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Juli 1970

Pathologie eines Philologen
von

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Antinoos

Obwohl die Sonne inzwischen brannte, die Straßen und Bäume schon fast getrocknet waren, sorgte eine leichte Brise von See für Kühlung. Und der Weg vom Hotel zum Historischen Museum Merburg führte zudem durch eine ausgedehnte Parkanlage mit prächtigen alten Bäumen. Über den Wipfeln sah man in einiger Entfernung einen eindrucksvollen, kupfersulfatgrünen Engel mit hochgereckten Flügeln, barock-antiker Rüstung und abwärts gerichtetem Schwert. Das mußte der Erzengel Michael auf dem Engelsturm der Michaelis-Kirche sein, und rechts neben ihm waren auch die Spitzen der zwei schlanken Türme zu sehen, die das Westwerk der Kirche schmückten.
 

"Da will ich mal einen Blick hineinwerfen", sagte Michael zu seiner Muse, die darüber eigentümlicherweise mißmutig das Gesicht verzog. Michael versuchte, sich zu rechtfertigen. "Mein Großvater hat sie in seinem Tagebuch aus Merburg so anschaulich geschildert, daß ich geradezu davon besessen bin, die Glasfenster und das Mosaik einmal persönlich in Augenschein zu nehmen."
 

"Das glaube ich, daß du davon besessen bist. Du hast ja die halbe Nacht das Heft über diese komische Kirche durchgelesen", sagte Cassandra etwas patzig.
 

Da sie seine Gedanken teilte, mußte sie eine ebenso unruhige Nacht erlitten haben, wie er, und es stand zu vermuten, daß sie auch seine Gefühle teilte. Es war das erste Mal, daß zwischen ihm und seiner Muse nun dieses bedrückende Schweigen aufkam, und Michael zermarterte sich das Hirn, woran das wohl liegen könnte. Er war sich keiner Unfreundlichkeit bewußt, es schien ihm eher so - und in geringerem Maße eigentlich schon seit einigen Tagen - als habe die Verstimmung auf Cassandras Seite begonnen.
 

Der Park endete mit labyrinthartig angeordneten Buchenhecken vor der Gartenfassade des Freesthingh oder 'Niewe Borch'. Das dahinterliegende Parterre war aufwendig als Barockgarten gestaltet, dessen Muster aus zurechtgestutzten Buchsbaumhecken und bunten Kieswegen aus den Obergeschossen des Schlosses sicher wie ein kostbarer Teppich aussah. Nur ein Teil des Freesthingh wurde vom Historischen Museum eingenommen. Der ganze Westflügel, die ehemaligen Stallungen des Schlosses, waren zu einem Kongresszentrum umgebaut worden und schon aus einiger Entfernung waren die babyblauen Hinweisschilder zum Tagungsbüro des Philologenkongresses zu sehen, die den Weg wiesen.
 

Tatsächlich fanden fast alle Vorträge des Kongresses in diesem Kongresszentrum statt, allerdings wurde zum eröffnenden Abendvortrag in den Theatersaal des Freesthingh geladen. Während Michael sich eine Einladung besorgte und einige der an der Theke erhältlichen Vortragsskripte erwarb, stromerte Cassandra gelangweilt durch das Foyer des Kongresszentrums und betrachtete müßig die ausgelegten Prospekte der Verlage und Institutionen, die dort mit Ständen und reichlich bedrucktem Material für sich warben. Durch einen großen Durchgang konnte man einen Blick in die Haupthalle des Freesthingh werfen und so auch ein Stück des dort aufgestellten Abgusses des Farnesischen Stiers sehen. Michael erinnerte sich an die Notiz über die Antikensammlung im Touristen-Verführer und wandte sich neugierig in Richtung der riesigen, ovalen Haupthalle.
 

Gegenüber der Stiergruppe stand die Laokoon-Gruppe und in - beziehungsweise vor - den zehn Wandnischen standen einige andere wichtigen Antiken in Abgüssen: der Herkules Farnese, der barberinische Faun, der Apollo von Belvedere, die milesische Aphrodite, die samothrakische Nike, die Diana Gabii, der Doryphoros und der Diadumenos, der Diskobolos und Antinoos, von dem Michael schon Originalbildnisse in Neapel und Madrid gesehen hatte. Allerdings war ihm bisher die verführerische Schönheit des Jünglings entgangen.
 

"Ich sollte wohl 'ne Ablösung beantragen, was?" fragte Cassandra plötzlich giftig, als Michael noch verträumt das Bildnis von Hadrians Liebling betrachtete.
 

