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Die vergessene Geschichte

Shaolan kniff die Augen zusammen, als er vor dem Bücherregal stand. Eine große Hinweistafel war daran angebracht, die darüber informierte, welche Bücher in diesem Gang zu finden waren.

Er interessierte sich für Sagen, Legenden und die Geschichte dieses Landes und der Nachbarländer hatte er am Empfang erklärt und der Angestellte dort hatte wissend genickt.

„Du gehörst zu diesen Dimensionsreisenden, nicht? Die Aufseher haben schon Meldung gemacht. Kannst du unsere Sprache denn überhaupt lesen?“

Aufmerksam wie der Junge war, hatte er bereits kurz nach ihrer Ankunft nach Schriftzeichen Ausschau gehalten. Sie waren denen von Clow ein wenig ähnlich, doch ob es reichen würde, um Bücher zu lesen, konnte er erst sagen, wenn er sie sich ansah. Auf dem Schild vor der Bibliothek hatte er das Wort für „Buch“ entziffern können. Das war doch ein Anfang, oder?

„Ich will es versuchen“, hatte er daher geantwortet und umgehend auch nach Büchern in anderen Sprachen gefragt.

Die Antwort war schon wieder recht rätselhaft ausgefallen.

Die noch existierenden Länder teilten sich eine Sprache, hatte der Angestellte erläutert, aber sie besaßen nur noch wenige Ausgaben der untergegangenen Länder.

Untergegangene Länder?

Was war geschehen? Ein Krieg? Eine Naturkatastrophe?

Zu seinem Unverständnis hatte der Mitarbeiter mit den Achseln gezuckt. Das war so lange her, das wusste hier niemand mehr.

Shaolan suchte nun gezielt nach diesen Ausgaben. Es war leichter, sehr viel leichter sich mit solchen Geschehnissen zu befassen, wenn er Gewissheit haben konnte, dass die Federn nichts damit zu tun hatten. Das Problem war, dass die Menschen dieses Landes die Geschichte der anderen Länder nirgends notiert hatten. Ihre eigene Geschichte war relativ gut dokumentiert. Die Bevölkerung lebte seit Jahrhunderten auf diesem Fleck, sie hatte nie große Krisen erlebt. Das war eigentlich ein erfreulicher Umstand, aber etwas nagte an Shaolan. Die einzigen hervorstechenden Ereignisse waren eine kleine, wirtschaftliche Krise vor über zweihundert Jahren (wohl weil einige Händler aus dem Ausland nicht mehr kamen) und eine plötzliche Zuwanderungswelle ungefähr zur gleichen Zeit. Doch niemand hatte die Gründe dafür aufgeschrieben.

Wie seltsam.

Es war ihnen schon mehrmals begegnet, dass ein tragisches Ereignis zu einem Tabu wurde, über das nicht mehr gesprochen werden durfte. Vielleicht war hier genau das passiert? Und nun wussten die Leute eventuell selbst nicht mehr, was sich zugetragen hatte? Er dachte zurück an das Gespräch mit Toya und Yukito. Die Aufseher hatten akribisch ihre Daten aufgenommen, aber sie hatten ansonsten überraschend wenig Interesse an ihnen gezeigt. Von den verwunderten Blicken abgesehen, reagierte auch niemand hier besonders auf sie. Gleichermaßen war der Besuch Kamuis und Subarus in den Geschichtsbüchern ein Eintrag wie jeder andere gewesen. Es fanden sich keine Hinweise darüber, dass man die Zwillinge nach ihrer Herkunft oder Ähnlichem gefragt hätte. Shaolan konnte sich nicht vorstellen, dass es an seinen fehlenden Sprachkenntnissen lag. Die Verben dieses Landes machten ihm Schwierigkeiten, doch die Nomen konnte er lesen.

Endlich fand er ein Buch, dessen Umschlag anders aussehende Buchstaben zierten.

Enttäuscht ließ er den Kopf hängen. Die Buchstaben waren zu anders. Er konnte nichts davon entziffern.

Die untergehende Sonne warf ihre rot gewordenen Strahlen durch das Fenster hinter ihm. Erstaunt drehte er sich um. War es schon so spät?

„Mokona?“ Shaolan ging zu der kleinen Kreatur, die auf einem der Tische am Fenster hockte und gespannt nach draußen blickte. Vor dem Fenster war ein kleiner Garten. „Lass uns für heute Schluss machen und nach Hause gehen.“

Erfreut wandte sie sich zu ihm um. „Shaolan ist sooo vernünftig! Das wird Mama und Papa freuen!“

Der Junge lachte leise. „Das hoffe ich sehr. Aber … nenne Fye-san und Kurogane-san vielleicht nicht ständig 'Mama' und 'Papa.'“

Mokona legte den Kopf schief. „Warum nicht?“

„Vielleicht ist ihnen das unangenehm.“ Shaolan hatte das Gefühl, dass es Fye kurioserweise weniger unangenehm sein könnte als Kurogane.

„Nein.“ Das Wollknäuel schüttelte energisch den Kopf. „Das macht sie froh.“

Bedächtig hob Shaolan sie auf. Mokona log nicht. Niemals.

Kurogane und Fye waren seinen leiblichen Eltern so ähnlich; in der Art, wie sie sich aufopferungsvoll um ihn kümmerten, wie sie seinetwegen so viel auf sich nahme-

Er hielt inne. Natürlich waren sie sich ähnlich. Seine Eltern hatten schließlich unfassbar viel Zeit mit den beiden verbracht. Als Kind hatte er seinen Eltern geschworen, nicht nur ein guter, sondern der beste Sohn zu sein und sie zu beschützen und glücklich zu machen.

Ein sanftes Lächeln formte sich auf seinen Lippen.

Das Gleiche galt für die Eltern, die er nun zusätzlich bekommen hatte. Er konnte nicht aufhören, sich für alles schuldig zu fühlen, aber vielleicht konnte er ihnen wenigstens ein guter Sohn sein. Vielleicht würde das alles erträglicher machen.

