Kapitel 6 - Kates Brief
Kates Sohn.
Chris´ Sohn.
Nicht seiner.
Er war... Er fühlte sich... Er wusste es nicht.
Er fühlte sich leichter und schwerer zugleich. Da war Erleichterung. Da war Enttäuschung. Da
war Schmerz. „Du und Kate?“
„Um ehrlich zu sein: Ich erinnere mich nicht wirklich an sie.“ Der Bildschirm blinkte und piepte.
Chris warf nur einen kurzen Blick darauf und stand dann auf. „Ich habe einen Brief, den du
lesen solltest. Wenn du mich nun entschuldigst. Da ist ein Wendigo in Center Park.“
Er ließ Spencer allein mit einem Brief und einem piependen Computer.
Der Brief lag offen auf dem Schreibtisch und verlangte Aufmerksamkeit durch drohen, dass es
Wissen enthielt, welches er nicht wissen wollte. Spencer nahm den Brief, stellte den
Computeralarm ab und verließ das Labor.
Wenn er schon etwas lesen würde, das sein Herz in Stück zerbrechen ließe, dann würde er es
an einem Ort tun an dem er sich wohl fühlte. Er kletterte die Stufen hinauf in den ersten Stock.
Er stand auf der Galerie und starrte den Kronleuchter an. Oder besser: Die Halterung. Chris
hatte sie verstärken lassen.
Gut.
Spencer balancierte auf dem Geländer, wägte die Entfernung ab und sprang. Er landete
gekonnt und setzte sich, einen Arm um die Halterung geschlungen.
Lieber Chris,
Du wirst Dich vermutlich nicht an mich erinnern. Es war deine Geburtstagsfeier. Wir waren
beide betrunken. Wir waren beide zu betrunken.
Es war ein Unfall, aber einer der mein Leben bereicherte und der, wie ich hoffe auch deines
bereichern wird.
Ich schreibe dir nun, da ich bald nicht mehr in der Lage sein werde mich um ihn zu kümmern.
Es bricht mir das Herz, aber ich weiß es ist besser so. Ich weiß er wird bei dir sicher sein.
Sein Name ist Andrew Cyn Jackson. Er ist Fünf. Sein Geburtstag ist am 13.November.2005.
Blutgruppe Null Negativ. Ich denke das ist was du brauchst um ihn zu adoptieren. Anbei liegt
ebenfalls meine Erlaubnis für dich diesbezüglich.
Er liebt es zu lesen und zu zeichnen und Geschichten zu erzählen und noch so vieles mehr.
In Dankbarkeit,
Kate Jackson
Okay, das war... Das klang nicht mal annährend wie Kate.
Kate, die jeden Streuner auflesen würde und selbst noch mit Grippe für die streunende Katze
sorgen würde.
Zumindest erklärte der Brief warum sie Chris ausgewählt hatte und nicht ihn. Das klang mehr
nach ihr.
Kate... Was hatte sie nur getan? Er kannte sie seit der zehnten Klasse. Sie hatte ihm Nachhilfe
gegeben, nachdem er wieder am Unterricht teilnahm.
Er musste mit jemandem reden. Irgendjemand. Nein, nicht irgendjemand. Sein Telefon
vibrierte in seiner Tasche. Er wäre vor Erleichterung fast vom Kronleuchter gefallen als er die
Nummer erkannte.
Kopfüber baumelte er in der Luft.
„Nats?“
„Hi, sorry, dass ich mich jetzt erst melde.“ Natalies Stimme war eine Wohltat. Sanft und
angenehm. Warm und mitfühlend. Sie klang nach Heimat, obwohl sie am anderen Ende der
Welt war. „Was gibt´s? Wie geht´s dir?“
Er gab sich keine Mühe irgendetwas schön zu reden. „Chris hat einen Sohn...“
„Er hat mehr als einen“, war ihre Antwort.
