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Ein mal eins

von

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Eine Fanfiction bietet den Vorteil, direkt mit der Geschichte beginnen zu können, ohne einen Umweg über die einzelnen Charaktere zu machen. Die Hauptfiguren sind bekannt und wurden von den Lesern meist selbst gedreht und gewendet, dass innere nach außen gekehrt, bis sie maßgeschneidert in ihre Geschichten passten. Wir wissen alle wer die Hauptfiguren sind und wir wissen, was wir lesen möchten. Und weil uns alles Recht ist, um unser Ziel zu erreichen klauen wir hemmungslos. Auch ich musste mich der Grundidee einer Sitcomfolge bedienen. Der Kenner wird sie wiedererkennen und wissen, wie viel für diese Geschichte veruntreut wurde.

Wir überspringen jetzt also Danksagung, Einführung und Charaktervorstellung um ummittelbar im Geschehen zu beginnen. Wären wir in einem Film würden Sponsoring, Titelsequenz, Weit-Winkel-Vogelperspektiv der Stadt, mit passender Titelmusik, hinter uns liegen. Die Hauptpersonen wurden vorgestellt, wir hatten Zeit uns an ihre Gesichter zu gewöhnen und befinden uns nun direkt in Monsieur Bonacieux Schneiderwerkstatt....
 

***
 

Langsam verdichteten sich die Schatten, als die rot-goldene Scheibe der Sonne am Horizont versank. Der Himmel nahm jene zauberhafte Färbung an, die ihm nur ein Sonnenuntergang verleihen konnte. Seltsamerweise nahm die Abenddämmerung etwas von dem Lärm und der Hektik eines langen Arbeitstages und ließ für kurze Zeit eine fast andächtige Stille zurück.
 

"Hier ist er." (Somit hätten wir einen typischen Szenenwechsel nach der Einleitung. Wir befinden uns jetzt in Monsieur Bonacieux Arbeitsräumen, wo dieser gerade mit einer Kundin spricht. Die kurze Einleitung im Vorfeld sollte nur der Geschichte einen passenden Rahmen geben. Natürlich hat derzeit Monsieur Bonacieux wenig mit der Romantik eines Sonnenuntergangs im Sinn. Seine Aufmerksamkeit gilt einzig und allein seiner Kundschaft und das rot-goldene Licht einer untergehenden Sonne interessiert ihm in diesem Fall nur als Muster auf Seidenstoff gebannt.)

Bonacieux hielt seiner Kundin einen Ballen blauer Seide aus China entgegen. Er entrollte ihn etwas, damit sie sah, wie weich der Stoff floss. "Hier hätten wir blaue Seide aus China. Mit der einfachen Spitze aus Belgien bekommen Sie die schlichte Eleganz, welche Sie haben wollten."

Die junge Frau zu seiner Rechten nickte nachdenklich. Die langen gepflegten Finger fuhren kennerhaft über den zartschimmernden Stoff. "Wir könnten natürlich auch mit schwarzem Samtvolant arbeiten. Dunkelblauer Stoff mit schwarzem Samtaufsatz an Rocksaum und Ärmelenden." Wieder nickte seine junge Kundin und richtete den Blick nachdenklich in weite Ferne, um sich das fertige Kleid in Gedanken vorzustellen. Monsieur Bonacieux schwieg abwartend und beobachtete ihren Gesichtsausdruck. Es war der jungen Frau anzusehen, dass sie Geschmack und natürliche Eleganz besaß. Sie war jung, besaß eine wohlgeformte Figur, gehörte zu dem Typ Frauen, dem Winterfarben standen und was noch wichtiger war, sie besaß Geld und war gewillt dieses auszugeben. Alles Eigenschaften, die an einer Kundin wünschenswert sind. Was Monsieur Bonacieux irritierte, waren die ebenmäßigen Gesichtszüge welche ihm bekannt vorkamen. Doch so sehr er auch sein Gedächtnis durchsuchte, das Gesicht ließ sich auf keine ihm bekannte Dame kopieren.

"Können Sie den Stoff über die Puppe drapieren?" fragte sie und schreckte Bonacieux aus seinen Gedanken auf. Erstaunlich gewandt für seine gedrungene Gestalt schlängelte sich der Schneider um die Holzpuppe, zupfte hier, steckte dort fest und gab einigen Ellen unvernähtem Stoff erstaunlich viel Form. Die junge Dame, Bonacieux schätze sie auf Anfang 20, legte den Kopf schräg und klopfte nachdenklich mit dem Zeigefinger auf ihre Unterlippe. Bonacieux beobachtete sie unauffällig von einem anderen Blickwinkel aus. Das Gefühl das Gesicht zu kennen traf ihn mit der Wucht eines Vorschlaghammers.

Wenig später hatte man sich auf Stoff, Schnitt, Volant und nicht zuletzt den Preis geeinigt. Galant begleitete er seine Kundin zur Tür. Über der Stadt lag das Zwielicht der ersten Abendstunden.

"Vater." Bonacieux lächelte wohlwollend als er Constance auf sich zukommen sah. "Meine Tochter", erklärte er, mit vor Vaterstolz geschwollener Brust und wies nur auf das Wesentliche hin. Die junge Frau nickte gleichgültig. Wer auch immer, dachte sie und schenkte unterdessen dem Begleiter ihr Interesse. Constance hatte sich nicht alleine auf den langen Weg vom Louvre zum Haus ihres Vaters gemacht. Fürsorglich schickte ihr die Königin einen ihrer Musketiere mit, dessen Dienst als beendet galt. Heute traf es Athos und die junge Dame an Bonacieux's Seite wäre keine Frau gewesen, wenn sie die aristokratischen Gesichtszüge Athos nicht bemerkt hätte. Sie hatte sie durchaus bemerkt und ließ ihren Blick wohlwollend über seine ganze Gestalt wandern. Gute Proportionen, muskulöse Männerwaden, eine schlanke Taille, jegliches fernbleiben eines Fettbauchansatzes und breite Schultern. Hinzu kamen das Gesicht und das Auftreten eines typischen Edelmannes. Auch Constance und Athos bemerkten ihrerseits die junge Frau und stutzten. Anders als Bonacieux, welcher immer noch mit seinem Gedächtnis kämpfte, wussten sie die Züge gleich zuzuordnen und nur eine sehr gute und solide Erziehung hielt sie davon ab, die Unbekannte anzustarren. Bonacieux bemerkte den überraschten Blick der Neuankömmlinge, hoffte auf des Rätsels Lösung und beeilte sich, seine Kundin vorzustellen.

"Dies ist ..." Selbst der Name war ihm entfallen.

"Celinè de Comferrey", half sie nach und streckte Athos ihre zarte Hand entgegen. Athos nickte zuvorkommend. "Madam de Comferrey", sagte er, nahm ihre Hand und hob sie an seine Lippen. "Verwitwet", fügte sie hinzu.

"Madam de Comferrey, dies ist Athos, einer der Musketiere des Königs", stellte ihn Bonacieux vor. Ein Musketier? Madam de Comferrey's Interesse sank schlagartig. Musketiere waren nicht gerade für die Üppigkeit ihres Solds bekannt, dachte sie. Obgleich sich einige reiche Erben unter die Musketiere begaben, um sich ihre Hörner abzustoßen, und es galt schließlich als Ehre den König zu beschützen. Außerdem war gemeinhin bekannt, dass ein Musketier in Liebesdingen unschlagbar war, und Celinè war gerne bereit ihren Erfahrungsschatz zu erweitern.

"Wo müssen Sie hin, Monsieur Athos?" fragte sie und sah ihn aus halbgesenkten Augenlidern an.

"Rue de Revolin."

"Wunderbar, ganz meine Richtung. Sie haben doch nichts dagegen, dass ich Sie begleite?"

"Ganz im Gegenteil", versicherte Athos. Mit einem hinreißenden Lächeln hakte sich Madam de Comferrey bei ihm ein.
 

"Woher kennen wir sie, Constance?" fragte Bonacieux, während er dem Paar hinterher sah.

"Wir kennen sie nicht, Papa. Sie sieht nur aus wie Monsieur Aramis."

"Jetzt wo du es sagst. Ich glaube sie haben sogar die gleiche Größe", bemerkte Bonacieux und führte seine Tochter ins Haus. "Sie ist wirklich ungewöhnlich groß für eine Frau. Sie reicht fast an Monsieur Athos heran. Das macht mindestens eine halbe Elle mehr an Seidenstoff aus."

"Das solltest du ihr aber besser nicht sagen, Papa. Frauen mögen es nicht, groß zu sein." Die Tür fiel ins Schloss. Irgendwo am Ende der Straße bellte ein Hund, während zwei Fuhrleute sich in einer viel zu engen Straße lauthals anbrüllten, wer zuerst fahren sollte. Ein Passant schimpfte laut, weil unmittelbar vor ihm aus einem der Fenster der Inhalt eines randvollen Nachttopfs ihm vor die Füße schwappte. In der Nummer 27 stritten sich ein Ehepaar und von Notre Dame her schallte die große Glocke zur sechsten Abendstunde. Die Stille der Abenddämmerung wich der Geschäftigkeit der letzten Arbeitsstunden.

((2x4) Wurzel aus 4) /8

Die Wochen zogen dahin. Eigentlich waren erst zwei Wochen vergangen, aber es klingt stilistisch besser, wenn "die" Wochen dahinzogen. Sie trafen sich zum Dinner, zum Sonntagsspaziergang an der Seine, zum Ausflug nach Bois de Boulogne, zum Theaterbesuch im Théâtre Henry IV und spätestens bei Putenflügel Foi gras im Restaurant á la Provencale war Athos seiner zauberhaften Begleiterin verfallen.

Er schaute tief in die hellblauen Augen unter dem langen schwarzen Wimpernkranz. Sein Blick streichelte die zarte elfenbeinfarbene Haut. Sein Verlangen begann sich zu regen, wenn ihre Zunge über die roten Lippen strich und eine der goldblonden Locken sich im Dekollete verfing. Irritiert schreckte er zurück, wenn er auf einmal Aramis in ihren Gesichtszügen sah. Meistens half ein Glas Wein dabei Aramis zu vergessen und wieder Celinè's Antlitz zu sehen.
 

Der Abend begann in Paris. Der einzige Unterschied zum Tag bestand in dieser Stadt darin, dass es nach Sonnenuntergang dunkler war. Auf den Hauptstraßen und Alleen herrschte das übliche Gedränge und in den Bordellen ging es so turbulent wie immer zu. Einbrecher brachen ein. Mörder mordeten. Gewisse Damen boten gewisse Dienste an und geizten nicht mit gewissen Reizen. Fackeln wurden entzündet und die jeweilige Bezirkswache war damit beauftragt regelmäßig zu überprüfen, dass sie brannten. Der helle Schein tanzte durch die Straßen und verdrängte die Schatten in die unbeleuchteten Seitengassen, wo sie sich versammelten und überlegten, was sie unternehmen wollten.