„Gehen wir, Mokona.“

Die Kreatur strahlte über ihr ganzes Gesicht, weil sie seine Entschlossenheit spürte. „Gehen wir morgen wieder in die Bibliothek?“

„Ja. Ich will morgen nach einem Wörterbuch suchen, um das ausländische Buch zu lesen.“

„Dann wird Mokona wieder mitkommen. Auch wenn der Garten ein wenig langweilig ist.“

„Wieso?“ Shaolan warf beim Verlassen des Gebäudes einen Blick auf die Pflanzen, die von dort zu sehen waren.

„Es gibt gar keine bunten Blumen. Alles hat die gleiche Farbe.“

Das stimmte. Alle Pflanzen bestanden aus dunkelgrünen Blättern.

 

„Ich hab den Eindruck, die interessieren sich nicht sonderlich für uns.“ Wieder auf ihrem Zimmer verschränkte Kurogane die Arme vor der Brust, während er gegen die Wand lehnte und flüchtig zum Fenster hinausblickte. Die Sonne war untergegangen und ein gewisser Jemand noch nicht wieder aufgetaucht. Er gab ihm noch zehn Minuten, dann würde er in dieser Stadt keinen Stein mehr auf dem anderen lassen.

„Vielleicht findest du deswegen nichts zu anderen Ländern“, fuhr er fort und sah wieder zu Shaolan, der auf seinem Bett saß und dem Älteren alles, was er bis jetzt in Erfahrung gebracht hatte, erzählt hatte. „Weil sie sich für nichts, was außerhalb ihrer Mauern existiert, interessieren. Kann doch sein.“

„Das wäre eine mögliche Erklärung, aber das empfinde ich als schwer nachvollziehbar.“

„Das überrascht mich nicht.“ Kurogane grinste und wurde zügig wieder ernst. „Ist dir auf dem Weg aufgefallen, ob die Leute hier dir weiter erstaunte Blicke zugeworfen haben?“

Nachdenklich legte Shaolan seine Stirn in Falten. „Mir eigentlich nicht, denke ich. Nur Mokona wurde ein paar Mal fragend angesehen.“ Er schaute auf seine Begleiterin, die auf seinem Bett eingeschlafen war. Er spürte, wie Kurogane mit einem Mal angespannter wurde. „Ist etwas vorgefallen?“

„Das ist ja das Komische. Die haben mich keines Blickes mehr gewürdigt, als ich alleine unterwegs war.“

„Das ist wirklich seltsa-“ Der Junge stockte, als die Augen des Ninjas zur Tür schnellten. Wenige Sekunden später wurde diese geöffnet und Fye trat herein. Kurogane musterte ihn kurz, als wollte er sichergehen, dass alles an dem Magier noch dran war, dann explodierte er:

„Wo zur Hölle hast du gesteckt?!“

Nachdem er sich von dem Schreck erholt hatte, so begrüßt zu werden, lächelte Fye schuldbewusst. „Ich weiß, ich weiß, ich bin ein bisschen spät dran. Ich habe mich in diesen verschlungenen Seitengassen furchtbar verlaufen. Ein wenig Mitleid wäre angebracht!“

„Du hast dich verlaufen?“ Kuroganes Stimme und Miene trieften vor Skepsis. Der Idiot war ein Idiot, aber war er wirklich so idiotisch?

„Nein, furchtbar verlaufen. Das ist ein Unterschied“, entgegnete der Blondschopf theatralisch. „Aber dafür gibt es was zu essen!“ Er hielt eine Tasche mit Lebensmitteln hoch. „Es ist zwar immer schade, wenn ich nichts für euch kochen kann, aber verhungern lasse ich euch trotzdem nicht.“ Beschwingt stellte er die Tasche bei Shaolan ab und reichte ihm daraus etwas, das nach einem kleinen Brot aussah. Der Junge nahm es dankend entgegen. Er hatte Hunger, doch irgendwie wurde die Atmosphäre gerade merklich angespannter.

„Der Markt hat längst zu. Wo hast du das Essen her?“ Kritisch blickte Kurogane zuerst auf das Brot, das der Magier ihm entgegenhielt und dann auf den Magier.

Dieser schluckte und für den Bruchteil eines Augenaufschlags wirkte er merkwürdig verunsichert. „Was? Glaubst du, ich wäre irgendwo eingebrochen und hätte es geklaut? So schlimm ist unsere finanzielle Lage noch nicht, Kuro-rin.“ Als die Miene des Schwarzhaarigen sich nicht aufhellte, schüttelte Fye den Kopf und lächelte. „Oje, oje, du alter Kuro-Skeptiker. Die Inhaber einer Bäckerei haben mir den Weg zum Gasthaus gezeigt und mir die unverkauften Reste des Tages mitgegeben. Andere Leute wissen meinen Charme eben zu schätzen.“

Shaolan sah zwischen den beiden Erwachsenen, die sich ein Anstarrduell lieferten, hin und her. Fye hatte keinen Grund, sie wegen irgendetwas anzulügen, aber Kurogane wiederum hatte einen siebten Sinn, wenn es um den Magier ging.

„Vielen Dank für das Essen, Fye-san“, blubberte er daher leicht hilflos dazwischen. „Ist dir aufgefallen, ob die Bewohner dieser Stadt dich seltsam angesehen haben?“

„Hm?“ Fye wandte sich ihm zu. „Ja. Das geht doch schon den ganzen Tag so, dass sie uns so ansta-… habe ich etwas verpasst?“ Er bemerkte die alarmierten Gesichter der beiden anderen.

„Kleiner, wenn die Leute hier keine Magie kennen, dann spüren sie doch auch nicht, wenn der Magier ein Magier ist, oder?“

„Das ist unmöglich. Nur Wesen, die selbst über Zauberkräfte verfügen, können diese auch spüren. Kurogane-san und ich wurden von der Bevölkerung quasi ignoriert“, erklärte Shaolan zunehmend aufgeregter in Fyes Richtung.

„Verstehe.“ Der Blonde fasste sich mit einer Hand ans Kinn. „Es gibt hier keine Magie, da bin ich mir absolut sicher.“ Er sah in die Gesichter seiner Gefährten und schüttelte ganz sacht den Kopf. „Kuro-ron, wirken die Leute hier irgendwie feindselig auf dich?“

„Nein“, brummte er.

