Vater war ein hohes Tier bei der Polizei gewesen, seine Mutter hatte im Krankenhaus gearbeitet. Eines Tages hatte sie ihn ermordet und behauptet, er hätte sie monatelang geschlagen und niedergemacht und sie hätte sich nur gewehrt. Tarek war seit diesem Tag verschwunden, niemand wusste, wo er war, und jetzt wurde vermutet, dass Tareks Mutter nicht nur ihren Gatten, sondern auch ihren Sohn umgebracht und die Leiche versteckt hatte. Tarek wurde nicht nur gesucht, weil er verschwunden war, sondern auch weil er der einzige Zeuge war, der die Behauptungen seiner Mutter bestätigen oder verneinen konnte. Solange er das nicht tat, war nicht klar, was mit ihr passieren sollte.
 

Jakov lehnte sich in seinem Stuhl zurück und seufzte. Er fühlte sich, als hätte er soeben einen Roman verschlungen, von dem er noch nicht wusste, ob er ihn gut fand oder nicht.

Aber um auf das Wesentliche zurückzukommen – dass Tarek immer noch vermisst war, bedeutete, dass er noch lebte. Oder dass man seine Leiche noch nicht gefunden hatte, was Jakov aber eher für unwahrscheinlich hielt. Es gab also noch Hoffnung.

Toll. Und was sollte er jetzt machen? Alles fallen und liegen lassen, um zurück nach Tirana zu reisen und diesen verdammten Jungen zu suchen? Nun, rein theoretisch könnte er das machen. Rein theoretisch hatte er aber auch keine Zeit dafür. Sein Boss hatte Arbeit für ihn und diese Arbeit nicht zu erledigen, war keine Option.

Jakov klappte den Laptop zu, stellte sich kurz unter die Dusche und ging ins Bett, was ihn jedoch in die gleiche Position wie vor einer Stunde brachte: Er lag auf dem Rücken und starrte geistesabwesend die Decke an.
 

Was fand er an Tarek eigentlich so toll, dass er an nichts anderes mehr denken konnte? Ja, er war hübsch, und ja, Jakov wollte sein freches Lächeln noch einmal sehen, und ja, allein die Erinnerung an sein leises Stöhnen brachte Jakov auf gewisse Gedanken, aber...

Jakov entspannte sich und schloss die Augen. Er stellte sich vor, wie Tarek zu ihm ins Bett stieg und Kopf auf seiner Brust ablegte. Wie ihm die schwarzen Haarsträhnen ins hübsche Gesicht fielen und seine sanften braunen Augen auf Jakov fixiert waren, während er langsam nach vorne kroch und Jakov vorsichtig küsste. Wie seine Hand währenddessen nach unten wanderte und unter dem Saum von Jakovs Boxershorts verschwand.

Er würde sich Mühe geben. Dafür würde Jakov sorgen. Er verlangte von Tarek, alles richtig zu machen, und sollte Tarek das nicht tun, würde Jakov ihn bestrafen. Entweder indem er ihm den Höhepunkt verweigerte oder indem er dem Jungen den Hintern versohlte, bis er nicht mehr richtig sitzen konnte. Je mehr Jakov darüber nachdachte, desto mehr Dinge fielen ihm ein, die er mit Tarek anstellen könnte.

Er wollte diesen Jungen haben. Er wollte ihn vor sich knien sehen; nackt, verschwitzt, keuchend. Er wollte sehen, wie Tarek schüchtern und gleichzeitig ungeduldig zu ihm hochsah. Er wollte den flehenden Ausdruck in seinen großen Augen sehen.
 

Oh, Tarek, was machst du nur mit mir?

Jakov drehte sich auf die Seite und schlief nach mehreren Stunden endlich ein. Lange konnte er sich jedoch nicht erholen; die Sonne war gerade erst aufgegangen, als sein Handy zu klingen begann und ihn aus dem Schlaf riss.

„Boss? Was gibt‘s?“, murmelte er verschlafen und hielt das Smartphone von sich weg, während er gähnte.