Dieses Mal war Porthos an der Reihe Constance zu ihrem Vater zu begleiten, was dieser mit Freunden tat. Auf einem Silbertablett einen Grund serviert zu bekommen, um in unmittelbare Reichweite von Marthas Küche zu gelangen, ließ er sich nicht entgehen. Aramis begleitete die beiden, einfach weil sie Dienstschluss hatte und der Gedanke allein zu sein sie schlichtweg langweilte.

"Ich danke euch, für eure Begleitung", sagte Constance, während sie die Allèe des Brouillards entlang liefen.

Porthos schwelgte bereits in Gedanken im kulinarischen Hochgenuss. "Keine Ursache. Wir warten bis du deinen Besuch beendet hast und begleiten dich anschließend in den Louvre zurück."

"Darauf wette ich", entgegnete Aramis "Und wie du warten wirst."

"Was meinst du?" knurrte Porthos und der Ringkampf begann.

"Was werde ich wohl meinen!" Beide Kontrahenten zogen sich in ihre jeweilige Ringecke zurück, während

ihre Trainer Anweisungen gaben.

"Du musst ja nicht immer wieder darauf herumreiten. Jeder Mensch hat eben seine Laster." Es gongte zu Runde zwei.

"Aber niemand lebt sie mit dieser Perfektion aus, wie du."

"Ach ja?"

"Ja!"

Porthos ließ enttäuscht die angrifflustig gehobenen Schultern sinken. "Lass uns aufhören, es ist heute nicht dasselbe wie sonst."

Gleichmütig zuckte Aramis die Achseln und schwieg. "Weißt du, was Athos heute Abend vorhat?" brach sie nach einer Weile die Stille.

Porthos wusste es und während er verheißungsvoll mit seine Augenbraue spielte, weil er annahm, das wirke verheißungsvoll, erzählte er seinem Freund, was er wusste. "Aber wer sie genau ist weiß ich nicht. Sie muss eine Kundin von deinem Vater sein, Constance."

Constance, noch immer irritiert, von Porthos rotierenden Brauen, glaubte sich zu erinnern. "Sie heißt .... sie heißt ... Celinè de Comferrey. Genau, dass war ist ihr Name. Warum bleibst du stehen, Aramis? Ist etwas?" Verwundert sah sie den vor Schreck erstarrten Musketier an. "Celinè de Comferrey, sagst du?"

"Ja, da fällt mir übrigens ein, dass sie dir unglaublich ähnlich sieht. Kennst du sie?"

"Sie sieht Aramis ähnlich?" mischte sich Porthos ein, lockerte die Muskeln, setzte den Mundschutz ein, rückte die Boxerhosen in Position und wartete auf den Gong. "Das arme Ding. Es muss schrecklich sein, mit solchen Gesichtszügen gestraft zu sein." Er betrachtete verwundert das kalkweiße Gesicht seines Freundes. "Aramis, was ist mit dir? Das sollte nur ein Scherz sein. Aramis?"

"Constance, weißt du, wo sie wohnt?" fragte Aramis und bedachte Porthos mit höchster Nichtachtung. "Ja, Quai Malaquaise, Nummer 9. Ich habe gehört, wie mein Vater die Adresse nannte, um das Kleid ..."

Den letzten Rest des Satzes hörte Aramis nicht mehr, auch nicht das verwunderte Rufen ihrer Freunde. Wie eine Besessene hetzte sie die Straßen entlang -zwei Querstraßen zu weit, drei falsch, zwei Passanten umstoßend, sich etliche Flüche zuziehend, über einen Abfalleimer stolpernd und einem Fuhrwerk ausweichend.
 

Keuchend und nach Luft ringend erreichte sie die Quai Malaquaise. Stadthäuser der reicheren Schicht erstreckten sich entlang der Seine. Große Bäume im ersten Grün des Frühlings flankierten die breite Allee und spendeten an einem heißen Sommertag den ersehnten Schatten. Nummer 9, Nummer 9, raste es durch Aramis Gedanken, während sie auf das hohe Marmorportal zusteuerte und den schweren Eisenklopfer auf das massive Eichenholz der Torflügel fallen ließ. Sekunden später öffnete sich lautlos einer der Flügel und das Gesicht eines älteren knochigen Mannes erschien. Die Überraschung, die Gesichtzüge seiner jungen Herrin in denen des unbekannten Besuchers

wiederzufinden, ließ ihn vor Schreck erstarren und gab Aramis die wertvolle Zeit ihn widerstandslos beiseite zu drängen, um in das Haus zu gelangen.

"Junger Mann? Monsieur, Sie können doch nicht..." Zu mehr kam der alte Diener nicht mehr. Dreistigkeit und Jugend siegten. Unbehelligt erreichte Aramis die obere Etage. Wahllos öffnete sie die einzelnen Türen und musste enttäuscht feststellen, dass sich die Gesuchte nirgends befand.

"Verlassen sie sofort Madam Comferrey's Anwesen, Monsieur, oder ich hole die Wachen!" Der unsichere Blick aus den fast blinden Augen verriet deutlich, dass sich in diesem Haus nirgends Wachen aufhielten.

"Wo ist Ihre Herrin?" Der zornige Blick aus den blauen Augen ließ den Alten erzittern. Er schwieg beharrlich, aber sein Blick glitt in die entsprechende Richtung und verriet ihn. Ohne den Diener weiter zu beachten stürmte Aramis weiter, öffnete die Tür und trat ein.

Celinè de Comferrey, angekleidet im hauchzarten Seidenhemd, drehte sich von ihrem Frisiertisch aus um und starrte verblüfft ihren abendlichen Besucher an. Ihre Gesichtszüge rutschten ihr aus dem feingepuderten Gesicht, fielen zu Boden und ergriffen die Flucht.

"Verzeiht, Madam", mit asthmatisch rasselndem Atem erschien ihr Diener in der Türfüllung. "Er ließ sich einfach nicht ..." Aramis gab der Tür einen Stoß und erstickte den Rest des Satzes unter der zufallenden Tür. Der Diener ward ausgesperrt.

"Renée?" hauchte Celinè de Comferrey. "RENEÈ", quiekte sie, als ihr wirklich bewusst wurde, wer da vor ihr stand.

"Du lebst noch", kreischte sie desillusioniert und verärgert.

"Celinè, was suchst du hier?"

"Warum siehst du so absurd aus, was soll dieser Aufzug?" Bevor Aramis zu einer Antwort kam, ging die Tür am gegenüberliegenden Ende des Salons auf und Athos kam herein. Sein letzter Handgriff an seiner Kleidung zeigte, zu welchem Zweck er hier war.

"Ich habe Stimmen gehört ... Aramis?" Verblüfft sah er eine der Personen an, die er hier am wenigsten erwartete.

"Athos", Aramis nickte ihm zur Begrüßung zu. "Verzeih, ich wollte dich nicht stören. Ich wollte nur Madam de Comferrey sprechen."

"Tust du aber", zischte Madam de Comferrey mit süß-saurem Lächeln.

"Seid ihr miteinander verwandt?" fragte Athos.

"Vetter zweiten Grades."

"Cousine vierten Grades." Beide sahen sich an. "Wir kennen uns kaum", sagte Aramis

"Nur flüchtig", warf Celinè ein. "Praktisch gar nicht."

Athos runzelte verwirrt die Stirn. "Aber die unglaubliche Ähnlichkeit?"

"Die gleiche Großtante." Er hob skeptisch eine Augenbraue, enthielt sich aber einer Antwort.

"Ich weiß, dass ich unpassend komme, aber lässt du uns bitte kurz allein, Athos?" Mit einem Nicken verabschiedete sich Athos und schloss die Tür hinter sich.

Stille erfüllte den Raum. Stille, so frostig wie die Antarktis, Stille, so scharf wie die Klinge eines Messers.

Celinè's akribisch geschminkte Lippen zitterten empört. "Oh, wie kannst du es wagen?" Ihre Nasenflügel bebten. "Wie kannst du es wagen mit Männerkleidern herumzulaufen? Und woher kennst du Monsieur Athos?"

"Wir arbeiten zusammen?"

"Ihr arbeitet zusammen? Ach, Madam arbeitet mit ihm zusammen, bei den Musketieren? Bist du komplett wahnsinnig geworden? Weißt du, was du mir damit antust? Warum musstest du wieder auftauchen?"

"Warum musstest du nach Paris kommen?" entgegnete Aramis frostig.

"Warum musstest du geboren werden?"

Aramis schnaubte abfällig. "Fängst du schon wieder damit an? Als ob meine Existent ein persönlicher Affront gegen deine ist."

Celinè ließ sich auf eine der Chaiselongues nieder und hob die Hand zur Stirn, als befände sie sich am Rande der Ohnmacht. "Seit ich denken kann, bringst du mich in peinliche Situationen." Genervt rollte Aramis mit den Augen. "Du hast keiner Sinn für Anstand und Etikette, du setzt dich über alle Regeln der Gesellschaft hinweg", schluchzte sie im weinerlichen Tonfall. "Du stößt die Leute gedankenlos vor den Kopf und wen sehen sie, wenn sie mich ansehen, das Mädchen, welches Lady Lamberts Debütentenball als Pferdeauktion bezeichnete." Abrupt setzte sie sich auf. Der perfekt gelegte Lockenberg hüpfte schwungvoll in seine Ausgangsposition zurück. "Weißt du eigentlich, was die Leute zu Hause sagten, als du verschwandest? Du seiest mit dem Stallburschen durchgebrannt. Nur gut, dass ich zu dieser Zeit schon verheiratet war."

"Mit dem Stallburschen? Der, dessen Augen immer tränen und der Haare wie ein regennasser Igel hat?"

"Ja, der, " entgegnete Celinè genervt. "Er verschwand mit dir zusammen."

Aramis pfiff durch die Vorderzähne. "Der mit den vielen Knien? Da kann ich ja noch von Glück reden, dass ich solch eine gute Partie bekam."

"Du findest das wohl auch noch witzig?" Celinè schreckte hoch, wie von einer Tarantel gestochen. "Oh, Renée, wie konntest du nur. In Männerkleidung, als Mann ... das ist widernatürlich. Ich kann mich gesellschaftlich begraben lassen, wenn dies bekannt wird. Ich bin so gut wie tot." Theatralisch wedelte sie mit ihren Armen, während sie auf und ab lief.

"Verschwinde doch einfach aus Paris", warf Aramis ein.

"NIEMALS! Jetzt, da mein biederer, ach so verstaubter Ehemann begraben ist. Ich will endlich leben."

"Eben warst du noch praktisch tot."

"Ach verrecke doch!"

"Besorge dir ein anderes Gesicht!"

Es herrschte Stille, während die beiden Frauen ihre Kräfte sammelten. Sie standen sich schwer atmend gegenüber und lauerten auf die erste Reaktion des Kontrahenten, einem Torero in der Arena und seinem wildgewordenen Bullen gleich. Wobei die Rollenverteilung hier noch geklärt werden musste.

"Mich tröstet nur, dass dein Gesicht unter der ganzen Schminke ein anderes Aussehen angenommen hat", griff Aramis unter finster zusammengezogenen Augenbrauen an.

