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Nur ein Spiel

von

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Herzensangelegenheiten

Es war weit nach fünf Uhr, als die fremde etwa sechzehn- oder siebzehn Jahre alte Person ihre Augen aufschlug. Sie hatte geträumt, war sich sicher, dass sie sich unbedingt erinnern musste, spürte, dass sich etwas verändert hatte. Sie richtete sich langsam auf, während ihr Kopf höllisch brannte. Durch den schwachen Schein einer Lampe, die warme rote Lichter in das Zimmer warf, konnte sie einen Blick auf den Ort werfen, an dem sie war: ein großer, gemütlicher Raum, in grünen und vor allem bräunlichen Tönen gehalten, ein Schreibtisch, zwei Schränke, eine Couch. Dann wanderte ihr Blick zu der Person, die neben dem Bett wachte. ,Nanu‘, dachte sie ungewollt und kam von seinem Erscheinungsbild zunächst nicht los, betrachtete sich die blonden Haarsträhnen, die ungezwungen in seine Augen fielen, betrachtete sich das sonnengebräunte Gesicht. Wer war dieser schlafende, junge Mann? Und was machte sie hier? Sie starrte ihn eine Weile an, begriff nicht, warum sie es so lieb von ihm fand, dass er neben dem Bett wachte, verstand nicht, warum die Art und Weise, wie er ausgebreitet auf dem Sessel schlief, ihr ein Lächeln auf das Gesicht zauberte. Dann wanderten ihre Hände zitternd an die Schläfen.

„Mein Kopf…“, murmelte sie. Erneut schaute sie sich um, fand jedes Detail in diesem Zimmer bewundernswert und gleichzeitig befremdend. Sie stützte auch ihre andere Hand an ihren Kopf bei dem Versuch zu begreifen. Sie suchte nach Erinnerungen, nach etwas, um diese Situation verstehen zu können, aber irgendetwas stimmte nicht… es gab nichts in ihren Gedanken, kein Bild, keine Personen, keine Erinnerungen. Alles war so verschwommen, so leer. Verunsichert hetzten ihre Augen in jede Ecke des Raumes. Sie wollte verstehen, erkennen, erinnern. Aber nichts war da. Nur Ahnungslosigkeit. Unwissenheit und Nichts. Mit jeder weiteren Sekunde, die verging, wurde sie nervöser, ihr Puls raste vor Hilflosigkeit und Anspannung. Das Mädchen konnte sich nicht erinnern, was passierte, wusste nicht, wo sie war, wer sie war, was sie war.

Leicht irritiert entfuhr es ihr: „Wo bin ich eigentlich?“ Dann bemerkte sie, als sie aufstehen wollte, dass sie gar nichts an hatte. Erschrocken umhüllte sie sich mit der Decke und ihr Blick fiel wieder zu dem jungen Mann neben dem Bett. Sie sah ihn eine Weile an, wusste, da war etwas… Ein vertrautes, angenehmes Gefühl durchfuhr sie, als sie in sein Gesicht sah. Eine angenehme Empfindung, beruhigend und vertraut. Etwas Warmes glitt über ihr Herz, sanft flüsterte eine Erinnerung…
 

Dann seufzte er leicht im Schlaf und blinzelte. Link gähnte und öffnete schließlich seine Augen vollständig. Als er begriff, dass sie aufgewacht war, rutschte er beinahe vom Sessel und konnte sich gerade noch fangen. Verlegen sah er ihr genau in das Antlitz, und hatte Recht behalten- diese Augen waren wunderschön blau. Sie sahen sich lange an, so als kannten sie einander, als hätten sie einander für eine lange Zeit vergessen müssen, weil es das Schicksal so wollte.

Sie zuckte in dem Moment zurück, als die Realität sich wieder einmischte und lehnte sich an die Wand. „Wo bin ich?“ Sie sprach die Worte langsam, hatte fast den Eindruck die Sprache war ihr fremd.
 

Und Link erkannte jene Stimme, jenen Klang aus seinen Träumen. War sie es wirklich? „Du bist im Haus von den Braverys“, sprach er leise.

Sie runzelte die Stirn und blickte angsterfüllt in seine Augen.

Link meinte: „In…“ Er stoppte seine Worte, als er begriff, wie verunsichernd und schwer diese Situation für das Mädchen war. Wann wachte man schon nackt in einem fremden Haus auf? Eine Spur Befangenheit und ein verwirrter Blick verriet sie. „Du bist hier in Sicherheit. Du… brauchst dich vor mir nicht zu fürchten.“

Sie machte zuerst keine Anstalten ihm in irgendeiner Weise zu glauben, sondern sprach noch einmal bemüht Ruhe zu wahren: „Sagt mir bitte, wo ich bin!“

Link war total verdutzt, als er hörte, wie sie ihn anredete. „Das sagte ich bereits“, meinte er schroff.

„Ich wollte wissen…“, begann sie leise.

„… in welcher Stadt. Also gut: In Schicksalshort.“

Als sie ein bestürztes Gesicht aufsetzte, sagte er: „ Sagt dir nichts? Wir sind auf der Erde.“

Anstatt eines „Aha“, was Link nun wirklich erwartet hatte, fasste sie sich mit zitternder Hand an den Kopf und sah drein, als hätte sie ein Gespenst gesehen. „Willst du jetzt auch noch die Zeit wissen: einundzwanzigstes Jahrhundert.“ Link hatte eigentlich ein kleines Dankeschön erwartet. Aber jetzt machte er sich Vorwürfe. Vielleicht hätte er sich nicht einmischen sollen- in was auch immer. Er wollte gerade aufstehen und im Zimmer auf und ab gehen, um eine Lösung zu finden, als das Mädchen ihn an der Hand zurückhielt. Überrascht drehte er sich zu ihr und setzte sich wieder.

„Ich weiß nicht, was geschehen ist, aber ich danke Euch…“ Diese liebliche… glockenhelle… fast schon melodische Stimme… konnte es denn tatsächlich sein, dass er ihre Stimme bereits einmal gehört hatte? Hatte ihre Stimme wirklich nach ihm gerufen, oder bildete er sich das ein? Auch wenn seine Gedanken ihn verunsicherten, huschte ein Lächeln über Links Gesicht. „Bleiben wir doch lieber bei dem du“, sprach er aufheiternd. Erst jetzt bemerkte Link die tiefe Traurigkeit in ihren Augen, die irgendwie rätselhaft mit Schatten überdeckt waren. Ein seltsamer Schatten, der irgendetwas hinter ihren Augen, direkt in ihrer Seele, verbergen wollte.

Sie hielt immer noch Links Hand umklammert. Selbst dieses Gefühl kam ihm irgendwie so vertraut vor. Aber woher? Der junge Mann holte einmal tief Luft und sagte dann ruhiger und gefühlvoller als vorhin: „Ich habe dich in den Wäldern gefunden. Es war vor wenigen Stunden. Du lagst mit dem Gesicht in einem Bach. Ich konnte dich dort doch nicht einfach liegen lassen. Also habe ich dich mitgenommen und an diesen Ort gebracht. Dein Kleid und deine restlichen Sachen hängen dort drüben, neben dem Ofen.“ Sie errötete. „Keine Sorge, meine kleine Schwester hat dir das Kleid ausgezogen. Du warst starr vor Kälte…“ Link kam mit einem Schlag ein Bild zurück in seine Erinnerung: wie sie am Rande des Baches lag, so hilflos, allein, verdammt zu leiden…

„Nebenbei, wer bist du eigentlich?“, wollte er wissen.

Ihre Augen wurden trüb, dann sah sie zur Seite, während sie mit dem Ring an ihrer Hand spielte. „Ich weiß… es… nicht…“
 

Link verstand nun die ausweglose Situation dieses Mädchens. Sie konnte sich scheinbar an gar nichts erinnern, weder an ihren Namen, noch an irgendwelche Ereignisse. Er glaubte ihr, warum und mit welchem Zweck, waren andere Angelegenheiten.

„Ich bin gerade eben zur Besinnung gekommen und als ich versuchte mich zu erinnern, da… da war alles weg… es…“ Sie suchte nach den Worten, aber es war wie, als konnte sie diese Sprache nicht einmal richtig verwenden.

Link sah ihr eine Weile in die Augen, hatte noch nie eine solche klare, himmelblaue Farbe gesehen und konnte nicht anders als sanft und ermutigend zu lächeln. Er konfrontierte sie zugleich mit der Wahrheit. „Sieht so aus, als hättest du dein Gedächtnis verloren, tut mir leid, dir das sagen zu müssen… Mein Name ist Link.“ Er reichte ihr die Hand. „Hey, wir kriegen schon raus, wer du bist, okay?“ Sie nickte und blickte besinnlich in seine Augen. Das erste Mal war die Spur eines Lächelns auf ihrem Gesicht zu erkennen. Sie gab ihm die Hand.

Ein Händedruck. Eine Berührung. Ein Lächeln. Und ihm wurde bewusst, dass er für dieses Mädchen alles tun würde.

Erst jetzt musterte sie ihn genau, sah seine tiefblauen, ernsten Augen, seine blonden Haarsträhnen, die ins Gesicht hingen. „Link also.“

„Jep.“

„Ich möchte dir und den Menschen in diesem Haus keine Umstände machen… Ich bin auch gleich weg“, sprach sie vorsichtig.