„Ärger gibt es.“ Die Stimme klang ruhig, aber nicht beruhigend. Jakov runzelte leicht besorgt die Stirn und hörte, wie am anderen Ende der Leitung an einer Zigarette gezogen wurde. „Kannst du dich an den Typen erinnern, den ich dir vorletzten Monat vorgestellt habe? Der Typ aus Tirana?“

„Ja. Mir fällt sein Name nicht ein, aber ich weiß, wen du meinst. Was ist mit ihm?“

„Er hat gelogen.“

Jakov schloss die Augen und unterdrückte ein Seufzen. Drei simple Worte und schon erhöhte sich die Anzahl der Menschen, für deren Verschwinden er sorgen musste, um eins. Wenigstens brauchte er jetzt keine Ausrede mehr, um erneut nach Tirana zu reisen.

9. Kapitel

Der Sommer neigte sich dem Ende zu, aber in Tirana war es immer noch so heiß, dass Jakov sich am liebsten in einem Kühlschrank verstecken würde. Er war mit dem Flugzeug nach Albanien gereist, um Zeit zu sparen, und anstatt nun in seinem Sportwagen samt geliebter Klimaanlage durch die Gegend zu reisen, musste er mit einem Mietwagen vorlieb nehmen, der zu seinem Bedauern über keine Klimaanlage verfügte.

Den Auftrag seines Bosses hatte er schon längst erledigt. Die Leiche war ebenfalls entsorgt worden. Fehlte nur noch Tarek. Jakov hatte sich bereits in dem Stadtteil umgesehen, wo der Junge normalerweise sein Unwesen trieb, aber sowohl von ihm als auch von Alron, mit dem er anscheinend befreundet war, fehlte jede Spur. Jakov suchte jetzt schon seit mehreren Tagen und ihm lief langsam, aber sicher die Zeit davon.
 

Es war schon Abend, als Jakov eine Pause einlegte und sich an einem Kiosk eine kalte Flasche Wasser kaufte. Sein T-Shirt klebte wie eine zweite Haut an seinem Rücken und einige Strähnen seiner blonden Haare hafteten feucht an seiner Stirn. Er konnte es kaum erwarten, heute Abend in seinem Hotelzimmer unter die Dusche zu springen.

Hektisches Geschrei erregte seine Aufmerksamkeit. Er drehte sich um und sah, dass auf der Straße gegenüber dem Kiosk gerade ein Umzug stattfand. Ein großer LKW stand vor dem Gehweg und eine Familie mit mehreren Kindern trug Kartons und Kisten vom Haus zum LKW, während Befehle und Fragen gerufen wurden. Es war ein absolutes Chaos, schien aber trotzdem zu funktionieren.

„Abergläubische Vollidioten“, kommentierte die Frau im Kiosk, die Jakovs Blick verfolgt hatte.

„Bitte?“

Sie schmunzelte. „Sehen Sie das Haus dort?“
 

Jakov folgte der Richtung, in der ihr Finger zeigte, und erblickte das Reihenhaus, das nur zwei Häuser von dem Haus entfernt war, das gerade ausgeräumt wurde. Ein Schild stand im Vorgarten, es war mit „ZU VERKAUFEN!“ beschriftet, darunter war ein spottbilliger Preis angegeben.

„Vor wenigen Tagen hat es angefangen, dort zu stinken“, sagte die Frau vom Kiosk. „Das war allerdings nichts Neues, also haben wir es ignoriert, aber nach und nach wurde es so schlimm, dass wir die Polizei gerufen haben.“

„Ist jemand verstorben?“

„Ja. Ich kannte ihn. War ein Stammkunde. Niemand weiß, was wirklich passiert ist, aber einige Nachbarn sagen, dass jemand da eingebrochen ist. Dem Mann, der dort gelebt hat, wurden die Augen ausgestochen. Weil er nichts mehr sehen konnte, ist er die Treppe heruntergefallen und hat sich dabei das Genick gebrochen. Das Seltsame ist aber, dass nichts gestohlen wurde. Es gibt auch keine eingeschlagenen Fenster oder aufgebrochene Türen, aber dafür wurde die Terrassenüberdachung beschädigt.“
 

„Und jetzt haben die da“, sagte Jakov und deutete auf die umziehende Familie, die sich gerade zu streiten anfing, „Angst, dass bei ihnen auch eingebrochen wird?“

„Nein. Wissen Sie, in dem Haus dort wurden DNA-Spuren von einem Jungen gefunden, der momentan als vermisst gilt. Es ist echt bizarr.“

Jakov wollte fragen, ob es sich bei diesem Jungen zufälligerweise um jemanden namens Tarek hielt, aber konnte sich rechtzeitig zurückhalten.

