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Juli 1970

Pathologie eines Philologen
von

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Das Vermächtnis

Cassandra wollte nicht mit auf den Dachboden, um dort nach den Besitztümern des drake'schen Großvaters zu suchen. Sie meinte, sie würde alle wesentlichen Fundstücke wohl vorgeführt bekommen, und Michael versprach, es zu tun.
 

Die Luft unter dem Dach war aufgeheizt von der Sommersonne, die seit Wochen nun jeden Tag auf das mit dunklen Ziegeln gedeckte Dach gebrannt hatte. Michael öffnete die zwei Bodenfenster weit und sorgte so für ein wenig Durchzug. Die Nachmittagsluft war etwas kühler, so daß der Aufenthalt unter dem Dach nicht ganz so unangenehm wurde, wie er befürchtet hatte.
 

Der Schreibtisch von Großvater Drake stand in einer der hinteren Ecken, hinter einer Menge Kartons, die mit alten Akten und sonstigen Papieren gefüllt waren. Ein Karton enthielt sogar Papiere von Großvater Dumeloille, obwohl doch dessen Sohn, Michaels Onkel Marcel, der Haupterbe des Rabbis gewesen war. Unter dem Schreibtisch schließlich stand ein Karton, der offensichtlich Schreibtischinhalt enthielt, denn zuoberst, eingeschlagen in Seidenpapier, lag die Tintenkröte. Unter ein paar Lagen Briefpapier seines Großvaters fand Michael das Tagebuch aus Merburg. Und auch der bemalte Holzkasten, in dem Michael in der anderen Wirklichkeit das Petschaft und den Ring gefunden hatte, war in diesem Karton. Doch darin waren nur ein paar Stangen Siegellack und das Petschaft. Von dem Ring fand er keine Spur.
 

Müßig blätterte Michael daraufhin in dem Tagebuch-Heft, fand den letzten Absatz, doch da stand nichts von dem Ring. Nach den Hochzeitsplänen hatte Michael Drake senior nur notiert:
 

'Heute abend habe ich, nach dem Besuch bei einigen Behörden, um die Formalitäten für die anstehende Hochzeit zu klären, die dunkelhäutige Frau gesehen, die mir im Traum als Dämonin erschien. Sie schaute mich an, von der gegenüberliegenden Straßenseite, und als sich unsere Blicke trafen, erinnerte ich mich an alles.
 

Ich wünschte, es wäre nicht so.[/sI]'
 

So endete dieses Tagebuch. Noch einmal las Michael sich das ganze Heft durch, doch dieser letzte Teil war die einzige Stelle, die sich seiner Erinnerung nach von jenem anderen Tagebuch unterschied. Der Ring wurde mit keiner Silbe erwähnt und in dem Karton fand sich weder von dem Schmuckstück noch von seinem Kasten eine Spur. Aber im ansonsten leeren Schreibtisch fand Michael in der mittleren Schublade überraschend die 'Beschneidung des Salomon'.
 

*
 

Mit dem Bild von Großvater Dumeloille, dem Tagebuch und dem Holzkasten mit dem Petschaft von Michael Drake senior, sowie einem Fotoalbum von Gabriel Drake aus einem anderen Karton, auf das Michael bei einer kurzen Durchsicht gestoßen war, stieg er die Treppe wieder nach unten. Cassandra saß im Garten und fütterte Casus Belli mit Bruchstücken der Kekse, die sie nicht mochte, während sie die schokolierten Kekse aus der Dose selber aß. Sie sah nicht auf, als Michael an den Tisch kam und seine Trophäen vor seiner Muse ausbreitete.
 

"Das ist also das Bild", bemerkte sie nur nach einem flüchtigen Blick auf das kleine barocke Ölbild.
 

Michael setzte sich ihr gegenüber. "Was ist los mit dir? Bist du sauer, weil ich durch die Wand gegangen bin, obwohl ich es nicht hätte tun sollen?"
 

Cassandra sah ihn nun überrascht an. "Nein... aber das Unheil hat begonnen. Ich hatte gehofft, ich hätte mich darüber geirrt."
 

"Was für ein Unheil?" fragte Michael, war versucht, düstere Unkerei mit einem Scherz zu beantworten, aber seine Muse blickte so ernst, daß auch sein Unbehagen wuchs.
 

Cassandra antwortete nicht, sondern preßte die Lippen aufeinander und schüttelte nur den Kopf.
 

"Laß dich durch deinen Namen nicht beunruhigen", neckte Michael sie nun doch. "Willst du meine Familie kennenlernen?" fragte er dann und schlug das Fotoalbum auf.
 

Cassandra schien versöhnt, kam um den Tisch herum und setzte sich auf Michaels Sessellehne, um auch in das Album schauen zu können. Und Michael zeigte ihr das Hochzeitsfoto seiner Großeltern Drake, von einem Merburger Fotografen angefertigt - und Michael Drake senior fehlten hier tatsächlich die beiden letzten Finger seiner verbliebenen Hand. Dann kamen Kinderfotos von seinem Vater, dessen jüngerem Bruder und der nachgeborenen Schwester; die ganze Familie im Garten, zusammen mit den Dumeloilles - den späteren Großeltern mütterlicherseits - im Wintergarten, der durch das Herausnehmen der Glasscheiben zur Laubhütte geworden war. Es hieß, Michael Drake senior hätte dem späteren Rabbi Dumeloille einst das Leben gerettet. Daraus war eine Freundschaft der beiden Familien entstanden, die schließlich in die Hochzeit des drake'schen Erstgeborenen Gabriel mit Louise Dumeloille, der ältesten Tochter des Rabbis, mündete. Und da war auch schon das Hochzeitsfoto seiner Eltern; Klein Michael; dann seine beiden Schwestern Mirjam und Margarete; der Teenager Michael und seine Schwestern mit dem etwa gleichaltrigen Ruben Mandelbaum und dessen Schwester Ruth während einer Rheinfahrt. Die Mandelbaums und die Drakes während der selben Rheinfahrt... das war - angesichts der Beflaggung des Schiffes - wohl anläßlich des 110. Jahrestages der Revolution gewesen. Ruth war für ihn immer wie eine weitere Schwester gewesen, wieso hatte sie sich in ihn verliebt? Wieso hatte er es in seiner eigenen Wirklichkeit nicht gemerkt? Oder hatte er es - aus Protest gegen seine Eltern, die alles schon arrangiert zu haben schienen - nicht merken wollen? Ruths Tod war ein Unheil gewesen, aber dieses Unheil war bereits durchlitten, es begann nicht gerade.
 