„Und wo willst du hin? Mit diesem Outfit wirst du mächtig Probleme bekommen. Du kannst, denke ich erst einmal hier bleiben, natürlich nur, wenn du keine andere Lösung hast.“

Daraufhin ließ sie sich erschöpft zurück ins Bett sinken.

Nun bemerkte Link mal wieder die Wunden auf seinem Körper. Er spürte, wie ihm der Schweiß über die Stirn trat. Die ganze Zeit hatte er sie erfolgreich unterdrückt. Doch jetzt kamen sie langsam wieder angekrochen. Sein Atem wurde schwerer. Sein Gesichtsfeld war plötzlich verschwommen. Jetzt hatte er wahrlich Fieber.
 

„Aber…“, sagte sie und verstand die unglaubliche Freundlichkeit ihres Gegenübers keineswegs. Doch der Anflug des Misstrauens von Beginn an, verschwand mit dem Blick in seine Augen. Sie mochte diese unentrinnbare Farbe darin, diese Tiefe, als ob er mit einem Blick hinter jeden Gedanken eines Menschen Herz gelangen könnte.

Link griff sich selbst an die Stirn, sie glühte geradezu. ,Ich hätte diese Verletzungen nicht auf die leichte Schulter nehmen sollen‘, sagte er sich.

„Ich kann wirklich bleiben?“ Sie sprach ihre Worte etwas sonderbar aus, mit einem sehr fremdartigen Dialekt.

„Aber nur, wenn du aufhörst, dir Gedanken darüber zu machen, ob du irgendjemandem Umstände bereitest. Sonst trage ich dich eigenhändig aus dem Haus, verstanden?“ Link setzte sein charmantestes Lächeln auf und blickte verlegen zur Uhr. Hatte er das gerade wirklich zu ihr gesagt? Er wollte sich am liebsten ohrfeigen bei dem Gedanken, dass er mit ihr flirten wollte. „Es ist noch früh am Morgen. Ich bin gleich wieder da und erkläre dir dann einiges“, meinte er schließlich und ging aus dem Zimmer, um im Bad einen Blick auf seine ungewöhnlichen Wunden zu werfen.
 

Das fremde Mädchen blieb noch eine Weile sitzen. Dann fiel ihr die Kleidung neben dem Bett auf. Es war ein enger roter Pullover, aus dünnem Stoff, und dazu eine blassblaue, helle Hose aus einem Material, das sie nicht kannte. Sara gefielen diese Klamotten nicht, war nicht ihr Geschmack, nicht ihre Farben, und nebenbei ein wenig zu eng. Also hatte sie die Sachen mit der Annahme, sie könnten der Fremden passen, als Link und die Dame geschlafen hatten, hier abgelegt. Das Mädchen verstand und zog die Kleidung an- sie passten wie angegossen. Der Pullover stand ihr ausgezeichnet und betonte ohne Umschweife ihre anmutige, weibliche Figur. Draußen war es immer noch dunkel. Im Schein der Lampe trat sie schwankend an den Schreibtisch, auf dem ein schwarzes Buch lag. Aus irgendeinem Grund war sie unheimlich aufgeregt, als sie die goldenen Buchstaben darauf las: ,The Legend of Zelda- Ocarina of Time.’ Neugierig blätterte sie darin herum, fand eine Graphik, die die ganze Seite einnahm und sah sich die Figuren darauf genau an. Links ragte ein königliches Schloss nach oben. Rechts eine dunkle, gefährliche Festung. In der Mitte, von reinem Licht umgeben, ein grünbemützter Junge, einmal als Erwachsener mit einem Schwert in der Hand, ein anderes Mal als Kind mit einer Okarina. Ja, sie kannte das Instrument, ja, sie war sich sicher, sie hatte es einige Male gespielt. Das Buch sah ziemlich mitgenommen aus, so, als wäre es etliche Male angesehen worden.

Link trat inzwischen wieder in den Raum, frisch gekleidet, mit gekämmten Haaren und zwei Tassen Tee in der Hand. Die Schmerztabletten wirkten jetzt vermutlich, denn er war fast frei von Schmerzen. Unsicher sah er das Mädchen nun an und suchte nach Worten um für diese Schönheit eine Beschreibung zu finden. ,Eine Göttin‘, fiel im spontan ein… ja, sie verhielt sich wie eine Göttin. Sie stand mit dem Rücken vor seinem Schreibtisch. Sie war ungefähr einen halben Kopf kleiner als Link. Das lange, goldene Haar hatte sie aus dem Zopfhalter gelöst und fiel fast bis zu ihrer Hüfte. Links Blick schweifte sofort zu ihren langen, schlanken Beinen und fand, dass ihr eine Jeanshose besser passte und ihren Körper besser betonte als ein langes Kleid, unter dem diese Beine versteckt wurden. Und was für Beine… eine Schande diese zu verbergen. ,Eine echte Verschwendung von Schönheit‘, dachte Link. Und dieses Mädchen brauchte nicht ein Detail ihres Körpers zu verstecken…

Er stutzte und meinte: „Das steht dir sehr gut… Ähm, interessantes Heft nicht wahr?“ Sie drehte sich überrascht, aber nicht verärgert um, da Link sie ohne jede Vorwarnung aus ihren Grübeleien befördert hatte.

„Hab’ ich dich erschreckt?“

Sie schüttelte mit dem Kopf und schenkte ihm einen fast lächelnden Ausdruck in dem edlen Gesicht. „Wer ist dieses Mädchen auf dem Bild?“

„Du meinst die Dame mit der Krone.“

„Ja, sie hat so einen gefassten Blick.“

„Das ist… Prinzessin Zelda.“

„Aha.“ Eine innere Ahnung beschlich sie. „Und wer ist sie?“

„Sie ist ein Hauptcharakter eines Spiels…“, sprach er dann. Und auch Link begriff nun, was Sara vorhin schon lange verstanden hatte. Dieses Mädchen hatte eine unheimliche Ähnlichkeit mit einer Spielfigur. Oder sah er gerade nur, was er sehen wollte? „Sie sieht aus wie du- seltsam oder?“, meinte Link, ohne dass er wirklich mit dem Thema anfangen wollte.

„Ja.“

„Und du kannst dich an wirklich nichts erinnern?“

„Nein.“ Link wollte sie in ein Gespräch verwickeln, aber sie schien sichtlich genervt und antwortete teilnahmslos: „Das bin ich nicht… sie ist nur eine Spielfigur!“

„Das habe ich auch niemals behauptet, die Ähnlichkeit ist aber verblüffend.“ Sie würdigte ihn keines Blickes. „Okay, vielleicht warst du auf einer Art Feier und die Leute dort haben sich verkleidet.“ Link redete absoluten Stuss, er begann jetzt mit seinen wahnwitzigen Ideen, die eben typisch Link waren. „Wäre es eine Schande eine Prinzessin zu sein?“

„Ja…“, meinte sie trübsinnig. Für einen kurzen Augenblick wurden ihre himmelblauen trauriger als ohnehin schon. „Und es wäre eine Schande eine Spielfigur zu sein.“

„Hin oder her… wir müssen dir einen Namen geben, oder“, sagte Link, als er ihr den Tee reichte.

Sie nahm dankend einen Schluck und fragte ihn: „Ja, vielleicht, aber er wäre nicht mein richtiger Name.“ Sie stellte die Tasse auf den Schreibtisch und griff sich an ihren schmerzenden Kopf. Was war nur los mit ihr? Sie fühlte sich so komisch, so fremd, vor allem fremd gegenüber sich selbst. Es war nicht nur die Sprache, die sie doch eigentlich verstand, es waren auch diese ganzen merkwürdigen Alltagsgegenstände, die sie verunsicherten. Sie hatte fast das Gefühl, diese modernen Gegenstände waren ihr überhaupt nicht geläufig. Mit dem Anflug eines Schamgefühls blickte sie zu dem jungen Mann, der im Zimmer stand. Sie konnte ihn kaum belasten und in ihrer Angelegenheiten mit hineinziehen. Sie schwankte ein wenig und fasste sich an ihren trommelnden Schädel. Es hämmerte so entsetzlich…

Plötzlich hielt sie eine starke Hand an ihrem Arm davon ab, umzukippen. „Vorsicht. Vielleicht setzt du dich wieder“, sagte Link.

Sie nickte und ließ sich auf den Rand des Bettes sinken. „Danke für deine Hilfe. Bist du denn immer so freundlich?“

„Im Großen und Ganzen ja…“, erwiderte er und setzte sich ebenso auf die Bettkante. „Was willst du jetzt tun, nun, da du hier bist?“

Sie zuckte mit den Schultern und der traurige, verlorene Ausdruck auf ihrem Gesicht bedeutete nichts Gutes. Es stand ihr nicht… ein Lächeln gehörte auf dieses wunderschöne Gesicht mit der porzellanartigen Haut. „Alles hier ist so befremdend… vielleicht sollte ich doch gehen…“, sagte sie und schaute aus dem Fenster. Nebel lag in der Dunkelheit gleich einem dicken Schleier, welcher jene Nacht noch düsterer machte.

Links Miene verzog sich bei dem Gedanken. Er wusste nicht warum, aber er wollte, dass sie blieb. Er brauchte ihre Anwesenheit aus irgendeinem Grund, obwohl er nicht eine Ahnung davon hatte, wie sie hieß oder wer sie war. „Ich kann dich nicht davon abhalten, zu gehen“, sagte seine einfühlsame, angenehme Stimme. Sie mochte den Klang, den tiefgehenden Klang seiner Stimme.