„Und die Leute ziehen jetzt aus, weil sie denken, sie haben die ganze Zeit neben einem Entführer gewohnt?“

„Eigentlich tun sie es eher, weil sie denken, das Haus sei verflucht. Außerdem hat sich niemand die Mühe gemacht, das Haus reinigen zu lassen, das heißt, es stinkt immer noch. Ich habe gestern den Fehler gemacht, zu nahe dran vorbeizugehen; so etwas Furchtbares habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gerochen. Ich musste mich fast übergeben.“
 

Jakov verabschiedete sich, stieg in sein Auto und parkte eine Straße weiter. Er wusste nicht, ob das hier mit Tarek zu tun hatte. Einerseits war es durchaus vorstellbar, dass Tarek bei dem verstorbenen Mann die gleiche Masche angewendet hatte, der auch Jakov fast zum Opfer gefallen war, aber andererseits konnte sich Jakov beim besten Willen nicht vorstellen, dass Tarek jemanden die Augen ausstach. Außerdem war Tarek nicht der einzige vermisste Junge in Tirana und Einbrüche und Gewalttaten waren in den Armutsvierteln von Großstädten nun mal keine Seltenheit.

Trotzdem wollte Jakov mehr über diesen Vorfall wissen. Außerdem war das hier sowieso die einzige Spur, die er hatte.

Er wartete in seinem Auto, bis die Familie samt LKW von der Straße verschwunden war und der Kiosk schloss, ehe er sich unauffällig zu dem bestimmten Haus aufmachte. Mittlerweile war es dunkel geworden und die Mehrheit der Straßenlaternen funktionierte nicht, weshalb es nicht schwierig war, ungesehen durch die Gärten zu schleichen.
 

Das Erste, was Jakov bemerkte, als er sich dem Haus des Verstorbenen näherte, war, dass es tatsächlich bestialisch stank. Das war eindeutig der Geruch von Verwesung, den Jakov nur allzu gut kannte.

Seinen Würgereiz ignorierend und darauf bedacht, nur noch durch den Mund einzuatmen, sah er sich im Garten um. Zahlreiche Glasscherben lagen auf der Terrasse. Die Überdachung wies ein großes Loch auf; es sah aus, als wäre jemand durch das Glas gestürzt.

Jakov holte seine Taschenlampe hervor, um besser sehen zu können. Irgendwann vor seiner Ankunft in Albanien musste es geregnet haben, denn hier hatte jemand geblutet und der Regen hatte das Blut verwaschen. Man konnte kleine, kaum sichtbare Reste in den Rillen zwischen den Bodenplatten sehen.

Jakovs Blick wanderte nach oben zur zweiten Etage. Es gab nur ein Fenster und das befand sich genau über dem Loch in der Terrassenüberdachung. Falls Tarek wirklich hier gewesen war, musste er durch dieses Fenster und die Glasüberdachung gefallen, hier gelandet sein und dann...
 

Jakov sah sich um. Vor ihm waren die Reihenhäuser und hinter ihm in der Ferne befand sich etwas, das wie eine Müllhalde aussah. Wenn er sich in Tarek Lage befände, aus dem zweiten Stock gefallen wäre und sich verstecken müsste, wohin würde er gehen?

Es war unwahrscheinlich, dass Tarek durch die Gärten gekrochen war, weil ihn die Nachbarn dann gesehen hätten, aber es war auch unwahrscheinlich, dass er es bis zur Müllhalde geschafft hatte. Ein Sturz aus zwei Etagen musste ihm deutlich zugesetzt und vermutlich mehrere Knochen gebrochen haben. Er konnte sich glücklich schätzen, das überlebt zu haben.