Das gab Michaels schlechtem Gewissen über seine Gedanken wieder einen kleinen Anstoß, aber Cassandras Ton sorgte dafür, daß in ihm nun eher eine Trotz-Haltung wuchs. Immerhin war dieser junge Mann aus Gips und inzwischen war Michael so weit, zur Beruhigung seines Gewissens unausgelebte Phantasien als ethisch irrelevant zu definieren. Michael drehte sich zu seiner Muse und sagte leise: "Dann geh' doch, wenn dir nicht gefällt, was ich mir ansehe."
 

Cassandra blitzte ihn aus ihren verschiedenfarbigen Augen so böse an, wie Michael es sonst nur von Casus Belli kannte. Dann drehte sie sich abrupt um und ging schnellen Schrittes in Richtung Tagungsfoyer.
 

Michael dagegen strebte dem gegenüberliegenden Durchgang zu, dem eigentlichen Eingang des Museums.
 

*
 

Michael durchwanderte den Spiegelsaal des Freesthingh und den daran anschließenden Marmorsaal, in dem eine umfangreiche Sammlung römischer Portraitbüsten ihren Platz gefunden hatte. In der darauf folgenden Grotta standen eine ganze Reihe von griechischen Originalen, die - so konnte man einer Tafel neben der Tür entnehmen - von Herzog Christian Edward aus dem Orient mitgebracht worden und 1880 als Kriegsbeute an die Engländer gefallen waren. Ganz offensichtlich war der letzte der nordmärkischen Herzöge in Merburg ein großer Kunstsammler gewesen.
 

Der Rundgang führte weiter in die Schatzkammer im Keller unter der Grotta, deren Besuch Michael jedoch zugunsten der Handschriftensammlung im zweiten Stock auf einen späteren Zeitpunkt verschob.
 

Zuerst ging es im zweiten Obergeschoß allerdings durch drei Räume, in denen Reihenweise große Vitrinen aus dunklem Holz und mit angeschliffenen Glasscheiben standen, ihrerseits geradezu vollgestopft mit antiker Kleinkunst. Eine dieser Vitrinen enthielt Trinkschalen, die sämtlich mit
 

'attisch, rotfigurig, um 500 v.Chr., Fundort Vulci'
 

bezeichnet waren. Eine der Schalen war so hingelegt worden, daß man in ihr Innenbild sehen konnte, ein über seine Lyra gebeugter Jüngling mit lockigen Haaren, von dem Schriftzug
 

'DIOGNET KALOS'
 

umgeben: Schöner Diognet.
 

Die Schale kam Michael sehr bekannt vor, und als er um die Vitrine herumging, um sich ihre Außenseite anzusehen, sah er dort genau die Symposionsszene, an die er sich aus seinem Traum erinnerte. Vielleicht war das dadurch zu erklären, daß er diese Schale bei seinem ersten Besuch in Merburg vor so vielen Jahren schon gesehen und bewundert hatte? Allerdings konnte er sich nicht daran erinnern, das Museum überhaupt betreten zu haben. Die prächtigen Gipsabgüsse in der großen Halle hätten doch gewiß auch auf einen Sechzehnjährigen einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Durch das Fenster des Raumes sah man hinunter auf das Parterre des Gartens und es sah von hier tatsächlich wie ein Teppich aus - genau so, wie Michael es sich vorgestellt hatte. Er war wohl doch schon hier gewesen und die Kindheitserinnerungen an Merburg waren durch die Fahrt wieder geweckt worden.
 

Das Knarren des Fischgrät-Parketts unter sich nähernden Schritten schreckte Michael aus seinen Betrachtungen auf. Im Fenster spiegelte sich nun ein anderer Museumsbesucher, der in Richtung Fenster schaute. Als Michael sich zu ihm umdrehte, schaute der andere schnell weg und in die Vitrine, vor der er stand. War er wirklich beobachtet worden, oder bildete Michael sich das nur ein? Er schlug sich den Gedanken aus dem Kopf und ging weiter in den nächsten Raum, in dem er endlich den ersten Teil der Handschriftensammlung vorfand. Die Glasscheiben der luftdichten Vitrinen waren mit lichtundurchlässigen Tüchern bedeckt, die auf Knopfdruck wie Rollos zusammengerollt wurden und nach einer Minute die Bücher wieder abdeckten. Zusätzlich hingen vor den kleinen Fenstern in den Schloßhof dichte Gardinen, durch die das Tageslicht nur gedämpft drang.
 