„Nein, das kannst du nicht…“
 

Nach einer Weile stand Link schließlich auf, nachdem sie sich erneut minutenlang in die Augen gesehen hatten. Sie würde hier nicht verweilen. Wie nur konnte sich Link einbilden, dieses Mädchen hätte einen Grund seine Anwesenheit willkommen zu heißen? Diese beklemmende Situation… unheimlich vertraut. Erinnerung an Abweisung und Sehnsucht…

Sie stand ebenso auf und kam knapp hinter ihm zum Stehen. „Ich würde sehr gerne bleiben“, sagte sie.

Überrascht wand sich Link zu ihr. „Wirklich?“, fragte er erleichtert und zu tiefst erfreut, als ob sein Überleben von ihrer Anwesenheit abhing.

„Ja, ich weiß ohnehin nicht, wo ich hingehen soll… und ich… ich hoffe, dass ich dir nicht auf die Nerven falle, Link.“

„Wahrscheinlich wäre ich froh darüber, wenn du mir auf die Nerven fällst“, sagte er mit einem Hauch Spitzfindigkeit.

Sie lächelte beruhigend. Sachte nahm sie wieder ihre Tasse Tee und trank einen Schluck. „Was ist das eigentlich, was ich hier trinke?“

„Kirschtee mit Vanille. Warum?“

„Ich habe das Gefühl, ich hätte so etwas noch nie getrunken… na ja, unwichtig.“

„Das ist nicht unwichtig. Vielleicht hilft es dir, dich zu erinnern.“

„Mmh… hoffentlich.“ Sie lief ans Fenster und starrte in ihre Gedanken versunken hinaus, beobachtete die rote aufgehende Morgensonne hinter den Wäldern. Ein warmer Schein legte sich über die Stadt, über die vielen Einfamilienhäuser Schicksalshorts, über die kleinen geteerten Straßen. Auch das kam ihr seltsam vor, als ob sie nie etwas Derartiges gesehen hätte, als ob sie in einer weitzurückliegenden Zeit zuhause war. „Du sagtest, du hättest mich in den Wäldern gefunden?“

„Ja, in einem Bach… deshalb warst du so durchgefroren“, sagte er langsam und leise, und unterdrückte den aufkommenden Schmerz in seinem Magen.

„Ich frage mich, wie ich dort hingekommen bin“, sagte sie und drehte sich zu ihm um. Mit stechendem Kopfschmerz setzte sie sich wieder und hielt eine Hand an ihre rechte Schläfe.

„Das ist eine gute Frage“, meinte er. „Es dauert bestimmt nicht lange und du erinnerst dich. Nur Mut“, setzte er hinzu. Sie blickte direkt in seine tiefblauen Augen, versuchte wegzuschauen, aber sein Blick war einfach nur magnetisch. Er kniete aus irgendeinem Grund vor ihr nieder und sah zu ihr auf.

„Warum tust du das für mich? Ich meine, warum hilfst du mir?“

„Nun ja, ich bin wohl irgendwie für dich verantwortlich. Schließlich habe ich dich gefunden.“

Sie nickte und versank halb in diesem unwiderstehlich blauen Leuchten seiner Augenfarbe.

„Hast du Kopfschmerzen?“

„Ein wenig, ja.“

„Wie wäre es mit einer Aspirin?“

„Einer was?“, fragte sie unschuldig. Link zuckte ein wenig zurück und sich heimlich annähernd schlich ein seltsames Gefühl in seine Gedanken. Wusste sie tatsächlich nicht, was eine Aspirintablette war?

Sie wich seinem Blick aus und sah beschämt weg. „Hältst du mich für dumm, weil ich von manchen Dingen keine Ahnung habe?“

Link schüttelte aufmunternd seinen Kopf. „Nein, ehrlich gesagt halte ich dich für alles andere als dumm.“

„Was denn dann?“

„Ähm“, stotterte Link, „… einzigartig.“ Ja, das traf es wohl am besten. „Aber… kommt dir hier denn nichts bekannt vor… Ich meine, diese Gegenstände in meinem Zimmer wie der PC oder der Fernseher?“ Ihr verunsicherter und verzweifelter Blick schenkte ihm sofort eine entsprechende Antwort. ,Dieses Mädchen war vielleicht wirklich nicht von dieser Welt‘, dachte er, kannte viele Dinge der modernen Welt nicht, hatte nicht einmal eine Ahnung davon, was Aspirintabletten waren und musste wohl neben den Erinnerungen, die sie wiederfinden wollte auch anfangen wie ein moderner Mensch zu leben.

Er sprang aus seinem fast ritterlichen Niederknien vor ihr auf und holte schnell eine Schachtel Aspirin aus seinem Glasschrank. Sie betrachtete sich die Tablette, als hätte sie so etwas noch nie gesehen, wenn nicht sogar mit ein wenig Misstrauen erfüllt.

„Hey, du kannst mir ruhig vertrauen. Das wird dir helfen.“

Sie nickte und schluckte es hinunter. Eine Pause entstand.

„Diese Stadt heißt Schicksalshort, sagtest du vorhin.“ Wieder suchte sie seinen Blick.

„Mmh.“

„Und dieses Haus? Wohnst du hier alleine oder…“

Link lachte kreischend auf. Das war vielleicht ein Gedanke. „Um Gottes willen, nein, du hast eine sehr lebhafte Phantasie. Man sieht es mir vielleicht nicht an, aber ich bin erst siebzehn und…“ Er setzte sich wieder auf den Sessel vor seinem Bett und ließ die Beine baumeln. „… in diesem Haus wohnen noch meine Eltern und Sara, meine Schwester. Von ihr hast du im Übrigen diese Klamotten erhalten.“

„Oh, da möchte ich mich aber bei ihr bedanken…“

„Das kannst du“, sagte Link lächelnd. „Wenn sie aufgewacht ist. Es ist noch früh am Morgen, vor um zehn steht bei uns keiner am Wochenende auf, also wirst du dich noch ein wenig gedulden müssen.“
 

Sie spielte mit einem weißgoldenen Ring an ihrer rechten Hand, ein schönes kleines verschnörkeltes Symbol war darauf angebracht. Link sah genau hin und fand, dass es sehr viel Ähnlichkeit mit einem alten Ritterwappen hatte. Eine Art Falke oder Adler war auf dem Schmuckstück dargestellt, und kleine grüne Smaragde dekorierten es.

„Allerdings wissen meine Eltern noch nicht, dass…“ Er sprach den Satz nicht zu Ende. Ein unsicheres Gefühl drängte sich ihm auf- die Sicht der Dinge, wenn seine Mum und sein Dad dieses Mädchen so schnell wie möglich aus dem Haus schmeißen würden. Vielleicht konnte sie bleiben, oder vielleicht würden seine Eltern Wege einleiten, jenes Geschöpf ohne Umschweife von ihm fernzuhalten. Ein unschöner Gedanke. Aber warum? Weshalb setzte es ihm zu, wenn sie gleich wieder ging. Wer zum Kuckuck war sie nur? Seine Seelenverwandte?

„Deine Eltern werden mich fortschicken, nicht wahr?“ Ein trauriger, verunsicherter Ausdruck in den ohnehin mit Sorgen belasteten himmelblauen Augen stach Link entgegen. Ein Druck baute sich in ihrem Inneren auf. Gerade hatte sie sich ein wenig besser gefühlt, nicht mehr so verloren, so hilflos wie am Anfang. Und sie wusste, dass die Anwesenheit dieses selbstlosen Menschen helfen könnte, zu überstehen, was sie befürchtete, zu erinnern… Ihre Stimme bekam Risse, als sie weiterredete: „Ich weiß nicht… wohin, ich gehen soll… Link“, sagte sie. Ihre Hände krallten sich zitternd in der Decke fest, die auf dem Bett lag. Sie unterdrückte den Zwang vor Verzweiflung zu weinen und kämpfte mit sich selbst und dem Gefühl der Demütigung.

„Ich flehe dich an, bitte, lass’ mich hier bleiben. Es ist mir unbegreiflich, wie ich dich darum bitten kann… und noch unbegreiflicher zu verstehen, wieso ich dir Vertrauen schenke, aber….“
 

Link schüttelte mit dem Kopf und unterbrach sie. Dann zeigte sich ein Lächeln auf seinem Gesicht, eine beruhigende Geste eines mitfühlenden Menschen. „Wenn du hier bleiben willst, kannst du das. Ich werde nicht zulassen, dass dich jemand herausschmeißt, ja?“

Sie legte eine Hand auf seine linke. „Danke“, sagte sie lächelnd.

Dann wurde die ernstscheinende Situation von anderen Geräuschen unterbrochen. Ein Magenknurren, aber erstaunlicherweise nicht von Link, der zugegebenermaßen ein großer Vielfraß war. Die junge Lady errötete ein wenig und sah dann verlegen weg.

„Ich nehme an, du hast Hunger“, sagte Link charmant mit einem Grinsen auf dem Gesicht, das dämlicher nicht aussehen konnte. Er half ihr Aufstehen und wies sie an ihm zu folgen.

„Ich hoffe, du isst Gemüsesuppe.“

„Na ja… ich weiß nicht“, sagte sie. Aber höflicherweise war sie nicht wählerisch.