Jakov beschloss, sein Glück zuerst bei der Müllhalde zu versuchen. Diese war mit Maschendraht umzäunt. Darüber zu klettern, sollte keine Herausforderung darstellen, aber Tarek hätte das in seinem Zustand niemals geschafft.

Jakov seufzte und kehrte zu den Reihenhäusern zurück. Als die Polizei hier gewesen war, musste sie nach Tarek gesucht haben. Entweder wurde er gefunden, aber die Medien haben nicht darüber berichtet, oder er galt immer noch als verschollen.
 

Nachdem Jakov nach weiteren Hinweisen gesucht hatte und beinahe über das rotweiße Absperrband gestolpert wäre, fiel ihm auf, dass die Blutspuren auf der Terrasse nicht den Umriss einer großen Pfütze bildeten, sondern ins Gras führten und zum Garten des Nachbarn zeigten.

Es war unmöglich, Blutreste auf Gras oder Erde zu sehen, da der Regen sie verwaschen hatte, aber Jakov versuchte trotzdem sein Glück. Er ging bis zum letzten Reihenhaus und warf einen kurzen Blick in die Gärten. Manche Häuser waren bewohnt, andere nicht und die wenigsten hatten ihren Garten eingezäunt. Für Tarek wäre es also möglich, sich in eines der unbewohnten Häuser zu schleichen, aber Jakov zweifelte daran, dass er dafür genug Kraft besaß.

Das vorletzte Haus schien seit längerer Zeit keine Menschen mehr gesehen zu haben. Die Fassade war mit Graffitis verunstaltet worden und kaum eines der Fenster war noch heile. Außerdem hatte ein Sturm das halbe Dach eingerissen. Einige Dachziegel lagen im Garten, sie waren verwittert und mit Moos bewachsen. Alle waren mehrere Meter vom Haus entfernt, nur einer nicht. Er lag direkt neben einem eingeschlagenen Fenster, das vermutlich in den Keller führte.
 

Jakov fasste sich nachdenklich ans Kinn und wog seine Chancen ab. Er konnte nicht einfach in ein Haus einbrechen, auch wenn es nicht bewohnt war. Wenn ihn jemand dabei entdeckte, würde man die Polizei rufen und darauf konnte Jakov wirklich verzichten. Außerdem wollte er sich gar nicht vorstellen, wie sein Boss wohl darauf reagieren würde, zu hören, dass Jakov bei einer seiner „Dienstreisen“ festgenommen wurde.

Gerade als Jakov beschloss, es für heute sein zu lassen und morgen woanders nach Tarek zu suchen, bemerkte er eine Bewegung neben dem Kellerfenster. Hastig richtete er den Schein seiner Taschenlampe darauf, nur um eine Ratte zu entdecken.

Jakov runzelte die Stirn. Es gab für Ratten keinen Grund, durch ein leeres Haus zu krabbeln. Es sei denn, es gab dort Nahrung. Und jeder wusste, dass Ratten nicht selten an Leichen nagten.

Nach kurzem Zögern griff Jakov durch das eingeschlagene Glasfenster der Hintertür und betrat das Gebäude, das man wohl kaum noch als ein Haus bezeichnen konnte.
 

Die Treppe zum Keller zu finden, dauerte nicht lange. Er war gerade auf der untersten Treppenstufe angekommen, als er plötzlich spürte, wie seine Socken durchnässt wurden. Der letzte Regen musste hier für eine Flutung gesorgt haben.

Er ignorierte das Wasser, das ihm bis zu den Knöcheln reichte, und sah sich um. Der Keller war leer. An der Seite, wo sich das Fenster befand, war der Boden erhöht. Die Plattform war etwa einen Meter breit, einen halben Meter hoch und sie reichte von der einen Seite des Kellers bis zur anderen. In der Mitte, genau unter dem Fenster, lag jemand. Er hatte Jakov den Rücken zugedreht. Beide Füße standen in unnatürlichen Winkeln von den ebenfalls krumm aussehenden Beinen ab und die Haut war von Blutergüssen, Schrammen und Kratzern übersät.