Celinè schnappte nach Luft, wie ein auf dem Trockenen gelandeter Fisch. "Wie kannst du es wagen? Ich habe es gar nicht nötig."

Aramis schnaubte verächtlich. "Ich habe dein Gesicht, und so sieht es nicht aus."

(Falls es dem Leser bis dahin nicht aufgefallen ist: Es handelt sich hierbei um ein eineiiges Zwillingspaar. Selbst die unterschiedlichen Charaktere konnten nicht über die übereinstimmende Äußerlichkeit hinwegtäuschen. Warum man trotzdem in Aramis einen Mann sah? Nun, beide sind bisher getrennt von einander aufgetreten und selbst wenn, sollte man sich nicht von der Macht der entsprechenden Kleidung, Schminke und Frisur täuschen lassen. Außerdem entsprach Aramis Kleidung, Auftreten und Redeweise der eines Mannes, soweit sie in der Lage war diesen zu kopieren. Während Celinè alles daran setzte das perfekte Ebenbild männlicher Träume zu verkörpern. Notfalls mit Gewalt. Zurück zum Schwesternstreit.)

"Wenigstens muss ich nicht Männerkleider tragen und nach Pferd riechen, um von den Männern bemerkt zu werden."

"Wenigstens muss ich nicht vorgeben unter 20 zu sein, um mein albernes Kichern zu erklären", giftete Aramis zurück.

"Wenigstens habe ich keine Nase, die wie ..." Hier verstummte Celinè, als sie sich dem Ende der mentalen Sackgasse näherte. Beide Schwestern ließen sich auf der Chaiselongue nieder und starrten, ohne das es ihnen bewusst war, in gleicher Haltung zur Tür. Das Kinn auf den Ellenbogen gestützt.

"So kommen wir nicht weiter", bemerkte Aramis resigniert.

"Warum musst du mir immer alles vermiesen. Es lief gerade so gut!"

"Gut? Athos kann sich gerade die wenigen Annehmlichkeiten leisten, ohne die er nicht zu leben gedenkt und seine Bedürfnisse liegen weit unter den deinen."

Celinè lächelte süffisant und ihre Augen bekamen einen bösen Glanz, als sie zu merken begann, wie zugetan ihre Schwester Athos war. "Oh, ich glaube seinen Bedürfnissen habe ich mehr als genüge getan und sie ausreichend befriedigt, " sagte sie im gehässigen Ton. Unmerklich zuckte Aramis zusammen, aber erwiderte nichts. Was hätte sie auch sagen können? Obwohl sie sich derart ähnelten, würde sie nicht einmal annähernd so nah an Athos herankommen, wie Celinè nach nur 2 Wochen - ,Verzeihung, wenigen Wochen. Sie musste sich mit Freundschaft und einem gelegentlichen kameradschaftlichen Klaps zwischen die Schulterblätter zufrieden geben.

"Tue ihm nicht weh! Er ist mehr Wert, als alle Männer, die ich kenne." Aramis seufzte und stand auf.

"Mehr wert, als dein Francois?" rief ihr Celinè nach, aber die Spitze verfehlte ihr Ziel. Nein, wie Francois, dachte Aramis lächelnd. Und Francois hatte ihr ihre Schwester nicht wegnehmen können.
 

Die kalte Abendluft ließ sie frösteln. Aramis zog den Mantel fester um die Schultern und machte sich auf den Heimweg. Zu Hause wartete ein ausgebrannter Kamin, ein kaltes Bett und die Ungewissheit, was die nächsten Wochen bringen würden. Das ihre Schwester sie verraten würde, bezweifelte sie. Damit würde sich Celinè selbst schaden, aber das Gefühl Athos bei ihrer berechnenden und gefühlskalten Schwester zu wissen, riss tiefe Wunden in ihr Herz.

(9 log 3) -1,294

Die Wochen vergingen und diesmal vergingen sie wirklich. Die Tage flogen dahin und bald folgte ein Monat dem anderen. Es waren quälende Tage, wenn Aramis daran dachte, bei wem Athos nach Dienstschluss seine Zeit verbrachte. In einer Stadt wie Paris, auch wenn sie zu Aramis Zeit nur ein Drittel des heutigen Paris maß, war es nicht schwer ihrer Schwester aus dem Weg zu gehen. Athos selbst sprach nie über seine Beziehung zu Celinè, aber die Abendstunden, die er mit seinen Freunden verbrachte waren bedauernswert gering. Die Vorstellung ihn bei ihr zu wissen, schmerzte tiefer, als Aramis sich eingestehen wollte. Sie brauchte nur Athos Lächeln morgens zu sehen, und sie spie Gift und Galle, gleichzeitig hasste sie sich dafür. (Wenn man es genau sah, war Athos Lächeln kein anderes als sonst, still, in sich ruhend, freundlich, aber es hätte ja mit Celinè zu tun haben können und dieses "hätte" raubte Aramis den Schlaf.)

Vielleicht gehörte es einfach zu ihren Eigenschaften dazu, heiß und lodernd wie eine Stichflamme zu lieben. Immer waren Leidenschaften bis zum äußersten Grad nicht mehr den Willensfähigkeiten der Menschen untertan. Ihre Entscheidungen gehörten nicht mehr zu den bewussten Handlungen ihres Lebens. Ansonsten hätte sich Aramis nie als Mann verkleidet in Paris wiedergefunden. Jemand mit ihren Wesenszügen musste einfach handeln und sich über alle Verbote und Schranken des Lebens hinwegsetzen. Und genauso musste es einfach geschehen, dass sie sich wieder verliebte und mit einer Kraft liebte, die wie ein Sturm über ihr Seelenleben hereinbrach.

Aramis hatte schon vor langer Zeit begonnen, die Gefühle, die sie verwirrten und aus der Fassung brachten zu verdrängen und tief in sich einzuschließen. Denn sich zu verraten und Athos ihre Liebe zu gestehen, würde sie niemals tun. Sie würde nichts gewinnen, aber alles verlieren.
 

Unauffällig lockerte Bischof Thénadier den steifen Kragen seiner Robe und rückte die schweren Amtsketten zurecht, bevor er die Kanzel betrat und seinen Blick über seine fürstlichen Schäfchen schweifen ließ. Die riesigen Goldleuchter tauchten den Altar in weiches Licht. Die Morgensonne warf ihre Strahlen durch die hohen, mit Buntglas verzierten Fenster, in das Mittelschiff. In den ersten Sitzreihen saß der König mit seiner Familie. In seiner unmittelbaren Nähe seine rote Eminenz, Kardinal Richelieu, hinter ihnen teilte sich der Hochadel bis zum hintersten Drittel auf, dort stand der Kleinadel und scharrte ungeduldig mit den Füßen. Gespräche und Lachen verklangen. Die Sonntagspredigt in Notre Dame begann. Gelegentliches Räuspern, verlegenes Hüsteln, verstecktes Gähnen, das Rascheln von Kleidung durchbrach das monotone Latein des Bischofs. Ansonsten lauschte die Gemeinde andächtig, in einer Zeit da der Glaube an Gott auch mit Angst und Schrecken verbunden war, den Ausführungen ihres Predigers.

Aufmerksam die königliche Familie im Augen behaltend und doch nahezu unsichtbar im Schatten des äußeren Säulengangs standen die Musketiere seiner Majestät und wachten über ihren weltlichen Hirten.

"Ist alles in Ordnung mit dir, Aramis? Dein Gesicht ist ziemlich weiß." Athos sah seinen Kollegen verstohlen an.

"Mit meinem Magen stimmt etwas nicht." Dieser machte sich gerade schmerzhaft bemerkbar und das beunruhigende Rotieren der Magensäfte hallte viel zu laut durch die andächtige Stille der Kirche.

"Solltest du nicht einen Arzt aufsuchen?" bemerkte Athos besorgt. Aramis Gesichtsfarbe erbleichte noch ein wenig mehr. Ein Arzt würde das Ende ihrer Existenz als Mann und damit als Musketier bedeuten. Eine Arztkonsultation war die schlimmste Krankheit, die sie sich zuziehen konnte. In diesem Fall konnte sie gleich selbst die Fackel ihres Scheiterhaufens in den Händen halten und das todbringende Reisig entzünden.

"Ich traue keinem Arzt", zischte sie zurück. "Bevor man es sich versieht hängen fünf von ihnen an deinem Handgelenk und lassen dich zur Ader, während der Rest sich mit einer Egelkolonie auf deinem Rücken zu schaffen macht, um dich zu schröpfen. Zum Schluss stirbst du an Blutmangel und sie holen sich deine Hinterlassenschaft, um ihr immenses Honorar zu bezahlen. Oh, nein, nicht mit mir."

"Sind das nicht ziemlich veraltete Vorstellungen?"

"Nein! Das nennt sich Überlebenswille und nun möchte ich nichts mehr darüber hören."

"Meine Freunde", mischte sich Porthos ein, der bisher mit den Gedanken woanders weilte. "Wie wäre es, wenn wir zur Mittagspause das "Grand Vachenoir" aufsuchen. Sie sollen einen köstlichen Hasenbraten dort haben. Ich kann den Duft schon riechen." Er stutzte, als sein Kollege zu würgen begann.

"Sprich nicht von Essen, Porthos. Aramis Gesicht nimmt eine leicht grünliche Färbung an, " meinte Athos.

"Was denn?" Beleidigt drehte sich Porthos weg und begann, nach Außen ganz die Haltung eines wachsamen Musketiers wahrend, vom Essen zu träumen. Ruhe kehrte in den Reihen der Musketiere ein. Der Segensspruch näherte sich.

"Bist du glücklich, Athos?" Aramis hatte sich lange zu dieser Frage durchringen müssen. Erstaunt über den plötzlichen Themenwechsel sah Athos sie an.

"Ja. Amen."

"Amen."

Er überlegte. "Deine Cousine ist bezaubernd, wenn du darauf hinaus wolltest." Aramis nickte, während ihre Augen weiterhin den König im Blick behielten. Ach, Athos, dachte sie betrübt. So schlau, so welterfahren und doch so dumm. Sind alle Männer zu dem Irrglauben verdammt, eine Frau sei gut und aufrichtig, nur weil sie schön und jung ist? Siehst du nicht Celinè's wahres Wesen? Aber du siehst ja auch mich nicht, obwohl wir seit 6 Jahren befreundet sind. Du siehst mich nicht, obwohl wir so viele Stunden miteinander verbringen, zusammen reden, zusammen lachen. An manchen Tagen schreit alles in mir danach, es dir in dein Gesicht zu schreien.
 

Aramis lief durch die Straßen. Ihr Magen rumorte noch immer. Zum Glück war sie in der Lage ihr Essen bei sich zu behalten, aber der bloße Gedanke an zusätzliche Nahrungsaufnahme ließ eine neue Übelkeitswelle aufsteigen. Sie war auf der Suche nach einem Apotheker. Egal ob diese behaupteten, es wäre die neue Wundertinktur schlechthin und doch nur ein Präparat aus Kräutern, die in jedem Kräutergarten einer Hausfrau zu finden waren. Hauptsache es half.