„Die gab es gestern bei uns. Ein bisschen ist noch übrig. Und soweit ich weiß, war meine Mutter nicht einkaufen. Nächste Woche sind bei uns Schulferien und meine Eltern wollten in dieser Woche in den Urlaub fahren. Deshalb bin ich mir eigentlich sicher, dass es ihnen egal ist, ob ich nun einen Gast habe oder nicht.“ Das klang beruhigend und ausgesprochen ermutigend. Sie wollte diesen Leuten nicht noch mehr Umstände machen als nötig. Sie folgte Link die Treppe hinab, versuchte so wenig Geräusche zu hinterlassen wie nur irgendwie möglich und lief barfuß auf dem kalten Holz entlang. Sollte sie Link etwa schon wieder um etwas bitten? Nein, aus irgendeinem Grund fühlte sie sich unwohl, ihn um noch mehr zu bitten, als sie bereits getan hatte. Es forderte schon ein großes Stück Mut jemanden anzuflehen, bleiben zu können, den man noch nie im Leben gesehen hatte und der zudem noch im gleichen Alter wie sie war, so nahm sie an und, der auch noch so ansehnlich war wie Link… außerdem hatte sie ein merkwürdiges Gefühl im Magen, das ihr beinah befahl, Link nicht noch um mehr Dinge zu bitten…

Überraschenderweise drehte er sich um und schaute zu ihren Füßen. „Ist dir nicht kalt an den Füßen.“

„Doch“, meinte sie leise.

„Warum sagst du das denn nicht?“, erwiderte Link und öffnete einen Schuhschrank, als sie beide im Korridor standen.

„Was für eine Schuhgröße hast du?“ Sie schüttelte mit den Schultern und sagte: „Das weiß ich leider nicht.“ Das hätte Link doch klar sein müssen. So langsam verstand er dieses Mädchen oder hatte er das nicht schon einmal vor langer Zeit?

Nachdem die Zwei ein Paar Pantoffeln für die junge Schönheit ausgesucht hatten, liefen sie schnurstracks in die Küche. Link stellte einen kleinen Topf mit der Suppe auf den Elektroherd und wies das Mädchen an, sich auf die gemütliche Eckbank zu setzten, was sie sofort tat. Wenig später aß die Lady mit einem einfachen Löffel die Suppe und genoss das Gefühl etwas im Magen zu haben. Link beobachtete sie, während sie aß. Jeder würde sie beobachten, wenn sie das tat, denn sie aß mit einer solchen Eleganz, dass sich Link zunehmend fragte, ob sie von der Erde stammte.
 

Sie aß vorsichtig, legte dabei großen Wert auf ihre Manieren und musste aus der Sicht anderer dadurch sehr eitel wirken. Link fragte sich, was die Menschen von ihr dachten, die ständig mit ihr zusammen gewesen waren. Was dachten ihre Eltern, wenn sie doch welche hatte. Oder lebten ihre Eltern in höheren Verhältnissen? Vielleicht war dieses elfengleiche Gesicht ja sogar adliger Abstammung? Wundern würde sich Link dahingehend nicht. Er setzte sich zu ihr an den Tisch und grinste, als sie um einen zweiten Teller von dem Eintopf bat.

„Du hast gewaltigen Hunger, oder?“ Sie nickte.

„Warum legst du dann einen solchen Wert auf Höflichkeit. Du kannst das Essen ruhig in dich hineinstopfen.“ Ihr Mund bewegte sich zu einem Lächeln. Dennoch aß sie wohlerzogen weiter.

Nach einer Weile versuchte Link sie wieder in ein Gespräch zu verwickeln und begann: „Als ich dich fand, dachte ich…“ Da war es schon wieder. Dieses erdrückende Gefühl der Besorgnis um ihr Wohlergehen, als ob er sie kannte und sie ihm sehr am Herzen lag. „Meine Schwester und ich dachten, du wachst nicht mehr auf, weil du dich einfach nicht wecken lassen hast.“

Sie leerte ihren Teller mit einem letzten Löffel der Suppe und sagte leise: „Da war dieser Lichtweg… in meinen Träumen.“

„Ein Lichtweg?“ Sie stand auf und lief in ihrer Anmut zu der Spüle, aber sie wirkte unsicher, als ob sie sich nicht sicher war, dass sie den Teller dort hineinstellen sollte. Sie blickte kurz zu Link, der nickte und ihr damit klar machte, dass es völlig okay und richtig war. Mit einem Seufzen stellte sie den Teller in die Spüle.

Link konnte währenddessen seine Augen nicht von ihr lassen. Sie war so bezaubernd, so hübsch. Es war seltsam, aber bisher hatte Link noch nie ein Mädchen so attraktiv gefunden, wie jenes, welches er in den Wäldern, bei Nacht und Nebel, gefunden hatte. Ihr goldenes langes Haar war ein wenig zerzaust, aber trotzdem verspürte Link den Wunsch, nur einmal dieses Haar zu berühren.

„Ich träumte von einem Weg, den ich entlang ging und dann wurde plötzlich alles echt und nahm Farbe an. Dann bin ich aufgewacht.“

„Dem Himmel sei Dank bist du aufgewacht“, sagte er und trat zu ihr heran.

Erneut blickten sie sich stillschweigend an, träumten in gegenseitigen Blicken. Und ohne jede Spur von Zurückhaltung berührte Link einige Strähnen des Haares, das er berühren wollte. ,Verdammt‘, er kannte sie. Sie war echt. Solange schon hatte er von ihr geträumt, ihre Stimme gehört und nun stand sie direkt vor ihm. Er erhielt die Bestätigung, den Beweis, nicht verrückt zu sein. Erleichterung. Sie war wirklich. „Möchtest du eine Bürste?“, fragte er schließlich, um die Situation nicht als das erkennen zu lassen, was sie war. Ein Annähern.

„Ja, das wäre lieb“, erwiderte sie leise. Aber keiner von beiden unternahm einen Schritt, um aus der Küche zu gehen. Beinahe erstarrt blieben sie voreinander stehen und suchten etwas in den Augen des anderen. Sie stützte sich mit beiden Händen an der Einbauküche ab, während Link einen weiteren Schritt auf sie zuging.

„Ich kenne dich nicht“, meinte sie.

„Ich dich auch nicht“

„Macht das einen Unterschied?“

„Nein, das würde es wohl niemals.“

„Gut.“

„Gut“, sagte Link abschließend. Er stand nun direkt vor ihr und legte seine Hände beidseitig ihrer schmalen Taille ebenso an den Küchenschrank. Sie waren einander angesichts der Tatsache, wie wenig sie sich kannten, vielleicht zu nah…
 

In dem Moment wurde die Küchentür schnell geöffnet und die etwas rundliche Meira Bravery kam mit ihrem weißen, langen Nachthemd hereinspaziert. Die rehbraunen Augen noch halb verschlossen, sah sie zweimal hin, um sicher zu sein, dass neben Link noch eine weitere Person in der Küche stand.

„Nanu? Was ist denn hier los?“, entkam es ihr ein bisschen zu laut. Ihre großen herausquellenden Augen sagten alles, was Link nicht hören wollte. Natürlich interpretierte sie die Situation sofort ihren Zwecken entsprechend und ging schnellen Schrittes zu dem Mädchen, welches nur knapp hinter einem flehenden Link stand, der hoffte, seine Mutter würde sich nicht im Ton vergreifen. Die junge Lady begutachtend hüpfte sie um jene herum und begann dann zu grinsen.

„Mum, es ist nicht so, wie du denkst“, sagte Link, der diesen Satz schon tausend Mal seiner Mutter um die Ohren warf, den sie aber herzlich ignorierte.

Sie reichte dem Mädchen grinsend die Hand und meinte: „Guten Morgen, junges Fräulein. Ich nehme an, du bist schon lange hier, nicht wahr?“ Ihr vielsagender, erfreuter Blick schwenkte mit leuchtenden Augen zu Link.

Das fremde Wesen sagte leise: „Guten Morgen… ja, das ist richtig, ich bin schon eine Weile hier…“

„Mum, ich muss dir da einige Sachen erklären. Würdest du bitte…“ Link versuchte seine Mutter mit einem gutmütigen Grinsen aus der Küche zu schieben.

Jedoch unterbrach sie den verlegenen zukünftigen Helden ohne Scheu und sagte: „Ich verstehe schon…“, meinte sie, da sie sich an das Bild erinnerte, das sie gesehen hatte, als sie in die Küche trat. „Lasst euch von mir nicht stören, aber vielleicht solltet ihr beide euer romantisches Vorhaben in Links Zimmer weiterführen anstatt in der unbequemen Küche.“

Links Kopf glühte in allen erdenklichen roten Farben und fluchend brüllte er: „Mum, ich habe dir bereits gesagt, du siehst da was völlig falsch.“

Meira begann zu grinsen und das Mädchen hinter Link fing herzlich an zu lachen. Die unzweifelhafte Tatsache, dass jene schöne Lady auch zu lachen begann, stimmte ihn noch ratloser. Er drehte sich zu ihr um und sah nur das funkelnde Grinsen in ihren blauen Augen. Er schüttelte frustriert den Kopf und kam sich so dümmlich wie noch nie in seinem jungen Dasein vor. Link fuhr sich nachdenklich durch seine blonden Haarsträhnen und murmelte, ohne dem Wesen in die Augen zu sehen: „Würdest du in meinem Zimmer auf mich warten, ich erkläre meiner Mutter alles, ja?“ Sie nickte und lief in ihrer anmutigen Art aus der Küche. Doch bevor sie endgültig außer Sichtweite war, rief Link ihr noch hinterher: „Ach ja… die Bürste. Schau einfach in den obersten Kasten des Schuhschranks.“

„Danke“, hauchte sie. Link wusste, dass dieses Danke nicht dem preisgegebenen Aufenthaltsort der Bürste galt, sondern seinen Bemühungen, sie aus der Diskussion, welche er mit seinen Eltern ihretwegen führen würde, herauszuhalten.