„Tarek?“

Der Junge rührte sich nicht. Jakov war sich nicht einmal sicher, ob es überhaupt ein Junge war. Die kurzen schwarzen Haare, die milchkaffeebraune Haut und der zierliche Körperbau kamen ihm allerdings bekannt vor.
 

„Tarek“, wiederholte er lauter und es kam erneut keine Reaktion. Er näherte sich dem Jungen, beugte sich über ihn und leuchtete ihm mit der Taschenlampe direkt ins Gesicht.

Es war Tarek, aber Jakov wünschte sich, er hätte hier jemand anderen gefunden. Tarek war bis auf die Knochen abgemagert, einige Wunden hatten sich entzündet, sein Gesicht war leichenblass und falls er nicht schon längst verhungert oder aufgrund einer Infektion gestorben war, würde er das in den nächsten Stunden oder Tagen bestimmt nachholen.

Jakov strich ihm vorsichtig das fettige verfilzte Haar aus der Stirn, woraufhin Tareks Augenlider kurz zuckten. Er öffnete langsam die Augen und sah zu Jakov hoch. Seine Lippen bewegten sich, doch kein Laut kam hervor.

„Komm, Tarek, wir gehen nach Hause“, sagte Jakov, ehe er den Jungen mit beiden Armen hochhob und aus dem Keller trug. In seiner linken Hand, die sich unter Tareks Kniekehlen befand, hielt er immer noch seine Taschenlampe. Er schaltete sie aus, sobald er das Haus verließ, und trug Tarek im Schutz der Dunkelheit zu seinem Auto.
 

„Wo–?“ Tarek brach ab und räusperte sich. Seine Stimme klang, als hätte er sie seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt. „Wo fahren wir hin?“

„Ich bringe dich in ein Krankenhaus“, antwortete Jakov, während er nach dem Sicherheitsgurt griff und den Jungen anschnallte.

„Nein!“, krächzte Tarek entsetzt und krallte seine linke Hand in Jakovs Unterarm. „Das kannst du nicht machen.“ Blanke Panik war ihm ins Gesicht geschrieben und seine braunen Augen glänzten, als würde er gleich weinen. Jakov fragte sich, warum Tarek nicht schon längst verdurstet war und wie sein Körper in der Lage war, Tränenflüssigkeit zu produzieren, als ihm klar wurde, dass Tarek wahrscheinlich das Regenwasser im Keller getrunken haben musste.

„Bitte, ich flehe dich an“, hauchte Tarek, dem bereits die erste Träne über die Wange rollte. „Ich werde vermisst und ich darf auf keinen Fall gefunden werden.“

„Ich weiß, ich habe in den Nachrichten darüber gelesen“, murmelte Jakov, während sein Blick über Tareks Körper wanderte. Der Junge besaß eindeutig mehrere Frakturen in beiden Beinen, und sein rechter Arm, der nutzlos in seinem Schoß hing, schien ebenfalls gebrochen zu sein.
 

Jakov seufzte ratlos und sah Tarek wieder ins Gesicht. „Sei ehrlich, wie geht es dir?“

„Gut. Ich muss nicht–“

„Die Frage ist nicht, ob, sondern wann du in ein Krankenhaus musst. Wenn du mir 24 Stunden Zeit gibst, kann ich dich zu einem privaten Arzt in Italien bringen. Der wird nicht fragen, wer du bist, aber das wird dir nicht viel bringen, wenn du bis dahin gestorben bist. Ich kann dich auch hier und jetzt in ein Krankenhaus bringen und versuchen, die Ärzte zu bestechen, ich weiß aber nicht, ob das funktionieren wird.“

Tarek senkte den Blick und dachte kurz nach. „Hast du Desinfektionsmittel?“

„Um deine Wunden zu versorgen, werden wir auch Antibiotika brauchen, und ich habe beides parat.“

„Gut. 24 Stunden kann ich schaffen.“

Jakov haderte kurz mit sich selbst, ehe er die Tür schloss, um das Auto ging und auf der Fahrerseite einstieg. So zerbrechlich Tarek auch aussah, er war zäh. Und sollte es ihm doch schlechter gehen, konnte er ihn immer noch ins Krankenhaus bringen. Es würde schon irgendwie klappen.