Er musste trotz allem lächeln. „Ich meine leiblich.“
„Oh.“
„Kate ist die Mutter.“
„Oh!“
„Er ist fünf Jahre alt.“
„Das...“ Sie wurde kurz stumm und fluchte dann: „Schut, wie geht´s dir?“
„Zu verwirrt.“ Er schüttelte den Kopf, obwohl Nats ihn nicht sehen konnte.
„Verständlich. Wie geht´s Kate?“ Selbstverständlich ging sie davon aus, dass Kate ihn
persönlich vorbeigebracht hatte. „Und wie heißt er denn?“
„Drew. Er war verletzt als ich ihn fand.“
„Katie?“ Die Sorge in ihrer Stimme war echt.
Er schluckte und starrte hinauf zur Decke des zweiten Stocks. „Nicht bei ihm. Nur ein Brief
und... Sie hat ihn allein losgeschickt. Nats, ich weiß nicht was ich tun soll.“
Sie blieb stumm. Sie überlegte und überlegte. „Sei du selbst“, sagte sie schließlich.
„Toller Rat.“ Er fuhr sich durch die Haare.
„Spence...“
„Ich sollte nach Drew sehen. Er hatte Alpträume.“ Er wusste er war unhöflich.
„Mach das. Bis bald. Oh und Spence...“
„Ja?“
„Klettere nicht mehr auf den Kronleuchter, wenn du telefonierst oder unangenehme Sachen
erledigen musst oder der Kleine in der Nähe ist.“
Er unterdrückte ein Lachen. „Ich verspreche nichts was ich nicht halten kann.“
„Ich weiß. Bis bald.“
„Bis bald.“ Er sprang zurück auf die Galerie und schaute ein Stockwerk höher nach Drew. Auf
dem Weg rief er Justice an und delegierte ihr nach dem Monster zu suchen, dass die Teenager
so erschreckt und vermutlich Drew die Wunde zugefügt hatte.
Er trat durch die Tür.
Das Zimmer war ein heilloses Durcheinander. Der Teppich lag halb verkehrt herum, Decke und
Kissen lagen im Raum verstreut, die Lampe lag neben dem Schreibtisch, der Stuhl war
umgekippt und Papier lag überall herum, sowie Stifte.
Das Fenster stand offen, die Vorhänge ballten sich im Wind und das Bett war leer.
„Drew?“ Die Badezimmertür stand offen. Es war leer. „Drew?“ fragte er nochmal.
Wo war der Junge?
Wo?
Vielleicht...
Er lief zum Fenster. Von hier aus könnte er auf die Terrasse geklettert sein oder noch höher
auf das Dach.
„Wonach suchst du?“, erklang eine Stimme hinter ihm. Drew stand vor ihm mit verquollenen
Augen und schniefte. Er hatte geweint.
„Nach dir.“ Der Junge hatte geweint. „Tut mir leid, ich musste mit Chris ein paar... Sachen
besprechen.“
Keine Reaktion. Spencer schaute auf die Uhr. Es war vier Uhr morgens. „Weißt du... Magst du
was frühstücken?“
Der Junge Antwortete nicht.
„Ich bin übrigens Spencer. Wir haben uns noch gar nicht richtig einander vorgestellt.“
Drew blinkte.
„Du heißt Drew, richtig?“
Er legte den Kopf schief.
„Schöner Name.“ Langsam geriet er ins schwitzen
„Wo ist meine Mom?“
„Wie?“
„Meine Mom.“ Der Junge ballte die Fäuste und presste die Lippen zusammen. „Hier ist die
letzte Station. Sie müsste hier sein.“
´Ich werde bald nicht mehr in der Lage sein mich um ihn zu kümmern.´
„Ich... Sie kommt bestimmt bald. Komm ich mache dir ein paar Eierkuchen.“ Er legte Drew
einen Arm um die Schulter und bugsierte ihn aus dem Zimmer.