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Wetten, dass ...?

von

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#6

Etwas außerhalb war eine ziemliche Untertreibung, denn ihr Ziel hatten sie erst nach über einer Stunde Fahrt erreicht. Kaoru wusste nicht, was er von dem gigantischen Gebäude halten sollte, das ihn von außen an eine Fabrikanlage erinnerte, aber Die würde schon wissen, was er tat.

 

„Da sind wir“, verkündete sein Freund keine Minute später, parkte unweit des Gebäudes und schaltete den Motor ab. Kaoru verkniff sich einen Kommentar und folgte stattdessen einer Familie mit Blicken, die soeben im Inneren des Kolosses verschwanden. Auf einem großen Schild über den automatischen Schiebetüren des Eingangsbereichs stand in grellblauen Lettern der Name des weitläufigen Areals geschrieben, von dem er noch nie etwas gehört hatte. Die schien seine Skepsis vorausgeahnt zu haben, denn bevor er etwas sagen konnte, landete ein dünner Flyer in seinem Schoß.

„Den kannst du dir auf dem Weg zu den Kassen schon mal durchlesen“, erklärte er, schnallte sich ab und stieg aus dem Wagen, sodass Kaoru nichts anderes übrig blieb, als ihm zu folgen.

 

Das Winter Wonderland versprach Schneespaß für die ganze Familie. Skifahren, Schlittschuhlaufen, Rodeln, Schneeschuhwanderungen und sogar das Besteigen eines künstlichen Gletschers waren möglich. Alles überdacht und in klimatisch perfekt regulierter Umgebung. Wenn er den Flyer eben richtig gelesen hatte, waren die eisigen Aktivitäten nicht einmal auf den Winter beschränkt, sondern wurden ganzjährig angeboten. Er war sich nicht sicher, was er davon halten sollte, denn die Vorstellung, bei über dreißig Grad Außentemperatur und hoher Luftfeuchtigkeit den Tag plötzlich bei Minusgraden zu verbringen, klang nicht sonderlich erstrebenswert.

Den technischen Aufwand ließen sich die Betreiber einiges Kosten, doch trotz seiner mehrmaligen Proteste hatte Die darauf bestanden, ihn einzuladen. Kaoru machte sich eine mentale Notiz, sich bei Gelegenheit zu revanchieren.

 

Die kalte Luft schlug ihnen sogleich entgegen, als sie die Schleuse hinter sich ließen und das Wunderland betraten. Kaoru hörte Kinder fröhlich kreischen, Erwachsene gelöst miteinander plaudern und das unterschwellige Rauschen der Kühlanlage, die ihre Umgebung tatsächlich in winterliches Weiß tauchte. Spätestens jetzt war er heilfroh, auf Die gehört und sich sehr warm angezogen zu haben. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn eine Attraktion wie diese unangenehm überlaufen gewesen wäre, aber Die schien den perfekten Zeitpunkt abgepasst zu haben. Interessiert sah er sich um, entdeckte Skifahrer, die eine recht steile Abfahrt hinunterbretterten und zwischen ihnen sogar den ein oder anderen Snowboarder.

Auf der zugefrorenen Oberfläche eines künstlich angelegten Sees drehten Schlittschuhfahrer ihre Kreise und um ihn herum hatten drei Langläufer älteren Semesters die Loipe für sich auserkoren.

 

„Der Wahnsinn“, murmelte er, vollkommen überrascht von der schieren Größe der Anlage.