Genau dieses versuchte ihr eine halbe Stunde später ein dürrer Greis mit gelblicher Gesichtsfarbe zu verkaufen. Seine Kleidung verströmte einen penetranten Geruch nach Schwefel und Kräutern. Die langen Finger mit den schwarzen Fingernagelrändern krallten sich um einen Glasflakon. Das absolute Heilmittel gegen jegliche Arten von Krankheit und Leid.

"Gewonnen aus dem Öl einer seltenen Pflanze aus dem Orient."

"Ja, da bin ich mir absolut sicher, " erwiderte Aramis und schaffte es mühsam, den Sarkasmus aus ihrer Stimme zu bannen. "Und Jungfrauen- und Drachenblut und der Zehnagel unseres Heilands." Die dunklen Augen im Faltengespinst sahen sie alarmiert an. Ängstlich bekreuzigte er sich, drückte Aramis den Flakon in die Hand und bugsierte sie zur Tür hinaus, natürlich nicht ohne vorher ihr Geld genommen zu haben. Bei Geld hörte der Aberglauben auf. (Aberglauben ist eine nicht zu unterschätzende Macht. Tausende von Männern und Frauen wurden als Hexen verurteilt und verbrannt, weil der Verstand der Menschen Untertan des Aberglaubens war. Nicht umsonst fürchtete Aramis ihn.)

Unvermittelt auf die Straße geworfen, setzte sie ihren Weg fort. Sie war noch nicht lange unterwegs, als sie in der Ferne ihre Schwester sah. Innerlich stöhnte sie auf. Paris war doch nicht groß genug für sie beide. Neben Celinè trat ein junger Mann auf die Straße und legte seinen Arm zutraulich um deren Taille. Beide bewegten sich auf eine große Reisekutsche zu. Gepäckstücke stapelten sich auf dem Wagendach. Neugierig geworden trat Aramis näher heran. "Celinè?" Erschrocken wirbelte ihre Schwester herum und erstarrte. Das war doch lächerlich. Andere Familienmitglieder fielen sich vor Zuneigung um den Hals und ihrer Schwester quellten vor Schreck jedes Mal die Augäpfel aus den Höhlen, wenn sie sie erblickte.

"Mach den Mund zu, Celinè! Ich möchte ja gar nichts von dir."

"Verzeihung", mischte sich der junge Mann ein. Ihm war anzusehen, dass er aus gutem Hause stammte. Der lange schlanke Körper steckte in teuren Gewändern der neuesten Mode.

"Seid Ihr der Bruder von Mademoiselle Celinè?" Er verbeugte sich galant. "Darf ich mich vorstellen, ich bin Graf de Guise." Ein Guise, dachte Aramis. Das erklärte die schwächlichen Gesichtzüge, welche von einem adligen Stammbaum zeugten, der sich durch zuviel Inzucht fortgepflanzt hatte. Schielte er etwa?

"Ich möchte die Erlaubnis einholen, Mademoiselle Celinè ehelichen zu dürfen." Der Graf wartete, dann rückte er schließlich näher an seine Braut heran und raunte: "Meine Liebe, ist dein Bruder geistig beeinträchtig? Er glotzt mich nur mit diesem weit geöffneten Mund an."

"Das ist nicht mein Bruder", erwiderte Celinè erbost. "Ein Vetter vierten Grades und ja, er hat als Kind einen schlimmen Unfall erlitten ... Ihr wisst." Celinè tippte sich wegweisend mit dem Zeigefinger an die Schläfe. "Entschuldigt uns bitte!"

Sie zog Aramis beiseite. "Was machst du hier. Du wolltest dich doch fernhalten!"

"Was machst du hier, Celinè?"

"Das siehst du doch. Ich reise ab", erklärte sie, als sei es das natürlichste der Welt.

"Und was ist mit Athos?"

"Mit Athos? Was soll mit Athos sein", zischte sie. "Er ist ein einfacher Musketier und das ist ein de Guise. Keiner aus der Hauptlinie, aber ein de Guise. Ein Adelsgeschlecht, das der königlichen Familie angehört. Und er will mich heiraten, also verhalte dich ja still und steh mir nicht im Weg herum!"

"So einfach ist das?"

Celinè lachte leise und verächtlich. "Ja, natürlich du Dummerchen. Eine de Herblay geht in die Linie der de Guise ein. Ich werde eine Gräfin sein. Spiel du nur weiter dein widernatürliches Spiel. Höchstwahrscheinlich landest du auf dem Scheiterhaufen, aber tu mir den Gefallen und stirb anonym. Jetzt entschuldige mich. Wir reisen ab!" Sand wirbelte auf, als sich die riesigen Wagenräder in Bewegung setzten und Aramis in einer Wolke aus Staub zurückließen.

"Richte Athos bitte meine allerherzlichsten Grüße aus!" Celinè winkte aus der davon rollenden Kutsche ihrer qualvoll hustenden Schwester zu. Der dunkle Wagen bog um die Ecke und verschwand aus der Sicht.

4*[cos(pi)+i*sin(pi)]

Noch am selben Tag wunderte sich Madam Boublils, Wäscherin von Beruf, warum ein ihr vollkommen fremder Mann ihr unbedingt ein Kleid abkaufen wollte. In der Rue de Hèrold fragte sich einer der fahrenden Händler, warum ein Käufer verzweifelte, nur weil das Kaminrot ausgegangen war. Madam Ferras, Besitzerin eines Bordells in der Rue de l'Albresec, führend unter diesen Etablissements in ganz Paris, stutzte über einen Gast, der nicht gewillt war nach einem ihrer Mädchen zu fragen, sondern fast panisch nach Lippenrot verlangte und auf die Frage, ob sie ihm mit einem Knaben dienlich sein konnte mit völligem Unverständnis reagierte. Leichenblass und mit Schweißperlen auf der Stirn erwarb sich jemand bei Monsieur Lecouvreur falsche Haarteile in honigblondem Farbton. Monsieur Lecouvreur entsann sich später nur noch daran, dass derjenige arge Probleme mit dem Magen gehabt hatte.

Eben jener Kunde kämpfte zu früher Abendstunde mit starker Übelkeit, Magenkrämpfen und darüber hinaus Kleid, Make-up und Frisur. Als sich schon längst die Dunkelheit mit seinem schwarzen Schleier über das Land gesenkt hatte, verließ eine Frau, tief unter der weiten Kapuze eines weiten Umhangs verborgen, das Haus eines Musketiers namens Aramis. Nur hatte sie zuvor niemand eintreten sehen.
 

Aramis eilte die Rue Vaneau entlang. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt. So fein, dass die Tropfen kaum ausreichten, um den Stoff ihres Umhangs zu durchnässen. Sie schritt in weiten Schritten zielgerichtet aus, erinnerte sich plötzlich daran, dass sie gerade nicht sie selbst war -und ging, besser gesagt schwebte die Straße hinunter. Über ein halbes Jahrzehnt war sie nicht mehr mit den kleinen, gemessen Schritten eines Drei-Unterrock-Trägers gelaufen. Doch es fiel ihr erstaunlicherweise gar nicht schwer. Irgendwo in ihrem Hinterkopf flüsterte eine Stimme Fragen wie "Was mache ich eigentlich hier?" und "Wie kam ich nur auf diese Idee?". Ein anderer Teil von ihr lief einfach ohne darüber nachzudenken. Sie fühlte sich schlecht wegen ihres Magens, einem für ihren Geschmack viel zu tiefen Ausschnitt und eines Gefühls, welches über Unbehagen und Ratlosigkeit entfernt an Scham heranreichte.

Zusammen mit der Übelkeit und dem bitteren Metallgeschmack auf ihrer Zunge, lag ihr ihre absurde Idee derart schwer im Magen, dass sie am liebsten umgekehrt wäre. Umkehren, nach Hause laufen und den Körper wieder verpackungssicher hinter der gewohnten Männerkleidung verstecken. Noch besser wäre es, sich im Bett zu verkriechen und das Ende der Welt abzuwarten. Dorthin gehörte sie ohnehin mit ihren Magenschmerzen. Aramis schüttelte über sich selbst den Kopf. Ihr klarer Verstand musste ihr abhanden gekommen sein und sich irgendwo auf Wanderschaft befinden.

Sie verfluchte ihre gedankenlose Schwester, während sie benommen über eine der sogenannten Hauptstraßen der Pariser Innenstadt lief. Der festen Überzeugung Athos hätte sich in ihre Zwillingsschwester verliebt und würde mit deren wortloser Abreise bitter enttäuscht sein, hatte ausgerechnet sie sich zu seinem Retter auserkoren. Sie würde Celinè spielen und eine bessere Ausrede für das Ende einer Liaison finden, die ihr fast selbst das Herz brach. Aber wie konnte sie nur davon ausgehen, dass Athos sich von der Maskerade täuschen lassen würde und sie für Celinè hielt?

Aramis seufzte, als sie vor seiner Haustür zum Stehen kam. "Warum?" fragte sie sich erneut. Sie wusste es nicht mehr, erinnerte sich aber dunkel daran, dass mehrere gute Gründe für diese Entscheidung gesprochen hatten. Jetzt fiel ihr keiner mehr ein. Hinter ihrer Stirn gab es ohnehin kaum Platz für Erinnerungen. Ihr Gehirn war vielmehr damit beschäftigt ihren revoltierenden Magen zu bezähmen. Mit dem letzten Rest an Entschlossenheit hob sie die Hand, um an die Tür zu klopfen, in der Hoffnung, dass ihr Verstand möglichst bald zu ihr zurückkehrte. Viel zu schnell öffnete sich die Tür und die Wärme von Athos Lächeln und einer geheizten Stube strahlten ihr entgegen.

"Celinè"

"Athos." Sie räusperte sich verlegen, da ihre Stimme wegbrach und wie verrostete Türangeln quietschte.

"Athos, verzeih mir, aber ich bin etwas erkältet", flüsterte sie erneut und hoffte, dass der Unterschied ihrer rauen Stimme, gegen Celinè's süßlich sanfte Töne nicht auffiel.

"Du hättest zu Hause bleiben sollen, meine Liebe."

"Ich möchte ja gar nicht lange bleiben ..." Sie stockte. "Nun, dass heißt ,nicht möchten' ist vielleicht falsch ausgedrückt ... Ich musste dich aufsuchen ... ich meine, um dir nur zu sagen ... nein, nicht nur ... um dir zu sagen ... ich meine ... ich glaube, ich habe Fieber?" Athos legte ihr die Hand auf die Stirn, während er sie sanft und mit nachsichtigem Lächeln auf den Lippen in seine Wohnung führte. "Deine Stirn ist kühl."

"Bist du sicher? Mir ist schrecklich heiß."

"Gib mir deinen Umhang!" Zuvorkommend streckte ihr Athos seine Hand entgegen. Er hob verwundert eine Augenbraue, als sein Gast verschreckt zurückwich und ihren Umhang schützend vor der Brust zusammenpresste.

"NEIN", stieß sie verzweifelt vor. "Eigentlich ist mir eher kalt ... Schüttelfrost."