„Shaolan-kun, hast du einen Hinweis dazu gefunden, dass es hier irgendein Geheimnis oder eine Verschwörung geben könnte?“

„Bisher nicht ...“

„Also!“ Fye klatschte in die Hände. „Kommt mal wieder runter. Was auch immer es ist, weswegen die Leute starren, es wird schon nichts Schlimmes sein. Kuro-pon, du steckst den Jungen mit deiner Paranoia an. Das ist nicht in Ordnung.“

„Du bist auffallend entspannt“, widersprach der Ninja.

„Einer muss ja einen kühlen Kopf bewahren – und das in dieser Hitze. Sag mir lieber, ob du etwas gefunden hast, um unsere Haushaltskasse aufzubessern.“

„Ja.“ Er wiederholte das Brummen von vorhin. „Auf einer Baustelle. Ich muss früh raus.“

„So?“, hakte Fye hörbar erfreut nach. „Auf dich ist doch Verlass! Ich habe auch etwas in Aussicht.“

„Wo?“

„In einer Töpferei. Ich habe null Talent dazu, aber ich soll auch nur beim Glasieren und Aufräumen helfen.“

„Wie willst du den Laden wiederfinden, wenn du dich auf dem Rückweg verlaufen hast?“

„Ich bin immer noch nicht ganz dumm“, erwiderte Fye gespielt empört.

„Nimm den Klops mit.“

„Nein, mir ist es lieber, Mokona bleibt bei Shaolan.“

„Warum?“

Fye entglitten die Gesichtszüge und er starrte den Anderen sprachlos an, bevor er mit beiden Armen abwinkte. „Jetzt ist es genug, Kuro-sama. Ich habe das Gefühl, du willst mich bevormunden. Es ist viel zu spät und viel zu warm, um solche Diskussionen zu führen.“ Demonstrativ schritt er zu seinem eigenen Bett, zog seine Schuhe aus, ließ sich darauf nieder und zog die Bettdecke bis zu seinem Kinn hoch. „Gute Nacht!“, fügte er unterkühlt an. „Gute Nacht, Shaolan-kun.“ Dieser letzte Satz klang um Längen warmherziger.

Kurogane gab ein unzufriedenes Knurren von sich, fuhr Shaolan im Vorbeigehen über den Kopf und legte sich selbst hin. Als er sich zu Fye drehte, drehte dieser sich eingeschnappt in die andere Richtung. Nach einem weiteren Knurren wurde es mucksmäuschenstill in dem vom sehr hellen Mondlicht erleuchteten Zimmer.

„Gute Nacht“, flüsterte Shaolan in die unangenehme Stille hinein. Er hasste es, wenn sie sich stritten.

 

Das konnte doch nicht sein!

Fye wollte vor Frust am liebsten in das dünne Laken beißen. Das war nicht normal! Er hatte sich völlig normal benommen, wie konnte Kurogane dann den Braten riechen??

Hatte er sich zu normal benommen?

Gab es so etwas wie sich zu normal zu benehmen?

Wahrscheinlich hatte der Fehler darin gelegen, dass er so spät nach Hause gekommen war. Er hatte wahrgenommen, dass die Sonne dabei war unterzugehen, doch er hatte sich nicht von seinem Gesprächspartner loseisen können – oder wollen.

Selbstverständlich war es ihm klar, dass das nicht sein Ashura war, aber … es war ein Ashura. Er hatte seine herzliche Art, seine freundliche Stimme, sein bezauberndes Lächeln. Und das alles ohne einen Kriegerdämon im Hintergrund, der durch das Unglück der Zwillinge heraufbeschworen worden war und von ihm getötet werden wollte.

Fye biss sich mit voller Wucht auf die Lippen. Die Tränen brannten bereits in seinen Augen und wenn auch nur der leise Hauch eines Schluchzens über seine Lippen käme, würde Kurogane wahrscheinlich aufspringen.

Er wollte ihn nicht belügen. Er war fest entschlossen, ihm die Wahrheit zu sagen – später. Wenn er ihm jetzt schon davon erzählen würde, dass es in dieser Welt jemanden mit der Seele von König Ashura gab, würde Kurogane vielleicht verlangen, dass er ihn nicht wiedersah. Doch wenigstens noch ein Mal, noch ein einziges Mal wollte er Ashura aufsuchen und ihn sehen, ihn hören, in seiner Nähe sein. Nur noch ein einziges Mal sich der Illusion hingeben, das wäre sein Ashura. Dann würde er Kurogane beichten, ihm begegnet zu sein. Kurogane würde sehen, dass alles in Ordnung war und ihn nicht mehr für dermaßen zerbrechlich halten.

Die nackte Panik hatte ihn zuvor überkommen, als er endlich realisiert hatte, dass es draußen bereits dunkel geworden war. Der Ashura dieser Welt hatte ihm nach seinem Sturz aufgeholfen und ihn zu sich in die Töpferei gebeten, um sicher zu gehen, dass der Besucher sich auch wirklich nicht verletzt hatte. (So verwirrt wie Fye gewirkt haben musste, hatte ihn das nicht gewundert.) Ashura hatte gesagt, dass er noch nie so einen besonderen Gast gehabt hätte und Fye war von der gesamten Situation derart überfordert gewesen, dass er sich wieder wie ein kleines Kind gefühlt hatte. Übernervös und schüchtern hatte er angefangen, dem dunkelhaarigen Mann Fragen zu seinen Töpferwaren zu stellen und ach ja, einen Job suchte er auch noch.

Als ihm bewusst geworden war, wie spät es schon war, war der Magier aufgesprungen und hatte sich übereilt verabschieden wollen und Ashura hatte ihm – sozusagen als Wiedergutmachung für den Sturz über sein Schild – etwas zu essen mitgegeben. Während Fye in das Gasthaus zurückgeeilt war (natürlich kannte er den Weg noch), hatte er sich nicht einmal eine Lüge zurechtgelegt. Sein Kopf war einzig und allein von den Gedanken beherrscht gewesen, dass er Ashura unbedingt wiedersehen wollte – und dass Kurogane dies noch nicht erfahren sollte.

