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Die Suche nach dem Korallenschloß

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Der vornehme Gast

Dem vornehmen Gast hatte man das Bett des Alten bereitet, während dieser sich mit einer in einer Ecke der Hütte aufgespannten Hängematte bescheidete. Früh am nächsten Morgen, noch bevor die Sonne richtig aufgegangen war, stand der Gast schon am Brunnen und wusch sich. Tsü-Zse beobachtete ihn heimlich, als sie die Hühner fütterte und sah, daß er von angenehmer Gestalt war.
 

Nachdem er seine vornehmen Gewänder wieder angelegt und als Frühstück eine Schale Tee geleert hatte, machte der junge Mann sich auf zu den Klippen, in deren Spalten die großen silbernen Möwen hausten. Tsü-Zse folgte ihm, um zu überprüfen, ob bei der Lösung der drei Aufgaben auch alles seine Richtigkeit hatte, und so kamen sie am Meer an.
 

Sie standen auf einer der weit überhängenden Klippen, unter der, tief unten, die Wogen des Meeres rauschten. Der junge Mann gab sein kostbar besticktes Obergewand und seine aufwendig verzierten Stiefel in Tsü-Zse's Obhut, um sie nicht zu beschmutzen, dann kletterte er über den Rand nach unten und Tsü-Zse hörte das Kreischen der gestörten Vögel. Sie kniete sich auf den Boden und beugte sich über den Rand, um alle Vorgänge genau verfolgen zu können und sah, wie der junge Mann sich allein mit seinen nackten Zehen in die Spalten des Felsens gekrallt hatte und mit einer Hand die Beine einer der großen, wilden Möwen ergriff, um ihr mit einem Ruck die längste ihrer Schwanzfedern auszureißen. Die steckte er quer in den Mund und ergriff sogleich den zweiten Vogel, mit dem er ebenso verfuhr, wie auch mit achtzehn anderen, während er den überhängenden Felsen immer weiter nach unten kletterte, um an weitere Vögel heranzukommen, die vor ihm, durch das Geschrei ihrer Artgenossen gewarnt, zu fliehen suchten.
 

Schon oft hatte einer der Freier es fertiggebracht, die Möwen ihrer Schwanzfedern zu berauben, doch stets hatten sich die Vögel so energisch zur Wehr gesetzt, daß die Jünglinge schließlich arg zerschunden wieder über den Rand der Klippe zurückgeklettert kamen. Der vornehme junge Mann jedoch wies nicht einen einzigen Kratzer auf, als er Tsü-Zse die exakt gleichlangen Federn, eine jede so lang wie Tsü-Zse's Arm, überreichte. Nur sein Untergewand war von dem Dreck der Möwen, die schon seit Menschengedenken in den Höhlungen und Ritzen der Klippen lebten, etwas beschmutzt.
 

"Habe ich die Aufgabe zu Eurer Zufriedenheit gelöst?" fragte der junge Mann und erbat sich sein Übergewand zurück, nachdem er mit der Hand die gröbsten Verunreinigungen von seiner Unterkleidung abgebürstet hatte. Und Tsü-Zse mußte es widerwillig bejahen, denn alle Federn waren armlang und von der makellos silbernen Farbe, die das ganze Gefieder der großen Möwen aufwies.
 

Nachdem die erste Aufgabe also gelöst war, ging der junge Mann, wieder gefolgt von Tsü-Zse, hinunter zum Strand, an die Stelle, von der man die nahen Muschelbänke gut sehen konnte und einige Boote im Sand lagen. Eines davon ließ der junge Mann zu Wasser, dann ruderten er und Tsü-Zse hinaus zu den Muschelbänken, damit er die zweite Aufgabe lösen konnte.
 

Immer wieder sah der junge Mann in das klare Wasser, indem er die Hand als Sonnenschutz über die Augen hielt, hinunter auf die Muschelbänke, die nur magere Ernte versprachen. Einige Familien des Dorfes, in dem Tsü-Zse zu Hause war, versuchten, vom Ertrag dieser Muschelbänke zu leben, doch sie blieben arm und Perlen hatte man hier so gut wie nie gefunden. Die Perlenfischerei brachte nur wesentlich weiter im Süden einen dem Unterhalt der Muschelbänke angemessenen Gewinn.
 

Schließlich ließ der junge Mann seine Oberkleidung und diesmal auch seine Unterkleidung, bis auf sein seidenes Lendentuch, in Tsü-Zse's Obhut und glitt ins Wasser. Tsü-Zse sah, wie er zielstrebig weit nach unten, bis fast zum Meeresgrund tauchte, der, so nah an der Küste, erstaunlich tief lag. Mit bloßen Händen brach der junge Mann dort unten eine Muschel ab, kehrte mit ihr wieder an die Oberfläche zurück und schwamm neben das Boot, das Tsü-Zse gekonnt auf der Stelle hielt (nicht umsonst war sie die Tochter eines Fischers und seit frühester Kindheit im Umgang mit Booten erfahren). Der junge Mann zeigte der Schönen die große Muschel, dann brach er sie ohne sichtbare Schwierigkeiten mit seinen Fingern auf und reichte Tsü-Zse eine makellose, rosafarbene Perle, die so groß wie eine reife Kirsche war. Noch bevor die Stolze ihrem Erstaunen Ausdruck geben konnte, war der junge Mann jedoch schon wieder unter Wasser verschwunden und tauchte kurz darauf mit einer weiteren Muschel auf, die er auf die gleiche Weise öffnete und diesmal eine makellose schwarze Perle von Kirschgröße zum Vorschein brachte.
 