Athos Verwirrung steigerte sich angesichts ihres merkwürdigen Verhaltens. "Celinè, bist du sicher, dass ich keine Kutsche rufen soll, die dich nach Hause eskortiert?" Aramis schüttelte verneinend den Kopf. Sie waren mittlerweile in seiner Wohnstube. Es war das Zimmer eines Mannes, dessen Geschmack und Ästhetik deutlich über den eines üblichen Musketiers hinausging. Ein Feuer brannte im Kamin und erwärmte einen Raum, der sowohl zweckmäßig, als auch gemütlich war. Zaghaft setzte sich Aramis auf die Chaiselongue vor dem Kamin nieder, dem einzigen gepolsterten Möbelstück in Athos Wohnstube. Noch immer hielt sie ihren Umhang krampfhaft umfasst.

"Ich werde uns etwas zu trinken holen." Mit diesen Worten verließ er sie. Aramis wartete, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, dann lehnte sie sich gegen das Rückenpolster und stieß einen tiefen, schmerzerfüllten Seufzer aus. Das konnte einfach nicht gut gehen.
 

Nachdenklich trat Athos auf den groben Steinfliesen des tiefergelegenen Küchenraums von einem Bein auf das andere. Er schob nacheinander die Weinflaschen aus dem Regal und überprüfte die Etiketten, ohne deren Inhalt zu verstehen oder im Gedächtnis zu behalten. Seine Gedanken waren weit fort. Falten bildeten sich auf seiner Stirn, Falten wie bei jemanden, der versuchte konzentriert nachzudenken und herauszufinden, was ihn beunruhigt. Die Erkenntnis, dass irgendetwas nicht stimmte und nichts so zu sein schien, wie es sein sollte lag wie ein dichter Nebelschleier in der Luft. Irritiert ließ er die letzten Minuten Revue passieren, ohne zu einer Erklärung zu kommen. Nicht, dass er es in Worte kleiden konnte, aber er wusste, dass die Besucherin in seiner Wohnstube nicht Celinè war. Und dennoch war sie ihm nicht unbekannt. Die Art, wie sie sich bewegte, wie sie sprach, wie sie das Gesicht beim Sprechen verzog, war ihm gespenstig vertraut. Gedankenverloren griff er die Weinflasche mit der dicksten Staubschicht und kehrte, mit Weinkelchen bewaffnet, - nicht zu Celinè zurück, sondern zu der Erinnerung an jemand anderes.

Athos lächelte seinem Besuch entgegen, während er den Staub von der Flasche entfernte und diese schwungvoll entkorkte. Ein eher gezwungenes Lächeln antwortete ihm. Sie wich seinen Blicken aus. Während ihr Blick unbeteiligt das Zimmer durchstreifte, nur um nicht in seine Augen sehen zu müssen, beobachtete er sie. Ihre Gestalt blieb weiterhin der Mutmaßung überlassen, da sie sich noch immer in den Untiefen ihres Umhangs verborgen hielt. Schon hier wurde Athos stutzig. Hatte doch Celinè ihm sonst ihre Formen mit dem Selbstbewusstsein einer wohlgerundeten Dekolleteträgerin bei jeder erdenklichen Gelegenheit dargeboten. Seine jetzige Besucherin lehnte sich nicht lasziv, verführerisch im Polster zurück, sondern saß steif auf der Polsterkante und scharrte nervös mit den Füßen. Die Gesichtszüge waren unverändert, dass vom Feuer in ihrem Rücken in rot-orange getauchte Haar das gleiche. Er setzte sich und reichte ihr einen Becher mit der roten Flüssigkeit.

"Oder ist dir Tee lieber, wenn du dich nicht wohlfühlst?" warf er ein. Sie schüttelte den Kopf.

"Wein ist ausgezeichnet", entgegnete sie und stürzte den Alkohol in einem Zug hinunter. Erschüttert hing sein Blick an den letzten Weintropfen auf ihrer Unterlippe, bis dieser unter ihrer Zunge verschwand. Er schenkte nach.

Sie lächelte, er lächelte, betretenes Schweigen machte sich im Raum breit.

"Weswegen wolltest du mich denn sprechen?" fragte er und sah sie aufmunternd an. Er gehörte zu jenen Leuten, die oft verhalten schmunzelten und statt einer Antwort ein Lächeln andeuteten, was in anderen Leuten den Verdacht weckte, dass er intelligenter war als sie, auch wenn er nur zu verstehen versuchte, was sie sagten.

"Nun", sie lächelte unsicher, rang nach Worten und stürzte den zweiten Becher Wein hinunter. "Ich fürchte, ich werde dich nicht mehr sehen können." Sie warf Athos einen besorgten Blick zu und wartete auf eine Antwort. Dieser zog die Brauen hoch und unterließ es vorsorglich ihr nachzuschenken. "Warum?"

"Nun ja ... weißt du ... nun..." Ihre Miene spiegelte das Ringen mit den Worten wieder.

"Nun?"

"Nun..."

"Soweit warst du schon."

"Nun", begann sie, mit einem ärgerlichen Seitenblick auf ihn. "Mein Onkel, der ja mein Vormund ist, verlangt dass ich heirate. Den passenden Ehemann hat er schon ausgesucht. Wir werden uns in die Provinz zurückziehen."

"Und du möchtest ihn heiraten?"

"Neeein ... aber ich muss. Er ist doch mein Vormund, mir bleibt keine Wahl."

"Ich denke, dein Onkel hat keine Verfügungsgewalt mehr über dich, seit du verheiratet bist. Du hast mir doch erzählt, dass das auch auf dich als Witwe gilt."

Aramis geriet ins Stocken. "So? Habe ich das?"

"Ich glaube mich zu erinnern", warf Athos ernst ein und nahm ihre nervös herumfuchtelnde Hand in seine, um sie zu beruhigen. Dabei fiel sein Blick auf ihre linke Hand und endlich verstand er. Stimmten die Gesichter rein optisch überein, so war doch die längliche Narbe auf diesem Handrücken nicht auf Celinè's Hand gewesen. Selbst stolzer Besitzer einiger duzend Narben, wusste er, dass es sich um keine frische Wunde handelte und er wusste auch, wer durch eine Narbe gezeichnet war. Ausgerechnet durch ihn, bei einer unachtsamen Minute in einer Übungsstunde. Schon von seinen Genen her mit einem guten Maß an Intelligenz ausgezeichnet, mit einem gut trainierten Gedächtnis bestückt und von schneller Auffassungsgabe, zählte Athos eins und zwei zusammen und drei ergaben Aramis. Was ihm unklar blieb, waren dessen Beweggründe für diese Maskerade und wie ein Mann, dessen Gesicht er schon Abermillionen mal erblickt und als männlich befunden hatte, ihn als Frau täuschen konnte? Sollte dies ein Scherz sein? Wenn ja, und hier war sich Athos sicher, war es ein äußerst schlechter. (Nun brauchte der Autor, um Athos gerade gereifte Erkenntnis gewissenhaft zu dokumentieren knappe 150 Wörter. Im Handlungsrahmen, nahmen seine Überlegungen aber nur Sekundenbruchteile in Anspruch. Während Aramis noch nach einer glaubwürdigen Erklärung rang, ging mit Athos, einem sonst überaus vernunftdenkendem Mensch der Schalk durch. Vielleicht war es auch verletzter Stolz. Er fasste den Entschluss den Spieß umzudrehen. Nicht er würde der Genarrte sein.)
 

Aramis überlegte krampfhaft. Die Hitze des Feuers in ihrem Rücken brannte durch den dicken Wollstoff, aber sie wagte es nicht den Umhang abzulegen.

"Ja, weißt du ... Er ist immer noch mein Onkel und meine Familie braucht das Geld ..."

"Egal!"

"Egal?" wiederholte sie ungläubig und sah ihn mit großen Augen an, während sie versuchte ihre Hand aus seiner zu befreien.

"Egal! Ich habe nicht das Recht deine Entscheidung anzuzweifeln."

"Nicht das Recht?"

"Du wirst schon genau wissen, was du tust."

"Was ich tue?"

Athos nickte. Der sturmgraue Blick bohrte sich zwingend in ihre Augen. Sein Knie berührte ihrs. Seine Hand hielt weiterhin ihre umfangen und drückte sie sanft, während sein Daumen über ihren Handteller strich. Mittlerweile war sich Aramis sicher, dass die Hitze in diesem Raum nicht nur vom Kamin ausging. Sie schluckte schwer.

"Loyalität gegenüber der Familie ist überaus wichtig", flüsterte er.

"Loyalität?" wisperte sie und lehnte sich zurück, als die grauen Augen näher kamen. Sie sah etwas Unheilvolles in seinem Blick.

"Irgendetwas ist heute anders an dir!"

"ANDERS an mir? Aber nein!" Mit einem wölfischen Lächeln auf seinen ebenmäßigen Zügen registrierte Athos die Panik in Aramis Stimme.

"Mir kommt es vor, als bist du noch schöner als sonst."

"Tatsächlich?" kam es zaghaft von ihren Lippen. Sie lächelte.

"Wunderschön!" bestätigte er. Um ihr Lächeln zu beschreiben, müsste man schon sagen, dass wenn Aramis noch breiter gelächelt hätte, sich ihre Lippen am Hinterkopf berühren würden. Nach 6 Jahren als Mann verkleidet, lechzte sie geradezu nach einem Kompliment.

"Zum Küssen schön!" Sein Oberkörper kam näher, während Aramis zeitgleich zurückwich, bis das Polster ihren Rücken berührte und sie flach auflag.

Athos Gesichtsausdruck erinnerte an etwas langes, geschmeidiges und weißes, das übers Riff glitt und dorthin schwamm, wo Kinder planschten. Sollte Aramis ruhig glauben, dass er Celinè weiterhin vor sich sah. Sollte er glauben, dass er vorhatte ihn zu küssen. Athos wollte Panik in den Augen seines Freundes sehen. Seine Hand glitt zu den Bändern, die den Umhang zusammen hielten. Der Umhang würde fallen und die Maskerade hätte ein Ende.
 

Aramis spürte, wie Athos Atem über ihre Wange strich. Die Chaiselongue war in ihrem Rücken. Weiter konnte sie nicht mehr zurückweichen. Ihr Blick glitt zu seinen Lippen und blieb an seinem Oberlippenbart, Statussymbol der spätmittelalterlichen Epoche, hängen. Was bei anderen wie der nachweisliche Genuss einer Tasse Kakao aussah, wirkte bei Athos flott. Sie sah in seine Augen, dann wieder auf seine Lippen.

"Athos?"

Wenige Augenblicke später passierte es.

5*[cos(pi)+sin(pi)]-0,26

Keiner der Beiden vermochte Augenblicke später zu sagen, was genau geschah. Wie es passierte.

Athos Lippen näherten sich Aramis Gesicht.
 

Vielleicht verlor er den Halt, vielleicht ergab sie sich der magischen Anziehungskraft seiner Augen.

Vielleicht verblüffte ihn die plötzliche Weiblichkeit im Gesicht des vermeintlichen Mannes und machte es ihm einfach nur zu leicht zu vergessen. Wahrscheinlich war sie ihm einfach nur verfallen und viel zu lange in der einsamen Gesellschaft ihres Versteckspiels gefangen. Vielleicht, vielleicht ...