Ab da hatte sich in Fye ein Automatismus in Gang gesetzt, der ihn selbst erschreckte. Er musste nicht über die Lügen nachdenken, sie sprudelten einfach aus ihm heraus. Als würde er gar nicht aktiv an dem Gespräch teilnehmen, sondern nur danebenstehen und sich kopfschüttelnd fragend, was der blonde Wirrkopf da tat und ob er nicht wusste, dass er dies nicht tun sollte. Nicht durfte, weil es denjenigen, den er über alles liebte, verletzte. Es war kein Wunder, dass Kurogane so misstrauisch war. Er hatte jeden Grund dazu.

Es tat ihm schrecklich leid, so eine Show abgezogen zu haben. Aber er würde es ihm am morgigen Abend erklären. Er würde vollkommen ehrlich sein. Damit Kurogane ihn am Ende nicht doch noch aufgab.

Fye stellte fest, dass die Tränen, die er mit Gewalt zurückgehalten hatte, wieder getrocknet waren. Er schob das Betttuch ein wenig von sich und fiel in einen unruhigen Schlaf.

 

„Trottel“, murmelte Kurogane, als er mit den ersten Sonnenstrahlen aufstand und bemerkte, dass Fye das Laken komplett weggestrampelt hatte. Die Nacht war recht frisch gewesen und der Holzkopf holte sich noch eine Erkältung, wenn er ohne Decke schlief. Er deckte ihn wieder zu und seufzte. Dann bemerkte er zwei Augen auf sich, oder vielmehr zwei Augenschlitze.

„Nicht traurig sein“, jaulte Mokona leise.

„Wer hat gesagt, dass ich traurig bin?“

„Du musst es nicht sagen.“

Der Anblick ihrer herabhängenden Ohren ließ ihn von neuem seufzen. Ohne ein Geräusch zu machen und die beiden anderen zu wecken, schritt Kurogane zu Shaolans Bett und fuhr der darauf stehenden Mokona in der gleichen Weise, wie er es am Abend zuvor bei dem Jungen gemacht hatte, über den Kopf.

„Pass du heute wieder auf den Bengel auf. Der Magier behauptet, er könne auf sich selber aufpassen.“

„Wer passt auf Papa auf?“

Der Ninja stutzte kurz, ehe er grinste. „Ich bin es gewohnt, auf mich selbst aufzupassen.“

 

Vor dem Gasthaus warf Fye sich an der Quelle eine große Ladung Wasser ins Gesicht.

„Ist es heute ernsthaft noch heißer als gestern?“

Verwundert blickte Shaolan von ihm zur Sonne am Himmel hinauf und wieder zurück zu seinem Kameraden. In Clow hatte er sich nie so stark beschwert. „Findest du? Es kommt mir gar nicht so vor.“

Fye schüttelte seine nun triefnassen Haarspitzen und machte ein gequältes Gesicht. „Ich werde nie verstehen, wie du es in einem Wüstenland aushältst, Shaolan-kun.“

Der Junge lächelte verlegen und begann, herumzudrucksen:

„Ah, Fye-san, wegen gestern Abend …“

Der Magier schreckte ein wenig zusammen. „Tut mir leid, dass du das mitbekommen hast.“

„Nein, das … das ist es nicht. Du weißt noch, was du uns versprochen hast, oder?“

Die blauen Augen seines Gegenübers weiteten sich und wurden von Bedauern überkommen. „Ich bin wirklich ein furchtbarer Mensch. Du glaubst direkt, ich würde irgendwelche Sorgen vor euch verbergen?“

„Du bist kein furchtbarer Mensch! Aber …“ Shaolan wusste nicht, wie er es ausdrücken sollte, dass Fye so wirkte, als würde er etwas vor ihnen verheimlichen.

„Ah, ich weiß etwas. Mokona, komm mal her.“ Fye hielt seine Arme auf und das Wollknäuel sprang hinein. „Bin ich besorgt? Oder traurig?“

„Hmmm ...“ Mokona grübelte heftig. „Nein, eher … aufgeregt.“

„Bei der ganzen Aufregung ist das kein Wunder.“ Fye lachte und tätschelte ihr Köpfchen. „Der Punkt ist: Mir geht es gut. Ich werde heute Abend mit Kuro-sama reden. Ganz vernünftig und ruhig. Wie klingt das?“

Sichtlich erleichtert nickte Shaolan. Er nahm Mokona von neuem entgegen und nach dem Hinweis, dass Fye viel trinken und sich im Schatten aufhalten sollte, da er das Klima nicht so gut zu vertragen schien, verabschiedeten sie sich voneinander.

Wieder in der Bibliothek fragte Shaolan umgehend nach einem Wörterbuch zu der Sprache, die er am Vortag zu entziffern versucht hatte.

„Wörterbücher?“ Der Angestellte kratzte sich am Hinterkopf. „Ja, wir hatten mal eins. Ob das noch hier steht?“ Er war selbst überrascht, es in einem der Regale zu finden. Eine ultra dicke Staubschicht hatte sich auf dem uralten, auseinanderfallenden Buch angesammelt. Shaolan wusste, sein Gedanke war seltsam, aber er hatte Mitleid mit dem verwahrlosten, unbeachteten Wörterbuch. Kuroganes Theorie schien sich mehr und mehr zu bewahrheiten. Ein Land, das sich nicht für andere Länder interessierte, interessierte sich auch nicht für deren Sprachen.

Engagiert setzte der Junge sich zusammen mit Mokona, dem ausländischen Buch und dem Wörterbuch an einen Tisch und begann, die Schriftzeichen des Titels nachzuschlagen.

 

Zielsicher steuerte Fye die Seitengasse an, in der sich die Töpferei befand. Sein Herz überschlug sich gerade aus zwei Gründen: Erstens, der Umstand, Ashura wiederzusehen und mit ihm ein wenig Zeit zu verbringen; zweitens, der Umstand, sich vollkommen bewusst zu sein, wie falsch es war, es den anderen nicht gesagt zu haben. Doch jetzt war es zu spät. Er konnte nur noch darauf hoffen, dass sie es verstehen würden, dass sie ihn verstehen würden und ihm glaubten, dass er sie nicht hatte anlügen wollen.

