Kontrollverlust
Der Magiecontroller zerbarst in tausend Stücke. Die vorher kurzen dunklen Haare fielen ihm auf einmal bis zur Hüfte. Spitze Ohren drangen durch das dichte Haar und seine Finger wurden zu langen Klauen.
Einen letzten Blick warf der Dämon, der einmal Son Goku gewesen war, auf seinen wie tot daliegenden Freund und Lebensretter Genjo Sanzo.
Mit einem unmenschlichen, eindeutig dämonischen Knurren sprang er den mit Amuletten bedeckten Mönch an, der Sanzo auf dem Gewissen hatte. Verblüfft realisierte dieser, dass Goku durch die Amulette nicht aufgehalten wurde, dann wurde er auch schon durch die Luft geschleudert und landete wie eine Puppe zwanzig Meter entfernt auf dem Boden. Und Goku setzte nach.
"Goku!" Vollkommen verblüfft und entsetzt sahen der rothaarige Halbdämon Sha Gojo und der Monokelträger Cho Hakkai zu, wie der aus Son Goku entfesselte Dämon tobte.
"Wow..." brachte Sha Gojo mühsam heraus.
Die vier Reisenden waren unterwegs, um die Welt zu retten. Sie hatten den göttlichen Auftrag erhalten, die Auferstehung des Dämons Gyumao verhindern, denn dieser würde die Welt Togenkyo ins absolute Chaos stürzen und die Menschheit vernichten. Im Zuge des Versuchs, ihn wieder zu beleben waren bereits sämtliche Dämonen dem Blutrausch, dem Wahnsinn verfallen. Die drei Dämonen, die den nun wie tot daliegenden Genjo Sanzo begleiteten, waren die einzigen, die davon nicht betroffen waren. Der Frieden zwischen Menschen und Dämonen hatte vor kurzem ein endgültiges Ende gefunden. Dämonen töteten und aßen alle Menschen, die ihnen in die Finger fielen.
Die Gefährten waren auf die Gerüchte über einen Mönch mit magischen Fähigkeiten gestoßen, der als der "Erlöser" bezeichnet wurde. Dieser kämpfte gegen die Dämonen und hinterließ stets die grausam zugerichteten Leichen seiner Gegner. Als sie sich begegneten erkannte Genjo Sanzo in diesem Mönch seinen alten Freund und Meister Shuei wieder. Doch Shuei hatte sich durch die Macht seiner Amulette vollkommen verwandelt. Regen fiel, als er Genjo Sanzo mit einem brutalen Schlag niederstreckte. Und Son Goku verlor die Kontrolle über sich...
"Goku!" Sha Gojo starrte noch immer wie gebannt zu dem Freund hinüber, der sich wie ein Berserker aufführte.
Cho Hakkai dagegen wandte sich dem blutüberströmten, blonden Mönch Genjo Sanzo zu, der zusammengekrümmt auf der schlammigen Erde lag.
"Er lebt noch! Mit meiner Kraft kann ich ihn am Leben erhalten!" erkannte er und nutzte auch sofort seine Magie. Eine hell leuchtende Kugel aus reiner Magie umspielte seine Hände, als er Genjo Sanzo auf den Rücken drehte und dann seine Kraft in die blutige Wunde fließen ließ.
"Halte du Goku auf! Wer weiß, was er anstellt, wenn er mit dem Mönch fertig ist!"
"Aber... Wie soll ich das denn machen?" Sha Gojo blickte zu den beiden Kämpfen hinüber. Goku tobte wie ein Wahnsinniger.
"Ich habe keine Ahnung. Aber wenn du es nicht tust, dann... Dann verliert er vollends die Besinnung und die dämonische Seite in ihm wird unkontrollierbar. Und dann hört er erst auf, wenn alles zerstört ist - Wir eingeschlossen!"
Gojo blickte noch immer zweifelnd zu den Kämpfenden hinüber, unentschlossen, was er tun sollte und konnte. Doch plötzlich...
Son Goku hatte seine Zähne tief in der Schulter des Dämonentöters vergraben, als sich dieser losriss und einige Meter Abstand gewann. Der Rosenkranz, der um den Hals des Erlösers hing, glühte auf einmal auf und Goku wich überrascht einen Schritt zurück. Er fauchte wie ein verwirrtes Tier.
Der Mönch löste sich in Luft auf und war verschwunden.
"Er flieht!" erfasste Gojo die Lage.
Die Stimme des dämonentötenden Mönchs hing noch einen Moment in der Luft.
"Ich komme wieder... Und dann tränke ich mein Amulett mit Dämonenblut!"
Cho Hakkai nickte bei diesen Worten nur. Er wusste, dass das Amulett Genjo Sanzos alten Freund vollkommen unter Kontrolle hatte und ihn zu seinem unstillbaren Verlangen nach Dämonenblut brachte. Der Mann, der einmal Shuei gewesen war, würde mit Sicherheit wiederkommen.
Nachdenklich und besorgt blickte Hakkai auf Sanzo herab. Das Blut floss noch immer aus der Wunde. Seine Kraft war erschöpft und er konnte nichts mehr tun, um seinem Freund zu helfen. Wackelig auf den Beinen und ausgelaugt ließ er sich neben Sanzo in den Schlamm sinken und blickte zu Son Goku und Sha Gojo hinüber.
Verwirrt angesichts des plötzlichen Verschwindens seines Gegners stürzte sich Son Goku auf den rothaarigen Halbdämon.