„Also, Mum, ich muss dir einige Dinge erklären. Am besten wir gehen in die Stube.“ Was Link nicht wusste, war, dass jene junge Dame nicht auf sein Zimmer ging, sondern neben der Wohnstube stehen blieb und den Worten lauschte.
 

Wenig später saß Meira mit Link auf der Couch und hörte sich seine Bitte an, nachdem er ihr die ganze Geschichte, ausgenommen ihrer Stimme, die ihn rief, erzählte. „Ich habe sie in den Wäldern liegen sehen und konnte sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen“, sagte er leise. „Mum, ich bitte dich darum, dass sie bleiben kann. Sie fühlt sich hilflos und weiß nicht wohin sie gehen soll. Außerdem…“ Er fand nicht den Mut, die Worte auszusprechen, die gerade in seinen Gedankengängen herum kreisten. Außerdem… brauchte er sie…

„Du willst ihr wirklich helfen, die Erinnerungen wiederzufinden, Link?“

„Ja, und ob ich das will.“

Sie stand auf und lief grübelnd einige Schritte in der Stube auf und ab. „Link, das ist nicht so einfach, wie du dir das vorstellst“, erwiderte sie.

„Warum nicht, sie könnte ja einfach so etwas wie ein Pflegekind sein, bis sie ihre Erinnerungen wieder hat. Ihr habt früher schon einmal ein Pflegekind aufgenommen“, argumentierte er. Er würde restlos alles tun, damit das fremde Mädchen hier bleiben konnte und wenn er einen lebenslangen Streit mit seinen Eltern anzettelte. Er würde nicht zulassen, dass sie ging.

„Das war doch damals eine ganz andere Situation“, meinte sie laut.
 

Gerade da kam Links Vater herein, sich fragend, warum seine Frau schon auf den Beinen war. Er war ein eher untersetzt wirkender Kerl mit kurzgeschorenem, schwarzem Haar und hatte dieselben graublauen Augen wie Sara. Er rückte die große Brille auf seiner Nase zurecht und blickte abwechselnd von Link zu Meira. „Morgen ihr Zwei, was ist denn los?“, war sein erster Satz. Und Link erzählte die Geschichte zum zweiten Mal: „Die Kurzfassung. Ich habe in den Wäldern ein bewusstloses Mädchen gefunden, sie mit hierher gebracht und als sie aufwachte, hatte sie keine Erinnerungen daran, wer sie war oder was sie gerade getan hatte. Und jetzt weiß sie nicht weiter…“

Meira und Links Vater, namens Eric, tauschten Blicke aus. Skepsis, aber auch Zuversicht. Die rundliche Dame mit einem durchdringenden, ernsten Gesicht lief händeringend auf Link zu. „Also…“, sprach Meira kritisch.

Link ahnte es, jetzt kam die Demütigung. Seine Eltern würden sie fortschicken. Sofort dachte er daran, dem Mädchen zu sagen, dass sie unerwünscht war und gehen müsste. Es war aus. Er stellte sich das verzweifelte, wunderschöne Gesicht vor und kniff aussichtslos seine Augen zu, als er es in seinen Gedanken erschuf. Warum setzte es ihm so zu, wenn sie ging?

„Also…“, wiederholte Link für seine Mutter. „Ich weiß, dass sie bei uns nichts zu suchen hat und ich ahne, was du sagen willst: Schick’ sie zur Polizei. Oder schick’ sie ins Einwohnermeldeamt. Und dann auf Nimmerwiedersehen. Zum Teufel mit ihr.“

„Link, das habe ich nicht gesagt“, meinte seine Mutter. „Aber sie ist eine Fremde. Du weißt nichts über sie. Du kennst ihren Namen nicht, ihre Vergangenheit. Und womöglich stimmt etwas nicht mit ihr.“

Das fremde Mädchen neben der Stubentür sah mit bangem Blick zu Boden, unterdrückte die aufkommende Hilflosigkeit und den gemeinen Druck in ihrem Inneren ganz auf sich alleine gestellt zu sein, in einer Welt, die ihr so fremd war, in einer Zeit, die sie für merkwürdig hielt…

„Das ist mir egal“, sagte Link gedämpft. „Und wenn sie ein Monster wäre, würde ich ihr helfen wollen.“ Mit sich selbst kämpfend trat Link zu dem Kamin in der Wohnstube.

„Warum, Link? Warum ist dein Mitleid für sie so groß?“, sagte sein Vater, um auch endlich mal das Wort zu erheben.

„Es ist kein Mitleid…“, fuhr er seinen Vater an. „Entschuldige… es ist wohl eher Mitgefühl“, setzte er ruhiger hinzu.

Meira runzelte die Stirn und Links Vater lief in die Richtung, wo seine Frau stand.

„Bitte, ich flehe euch an. Lasst sie bleiben. Sie wird niemanden schaden.“

„Link… du bist ein verständnisvoller, junger Mann. Das respektiere ich. Aber das ist uns leider nicht möglich. Wir können sie nicht einfach hier aufnehmen und so tun, als wäre nichts geschehen. Was, wenn ihre Eltern sie vermissen oder andere Leute nach ihr suchen?“, sagte sein Vater.

Link schwieg.

„Es tut mir leid, mein Sohn. Aber du wirst ihr jetzt sagen müssen, dass sie gehen muss. Wir können sie vielleicht noch zur Polizei bringen, aber mehr auch nicht.“
 

Eine kleine Träne lief dem anmutigen Geschöpf über die rechte, zartrosa Wange, als sie neben der Tür wartete und sich umdrehte. Sie rannte schnellen Schrittes die Treppe hinauf, hinein in Links Zimmer und kauerte sich in dem Sessel zusammen. ,Was jetzt‘, sagte sie zu sich selbst. Ein Schlussstrich. Wohin sollte sie gehen, wenn sie nicht einmal jemandem vertrauen konnte, wenn sie keine Ahnung hatte, wohin. Sie wusste, da war Gefahr… irgendwo da draußen suchte jemand nach ihr und diese Sache machte ihr unheimliche Angst. Nur hier fühlte sie sich sicher und irgendwie aufgehoben. Aber das war vorbei. Nur wenige Stunden hatte sie hier verbracht und dennoch setzte es ihr zu, diesen Ort wieder verlassen zu müssen. Sie versuchte nachzudenken. Überlegte, was sie tun könnte… aber es gab nichts zu tun. Ihre Situation war ausweglos. Warum hatte Link sie überhaupt gefunden… es wäre besser gewesen, er hätte sie gelassen, wo sie war. Dann würde sie vielleicht jetzt nicht wach sein, sie würde sich nicht so hilflos fühlen, so allein und verlassen. Sie legte ihre Füße hoch und wartete auf Link, der ihr mitteilen würde, es war Zeit zu gehen. Der Abschied kam, ohne dass ein Wiedersehen richtig begonnen hatte…
 

Link starrte seinen Vater in die graublauen Augen, die er hatte und schüttelte stur mit dem Kopf. „Ich werde sie nicht fortschicken.“

„Link. Jetzt sei doch vernünftig.“

„Ich war nie vernünftig“, entgegnete er, „Und ich habe nicht vor, meinen Charakter zu ändern.“

„Nenn’ mir einen plausiblen Grund, weshalb du sie hier haben willst“, betonte sein Vater.

Dieser Satz brachte ein austüftelndes Grinsen auf Meiras Gesicht zum Vorschein. „Weißt du Liebling, wenn du das Mädchen sehen würdest, könntest du sie auch nicht mehr weglaufen lassen. Unser Sohn hat sich in jemanden verguckt.“

Link wurde fuchsrot im Gesicht, aber verdrehte seine Augäpfel. „Das stimmt doch mit keiner Silbe“, entgegnete er genervt.

„Wenn ich ein junger Mann in deinem Alter wäre, hätte ich das aber.“ Die rundliche Frau gab ihrem Mann einen Stups an den Arm. „Ach Liebling. Lass’ den jungen Leuten doch ihren Spaß“, sagte sie.

Verwirrt und im nächsten Augenblick mit einem Hoffnungsschimmer auf dem ansehnlichen Heldengesicht sah Link in die Augen seiner Mutter. Dann lächelte sie und beeindruckte damit sogar ihren ernsten Gatten.

„Du willst das Mädchen doch nicht einfach hier wohnen lassen, oder?“, murmelte Eric Bravery verwirrt.
 

Meira lächelte und sah ihren Sohn aufmunternd an. „Weißt du, Eric…“, begann sie. „In all der Zeit, in der Link nun schon bei uns ist… in all den Jahren hat er uns noch nie um etwas wirklich Wichtiges gebeten, er hat immer dankbar alles angenommen, egal, was es war… Ich denke, wenn er sich so ins Zeug legt, hat das seine Gründe. Und ich möchte nicht anfangen eines unserer Kinder zu enttäuschen oder nach neuen Maßstäben zu erziehen.“

Link blinzelte und konnte kaum begreifen, was mit seiner Mutter los war. Aber alles, was er im Augenblick gegenüber ihr empfand war Dankbarkeit, unglaubliche Dankbarkeit.