Aber er hatte es trotzdem getan.

Fye schluckte und versuchte, ruhig zu atmen.

Wenn er von sich selbst schon so enttäuscht war, wie sehr würden sie es dann sein?

War er vielleicht wirklich ein hoffnungsloser Fall?

Verunsichert blieb er vor der Töpferei stehen.

Es gab noch die Möglichkeit, umzudrehen und seine Lüge damit nicht noch schlimmer zu machen. Es gab auch die Möglichkeit, umzudrehen und ihnen gar nichts hiervon zu erzählen.

Die Tür ging auf und er hielt unbewusst den Atem an.

„Ah, Fye, da bist du ja“, begrüßte Ashura ihn freundlich und der Magier hatte das Gefühl, sein Herz wurde gleich aus seinem Brustkorb herausspringen. Wie sehr er sich danach gesehnt hatte, diese Stimme noch einmal zu hören! Noch einmal zu hören, wie diese Stimme ihn ansprach! Gleichzeitig zog sich alles in ihm zusammen, weil er vor seinem inneren Auge an die letzten Momente seines Ashuras denken musste. Damals, in Ceres, als sein Ashura dieses furchtbare Ende gefunden hatte und er selbst einfach nur nutzlos gewesen war.

Sah man es so, hatte er womöglich gar kein Recht, mit diesem Ashura so ungezwungen zu sprechen.

Der Ashura dieser Welt sah ihn derweil mit bewundernden Augen an. „Wie die Sonne auf deinen Haaren glitzert … etwas Derartiges habe ich noch nie gesehen. Es ist wunderschön.“

„So?“ Fye lächelte (zum Teil aufrichtig, zum Teil schuldbewusst) und zupfte zum wiederholten Mal an seiner Kleidung, um mehr Luft an sich zu lassen. Vielleicht gab es einen dritten Grund für sein Herzrasen: diese verdammte Hitze. Sie war heute in der Tat noch viel, viel schlimmer als gestern. Selbst in der Nacht war es ja kaum abgekühlt.

Ashura trat beiseite und signalisierte ihm, einzutreten.

Ich werde es Kuro-sama später erklären. Sobald ich wieder im Gasthaus bin, werde ich es ihm auf der Stelle erklären.

Mit schnellen Schritten, als hätte er Angst, entdeckt zu werden, huschte Fye in das kleine Gebäude.

 

„Hmm …“ Angestrengt starrte Shaolan auf das Zeichen, das er einfach nicht finden wollte. Die Benutzung des Wörterbuchs war recht einfach; man musste nur herausfinden, was das Hauptzeichen eines Buchstabens war und dann die Liste aller Zeichen, in denen dieses vorkam, durchgehen.

„Willst du eine Pause machen?“, fragte Mokona aufmunternd. Sie saß die ganze Zeit schon neben ihm auf dem Tisch und versuchte zu helfen.

„Noch nicht. Ich will unbedingt erst noch wissen, was dieses Zeichen bedeutet. Es steht in diesem Kapitel als Überschrift und kommt auch auffallend häufig im Text vor.“

Die Geschichte des Landes Phaeton“ war der Titel des Buchs, das Shaolan seit Stunden zu entziffern versuchte. Er konnte nicht jedes Schriftzeichen nachschlagen, denn dann würde er niemals damit fertig werden, doch er besah sich die Überschriften jedes Kapitels und pickte einzelne Abschnitte aus den Texten heraus. Das Land hatte südlich von Helios gelegen und war, nach dem was er verstand, ein sehr wohlhabender Staat gewesen, der mit vielen Ländern Handel betrieben hatte. Der Verfasser des Werks erwähnte im Vorwort, dass er vermutete, der Letzte zu sein, der von seinem Volk noch übrig war. Das Unheil, das aus dem Nichts über sie gekommen war, hatte in ihrem Land und den Nachbarländern gewütet und nur wenige, die so waren wie er, hatten sich nach Helios oder in dessen Umgebung retten können. Da die Leute hier jedoch nicht an den Geschehnissen von außerhalb interessiert waren (Kurogane hatte also Recht), befürchtete er, dass die schlimmen Ereignisse in Vergessenheit geraten könnten.

In Shaolan zog sich grundsätzlich alles zusammen, wenn er von „Unheil“ und „schlimmen Ereignissen“ hörte oder las. War es am Ende doch eine Feder gewesen?

„Ist es das?“ Mokona tippte mit ihrer Pfote auf eine Stelle im Wörterbuch und holte ihn so aus seinen Gedanken. Sie hatte im Alleingang darin geblättert und ein kleineres Zeichen als das Hauptzeichen des Buchstabens ausfindig gemacht. Aufgeregt besah er es sich näher.

„Ja! Das ist es!“ Er streichelte mit einer Hand ihren Kopf und erstarrte, als er die Übersetzung las. „Tod?“

Mit einem unguten Gefühl im Magen begann er, nach dem nächsten Schriftzeichen zu suchen.

 

'Krach!'

„Fye!“ Ashura sprang auf und hielt den schwankenden Blonden fest, der beinahe umgekippt wäre. „Ist alles in Ordnung?“

„Ja ...“ Der Magier wischte sich mit einer Hand den Schweiß von der Stirn. „Tut mir leid, ich habe das Tablett mit den fertigen Waren fallen gelassen ...“

„Das ist nicht so tragisch.“ Ashura lächelte mitleidsvoll und geleitete ihm zu der Sitzbank, die in seiner Werkstatt stand und auf der sie sich am Vortag so lange unterhalten hatten. Die letzten Stunden hatte Ashura ihm die Abläufe seiner Arbeit erklärt und sich sichtlich darüber gefreut, dass Fye alles, was er sagte, wie ein Schwamm aufzusaugen schien. Nach ein paar Versuchen hatte er es auch raus gehabt, wie man die Tonwaren in die Glasur tauchte, ohne Blasen daran entstehen zu lassen oder sie in der Wanne mit der Glasur zu verlieren. Doch obwohl er sich den ganzen Tag drinnen aufgehalten hatte und die Häuser hier so gebaut waren, dass es im Inneren merklich kühler war als draußen, war ihm heißer und heißer geworden. Schließlich hatte ihn plötzlich ein Schwindelanfall überkommen.