Es befanden sich wirkliche Schätze in dieser Sammlung. Es gab Papyrusfragmente aus Werken antiker Autoren: der Geometrie des Euklid, der Ilias und der Aeneis und einen koptischen Zaubertext; aber auch eine Reihe illuminierter frühmittelalterlicher Codices, darunter ein ottonisches Missale und ein Perikopenbuch. Gleich daneben stand eine Vitrine, in der einer Reihe von prächtig geschmückten Bibeln lag. Das erste Exemplar war aufgeschlagen am Anfang des Johannesevangeliums, über die beiden Seiten erstreckte sich das
 

'IN PRINCIPIO ERAT VERBUM',
 

in goldenen Buchstaben auf Purpurgrund, geschmückt mit Engeln und Pflanzenranken; daneben eine byzantinisch geschmückte, griechische Bibel, ebenfalls bei Johannes aufgeschlagen:
 

'EN ARCHE'
 

stand dort jedoch nur auf der rechten Seite, die Linke zeigte den Evangelisten an seinem Schreibpult, während ein Engel hinter ihm stand und ihm die zu schreibenden Worte zuflüsterte.
 

Im Glas der langen Vitrine spiegelte sich der rotblond beschopfte Kopf des jungen Mannes, der Michael schon im Keramikraum aufgefallen war. Und für einen Moment schien es Michael so, als habe dieser mit seinen Augen die Spiegelung von Michaels Blick gesucht. Als Michael aufschaute und sich zu dem anderen hindrehte, sah der wieder weg, in die Vitrine, auf das dort liegende Buch.
 

Der in Jeans und locker sitzendes, schwarzes Hemd gekleidete Jüngling war, wie es Michael schien, wohl noch nicht einmal zwanzig Jahre. Er war schlank, ein gutes Stück größer als Michael und auffällig hellhäutig. Seine Brauen und Wimpern waren so blond wie seine Haare und seine hellen Augen blau oder grau. Seine wohlgeformte Nase war ganz leicht gebogen, was seinem Profil etwas Aristokratisches gab und Michael dachte angesichts der Haarfarbe an den Tiarna-na-Sidhe. Über den Gedanken mußte er jedoch lächeln und den Kopf schütteln. Bis auf die Statur und die Haarfarbe hatte dieser junge Mann keine nennenswerte Ähnlichkeit mit dem Elfenfürsten.
 

In dem Moment schaute der junge Mann Michael gerade ins Gesicht und erwiderte das Lächeln kurz, dann wurde er wieder ernst, senkte den Blick und sein Gesicht sah in dem Augenblick aus wie das des Antinoos.
 

Dieser Anblick traf Michael unverhofft wie ein Pfeil ins Herz.
 

Und der moderne Antinoos drehte sich um und durchmaß mit langen Schritten den Handschriftensaal zum Ausgang in Rundgangs-Richtung.
 

Michael versuchte, die sich ihm aufdrängenden Gedanken zu ignorieren und widmete sich den weiteren Vitrinen mit christlichen Handschriften. Schließlich entdeckte er eine angekokelte Bibel, die einzeln lag und seine Aufmerksamkeit wie nichts zuvor fesselte. Sie war aufgeschlagen bei der Genesis und illustriert mit der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies, rechts Adam und Eva mit traurig gesenktem Kopf und auf der linken Seite der Engel mit dem erhobenen Flammenschwert. Doch durch die Illustration der linken Buchseite, durch alle davor liegenden Seiten und den Buchdeckel ging ein Loch von etwa einem Zentimeter Durchmesser, mit dunkel verbrannten Rändern, gerade durch den linken Flügel des Engels, und zwei gezackte Linien liefen ausgehend von oder hinlaufend zu diesem Loch über die Buchseite, hatten die Farbe weggebrannt und so dunkle Narben auf dem rechten Flügel und den Beinen des Engels hinterlassen. Ein Schild neben der Vitrine an der Wand erklärte, was es mit dem Brandloch in der hochgotischen Handschrift auf sich hatte. Während des Jahrhundertunwetters an der Nordseeküste, in der Nacht vom 2. auf den 3. März des Jahres 1948, hatte der Blitz in das Museum eingeschlagen, durch ein offenes Fenster die Vitrine getroffen und durchschlagen - einschließlich des darin liegenden Buches. In jener Nacht hatte der Blitz auch in Hohenheim eingeschlagen, durch den Schädel von Gabriel Drake und durch das Herz von Daniel Dumeloille. Ein eigentümliches Zusammentreffen merkwürdiger Zufälle.
 

* * *
 



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