„Und es stimmt ja, wir haben vor einigen Jahren ein Pflegekind gehabt und sind noch immer verzeichnet. Ich weiß, was wir tun werden, ich habe eine Idee“, sagte sie dann. Sowohl Link, als auch sein Vater sahen sie völlig aufgelöst, beinah entgeistert an.

Sie lief im Raum auf und ab und erklärte: „Link, du weißt, dass dein Onkel Jonas bei der Polizei arbeitet.“ Der junge Mann nickte, wusste aber nicht, worauf Meira hinauswollte. „Ich werde ihn anrufen und die Sachlage schildern. Das heißt nicht, dass das Mädchen bei uns wohnen kann, aber wir können zunächst einmal veranlassen, dass alles seinen geregelten Gang geht. Wir werden mir ihr zum Präsidium fahren, wo vermutlich geschaut wird, ob jemand vermisst wird. Vielleicht muss das Mädchen auch durch eine medizinische und psychologische Begutachtung… Es könnte ja sein, dass es einen weniger erfreulichen Grund gibt, weshalb sie in den Wäldern lag…“

Link zuckte verunsichert zurück: „Du meinst doch nicht, ihr hat irgendjemand etwas angetan…“ Der Gedanke machte ihn nicht nur traurig, sondern beinah wütend. Er spannte seine Fäuste und hoffte inständig, dass niemand Hand an sie gelegt hatte, oder er würde denjenigen… Link blinzelte dann und fragte sich, ob er noch bei Verstand war. Er hatte gerade den Gedanken gehabt, dass er jeden umbringen würde, der er sich wagte, ihr ein Haar zu krümmen…

„Okay…“, murmelte der Oberstufenschüler dann und hoffte inständig, dass mit dem fremden Mädchen alles in Ordnung war. „Und was ist, wenn keiner sie vermisst, was machen wir dann?“

„Dann können wir herausfinden, ob es eine Möglichkeit gibt, dass sie zu einer Pflegefamilie kommt“, sprach Meira grinsend. „Es ist okay, mein Sohn…“ Sie trat zu ihm und lächelte aufmunternd. „Ich weiß zwar nicht, was es ist, aber ich habe irgendwie das Gefühl, dass sie nur bei dir sicher aufgehoben ist.“ Sie legte eine Hand auf die rechte Wange ihres Sohnes. „Und ich weiß, dass es unter den jungen Leuten in Schicksalshort kaum eine so zuverlässige und verantwortungsbewusste Person wie dich gibt, auch wenn du diese Eigenschaften mir gegenüber nicht gerade zum Ausdruck bringst…“ Sie schmunzelte und setzte noch hinzu: „Wir werden schauen, was wir tun können.“

Link nickte und murmelte ein leichtes ,Danke‘ über seine Lippen, dann schaute er zu Boden.

„Sie ist etwas Besonderes, nicht wahr?“, sprach Meira grinsend, auch da nickte Link, nun leicht verlegen. „Wir ruhen uns noch ein wenig aus und werden in ein zwei Stunden mit ihr zur Polizeiwache fahren. Erklär‘ ihr die Situation, ja?“, setzte Meira hinzu und drehte sich zu ihrem Gatten um, der ebenfalls nickte. In die Angelegenheiten, was die Kinder und das Haus betraf, mischte er sich ohnehin nicht gerne ein. Und auch in dieser Situation vertraute Eric Bravery ganz auf die Urteile seiner Ehefrau.

„Jep, das werde ich“, meinte Link erfreut und lächelte jetzt ebenfalls. Erleichtert rannte er die Treppen hinauf und wollte der Fremden die guten Neuigkeiten berichten.
 

Lächelnd öffnete er die Tür zu seinem Zimmer und wunderte sich zunächst, wo die junge Schönheit war. Besorgt schaute er sich im Zimmer um und fand das zerbrechliche Geschöpf in dem Sessel liegen. Ihre Augen waren geschlossen. Schlief sie etwa? Vor ihr niederkniend sagte er sanft: „Ich habe gute Neuigkeiten für dich. Wir haben eine Lösung gefunden, Zelda.“ Zum Teufel? Was war ihm da rausgerutscht? Zelda? Oh ja… natürlich Link. Drehst du jetzt vollkommen am Rad? Er gab sich selbst eine Ohrfeige für diesen peinlichen Ausrutscher und fragte seinen gesunden Menschverstand, wieso ihm das passieren konnte. Zelda? Heiliger Strohsack, nur gut, dass sie schlief und nicht gehört hatte, was ihm da passiert war. Doch so falsch, wie Link diesen Namen für ihr Wesen fand, war er gar nicht. Und die Dame bräuchte einen Namen. Wenn sie schon hier war, konnte Link sie nicht immer mit Du oder Hey oder Hallo, du Fremde, anreden. Und jener Name, war ohne Zweifel genau der Richtige für dieses Mädchen, denn allein schon ihre Seele trug ihn…

Dann bemerkte er die kristallenen Tränen auf ihren zartrosa Wangen… Hatte sie etwa geweint? Link tat diesen Gedanken als seiner merkwürdigen Phantasie entsprungen ab und kramte nach einer Decke. Er deckte sie wieder zu. Sie murmelte etwas Unverständliches und kauerte sich noch weiter zusammen. In dem Augenblick spürte Link einen gemeinen Schmerzstich in seinem Magen. Richtig die Wunden… diese hatte er ja auch noch. Er nahm sich ein weiteres Schmerzmittel und trank den kalten Tee aus seiner Tasse, die noch im Zimmer stand.

Er wischte sich einige Tropfen des Getränkes von seinen Lippen und ging für eine halbe Stunde aus dem Zimmer. Er lief ins Badezimmer, und begutachtete dort seine verrückten Wunden. Er löste den Verband, der klebrig auf der Wunde haftete, blickte sich die Blessuren angeekelt an. Die Wunde nässte und noch hatte der Heilungsprozess nicht wirklich eingesetzt. Link ließ sich mit freiem Oberkörper auf den Boden sinken und fragte sich, wie lange er solche Wunden ohne medizinische Hilfe noch ertragen könnte. Er tat sich ein wenig schwer einen frischen Verband umzulegen, schaffte dies aber, streifte sein grünes T-Shirt über den Oberkörper und ging dann erneut in sein Zimmer. Er musste das Mädchen leider aufwecken, um ihr die Neuigkeiten zu unterbreiten.
 

Als er eintrat, hörte er ein Rascheln von der anderen Zimmerecke. Das Mädchen war aus ihrem kurzen Schlummer aufgewacht und stand mit einem traurigen Ausdruck auf dem Gesicht gegenüber von Link. Noch immer war das goldene Haar zerzaust… Sie verschränkte ihre Arme, schaute aus dem Fenster und hatte einen bekümmerten Blick in den wunderschönen Augen.

„Sag’ es nicht. Es hätte mir klar sein müssen…“, sagte ihre zittrige, glockenhelle Stimme. Wovon redete sie? Link war für einen Augenblick völlig sprachlos. Sie lief auf ihn zu und brachte den Versuch eines Lächelns hervor.

„Du… du hast es versucht…“, murmelte sie und nahm seine linke Hand in ihre beiden. „Du bist Linkshänder…“, meinte sie schwach.

„Ja“, war alles, was er hervorbrachte.

„Ähm… vielleicht sehen wir uns irgendwann wieder, Link“, sagte sie gedämpft und kämpfte damit, bettelnd vor ihm auf die Knie zu fallen. Aber das würde sie nicht, nein, dafür war sie viel zu stolz. „Leb’ wohl“, sagte sie und lief in Richtung Tür, als Link sie überraschend an ihrem rechten Handgelenk festhielt.

Er versuchte es mit einem Grinsen, um von der Verlustangst abzulenken, die er verspüren würde, wenn sie verschwand. „Jetzt habe ich meine Eltern überzeugt, bedroht und um den Verstand gebracht, damit wir irgendeine Lösung finden und du willst trotzdem gehen. Also… das ist ein wenig… ähm… unglücklich für mich, weil ich dann…“

Ihr Gesichtsausdruck erhellte sich. „Du hast sie überzeugt?“

„Ja, das habe ich, wenn auch mit anfänglichen Schwierigkeiten und auch wenn noch nicht gesagt ist, dass du bei uns bleiben wirst… aber wir haben eine Idee, was wir tun können… Ich lass‘ dich nicht alleine…“, murmelte er und biss sich gleich wieder auf seine Lippen. Es war ja schön und gut, dass seine Eltern seine Sichtweise verstehen konnten und niemand das fremde Mädchen im Stich ließ, aber musste er gleich so rührselig werden?

Sie zwinkerte und legte erfreut und den Tränen nahe eine Hand über ihren Mund. Sie wollte ihm gegenüber nicht weinerlich wirken, aber… „Danke, Link“, sagte sie und wischte einige blasse Tränen unter ihren Augen weg.

Link begriff irgendwie. „Du hast gelauscht, oder?“

Sie nickte bestätigend.