„Möchtest du noch etwas Wasser?“ Ashura hatte den Krug und den Becher schon in der Hand.

„Ja ... bitte.“

 

Tod durch Sonne?

Shaolan schüttelte den Kopf. Hatte er das richtig übersetzt? Zuerst, das entnahm er dem Buch vor sich, hatte es wohl die Pflanzen betroffen. Von einem auf den anderen Tag waren sie alle eingegangen. Die Menschen hatte es wenige Tage später getroffen. Es war immer ein warmes Land gewesen, doch, so schrieb es der Verfasser, war es innerhalb kürzester Zeit wärmer und wärmer geworden. Hilflos hatte er zusehen müssen, wie der Tod durch die Sonne einen nach dem anderen dahinraffte. Seine Frau war wie die anderen ihrer Art innerhalb von drei Tagen tot gewesen. Auch seine Kinder, die nach ihr gekommen waren, waren nicht verschont geblieben.

Die Wirtschaftskrise und die Zuwanderungswelle; das war ihr Ursprung gewesen. Anscheinend hatte eine Epidemie dort gewütet und die Überlebenden waren hierher geflohen. Aber … eine Epidemie, die zuerst Pflanzen und dann Menschen befiel? Shaolan kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. Und nur gewisse Menschen? Vielleicht hatte er etwas missverstanden. Ungeduldig blätterte er weiter.

Die Bewohner der betroffenen Länder hatten selbst keine Erklärung dafür, was geschehen war. Die Sonne musste sich verändert haben und nun verbrannte sie die Menschen innerlich. Der Junge schluckte bei diesen Sätzen. Was für eine grausame Vorstellung das war. Zunehmend fahriger fuhren seine Finger die Listen im Wörterbuch entlang. „Symptom“, las er und suchte hastig nach dem nächsten Zeichen.

 

Irgendetwas stimmte nicht.

Fye fühlte mit seiner eigenen Hand gegen seine schweißnasse Stirn. Hatte er Fieber? Er hatte innerhalb von Minuten plötzlich seine gesamte Kleidung durchgeschwitzt. Die Symptome eines normalen Hitzschlags waren anders. Darüber hatte er sich bei ihrem zweiten Besuch in Hanshin schlau gemacht (oder vielmehr hatte Sorata ein Handpuppentheaterstück zu diesem Thema aufgeführt, weil es wohl zu dieser Zeit ein akutes Problem dort gewesen war und er nicht wollte, dass den Reisenden etwas passierte).

Die Sicht vor seinen Augen verschwamm. Es war auch egal, wie viel Wasser er trank, er wurde das Gefühl nicht los, komplett ausgetrocknet zu sein.

„Du siehst gar nicht gut aus“, sagte Ashura besorgt. „Soll ich dich zu deinen Gefährten bringen?“ Die Adresse des Gasthauses hatte er von der Arbeitserlaubnis, die Fye ihm vorgezeigt hatte. Kurogane würde noch nicht zurück sein, er würde also nicht in ihn hineinrennen.

Schwach nickte der Magier. „Bitte.“

 

War die mysteriöse Krankheit so etwas wie ein Fieber?

Das schlussfolgerte Shaolan aus den wenigen Wörtern, die er lesen konnte. Ein Fieber, das durch die Strahlung der Sonne verursacht wurde? Das Wörterbuch ließ ihn an dieser essentiellen Stelle im Stich. Es gab ihm als Übersetzung des Zeichens die Umschreibung „Krankheit, bei der der Körper sehr heiß wird.“ Hatte dieses Land kein Wort für Fieber? Zudem ärgerte es Shaolan, dass er ein weiteres Wort die ganze Zeit nicht finden konnte. Er hatte die starke Vermutung, dass dieses Wort ihm Aufschluss darüber geben könnte, wer von dieser Krankheit befallen worden war. Allerdings war der einzige Eintrag, den er dazu im Wörterbuch gefunden hatte, das Wort „hell“ gewesen. Das gab keinen Sinn.

Immerhin hatte er einige der Symptome entschlüsseln können. Die Betroffenen klagten über Hitzewallungen, Schweißausbrüche, Schwächeanfälle und einen unstillbaren Durst, bevor sie innerhalb von drei Tagen nach dem Auftreten der ersten Symptome verstarben.

Mit plötzlich geweiteten Augen hielt Shaolan inne.

Das …

Er erschrak Mokona fast zu Tode, als er schlagartig aufsprang. Sein rastloser Blick schnellte zu den Pflanzen draußen vor dem Fenster. Sie waren alle dunkelgrün. Es gab keine hellen Blüten, keine andersfarbigen Gewächse. Seine Augen rasten zu den anderen Menschen, die sich in der Bibliothek aufhielten. Sie alle …. Moment, wie war es gestern und heute auf dem Weg hierher gewesen? Er konnte sich nicht mehr genau erinnern, da es bis eben nicht wichtig gewesen war.

„Mokona!“, rief er geradezu panisch aus. „Hast du in dieser Welt bisher auch nur einen Menschen mit hellen Haaren gesehen??“

 

Nur eine Sekunde, nachdem Mokona verängstigt „Ich glaube nicht“ geantwortet hatte, hatte Shaolan sie geschnappt und war in Windeseile aus der Bibliothek gestürmt.

Vielleicht lag er falsch, vielleicht lag er falsch, wiederholte er wie ein panisches Mantra in seinem Kopf.

Aber alles passte zusammen. Fyes Klagen über die Hitze, die sonst keiner von ihnen verspürte, die seltsamen Blicke, die sie kassiert hatten, der dunkelhaarige Yukito …. Er besah sich im Laufen die Passanten und tatsächlich besaßen sie alle dunkle Haare. Es gab keinen einzigen Menschen mit blonden Haaren. Sie waren es gewesen, die von der Strahlung der Sonne dahingerafft worden waren. Nur der dunkelhaarige Teil der Bevölkerung hatte überlebt und sich hier niedergelassen, wo man weder die Wörter für Fieber noch für blond kannte, weil scheinbar keins von beidem hier je existiert hatte.