Egal was und wie es geschah, aber beide Lippenpaare trafen sich.

Konnte es Verblüffung auf Athos Seite sein, die Sehnsucht bei Aramis, die ihre Lippen länger als eine Schrecksekunde auf einander verweilen ließ, - sanft und fordernd? Bei dem Einen Unverständnis hervorrufend, bei der Anderen elektrisierend?
 

Gleichzeitig öffnete seine Hand den Umhang und glitt auf der samtweichen Haut zum Dekollete hinunter. Aber die Hand spürte weder die festen Formen einer muskulösen Männerbrust, noch die haarlose Hühnerbrust eines Jünglings, sondern die weichen Formen einer Frau.
 

Wie ein abgeschossener Pfeil sprang Athos auf. Er hatte gehört, dass es solche Menschen gab. Eine Laune der Natur, - halb Mann, halb Frau. Aber das sein Freund wie sie war ... Oder hatte man ihn seiner Männlichkeit beraubt? Es hieß Kastraten bekamen weibliche Formen. In seinen Gesichtszügen spiegelte sich Entsetzten und Panik wieder, während er auf Aramis hinunter sah, die sich nicht einmal mehr sicher war, seine Hand wirklich auf dem Ansatz ihres Busens gespürt zu haben.

"Was bist du, Aramis?" rief Athos fassungslos. Seine Augen waren unnatürlich weit aufgerissen. "Ein Kastrat, ein Hermaphrodit, ... verdammt, wie kommst du an einen Busen?" Entsetzt sah er auf seine Hand nieder, die sie eben noch so sanft berührt hatte.

"DU WUSSTEST, DASS ICH DAS BIN?" Bei seinen Worten sprang auch Aramis auf oder versuchte es wenigstens, da sie sich in ihrem Umhang verfing und damit kämpfte, sich nicht selbst zu erdrosseln. Endlich stand sie ihm im halbwegs geordneten Zustand gegenüber und steigerte ihre Stimme zu einem lauten Streitgespräch. "Was heißt, ,was ich bin'? Hältst du mich für ein Monstrum, eine Missgeburt?"

"Dann sage mir, was du bist! Bis eben nahm ich noch an, du wärst ein ganz normaler Mann, aber kein ... kein UNMANN?" spie er aus. (Wir sprechen Athos hier keineswegs Integrität und Toleranz ab, aber wir befinden uns immerhin im 17. Jahrhundert und die Menschen hatten mit vielen Dingen zu kämpfen, die sie einfach nicht kannten und nicht verstanden.)

"Ich bin eine Frau", tobte sie.

"Eine Frau?", keuchte er überrascht und sah sie schreckliche Sekunden lang mit einem beängstigendem Erschrecken an. Seine Augen begannen vor Wut zu glühen. "Wie kannst du es wagen eine Frau zu sein? Du hast uns belogen, du hast Porthos belogen, den König, den Kapitän ... alle!"

Ihr Atem ging schwer. "Ich werde dich nicht um Erlaubnis fragen, für das was ich bin. Und wenn du nicht wusstest, dass ich eine Frau bin, warum hast du mich dann geküsst? Was sollte dieses Spielchen?"

"Das frage ich dich!", brüllte Athos zurück. "Und der Kuss war nicht beabsichtigt. ICH WÜRDE DICH DOCH NICHT KÜSSEN, WEIL ..."

"Weil was?" unterbrach sie ihn aufgebracht und sprang zurück, die Hände zu Fäusten geballt. "Weil ich so abnormal bin?"

"Hältst du dich etwa für normal?" fragte er schneidend. "Du spielst dich als Mann auf und lebst völlig unnatürlich. Herzlichen Glückwunsch! Das ist eine Leistung auf die du stolz sein kannst. Hat es dir Spaß gemacht, die gesamte Welt zum Narren zu halten? Gibt es noch mehr von dir?"

"Ja, wir treffen uns an jedem ersten Sonntag im Monat." Ihr Gesicht war ein Kaleidoskop aus Wut und Entsetzen. Rasend vor Zorn nahm Aramis ein Buch zur Hand und warf es Athos entgegen. Es verstand sich von selbst, dass sie ihn mitten auf die Stirn traf.

"ICH BIN NORMAL und nur die Ignoranz von Euch Männern treibt mich dazu. Und ich wiederhole: Du wusstest, dass nicht Celinè, sondern ich hier bin und du hieltest mich weiterhin für einen Mann? Und trotzdem hast du mich geküsst." Ihr Wutgekreische erinnerte ihn an einen pfeifenden Teekessel.

"Ich glaube, dass habe ich jetzt verstanden." Wutentbrannt hielt der sonst so ruhige Musketier sich die schmerzende Stirn. "Und ich wiederhole mich auch gerne wieder: ES WAR NICHT BEABSICHTIGT! Ich wollte dich nicht küssen, sondern dich nur reizen, damit du dieses Possenspiel aufgibst und nicht ich als Narr dastehe. Ich habe in dir immer nur einen Mann gesehen!" Er verzog in verwirrter Missbilligung sein Gesicht bei diesen Worten.

Die Farbe wich aus Aramis Gesicht. Für kurze Zeit erstarben alle Worte, dann seufzte sie tief und blickte mit einem Ausdruck schwerer Demütigung auf den Boden. Ja, dachte sie. Du hast mich immer nur als Mann und als Freund gesehen und jetzt habe ich selbst das verspielt. Sie ließ sich erschöpft auf die Chaiselongue fallen und saß dort stumm als zusammengesunkenes Häuflein Elend.

"Was soll dieses Versteckspiel?" Athos Stimme war wieder ruhig und beherrscht. Dabei ließ er offen, welche Heimlichkeit er meinte. Er hatte sich beruhigt und sah streng auf den blonden Kopf nieder. Teile der falschen Haarpracht hatten sich im Ungestüm der Aufregung gelöst. Sie waren nicht für hektische Kopfbewegungen geschaffen.

"Aramis?" Alarmierend beugte er sich zu ihr hinunter, als er merkte, dass sie sich krümmte und das aschfahle Gesicht grün anlief. Der Wein war mittlerweile angekommen und reagierte auf den durch Viren aus dem Gleichgewicht gebrachten Magen.
 

An die nächsten Minuten erinnerte sich Aramis, in der gesamten Peinlichkeit dieses verunglückten Abends, besonders ungern und mit besonders viel Rottönung im Gesicht. Was sie den gesamten Tag mit Mühe und Not zu verhindern wusste, kannte jetzt kein Halten mehr. Erbärmlich hing sie über einem in aller Eile herbeigeschafften Eimer und spuckte aus, was der Magen hergab. Wenigstens, und dies sah sie nicht wirklich als Trost, entband ihr Anfall sie vorerst von einer Erklärung.

Wenig später lag sie schwach, mit beizendem Magensäuregeschmack im Mund und sterbenselend ausgestreckt auf der Chaiselongue. Ihr Gesicht war tränennass, so sehr hatte sie das auf und ab ihres Magens angestrengt. Sie öffnete die schmerzenden Augen, als Athos ihr ein nasses Tuch auf die Stirn legte und sah ihn an. Sein Gesicht war ausdruckslos, aber sie wusste, dass er nach einer Erklärung verlangte, auch jetzt, - gerade jetzt. Lieber hätte Aramis Duelle mit der gesamten roten Garde des Kardinals ausgefochten, als hier und jetzt zu sein.

Athos sah auf das bleiche Gesicht nieder. Die zerlaufende Wimpernfarbe hatte hässliche Flecken hinterlassen. Von einem plötzlichen Gefühl der Fürsorge ergriffen, nahm er den Lappen und wischte die restliche Schminke fort. Ein bisschen mehr von der gewohnten Aramis kam zum Vorschein.

"Geht es wieder?"

Aramis nickte langsam. "Eigentlich müsste ich betrunken sein, aber ich glaube, dazu geht es mir zu dreckig", flüsterte sie mit belegter Stimme. "Danke, dass du meine Haare aus dem Gesicht gehalten hast."

Er lächelte. "Keine Ursache. Ich habe eigentlich nur deinen Kopf von meinem einzig guten Möbelstück weggedreht. Ich wollte mir das Sofa nicht versauen." Athos saß auf der Chaiselonguekante und hatte sich mit einer Hand abstützend über sie gebeugt. Er war so nah und doch so fern für sie. Sein Gesicht spiegelte nicht mehr das Entsetzen und die Wut von vorhin wieder. Die gewohnte Ruhe war wieder in die Züge ihres Freundes zurückgekehrt.

"Wirst du es jemandem sagen?"

Athos sah sie ernst an. "Ich denke nicht", antwortete er nach einer Weile. Er schüttelte den Kopf. "Nein, ganz sicher nicht, aber dir sollte klar sein, dass du gegen alle Gesetze verstößt. Niemand wird es billigen, wenn es herauskommt. Ich könnte nie verantworten, dich ihnen auszuliefern. Verbannung, Exkommunion durch die Kirche, Haft, Bestrafung oder gar Scheiterhaufen warten auf dich."

"Das weiß ich. Das habe ich auch gewusst, als ich von zu Hause weglief."

"Du hast alle betrogen."

"Betrogen ist ein hartes Wort", wisperte Aramis tonlos.

"Selbst Gottes Gebote brichst du."

"Gottes Gebote? Gottes Gebote verbieten auch zu morden und zu ehebrechen und doch tun es die Menschen. Gott hat andere Sorgen, als sich um mich zu kümmern." Sie wollte sich aufsetzten. Mehrere blonde Haarsträhnen fielen wirr in ihr Gesicht. Sanft drückte sie Athos auf das Polster zurück. Willenlos ließ sie es geschehen und schloss die Augen. Er beobachtete die junge Frau schweigend. Sein Blick glitt von ihrem Gesicht zu ihrem Körper und erinnerte sich, was sie in diese Situation gebracht hatte.

"Warum, Aramis?" Die blauen Augen sahen ihn matt an.

"Warum ich hier bin oder warum ich mich als Mann verkleide?"

"Beides! Warum du hier bist!"

Aramis sah aus halbgeöffneten Augen zu ihm auf. "Celinè möchte heiraten und ist überstürzt aus Paris abgereist. Übrigens soll ich dich ganz herzlich von ihr grüßen."

Athos musterte sie kurz von oben bis unten. "Warum?"

"Vermutlich weil sie dich doch mag?"

Er schnaubte verächtlich. "Warum du in diesem Aufzug hier bist?"

"Ich wollte vermeiden, dass dir das Herz unnötig gebrochen wird. Sie ging, ohne ein Wort zu sagen."

Zu ihrer Verwunderung lächelte der Musketier. "Ich war nicht in Celinè verliebt."

"Nicht?"

Er schüttelte den Kopf. "Nein, deine Sorge war unberechtigt."

"Ich nahm es an, weil ich dich bei ihr sah und du glücklich schienst."

"Begehren hat nicht unbedingt etwas mit Liebe zu tun."