„Hey, kein Grund jetzt noch darüber nachzudenken, oder?“ Sie lachte heiter auf. „Und das nächste Mal, hörst du dir das Gespräch, welches du belauschst, bis zum Ende an, glaub’ mir, das ist effektiver. Klar?“

„Klar“, stimmte sie zu und ärgerte sich über ihre voreiligen Schlussfolgerungen. Sie dachte wirklich, sie müsste einfach so gehen ohne irgendwelche Unterstützung in einer ihr fremden Welt, ohne Anhaltspunkt und Sicherheit. Doch jetzt? Sie wusste mit Links Hilfe war der größte Teil dessen, was sie zu bewältigen hatte, schon siegreich überstanden.

„Also… was wird jetzt mit mir passieren?“, meinte sie und ließ sich wieder auf das grüne Sofa sinken. Link nahm neben ihr Platz und erklärte ihr die Umstände und vor allem auch die Tatsache, dass sie gemeinsam nachher zum Polizeipräsidium fahren mussten. Er klärte sie darüber auf, wie die Dinge standen und welche Möglichkeiten sie nun hatten. Und er machte ihr deutlich, dass die Befragung auf der Wache nicht das Angenehmste für sie sein würde. „Vielleicht wird ein Arzt dich untersuchen…“

„Warum? Ich bin eigentlich körperlich völlig…“, begann sie, als sie aber die Unsicherheit in Links blauen Seelenspiegeln entdecken konnte und abbrach. Und da lag noch mehr in diesem unentrinnbaren Tiefblau. War es Angst?

„Die Frage ist, ob es nicht etwas gibt, was du nicht weißt…“, murmelte Link. Und auch sie verstand. Er redete von den Wunden, die vielleicht nicht sichtbar waren. „Dein Gedächtnisverlust muss einen Grund haben…“

Sie krümmte sich auf dem Sofa ein wenig zusammen und starrte einfach ins Leere. „Du meinst ein Gewaltverbrechen, nicht wahr…“, murmelte sie.

Link zuckte mit den Schultern und blickte sie aufmunternd an. „Nun ja, letztlich weiß niemand etwas darüber, was geschehen ist… Hauptsache, es geht dir soweit gut.“ Er lächelte tiefgehend und ein Teil dieses mutigen Lächelns ließ auch das junge Mädchen sich entspannen.

Auch sie lächelte dann. „Du bist ein Schatz, Link.“

„Äh…“, sagte er verlegen und hielt eine Hand hinter seinen Kopf. „Sag’ das bloß nicht noch mal, sonst bilde ich mir zu viel darauf ein.“ Sie lächelte ihm entgegen und zusammen gingen sie hinab in die Wohnstube. Link zeigte ihr dann das gesamte Haus, auch wenn sie noch nicht wussten, wie lange sie hier bleiben würde. Der Oberstufenschüler führte sie in den Keller, wo sie sich von den Getränken bedienen konnte, zeigte ihr den Dachboden, wo neben sinnlosem Schrott noch ein alter Bogen stand, den Garten und am Ende das Badezimmer.

„Möchtest du ein Bad nehmen, bevor wir zur Polizei fahren? Das würde dir gut tun und entspannt.“

„Ja, gerne.“

„Warte. Ich hole dir frische Handtücher.“ Geschwind verschwand Link aus dem Raum. Sie drehte mit Links hilfreichen Anweisungen die Heizung auf und schloss das Fenster. Warum verstand sie sich so gut mit ihm? War das in Ordnung? Es erschien ihr, als würde er ihr alles aus den Augen ablesen können. Er war wirklich ein Schatz oder ein Schutzengel… Es war keine vierundzwanzig Stunden her, dass er sie gefunden hatte und sofort, ohne etwas dafür zu verlangen, hatte er sich ihrer angenommen, seine Zeit für sie geopfert, seine Eltern überzeugt, ihr zu helfen. Warum tat er das? Dann probierte sie, den Wasserhahn aufzudrehen und ein heißer Strahl floss in die Wanne, gerade als sie testen wollte, wie warm das Wasser war, umfasste eine starke Hand ihren Oberarm. „Nicht. Das Wasser ist glühend heiß. Du verbrennst dich noch daran“, sagte Link, der wieder einmal schnell gehandelt hatte.

„So langsam komme ich mir stumpfsinnig vor, weil ich von nichts eine Ahnung habe und mich ständig bei dir bedanken muss. Das muss dir auf den Geist gehen…“

„Ach Quatsch. Ich helfe gern. Und damit du dir keine Sorgen machen musst, du brauchst dich nicht für jede Kleinigkeit bei mir zu bedanken. Es ist okay.“ Und schon wieder. Allein seine verständnisvollen Worte hätten Lob und Dank verdient. Sie nahm ihm das Badetuch ab und schaute zu den Behältnissen mit Duschgel, wohlriechender Körpermilch und anderen Dingen.

In dem Augenblick griff sich Link leise aufstöhnend an seinen Bauch, hasste die brennende Wunde und wusste, er konnte seinen Körper nicht noch mit mehr Tabletten voll stopfen.

„Alles okay?“, fragte sie sanft. Ihr Blick verriet, dass sie ihn versuchte zu durchschauen.

„Ja“, stotterte Link. „Es ist nichts.“

Aber sie wusste irgendetwas stimmte nicht. Der junge Mann neben ihr kam ihr immer rätselhafter vor und sie wusste, er hatte Probleme, die er jedoch nicht zugeben wollte. Doch sie würde herausfinden, was ihn belastete, genauso wie sie ihn noch besser kennen lernen würde. Eines Tages würde sie in sein Herz sehen können. Doch was sie dann fand, könnte sie beide in Probleme bringen…
 

Link drehte den Wasserhahn auf die kälteste Stufe und beobachtete das Mädchen, als sie vor dem Spiegel stand und ihre Haare zusammenband. „Bei deinen langen Haaren hat es wohl keinen Zweck, sie zusammenzubinden…“, murmelte er und stellte sich hinter sie, blickte ebenso in den Spiegel und dachte ungewollt, wie gut sie beide doch zusammenpassen würden. ‚Himmelhochjauchzend, jetzt wird’s ernst‘, dachte er. Kläglich sendete er eine Bitte an seine vorschnellen Gedanken, sie würden aufhören, solchen Mist von sich zu geben. Sich wünschend, er hätte seine Gefühle ein wenig besser unter Kontrolle, griff er sich an seine warme Stirn, sich fragend, ob diese so glühte, weil er eine schreckliche Wunde hatte oder weil dieses wunderschöne, anmutige Geschöpf direkt vor ihm stand.

„Äh, ich meine, du kannst die Haare nach dem Bad ruhig föhnen. Weißt du, was das ist?“

Sie schüttelte mit dem Kopf. In ihrer Welt gab es wohl keine elektrischen Geräte. Peinlicherweise erklärte er ihr dann auch noch diese Angelegenheit, betonte, dass sie den Fön auf keinen Fall ins Wasser fallen lassen sollte, und zog sich grinsend aus dem Bad zurück. Doch bevor er ganz hinter der Tür verschwand, schaute sein Kopf schmunzelnd durch den Türspalt.

„Glaubst du, du schaffst den Rest ohne mich oder brauchst du weiterhin meine Hilfe?“ Verlegen öffnete sie ihren Mund und wollte ihn für seine dreiste Art zurechtstutzen.

„Du möchtest wohl zu schauen?“ Nun war es an Link beschämt drein zu gucken. Diese Dame konnte wohl genauso gutmütig hinterhältig sein wie der künftige Held selbst.

„Ich könnte dir den Rücken schrubben.“ Jetzt trieb Link das Spielchen erst Recht auf die Spitze.

„Du könntest auch gleich zu mir in die Badewanne steigen.“

Aber mit so viel Ungeniertheit und Flegelhaftigkeit hatte er nicht gerechnet. Es war aus. Sie hatte ihn mundtot gestellt. Zum Teufel, das hatte doch noch niemand geschafft. Mit hochrotem Kopf schloss Link die Badekur und hörte selbst im Korridor noch ihr angenehmes, liebliches Lachen… Ein Lachen, das ihn tatsächlich um den Verstand brachte. Wieder erkannte er diese Stimme aus seinen Träumen… Wissend es war Bestimmung, sie zu finden, folgte er ebenso lachend den Treppenstufen hinauf ins zweite Stockwerk, um sich ein wenig auszuruhen.
 

In einem anderen Raum des Hauses hüpfte Sara froh und munter aus ihrem Bett. Bereit für den Tag öffnete sie das Fenster, genoss den Sonnenschein und die weißen dicken Wolkenbällchen, die am Horizont vorüberzogen. Sie lief aus ihrem Zimmer, erspähte hastig einen Blick auf ihre Armbanduhr, welche auf acht Uhr stand und ging zuerst in die Küche, um zu sehen, ob ihre Mutter schon auf den Beinen war. Aber niemand war in der Küche. Also, und zur Freude ihrer Eltern und ihres zwei Jahre älteren Bruders setzte sie Kaffee auf, erwärmte die restliche Milch und steckte eine Toastbrotscheibe nach der anderen in den Toaster. Dann hörte sie das laute, dröhnende Geräusch des Föns vom Badezimmer aus. Sie wunderte sich. War ihre Mutter doch schon wach? War doch sonst nicht ihre Art? Und niemand sonst in diesem Haus föhnte sich die Haare. Link beispielsweise ließ seine Haare immer von der Luft trocknen, selbst wenn tiefster Winter war. Recht hatte sie… denn egal, was er tat, eine richtige Erkältung hatte sich ihr großer Bruder noch nie zugezogen. Und wenn er sich in ein Klassenzimmer vollgepumpt mit Viren setzte. Noch nie hatte er sich bei irgendjemand angesteckt… Eine weitere von Links Ungewöhnlichkeiten…

Sie folgte dem Geräusch und stand in Kürze vor der Badezimmertür. Sie klopfte. „Mum, bist du da drin?“

Keine Antwort. Stattdessen wurde die Tür geöffnet und ein Paar leuchtende blaue Augen blickten sie durchdringend an. Sara fiel sofort auf, was für eine schöne Farbe diese Augen hatten. Ein Blau genauso klar wie das von Link, nur ein wenig heller und nicht so durchdringend tief.