Cassandra griff an Michael vorbei und blätterte weiter in dem Album: Michael junior als frischgebackener Unteroffizier des Zweiten Badisch-Oberrheinischen Infantrieregimentes; die Hochzeit mit Anna; das Aufwachsen der Kinder Greta und Andreas, und zuletzt die Bilder von der Feier des 66. Geburtstages seines Vaters. Das war nur wenige Wochen vor Gabriel Drakes plötzlichem Tod im Frühjahr 1948 gewesen. Der Tod des Gatten und des Vaters war für Michaels Mutter ein großes Unheil gewesen, denn Michaels Vater und Großvater Dumeloille waren in der gleichen Nacht gestorben und zudem war Louise bis zu ihrem Tode davon überzeugt gewesen, daß es der Zorn und die Strafe Gottes gewesen war, die Vater und Gatten dahingerafft hatte.
 

Es war ein ebenso vergangenes Unheil wie Ruths Selbstmord, doch auch dieses Unheil war in der anderen Wirklichkeit nicht eingetreten. Hatte auch der Tod seines Vaters und seines Großvaters Dumeloille etwas mit einer Entscheidung Michaels in der Vergangenheit zu tun? Auf die Idee war er bisher noch nie gekommen, aber so abwegig kam ihm der Gedanke nun gar nicht vor. Dabei waren die beiden doch im Garten des Rabbis vom Blitz erschlagen worden.
 

"Hast du dich schon einmal gefragt, was sie in der Nacht im Garten deines Großvaters taten?" fragte Cassandra, als Michael den merkwürdigen Tod von Gabriel Drake und Daniel Dumeloille erwähnte.
 

"Sie haben wohl irgendeinen Geist beschworen", sagte Michael so dahin, weil er sich inzwischen über die abfärbende düstere Stimmung seiner Muse ärgerte, und außerdem war das eine der unheilvollen Andeutungen seiner Mutter gewesen. Tatsächlich hatte sich sein Großvater in seiner Jugend eingehend mit der Kabbala beschäftigt, ebenso wie sein Vater von der abendländischen Tradition der Alchemie und Zauberei fasziniert gewesen war.
 

Cassandra schloß das Fotoalbum und legte es auf den Tisch. "So etwas Ähnliches haben sie tatsächlich versucht. Es hat sie umgebracht... aber das weißt du ja selbst - oder du wirst es wissen."
 

"Willst du nicht endlich mit deinen düsteren Andeutungen aufhören?!" rief Michael jetzt aufgebracht. "Sag, was du sagen willst und laß es dann gut sein!"
 

Cassandra zog sich erschrocken von Michael zurück, als erwarte sie, im nächsten Moment von ihm geschlagen zu werden. "Sei mir nicht böse, aber ich weiß nicht, was passiert ist und noch passieren wird. Ich weiß nur, daß es Unheil barg und birgt... und daß ich dich verlassen muß, bevor es ausbricht, weil du dich verändern wirst." Cassandra wirkte fast schuldbewußt, als sie das sagte, vielleicht auch nur, weil sie Michaels über ihr Zurückweichen verstörten, ja verletzten Gesichtsausdruck bemerkte. Sie hielt seinem Blick nicht lange stand, schaute sich die anderen Dinge an, die Michael vom Dachboden mitgebracht hatte, griff nach dem Tagebuch. "Du hast was auf englisch geschrieben?" fragte sie dann, hoffte offenbar, durch den plötzlichen Themenwechsel Michaels Laune wieder aufzuhellen.
 

"Das habe ich nicht geschrieben", sagte Michael nur.
 

"Aber es ist doch deine Handschrift... oh..." Cassandra verstummte, als sie beim Blättern von hinten nach vorne beim Eintrag auf der Umschlagsinnenseite angelangt war.
 

"Der Inhalt ist fast identisch mit dem Tagebuch, das ich in der anderen Wirklichkeit gefunden habe", erklärte Michael leise. "Nur der Ring wird nicht erwähnt und ich konnte ihn bei den Sachen von Großvater Drake auch nicht finden. In dieser Wirklichkeit muß er verloren gegangen sein... er war hübsch und er gefiel mir", ergänzte Michael noch ein wenig bedauernd.
 

Aber Cassandra schien sichtlich erleichtert, als sie vom Verlust des Ringes hörte. "Ich war vielleicht voreilig, was das Unheil betrifft", sagte sie nun, kam wieder dicht zu Michael, küßte sein Ohrläppchen, dann die Wange, griff nach seiner Rechten - an der der Ring doch so recht am Platze ausgesehen hatte - zog sie an ihre Lippen und küßte jeden Knöchel seiner Hand. "Vergiß, was ich gesagt habe, ich bitte dich!"
 

Michael ließ sich die Liebkosungen seiner hübschen Muse gerne gefallen und erwiderte sie. Und seine düstere Stimmung verflog.
 


 

* * *



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