"Das weiß ich."

"Wie konntest du nur auf die Idee kommen, dich als Celinè zu verkleiden?"

"ich brauche mich nicht als Celinè verkleiden", schnappte sie, sichtlich empört. Da war wieder die alte Aramis, ausgestattet mit Feuer und jener Art von Aggressivität, die aus Paranoia wächst. Ihre Stimme wurde kräftiger.

"Nicht?"

"Nein, sie sieht aus wie ich und ich sehe aus wie sie, einfach, weil wir Zwillinge sind. Identische Zwillinge. Das ändert sich auch nicht, nur weil du in mir keine Frau sehen kannst."

Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Die Linien um den Mund wurden härter. "Du hast doch alles dafür getan, dass dich niemand als Frau siehst. Was erwartest du nach sechs Jahren Selbstbetrug. Soll ich dich als Frau sehen?"

Verunsichert sah sie Athos an. "Nein ... nein, nicht, wenn es alles zwischen uns verschlechtern würde." Dabei ließ sie aus, welche Verbesserungen sie sich erhoffte, wenn Athos ihr etwas Gegenteiliges beschied.

"Was passiert jetzt mit uns?" Unsicher sah sie zu ihm auf. "Wird alles wie früher sein?"

"Ganz sicher nicht", wandte Athos ein. "Es wäre von Vorteil, wenn du mir erklären würdest, warum das alles? Ich denke, ich habe eine Erklärung verdient. Ich werde allmählich zum Meister der Geduld, nicht wahr?"

"Eindeutig. Ich habe schon immer deine enorme Selbstbeherrschung bewundert."

Sein Blick wandte sich zu dem knisternden Feuer im Kamin. Rot leckten die Flammen an den Holzscheiten. Unsicherheit und Verwirrung nahmen den sonst ziemlich klar sehenden Geist von D'Trevilles bestem Musketier in Anspruch. Er war Ratlos, ein Gefühl, dass ihn sonst kaum heimsuchte. "Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich von dir halten soll. Bis jetzt fühlte ich mich immer noch verraten. Ich meine, sechs gemeinsame Jahre als Kollegen und Freunde liegen hinter uns, und doch wussten Porthos und ich nichts von dir. Vielleicht solltest du mir erklären, warum du lügst und dich verstellst, Aramis!" Seufzend sah Athos auf die liegende Gestalt. "Auf jeden Fall wäre es von Vorteil, wenn du mir zuhören und nicht einschlafen würdest."
 

Er entnahm einer Truhe eine Decke, um sie über die schlafende Gestalt zu legen. Dann zog er einen Stuhl heran und setzte sich daneben. Das linke Bein auf das rechte Knie stützend, die Arme vor der Brust verschränkt. Aramis schlief fest. Der Atem ging gleichmäßig und die roten Flecken in ihrem Gesicht verblassten. Schweigend betrachtete er sie. Ihr Gesicht wirkte weicher und verletzlicher, wenn sie schlief. Es war, als würde er seinen Freund zum ersten Mal richtig sehen. Seine Augen fuhren über die hohe Stirn, die hellen Brauen, den dunklen Schatten unter den Augenlidern, den Nasenrücken, zu der Kinnfurche unter dem Lippenbogen. Wie konnte er sich nur derart schwer täuschen? Alle die vielen Jahre lang? Er war nun wirklich kein unbedarfter, nichtswissender junger Mann. Er hätte es sehen müssen. Genügend Anzeichen waren da gewesen. Vielleicht sollte er wirklich an seiner Wahrnehmung zweifeln. Immerhin bemerkte er nicht einmal, dass beide Frauen Zwillinge waren. Zu seiner Verteidigung wusste er nur anzuführen, dass beide Schwestern von zu unterschiedlichem Wesen waren. Die eine oberflächlich und seicht. Celinè war unwirklich gewesen. Sie hatte gerade genügend Wirklichkeit besessen, um zu existieren. Aramis war stark und couragiert und so wirklich, dass es sie dauernd in wirkliche Schwierigkeiten brachte.

Vor einer Stunde hätte es Athos nicht für möglich gehalten, dass er die Nacht auf einem wackligen Stuhl verbringen würde. Er selbst konnte es kaum glauben. Wenn wirklich Celinè gekommen wäre, dann säße er jetzt bestimmt nicht auf einem harten Stuhl sondern ..., jedenfalls säße er dann nicht auf einem harten Stuhl, soviel stand fest. Ihm fiel ein, dass er ja in sein Bett gehen konnte. Und als wollte sich ein Übel zu dem nächsten gesellen, bekam er noch Kopfschmerzen. Langsam ging er in Richtung Schlafzimmer, zog sich aus, schlug die Decke zurück und kroch in die kühlen Lacken, um während andere schliefen schlaflos sechs Jahre zu überdenken. Dort hockte er schließlich, während der Mond sein kaltes Licht in den Raum warf. Ein Urteil, wie seine zukünftige Beziehung zu Aramis aussah, erlaubte Athos sich nicht.

((36*6+84)/50) Wurzel 1

Aramis erwachte schlagartig aus der klebrigen Süße ihrer Träume, mit tauben Lippen und einem äußerst ekligen Geschmack im Mund. Eine Haarsträhne hing in ihrem Mund. Ihre Hand war eingeschlafen, weil sie unter ihrem Körper gelegen hatte und das Korsette stach unangenehm in ihre Hüfte.

Der Wein hatte seine Nebenwirkungen hinterlassen. Aramis erwachte mit der typischen Desorientierung einer durchzechten Nacht. Sie verschätzte sich in der Breite ihrer Schlafstätte, rollte sich zur Seite und fiel polternd zu Boden. Ab hier wusste sie ziemlich schnell wieder, wo sie sich befand.

"Was ist denn passiert?" Durch den Krach aus seinem viel zu kurzen Schlaf gerissen erschien Athos am Türrahmen. Bei seiner Frage erschrak Aramis und torkelte zurück. Seine Worte waren entschieden zu laut für ihre Ohren und den hämmernden Schmerz in ihrem Schädel. Wimmernd hielt sie sich den Kopf.

"Mhm", stöhnte sie.

Athos tastete sich durch den noch dunklen Raum und öffnete die Fensterläden. Helles Sonnenlicht flutete sein Wohnzimmer. Die Strahlen streichelten warm und sanft sein Gesicht. Aramis indes schlug sich die Hand vor die Augen. Das gleißende Licht brannte unangenehm in ihren Lidern.

"Mhm."

"Ist alles in Ordnung?" Fragend betrachtete Athos seine Besucherin. Das Kleid war zerknittert, ihr Gesicht nicht zu sehen, dass blonde Haar stand zu allen Seiten ab und trotze der Gravitation.

"Mhm."

"Du siehst furchtbar aus!"

"Mhm.".

"Geht es dir gut?"

"Mhm."

"Alles klar!" Athos zog die Fensterläden wieder bis auf einen lichtspendenden Spalt zusammen, damit sie die Hand von den Augen nehmen konnte. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augenlidern. Das Muster des Polsters hatte seine Abdrücke auf ihrer Wange hinterlassen. Sie sah, wenn man es genau nahm, genauso aus, wie sie sich fühlte. "Danke!" nuschelte sie undeutlich. Es fiel ihr unglaublich schwer, mit ihrem trockenen Mund zu sprechen.

"Du siehst wirklich furchtbar aus", sagte Athos, während er ihr ein Glas Wasser reichte. "Wie nach einer durchzechten Nacht mit Porthos."

"Ich fühle mich schlimmer."

"Wie geht es deinem Magen?" Dieser meldete sich in diesem Augenblick zu Wort. Er hatte nur auf sein Stichwort gewartet. Das leere Loch in ihrem Magen zog sich lautstark zusammen und verlangte nach Nahrung.

"Er hat keinen Sinn für Anstand", kommentierte Aramis trocken. "Er schreit nach Essen. Ich werde mich gleich auf den Weg nach Hause... oh nein." Sie stöhnte laut auf, als ihr Blick auf das Fenster fiel und verzog das Gesicht zu stummem Wehklagen. "Nein! Ich kann nicht nach Hause gehen, nicht in diesem Aufzug. Es ist heller Tag." Anklagend wies eine alles andere als glücklich aussehende Aramis auf das Fenster. "Ich komme nie ungesehen nach Hause. Nicht bei meinen Nachbarn. Wie erkläre ich, dass ich hereingehe, aber nicht mehr herauskomme?" jammerte sie und sah Athos an. In ihren Augen brannte ein beunruhigendes Feuer.

"Oh, nein!"

"Du musst!"

"ICH habe mich nicht verkleidet und gebe vor jemand anderes zu sein, als ich es bin!" erwiderte Athos unnachgiebig.

"Ich nehme es mir notfalls mit Gewalt!"

"Oh nein, das tust du nicht!"

"Ich tue alles, um meine Identität zu wahren!" Er sah in ihren Augen, dass sie es bitter ernst meinte. Kam es zum Kampf würde er siegen, aber unter Verlusten. Mit einem resignierten Seufzer gab sich Athos geschlagen. "Ich gebe dir etwas von mir zum Anziehen und etwas zu Essen kannst du auch von mir bekommen. Du schuldest mir ohnehin noch eine Erklärung!"

Sein unfreiwilliger Gast zog eine Augenbraue hoch. "Etwas zum Anziehen könnte dir auch nicht schaden." Der leibhaftige Adonis stand noch immer halbnackt mit einer lose um die Taille liegenden Unterhose im Zimmer. Mit seinem anbetungswürdigen Körper stand er breitbeinig in der Zimmermitte und zeigte nicht die geringste Befangenheit. Aramis fühlte sich mit ihrem zerknautschten Kleid weitaus entblößter als er. "Stört dich das?" fragte er provozierend.

"Nein", sagte sie und starrte ihn genüsslich an. Er starrte zurück, verlagerte unbehaglich das Gewicht von einem Bein auf das andere und floh vor dem fordernden Blick in den tiefblauen Augen.

Zufrieden grinsend blieb Aramis zurück. Sie versuchte ihr Kleid zu glätten, an verschiedenen Stellen zu zupfen und zurecht zu rücken. Mit den Fingern fuhr sie sich durch das Haar, blieb hängen und ließ das sinnlose Unterfangen, ihr Erscheinungsbild ordnen zu wollen. Athos kam wieder zum Vorschein. Er war nun angekleidet und hielt auch Hemd und Hose für sie in der Hand. "Ich hole uns Essen. Im Schlafzimmer findest du Wasserkrug, Kamm und Minzeblätter", sagte er, während er seinem Gast das Wäschebündel zuwarf und in Richtung Küche davon schritt.

Minzeblätter? Aramis zuckte gleichmütig die Schultern, hob die Handfläche, blies ihren Atem in die hohle Hand und taumelte zurück. Minzeblätter!!!
 