Shaolan wusste nicht einmal, wohin er genau laufen sollte. Fye hatte ihm lediglich die Richtung gezeigt, in der die Töpferei lag.

Vielleicht lag er falsch, vielleicht lag er falsch -

Abrupt blieb er auf der Hauptstraße stehen. Sein Herz setzte kurz aus, als die Gewissheit, nicht falsch zu liegen, ihn wie ein Schlag ins Gesicht traf.

„FYE!“, schrie Mokona erschrocken, als sie den gesuchten Kameraden bewusstlos in den Armen eines Mannes erblickte, der ihr verdächtig bekannt vorkam.

„Gehört ihr zu ihm?“, fragte der Mann atemlos. „Er hat plötzlich das Bewusstsein verloren.“

„Ja.“ Shaolan schüttelte den Schock, den er gerade erlitten hatte, so gut es ging ab. Das vor ihnen war jemand mit der gleichen Seele wie König Ashura. Es erklärte Fyes merkwürdiges Verhalten vom Vortag. Beherzt streckte Shaolan eine Hand nach Fyes Stirn aus, um dort seine Temperatur zu fühlen (er konnte ehrlich nicht sagen, wie oft der Magier dies schon bei ihm getan hatte).

Er war glühend heiß.

„Er hat hohes Fieber!“

Während Mokona ängstlich jaulte, runzelte Ashura überfragt die Stirn.

„Was … was bedeutet das?“

Sie kannten nicht nur das Wort nicht. Auch das Konzept war ihnen fremd.

„Er ist sehr krank!“, beeilte sich Shaolan zu erklären. „Er braucht ...“ Er stoppte jäh. Auch ein Arzt würde das Konzept nicht kennen. Was sollten sie tun?

„Bitte, können Sie mir helfen und ihn auf unser Zimmer tragen?“

Ashura nickte und gemeinsam rannten sie die letzten Meter zum Gasthaus zurück. Shaolan füllte draußen einen großen Krug mit dem kalten Wasser aus der Quelle.

„Mokona, kannst du irgendwie Kurogane finden?“

Zitternd zappelte das auf den Boden gesprungene Wesen hin und her. „Ich weiß nicht, wo sein Arbeitsplatz ist. Ich kann ihn suchen, aber das wird bestimmt lange dauern!“

„Gehört er auch zu eurer Gruppe?“, hakte Ashura nach. „Dann wissen die Aufseher, wo er arbeitet. Wenn man jemanden einstellt, muss man ihnen das melden.“

Shaolan spürte wie sich zu seiner Panik blanke Wut gesellte. Sie dokumentierten jeden Mist, aber alles, was sie nicht betraf, vergaßen sie gnadenlos. Er schluckte seine Wut hinunter, denn er musste einen kühlen Kopf bewahren. „Sind die Aufseher immer auf der Hauptstraße?“

Ashura nickte von neuem und dieses Mal hüpfte Mokona mit großen Sprüngen augenblicklich los.

 

Das hektische, schwere Poltern, das er vernahm, ließ Shaolan umgehend noch angespannter werden, als er es sowieso schon war. Nur einen Augenblick später riss Kurogane die Tür auf und preschte ins Zimmer, wo der Junge nach bestem Wissen kalte Bandagen um Fyes Gelenke gewickelt hatte.

„Was ist verdammt nochmal passiert?!“ Kurogane schnaufte vor Zorn und Hast. Sein ungläubiger Blick verweilte lange auf der bewusstlosen Gestalt des Magiers, ehe er zu dem Jungen schnellte. Hinter ihm trafen Toya und Yukito (mit Mokona auf der Schulter) ein.

„Ich glaube, Fye ist krank“, begann Shaolan und erschrak bei dem entsetzten Gesicht, das Kurogane daraufhin machte.

„Was soll das heißen??“

„Er hat sehr hohes Fieber.“

„Heute Morgen hatte er das noch nicht! Was zum Teufel ist in der Zwischenzeit passiert??“ Aufgebracht landete sein Blick von neuem auf dem schwerfällig atmenden Magier.

„Das stimmt“, äußerte Mokona bekümmert. „Heute Morgen hat er sich noch nicht so schrecklich heiß angefühlt.“

„Ihm wurde schwindelig“, ertönte da eine Stimme hinter den Aufsehern. „Und dann klappte er zusammen.“ Ashura, der frisches Wasser geholt hatte, stellte den Krug im Zimmer ab.

Shaolan bekam gerade so noch mit, wie Kuroganes Augen größer wurden, bevor er sich blitzschnell zu dem gerade Eingetroffenen umdrehte.

„Du ….“ Sein ganzer Körper bebte vor Zorn. „DU!“ Er ging auf Ashura los und packte ihn mit beiden Händen an seinem Kragen. „Hast du etwas damit zu tun?! Hast du etwas mit ihm gemacht?!“

„Hey!“ Toya versuchte unverzüglich, den Ninja von dem Stadtbewohner wegzureißen, doch der Fremde war stärker.

Obwohl er so grob angegangen wurde, blieb Ashura seelenruhig. „Ich habe ihm nichts getan. Warum sollte ich?“

„Kurogane-san!“ Shaolan war an seine Seite geeilt. „Er hat nichts damit zu tun. Ich habe in einem Buch etwas von einer Krankheit gelesen, die anscheinend von der Sonne verursacht wird.“

Unbeeindruckt hielt Kurogane den langhaarigen Mann fest. „Von der Sonne?! Was für ein Schwachsi-“

„Nein“, der Junge schüttelte energisch den Kopf, „sieh aus dem Fenster. Es gibt in diesem Land oder vermutlich sogar in dieser gesamten Welt keine blonden Menschen. Die Sonne dieser Welt scheint eine für sie gefährliche Strahlung zu besitzen.“

Ashura immer noch nicht loslassend, drehte Kurogane hastig seinen Kopf zum Fenster. Er konnte von hier auf die stark frequentierte Hauptstraße sehen und – tatsächlich. Unter so vielen Menschen gab es keinen einzigen mit blonden Haaren. Jetzt, wo er darüber nachdachte, fiel ihm ebenso auf, dass ihm hier auch sonst nirgends ein hellhaariger Mensch begegnet war. Selbst der Yukito dieser Welt war dunkelhaarig ….