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Kommentare zu dieser Fanfic (23)
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Von:  queen006
2021-02-06T21:01:10+00:00 06.02.2021 22:01
Hi und Hallo
Warum wurden denn die ganzen Stolen Dreams Geschichten nicht fertig geschrieben?Sehr sehr schade.
Von:  Arya-Gendry
2020-05-23T21:03:30+00:00 23.05.2020 23:03
Hi^^
Ein super Kapitel. Nun wird es ihn auch wieder besser gehen ich hoffe es. ;)
Freu mich auch schon wenn es im deinen anderen Storys weiter gehen wird.
Lg.
Von:  Micah25
2018-11-05T02:59:14+00:00 05.11.2018 03:59
Ich hoffe sehr, dass Tarek diesem Arsch entkommen kann. Und besonders hoffe ich, dass er bald auf erneut auf Jakov trifft, und dieser sich fortan um Tarek kümmert. Verdient hätte er es endlich glücklich und in Sicherheit zu sein.
Von:  Arya-Gendry
2018-11-04T18:39:28+00:00 04.11.2018 19:39
Das Jakov schon längst weg ist war klar, aber vielleicht hat Tarek ja Glück und Jakov kommt doch nochmal zurück.
Heroin macht einen einfach nur Kaputt. Ich hoffe für ihn das er schnell von denn Zeug los kommt, aber selbst wenn der Kerl in jetzt fest hält und Tarke dadruch wohl einen Kalten entzug machen wird. Wird er wohl sobald er es denn schafft frei zu kommen schnell wieder Abhängig sein.
Bin schon auf das nächste Kapitel gespannt.
LG.
Von:  Onlyknow3
2018-11-04T15:25:19+00:00 04.11.2018 16:25
Das wird noch übel enden, es sei denn er beruft sich auf Jakov.
Das könnte ihm vielleicht das Leben retten.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Onlyknow3
2018-06-25T13:42:36+00:00 25.06.2018 15:42
Doch der ist wohl schon weg so wie es aussieht.
Tarek wird ihn nicht mehr erreichen.
Das seine Mutter sich wehr und es dann in Notwehr endet, war klar.
Aber so ist es oft, wenn man unterdrückt und gedmütigt wird.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Arya-Gendry
2018-06-25T12:43:11+00:00 25.06.2018 14:43
Mir tut Alron so leid, aber das es so weit kommen würde war wohl klar. Auch das Tareks Mutter nachdem ihr Mann sie so oft geschlagen hatte eines Tages in ein Unglück enden wird war wohl klar. Nun ich hoffe für Tarek das er es noch rechtzeitig zu Jakov schaffen wird bis dieser weg ist.
LG.
Von:  Mamesa
2018-06-11T18:32:08+00:00 11.06.2018 20:32
Armer kleiner😭ich mochte den


Von:  Onlyknow3
2018-06-11T08:34:33+00:00 11.06.2018 10:34
Das wird Tarek wohl zum umdenken bringen, aber dann ist es zu spät.
Jakov ist dann weg, und Alron tod, Was werden die anderen sagen wenn sie es merken?
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Arya-Gendry
2018-06-10T17:25:57+00:00 10.06.2018 19:25
Bin mal gespannt wann bzw wie Tarek Jakov wieder sehen wird. Naja es sein denn Jakov bleibt doch etwas länger oder er wird bald zurück kernen. Das Ledion und seine Leute wohl keine Chance gegen Jakov haben werden ist wohl klar.

Alron tut mir echt leid. Scheiß Heroin, aber er wird nicht das erste und nicht das letzt Opfer von denn Mist sein.
Bin schon auf das nächste Kapitel gespannt. ;)
LG.


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