Wenig später saßen sich beide am Tisch gegenüber. Wäre ein Bekannter zu ihnen gestoßen, hätte er in ihrer Erscheinung keinen Unterscheid zu sonst festgestellt. Ungewöhnlich schweigsamen vielleicht, aber können nicht gerade gute Freunde miteinander schweigen? Dieses Schweigen war allerdings geprägt durch Nervosität und Unbehagen. Der Freund von dem sich Aramis am meisten Verständnis und Anerkennung erhoffte, bereitete ihr die größten Schwierigkeiten. Was merkwürdig, fast lächerlich, aber eigentlich nur menschlich war, war, dass Athos vergessen hatte, weswegen ihm Aramis wahre Identität sauer aufstieß. War es gekränkter Stolz? Athos gehörte nicht zu den Männern, die ihre ,unantastbare Ehre' als Banner mit sich herumtrugen.

Beide saßen sich nun gegenüber. Helles Sonnenlicht erhellte den Raum und von der vergangen Nacht zeugten nur noch die dunklen Augenringe. Aramis steckte wieder in Männerkleidung und fühlte sich weitaus wohler, als noch vor wenigen Augenblicken.

Es war für Athos faszinierend, dass eine Frau nahezu seine Größe hatte und ohne Probleme mit der Länge seiner Kleidung zurechtkam. Er bemerkte, wie ihn sein Gegenüber lauernd beobachtete. Da er sie kannte, wusste er, dass ihr Körper bis zur letzten Sehne angespannt war, als wartete sie darauf reflexartig aufzuspringen und zu fliehen. Er hatte alles aufgetafelt, was seine Küche hergab.

Vorsichtig streckte Aramis die Hand aus, brach sich ein kleines Stück Brot ab und zwang sich zu kleinen Bissen, die sie langsam kaute.

Athos lächelte. "Du musst dich jetzt nicht manierlicher benehmen, nur weil ich weiß, wer du bist."

Sie hielt inne, musterte ihn misstrauisch und griff schneller zu. Die Bissen wurden größer und sie schlang das Essen fast hinunter. "Ich habe seit zwei Tagen nichts mehr gegessen", gestand sie mit vollem Mund. Ihre Körperanspannung ließ merklich nach. "Zum Glück habe ich heute keinen Dienst." Bei den letzten Worten hätte sie sich ohrfeigen können. Unsicher sah sie Athos an. Wie würde es sein, weiterhin gemeinsam mit Athos bei den Musketieren zu dienen? Würde Athos es zulassen oder war sie gezwungen die Musketiere zu verlassen?

Er schien aus ihrem Blick zu lesen. "Keine Angst! Ich habe dir doch versichert, dass ich dein Geheimnis für mich behalte", erwiderte er zwischen zwei Brotbissen.

"Ja, aber wirst du mich bei den Musketieren weiterhin akzeptieren? ... Ich habe es mir hart erkämpft", fügte sie hinzu, als lange Zeit keine Antwort erfolgte. "Sehr hart!"

"Ich erkenne an, was du leistest", erwiderte er ruhig, wie es seiner üblichen Art entsprach. "Gott weiß, was du dir erkämpfen musstest. Aber wer bist du nun, Aramis?"

Der letzte Bissen blieb Aramis im Hals stecken. Mühevoll schluckte sie ihn hinunter und legte den Brotkanten beiseite. Würde er ihre Gründe verstehen? Konnte er nachvollziehen, warum sie von zu Hause fliehen musste? Warum Rache für sie der einzige Ausweg zu sein schien?

"Was ich getan habe, habe ich weder getan, um jemanden böswillig zu täuschen oder zu betrügen, wie du es auszudrücken pflegtest, noch um Schaden anzurichten."

Er neigte nachdenklich den Kopf. "Gut, die Verteidigung hat die Verhandlung eröffnet und weiter?"

"Und weiter ... diese Verkleidung ist der Preis für meine Freiheit und ... meine Rache." Die letzten Worte sprach sie ganz leise.

"Deine Rache?"

Ihre Stimme wurde wieder fester. "Ja, Rache!" Aramis straffte ihre Schultern und begann zu erzählen, wie sie es vor gar nicht allzu langer Zeit auf der Festung auf Belle-Isls-en-Mer zu D'Artagnan getan hatte.
 

Athos schwieg lange. Aramis erinnerte sich, sich bei D'Artagnan weitaus wohler gefühlt zu haben. Warum war es so kompliziert geworden? Weil die Zeitspanne ihrer Freundschaft weiter reichte und tiefer war, oder weil ihre Beziehung zu Athos schon immer komplexer als zu den anderen zu sein schien?

"Muss ich jetzt jeden Abend drei Ave Maria sprechen?" witzelte sie, hielt aber den Mund, als sie seinen ärgerlichen Blick bemerkte. "Warum ist es so ein großes Problem für dich, Athos? Ich bin immer noch derselbe Mensch. Habe dieselben Eigenschaften, dieselben Fähigkeiten, dieselben Schwächen. Wenn du gewillt bist, dann braucht sich nichts zwischen uns zu ändern." Aramis holte tief Luft und begann nervös das Brotstückchen in ihrer Hand zu zerkleinern. "Und ihr unterschätzt uns. Es gibt viel mehr Frauen wie mich, als ihr wahrhaben wollt. Schon Shakespeare hat seinen Heldinnen Männerkleidung angezogen."

"Schon einmal etwas von Geschlechtertrennung gehört?"

"Schon einmal einen Tritt in den Hintern bekommen?" Beide grinsten.

"Du musst mir schon Zeit geben, deine Geschichte zu verdauen!" wandte Athos ein. "Was ist eigentlich mit Celinè?"

"Nichts. Sie ist der böse Zwilling und ich bin der Gute", fügte sie trotzig hinzu.

"Ihr mögt euch nicht besonders?"

"Doch", verbesserte ihn Aramis. "Wir lieben uns. Irgendwann kratze ich ihr die Augen aus." Wieder lächelten sich beide im stillen Einvernehmen an. Die Spannung der letzten Stunden war zurückgewichen.

"Hast du noch Hunger, Aramis?" Sie nickte.
 

Es war eigentlich ein ganz normaler Tag in Paris. Während die Sonne über den Horizont wanderte, wurde das Frühstück zum Mittagbrot. Puzzleteile fügten sich zusammen und ein Teil der Last der Lügen fiel von Aramis ab. Das Leben draußen ging weiter seinen gewohnten Gang. Sorgen brauchen sich beide eigentlich nicht zu machen. Was ihnen zu diesem Zeitpunkt als ausgeschlossen erscheint, erfüllt sich wenig später doch. Der Alltag würde beide schneller wieder einholen, als sie es für möglich hielten und in ihren Umgang miteinander wieder eine Natürlichkeit hineinbringen, die ihnen jetzt als unmöglich erschien. Der Alptraum dieses Abends würde verblassen, verletzte Gefühle wieder heilen und die Empörung weichen, - vor dem, was sie sechs Jahre lang miteinander verband. Denn schließlich waren nicht ihre körperlichen Merkmale miteinander befreundet, sondern ihre Wesen. Aber ob sie je mehr verband als Freundschaft, blieb entweder Aramis Wunschdenken oder Teil einer neuen Fanfiction.



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Kommentare zu dieser Fanfic (26)
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Von:  Kitty
2005-04-16T18:57:08+00:00 16.04.2005 20:57
Juhu sie haben sich geküsst *rumhüpf*
Und dann dieser Zoff, wahnsinnig gut hingekriegt! *daumen hoch*
Von:  Kitty
2005-04-16T18:47:42+00:00 16.04.2005 20:47
Waaaah!! OO *gleich weiterlesen muss* was wird jetzt passieren?? *wissen will* *wie blöd auf Stuhl rumdops*
Aber wirklich was hat sich Aramis dabei nur gedacht? Hihi und Athos will sie jetz schocken, einfach genial^^
Von:  Kitty
2005-04-16T18:37:46+00:00 16.04.2005 20:37
Wah, du kannst so toll beschreiben! *schwärm* Das mit der Kirche, wahnsinn! Also diese Celine ist ja sowas von unsympathisch *schüttel* *löl* dat soll ja wohl so sein, nech? XD
Von:  Kitty
2005-04-16T18:30:01+00:00 16.04.2005 20:30
XD Pothos wieder *löl* Dein Schreibstil ist einfach klasse! Ich muss immer wieder lachen^^
Jetz hab ichs auch gecheckt, dass sie die Zwillingsschwester ist. Oh je, das kann ja noch was werden *löl*
Von:  Kitty
2005-04-16T18:19:29+00:00 16.04.2005 20:19
^^ aloha ich melde mich zurück! Das Kapitel gefällt mir echt gut. Soso erinnert sie an Aramis... *gleich wieder ins fantasieren kommt* ist es vielleicht Aramis? *grins*
Also dann ich lese weita^^
Von:  Kajuschka
2004-03-25T10:34:15+00:00 25.03.2004 11:34
Oh, ein neues Kapitel und noch das Ende des Fanfics...
Also genau genommen kann ich mich den anderen nur anschließen. Ein sehr schönes Ende, dass nach einer Fortsetzung aussieht oder nicht? ^^
Mach' auf jeden fall weiter so!
Von:  fastcaranbethrem
2004-03-24T11:30:55+00:00 24.03.2004 12:30
allen ein herzliches Danke für ihre kommentare.
zu euren fragen, eigentlich, theoretisch, ungefähr, wahrscheinlich ... sollten die überschriften ausgerechnet, die einzelnen Kapitelnummern ergeben
Von: abgemeldet
2004-03-24T09:31:35+00:00 24.03.2004 10:31
Na Hello,
also das Ende stellt mich voll zufrieden, man kann ja nicht immer zusammenkommen und so bleibt es unseren Köpfen überlassen, wie das Ende denn wirklich aussehen könnte :o)
Und außerdem muss ich mich Tach noch anschließen, denn wie um Gottes Willen sind dir nur diese Überschriften eingefallen? Das bleibt wohl auch ein Geheimnis, dass du nicht so schnell verraten wirst, oder?
LG und bis denne
Krisi
Von:  Tach
2004-03-23T17:29:31+00:00 23.03.2004 18:29
*lol* Na ganz tolles Ende XD. Das heißt jetz wir dürfen uns selbst ausdenken oder du nimmst es uns iiiiirgendwann mal ab...aber ich will wissen, was mit Celine wird! Und ich will, dass sie sich inn Arsch beisst, weil sie was verpasst hat! Da muss wohl noch ne Fortsetzung her hähä >:] Aber im großen und ganzen bin ich doch ganz zufrieden mit dem Verlauf dieses Zoffs ^^

Eine Frage hätte ich aber noch: Ergeben diese Überschriften irgendeinen Sinn? ich frag nur, weil ich im Leben nich auf die Idee kommen würde, es nachzurechnen...^^
Von: abgemeldet
2004-03-23T09:06:36+00:00 23.03.2004 10:06
Also ganz ehrlich, als ich die erste Seite von diesem Kapitel gelesen habe, dachte ich, ich würde in einen Fernsehr schauen, so sehr hat mich dein Ausdruck überzeugt, dass ich dachte, ich würde den beiden wahrhaftig bei dem Streit zuschauen... Wow, das muss man erstmal hinbekommen ;o)
Freu mich auf das nächste Kapitel :o)
LG Krisi


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