Mit einem fassungslos gewordenen Blick ließ er von Ashura ab und wandte sich Fye zu. „Das kann doch nicht … das ist … du willst mir ehrlich sagen, dass seine Haarfarbe ihn krank macht??“

„Na ja, nicht direkt. Es muss etwas mit der Sonne zu tun haben. Er reagiert auf sie anders als wir.“

Kuroganes Augen schnellten zu Mokona. „Hey, Klops, was ist mit dir?“

„Mir?“ Mokona blinzelte.

„Fühlst du dich gut?“

„Ja … bei mir ist alles so wie immer.“

„Vielleicht ist Mokona nicht betroffen, weil sie ein magisches Wesen ist. Oder weil ihr Fell die Strahlung abhält“, mutmaßte Shaolan und Kurogane atmete kurz aus. Seine Unruhe allerdings war immer noch greifbar.

„Warum habt ihr Flachpfeifen uns nicht davor gewarnt, als wir angekommen sind?!“, richtete er wütend an Toya und Yukito.

„Gewarnt? Wir hören zum ersten Mal von irgendeiner Sonnenkrankheit“, gab Toya zurück.

„Sie wissen nichts darüber“, warf Shaolan ein, als er sah, wie der Ninja kurz davor war, den beiden an den Kragen zu gehen. „Das Volk dieses Landes hat wahrscheinlich vergessen, dass es diese Krankheit – oder blonde Menschen – gibt. Erinnerst du dich an die Registrierung? Sie hatten angenommen, Fye sei kein Mensch. Weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass Menschen blond sein könnten.“

„VERGESSEN?!“ Kurogane ballte seine Hände zu Fäusten. „In was für einem kranken Land sind wir hier gelandet?!“

„Ich verstehe das alles nicht so richtig“, hauchte Ashura erschüttert. „Seine Haarfarbe ist so besonders, so schön und sie soll der Grund sein, dass er sich schlecht fühlt?“

„Okay, jetzt, wo wir wissen, warum er hohes Fieber hat“, ignorierte Kurogane Ashuras Einwurf, „was machen wir dagegen? Gibt es hier Ärzte? Medizin?“ Er bemerkte Shaolans verkniffenes Gesicht. „Was?“

Der Brünette sah zu den Aufsehern. „Hat einer von euch schon einmal den Begriff 'Fieber' gehört?“

Der Ninja stutzte, als er diese Frage hörte. Was sollte das denn? Wer wusste denn nicht, was Fie-

„Fieber?“, hakte Yukito verwirrt nach.

„Die Krankheit, bei der der Körper sehr heiß wird.“

„Ah“, machte der Brillenträger, „davon hat meine Großmutter einmal erzählt. Aber Genaueres weiß ich darüber nicht. Leidet er daran? Ist das gefährlich? Es klingt ganz danach.“

„Das ist gefährlich!“, rief Mokona aus. „Sehr gefährlich! Fye braucht ganz, ganz dringend Hilfe!“

Shaolans hilfloser und Kuroganes entsetzter Blick trafen sich. Sie mussten nicht aussprechen, was sie dachten:

Sie wissen nicht, was das ist – dann wissen sie auch nicht, was man dagegen tut.

„Wir müssen Fye-san hier wegbringen. Solange er in dieser Welt ist, ist er der Strahlung schutzlos ausgeliefert. Aber nur ein Ortswechsel allein wird ihn nicht gesund machen.“

„Und wenn wir in einer Welt landen, die noch gefährlicher ist? Oder in einer, wo man ihm nicht helfen kann?“ Mokona standen bereits dicke Tränen in den Augenwinkeln.

„Wir können auf keinen Fall hier bleiben“, sagte Shaolan ernst und Mokona blickte ratsuchend zu Kurogane.

„Wollknäuel, los!“ Der Ninja schritt eilig zu Fye und hob ihn vom Bett hoch. Erschrocken erstarrte er für einen Augenblick. Der Körper des Anderen strahlte eine glühende Hitze aus. Er war schweißgebadet und schien kaum vernünftig Luft zu bekommen. Die Hände des Schwarzhaarigen verkrampften sich um ihn. Es war nicht normal, dass ihm so etwas ständig passierte. Es war nicht seine Schuld, das war ihm auch klar, aber … Kurogane wollte auf irgendjemanden wütend sein, seine Wut an irgendjemanden auslassen. Wer war schuld daran, dass der Magier in diese Gefahr geraten war?

Er fühlte, wie der Anblick des Mannes in seinen Armen sein Herz sich panisch überschlagen ließ.

Die Schuldfrage war nicht wichtig. Dass der Wirrkopf nicht starb, war das einzig Wichtige im Moment. Er durfte nicht sterben. Kurogane hatte geschworen, das nicht zu zulassen.

Er drückte den bewusstlosen, heißen Körper fest gegen seinen, als Mokonas den Ortswechsel ankündigender Zirkel aufleuchtete und ihre Flügel wuchsen. Toya, Yukito und Ashura machten perplex einen Schritt zurück.

„Bitte“, rief Shaolan flehentlich in Richtung der Einheimischen, „notiert ausführlich, was hier geschehen ist und sorgt dafür, dass es nicht wieder in Vergessenheit gerät. Bitte fangt an, euch für die Länder außerhalb eurer Mauern zu interessieren. Das ist wichtig, bitte!“ Er konnte ein zaghaftes Nicken seitens Ashura ausmachen, bevor sie aus dieser Welt teleportiert wurden.


Nachwort zu diesem Kapitel:
„Helios“ ist der Name des griechischen Sonnengottes, „Phaethon“ ist der Neffe von Helios, der sich den Sonnenwagen des Onkels ausborgt und damit umkommt. Komplett anzeigen

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