„Ähm… hallo. Du bist ja aufgewacht“, sagte Sara und begutachtete ihre Kleidung an der Dame.

Die junge Lady nickte und sagte kurz und ruhig: „Guten Morgen.“

Sara grinste: „Du kannst froh sein, dass diese Klamotten mir ein wenig zu groß sind und zu eng. Sonst müsstest du jetzt nackt rumlaufen.“ Sara wollte mit ihr ins Gespräch kommen, und was eignete sich da besser als etwas Humorvolles.

„Ja, danke. Du bist Links Schwester?“

„Ja genau, auch wenn man es mir nicht ansieht. Und du, wie heißt du?“

Die Fremde ging aus dem Badezimmer und lief in die Küche. Links Schwester wusste ja noch nichts davon, dass sie ihr Gedächtnis verloren hatte. Ihre Hände zu Fäusten geballt, meinte sie. „Das ist leider nicht so einfach. Ich wünschte, ich könnte dir sagen, wer ich bin, aber das weiß ich leider nicht.“
 

Sara setzte sich mit der fremden Schönen an den Frühstückstisch.

„Das musst du mir erklären“, sagte Sara und ergänzte, „Willst du was von dem Toast?“

Das Mädchen ohne Namen schaute Sara ein wenig ratlos an, begriff aber dann was Toast war, als Sara ihr eine Schüssel damit gefüllt reichte. „Ich bin vor einigen Stunden aufgewacht und erinnerte mich an nichts mehr. Es war alles weg, wie als ob ich vorher noch an einem anderen Ort gewesen wäre…“

Sara biss genüsslich von ihrer mit Marmelade bestrichenen Brotscheibe. Sie schien nicht überrascht zu sein und blickte das Mädchen nur aufmunternd an: „Na ja, kann man halt nichts machen. Ist nun mal passiert, dass du hier bist. Willst du Milch oder Kaffee?“

Milch war dem Mädchen irgendwie vertrauter als Kaffee, demnach entschied sie sich für das Erstere. „Milch, bitte.“

„Mit Honig?“

„Ja, gerne.“

Sara grinste: „So trinkt Link die immer. Er trinkt gar keinen Kaffee. Weiß der Teufel warum, aber Milch liebt er.“

Die Fremde lächelte leicht und musterte Sara nun genau. Links Schwester hatte tatsächlich keine Ähnlichkeit mit ihm, was nebenbei nicht möglich war. Sara wirkte ziemlich ungehobelt auf die Menschen ihrer Umgebung, was sicherlich an ihren frechen blaugrauen Augen lag, ihrer kurzen Frisur und der Tatsache, dass sie liebend gerne grüne Kleidung trug. Wie eine kleine Koboldin erschien sie, zwar nicht rabiat, aber extrem unverschämt. Sie hatte außer dem Aussehen, viel mit Link gemeinsam und ließ sich ihren Mund nicht verbieten.

„Sind meine Eltern einverstanden, dass du vorerst hier bleibst?“

„Ja, das sind sie. Link hat ihnen vorhin alles erklärt und nachher fahren wir zur Polizei. Vielleicht gibt es irgendwo eine Vermisstenmeldung. Link hat das alles arrangiert…“

„Das ist echt lieb von ihm, nicht wahr?“

„Er ist ein sehr guter Mensch. Das weiß ich, seit ich aufgewacht bin…“ Sara grinste: „Ja, allerdings und gutaussehend, aber das brauche ich dir nicht mitteilen, das sieht man auch so…“ Nach der Bemerkung blickte die Schöne weg.

„Aber die Art und Weise, wie er vielleicht einen Eindruck bei den Menschen hinterlässt, ist rätselhaft. Er schleppt viele Probleme mit sich herum und tut manchmal nur so, als wäre er fröhlich. Manchmal kommt es mir vor, als würde ich ihn nicht kennen… das solltest du wissen, wenn du schon hier bist und das verheimliche ich auch nicht vor dir.“

Die Fremde verstand die kleine Warnung.

„Aber egal. Wo ist denn der Held überhaupt?“

„Held?“, sagte die junge Dame dann. Sara kicherte daraufhin und erwiderte: „Das erkläre ich dir später, wenn wir einen Namen für dich gefunden haben“, meinte Sara mit einem Wink. „Aber dein Alter könnten wir schätzen“, ergänzte Sara noch. Das Mädchen mit den schwarzbraunen, kurzen Haaren stand auf und holte einige weitere Teller aus dem Schrank, deckte schnell den Tisch und ging mit der Fremden aus dem Raum. „Ich würde meinen, du bist in etwa so alt wie Link.“ Die Unbekannte stimmte dieser Sache zu.

„Gibt es irgendeinen Namen, der dir gefällt?“, fragte Sara und lief den Korridor zu Links Zimmer entlang.

„Nein.“

„Und welche Namen findest du gut?“

„Ach, ich weiß es wirklich nicht. Das ist gar nicht so einfach“, erwiderte die Fremde.

Sara drehte sich zu ihr um, besah sie sich von unten bis oben und grinste unverschämt: „Ich habe eine Idee, aber Link köpft mich dann, wenn ich das laut sage.“

Die Fremde öffnete ihren Mund, wollte wissen, was Sara mit ihrer Heimlichtuerei bezweckte, aber diese kicherte nur und meinte noch: „Der Name würde zu dir passen, wirklich, aber Link wird sicher nicht begeistert davon sein.“

Die Fremde zuckte teilnahmslos mit den Schultern. „Egal, ich brauche nur einen Namen, unwichtig welchen.“

Sie erreichten das Zimmer von Link und klopften, aber es öffnete ihnen niemand.

„Nanu? Ist er denn nicht in seinem Zimmer?“

„Ich weiß nicht“, sagte das unbekannte Mädchen. „Er sagte nicht, dass er fortgehen wollte. Ich dachte, er wäre in seinem Zimmer.“

Sara klopfte erneut, aber Link schien nicht da zu sein. Ohne weiter zu überlegen, traten die zwei Mädchen in sein Zimmer und fanden ihn schlafend auf dem Fußboden. Sara rüttelte an seinen Schultern und gab ihm dann einen Klaps an seine rechte Wange. „Link?“

Schläfrig machte er die Augen auf, setzte sich aufrecht und gähnte. „Mensch Sara, wie spät ist es denn?“ Die Fremde stand hinter ihm und zuerst registrierte er sie nicht.

„Es ist halb Neun? Du bist eingeschlafen“, sagte Sara.

Links Erinnerungen kamen wieder und seinen Kopf schüttelnd murmelte er unabsichtlich: „Wo ist überhaupt Ze…“

„Was?“, sagte Sara laut. Hämisch begann sich ihr Gesicht zu einem Grinsen zu verziehen.

„Nichts.“ Link drehte sich um und sah die schöne Unbekannte lächelnd an der Tür stehen.

„Lust auf Frühstück, Brüderchen?“

„Jep“, meinte Link und sprang vom Fußboden auf. Er ließ sich seine Schmerzen erneut nicht anmerken und schauspielerte. Es ging eben gegen seinen Stolz vor der Unbekannten den Jammerlappen zu spielen und somit tat er so, als wäre nichts, ignorierte das Brennen, versuchte das Schwindelgefühl zu unterdrücken. Link erzählte Sara schließlich ausführlich davon, wie sie nun weiter verfahren würden. Und so verging die Zeit wie im Fluge und auch seine Eltern frühstückten und machten sich bereit für den Tag und auch bereit für den Weg zur Polizei.

Als Link gemeinsam mit dem unbekannten, bildhübschen Mädchen aus der Haustür trat und seine Eltern mit Sara bereits im Wagen saßen, wussten sie beide, dass sich in den nächsten Stunden viel für sie entscheiden würde. Sie atmete tief durch, blickte hilflos über die Straße, zu den Häusergruppen, den Autos, der Straßenbeleuchtung, all‘ dies sah sie vielleicht heute zum ersten Mal, und sie hatte das erdrückende Gefühl, dass diese Welt zu groß und zu neu für sie war. Sie suchte noch einmal das Verständnis in Links tiefblauen Augen, als er eine Hand auf ihre rechte Schulter legte. „Wir kriegen das hin, ich verspreche es dir…“, murmelte der junge Mann. Sie schloss kurz die Augen und ließ sich von ihm zum Auto führen. Er half ihr beim Einsteigen und half ihr mit dem Gurt.

,Egal, was passierte‘, schwor sich Link, ,er würde sie nicht im Stich lassen… niemals…‘ Und so fuhr der VW mit den Braverys und der unbekannten Schönheit in Richtung Stadtzentrum, als die Sonne am Himmel von grauen Wolkenschleiern ummantelt wurde…



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