"Hey!" Gojo riss zur Verteidigung seinen Arm hoch und sofort bohrten sich Gokus nadelspitze Zähne hinein. Wie ein wütender Terrier hing Goku daran und knurrte vor sich hin.
Hakkai stöhnte entsetzt auf.
"Goku kann nicht mehr zwischen Freund und Feind unterscheiden!"
"Na klasse..." brummte Gojo nur und schüttelte seinen Arm hin und her. Goku blieb weiter daran hängen. Zusätzlich fing der Dämon an, um sich zu schlagen.
"Verdammt!" fluchte Sha Gojo, während Blut durch sein Stoffarmband drang und Gokus Lippen benetzte.
"Halt ihn fest!" Hakkais Stimme gellte zu den kämpfenden Freunden hinüber.
"Was...?" Sha Gojo war verwirrt, tat aber wie ihm geheißen.
Blitze zuckten plötzlich über den Himmel. Goku, der Gojo gerade noch hasserfüllt angestarrt hatte, besaß auf einmal einen seltsamen, leeren Ausdruck in den Augen. Er starrte Gojo an, sah ihn jedoch nicht. Plötzlich bildete sich ein goldener Reif um seinen Kopf, der sich langsam enger zog und sich schließlich mit einem leisen Ping als Magiecontroller um Gokus Stirn schloss. Sofort wurde die Verwandlung rückgängig gemacht. Son Gokus Haare wurden schlagartig wieder kurz, die spitzen Ohren und die Klauen verschwanden. Erschöpft sank Goku in Sha Gojos Arm zusammen und schlief innerhalb eines Sekundenbruchteils ein.
"Was... Was ist passiert?" Cho Hakkai kam herbei getaumelt und blickte Goku verblüfft an.
"Er ist eingeschlafen," erwiderte Gojo trocken.
"Aber..." Weiter kam Hakkai nicht. Eine Frau näherte sich ihnen. Sie hatte lange schwarze Haare und trug ein durchsichtiges blusenartiges Oberteil und einen an den Seiten weit geschlitzten Rock. Um ihren Hals baumelte eine Kette mit einem faustgroßen, spiegelartigen Anhänger.
"Wer bist du?" Sha Gojo fand als erster seine Sprache wieder.
"Du kennst mich nicht? Traurig..." Sie schüttelte den Kopf und blickte abwechselnd Hakkai und Gojo an, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Son Goku. Kurz berührte sie ihn mit der Hand an der Wange.
"Ich bin die Göttin Kannon Bosatsu."
"Du hast Gokus Magiecontroller wieder aktiviert, nicht wahr?" Sha Gojos Frage war mehr eine Feststellung. Die Göttin nickte und murmelte etwas von einer besonderen Kraft, die in diesem Magiecontroller steckte.
Dann schritt sie zu dem ohnmächtigen Genjo Sanzo. Sie rieb sich mit der Hand über das Kinn und sprach leise zu sich selbst.
"Er ist also das Problem, hm?"
Mit lauter, erhobener und befehlsgewohnter Stimme fuhr sie fort: "Rotschopf, komm mal her!"
"He, ich? Wieso denn?" moserte Sha Gojo.
"Komm her!" Ihre Stimme duldete keinen Widerspruch und unwillig kam Gojo ihrer Aufforderung nach. Sie küsste ihn.
Mit aufgerissenen Augen starrte er sie an, während die Lippen der Göttin auf den seinen ruhten. Gleichzeitig spürte Gojo, wie ihm Kraft ausgesaugt wurde. Als sich Kannon Bosatsu von ihm löste, fiel er erschöpft auf die Knie.
"Was...?" stieß er hervor.
"Reg dich ab und ruh dich aus. Ich habe dir eine große Menge Blut abgenommen," sagte sie mit einem leicht spöttischen Ton, als sei dies das selbstverständlichste der Welt.
Sie schritt zu Genjo Sanzo hinüber und küsste auch ihn. Gleichzeitig ließ sie das von Gojo entnommene Blut zu Sanzo hinüber strömen.
Als dieser plötzlich seinen Arm hoch riss und zu Bewusstsein zu kommen schien, wich sie zurück und meinte selbstzufrieden: "Er braucht keine Transfusion mehr. Er wird's überstehen."
"Sanzo!" Hakkais Stimme lag voller Besorgnis.
"War nur nen Reflex..." lächelte die Göttin. "Aber er ist übern Berg."
"Danke," wandte sich Cho Hakkai an Kannon Bosatsu, doch diese winkte nur ab.
"Nichts zu danken. Ich habe euch nicht aus moralischen Gründen geholfen." Spöttisch blickte sie Hakkai an. "Sondern damit ihr den Zweck eurer Reise erfüllt: Die Wiedererweckung Gyumaos zu verhindern."
Sie wandte sich ab und ging davon. Leicht winkte sie Cho Hakkai und Sha Gojo bei Weggehen zu.
"Man sieht sich!"
Nachdenklich sah Hakkai der Göttin hinterher und beobachtete, wie sie sich langsam auflöste.
"Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie Recht hat - Wir werden sie wiedersehen."
"Ja..." Sha Gojo teilte seine Vermutung. Der Rothaarige blickte zu den beiden schlafenden Mitgliedern ihrer Gruppe und begann langsam zu grinsen.
"Aber sobald die beiden wieder fit sind, machen wir diesen dämlichen Amulett-Mönch fertig!"
In seinen Augen glitzerte es siegesgewiss und voller Vorfreude.