Jeder Tauchgang brachte ein weiteres Kleinod zutage, und fast fassungslos darüber, daß jemand hier tatsächlich auch nur eine einzige Perle finden konnte, starrte Tsü-Zse die immer größer werdende Perlenmenge an, die sie in dem feinen Seidenhemd des jungen Mannes auf ihrem Schoß sammelte. Bei jedem Tauchgang blieb der junge Mann jedoch länger unten, tauchte tiefer und schwamm weiter, um weitere Perlen zu finden, und Tsü-Zse bekam jedesmal Angst, er würde überhaupt nicht wieder auftauchen, da doch kein Mensch so lange unter Wasser zu bleiben vermochte. Doch jedes Mal schoß der junge Mann wie ein Delphin wieder aus dem Wasser und brachte eine weitere Muschel mit herauf, die eine weitere makellose, kirschgroße Perle enthielt, mal eine golden schimmernde, mal eine schneeweiße und auch eine bläuliche. Schließlich lagen neunzehn Perlen in dem seidenen Hemd auf Tsü-Zse's Schoß und der junge Mann tauchte mit der letzten Muschel auf, die er vor ihren Augen öffnete, um eine blutrote Perle zu den anderen zu legen, die tatsächlich wie eine Kirsche aussah.
 

Tsü-Zse betete zu allen Göttern, die ihr bekannt waren, daß der junge Mann auch die letzte Aufgabe mit so vollendeter Meisterschaft bestehen möge, denn endlich hatte sie jemanden gefunden, dem ihr Herz sich zuneigte, und sie hätte sogar ihr öffentlich gegebenes Wort gebrochen oder eine Täuschung geduldet, wenn dieser junge Mann, der nun um sie warb, nicht in der Lage sein sollte, die zwanzig Drachenschuppen herbeizuschaffen. Und so sagte sie zu dem jungen Mann, der neben dem kleinen Boot schwamm: "Ihr habt die zweite Aufgabe hervorragend gelöst. Keine dieser Perlen weist auch nur die kleinste Unebenheit auf und alle sind von der gleichen Größe." Und sie reichte dem jungen Mann die Hand, um ihm an Bord zu helfen.
 

Doch der junge Mann schüttelte den Kopf. "Noch muß ich die dritte Aufgabe lösen, doch vorher will ich Euch sagen: Ich bin Prinz Hen-Yüe aus dem Korallenschloß. Wenn Ihr mich tatsächlich zum Gatten wollt, bringt mir nach Bestehen der dritten Aufgabe drei Geschenke als Hochzeitsgabe:
 

einen von Euch selbst bereiteten Reiskuchen,

einen Krug voll Süßwasser und

ein Ei eines weißen Huhns."
 

Als er diese Worte gesprochen hatte, verwandelte sich der junge Mann plötzlich in einen Drachen und er schüttelte sein Haupt, von dem zwanzig goldene Schuppen klingelnd in das Boot fielen, das Tsü-Zse nur mit Mühe in dem aufgewühlten Wasser ruhig halten konnte. Und mit einem Brüllen, das klang wie ein großer Bronzegong, tauchte der Drache ins Meer und verschwand.
 

Als das Wasser sich wieder beruhigt hatte, schwamm neben dem Boot nur noch das seidene Lendentuch des jungen Mannes, der ein Drachenprinz namens Hen-Yüe war, was 'Perle des Meeres' heißt.
 

*
 

Mit unermesslichen Schätzen beladen, aber in von ihren Tränen durchnäßten Gewändern kam Tsü-Zse zurück in die heimatliche Hütte. Tsü-Zse war so unglücklich, daß es ihrem Vater kaum gelang, sie zu trösten, und nur mit großer Mühe erfuhr er schließlich, was passiert und warum seine Tochter in Tränen aufgelöst war.
 

Als Tsü-Zse sich wieder beruhigt hatte, entschloß sie sich, Hen-Yüe zu suchen. Die Aufgaben des Drachenprinzen zu lösen war nicht schwer und so buk sie einen Reiskuchen, schöpfte aus dem Brunnen hinter der Hütte einen kleinen verschließbaren Krug voll Süßwasser und nahm aus dem Gelege einer der zwei weißen Hennen, die sie und ihr Vater besaßen, ein Ei, für das sie eine Schale mit dem seidenen Lendentuch des Drachenprinzen auspolsterte, damit es die Suche nach dem Korallenschloß gut überstand. Doch bevor sie sich auf den Weg machte, verkaufte sie eine von den kostbaren Drachenschuppen um Lebensmittel für ihren Vater zu besorgen und den Rest des Geldes auf ihre Wanderschaft mitzunehmen. Die restlichen Schuppen, die Federn und die Perlen ließ sie, ebenso wie die Gewänder des Drachenprinzen, bei ihrem Vater zurück, allein die blutrote Perle nahm sie mit sich.
 

* * *
 



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