 

„Oder?“ Die grinste offenkundig sehr stolz auf sich und seine Idee. „Das Wunderland ist toll, ich bin so froh, dass es endlich wieder ohne jegliche Einschränkungen geöffnet hat.“

 

„Das glaub ich dir. Ich muss ungelogen zugeben, dass ich mit vielem gerechnet habe, aber mit dem hier sicher nicht.“

 

„Es gefällt dir also? Punkt für mich, Strike!“

 

„Gewöhn dich nicht dran.“

 

„Das kann und werde ich nicht versprechen.“

 

„Aber mal im Ernst, wirklich weihnachtlich ist es hier nicht, bist du dir sicher, dass du deine Wette nicht etwas aus den Augen verloren hast?“

 

„Zieh mal lieber keine voreiligen Schlüsse, du hast noch nicht alles gesehen.“

Oje, er kannte den Ausdruck, der gerade über Dies Gesicht huschte. Wenn sein Freund bis eben noch nicht hundertprozentig investiert in sein Vorhaben gewesen war, ihm Weihnachten schmackhaft zu machen, war er es spätestens jetzt. Mist, er sollte wirklich aufhören, seine eigenen Gewinnchancen zu sabotieren … wenn da nur nicht dieses Funkeln in Dies Augen wäre, das er so gerne sah.

„Kannst du Skifahren?“ Die Frage riss ihn aus seinen Überlegungen und erst jetzt bemerkte er, dass sie vor einer großen Hütte aus massiven Holzstämmen angekommen waren, wo sie sich mit allerlei nötigen und unnötigen Dingen ausrüsten konnten.

 

„Können ist übertrieben, ich bin als Kind und Jugendlicher ab und an mit meinen Eltern in den Bergen gewesen und hab auch den ein oder anderen Skikurs gemacht, aber ob davon noch was hängen geblieben ist, ist fraglich.“ Kaoru hielt Die die Tür zur Hütte auf, aus der ihnen herrlich warme und nach würzigem Punsch duftende Luft entgegenkam.

 

„Willst du es versuchen oder tasten wir uns langsam ran.“

 

„Langsam im Sinne von?“

 

„Wir könnten uns auf die Loipe wagen. Langlauf ist zwar auch anstrengend, aber bei Weitem nicht so anspruchsvoll wie Abfahrtski.“

Vor Kaorus geistiges Auge schob sich das Bild der drei rüstigen Rentner, die er eben auf ihren Langlaufskiern um den See hatte rutschen sehen, und sein nettes Gehirn fügte Die und ihn sogleich in diese idyllische Szenerie mit ein. Himmel, nein, er war zwar alt, aber nicht so alt.

‚Midlife-Crisis‘, trällerte eine fröhliche Stimme in seinen Gedanken, die erschreckende Ähnlichkeit mit Toshiyas aufwies.

Kaoru verzog das Gesicht und im gleichen Moment hob Die beschwichtigend beide Hände.

„Schon gut, schon gut, friss mich nicht. Langlauf ist also gestrichen. Wie sieht es mit einer kleinen Schneeschuhwanderung aus? Das Gelände hier ist weitläufiger, als es auf den ersten Blick aussieht.“

 

Noch weitläufiger? Kaoru konnte die Proportionen des Gebäudes von außen jetzt schon nicht mehr mit den Dimensionen im Inneren in Einklang bringen. Er trat einen Schritt auf die Seite und zog Die am Ärmel mit sich, um eine Familie mit zwei sehr aufgeregten Kindern vorzulassen.

„Mh …“ überlegend rieb er sich übers Kinn, schüttelte dann aber den Kopf. „Nein, wenn wir jetzt schon hier sind, will ich es versuchen. Früher fand ich Abfahrtski super, vielleicht bin ich ja gar nicht so eingerostet.“

 

„Das ist die richtige Einstellung.“

 

Die drückte seine Schulter und schenkte ihm ein rundum zufriedenes Lächeln, das Wärme durch seinen ganzen Körper schickte. Warum war er noch gleich so dick angezogen? Ach ja, weil er sich in wenigen Minuten in den Schnee stürzen würde und das alles nur, um seinem Freund nicht die Genugtuung zu geben, ihre Wette zu gewinnen. Schließlich würde es einer Kapitulation gleichkommen, wenn er sich weigerte, bei Dies Plänen mitzuspielen. Er musste ja keinen Spaß dabei haben und sich auch nicht so eigenartig wohl fühlen, nur weil er den anderen damit glücklich zu machen schien.

‚Ja ja, red dir das nur ein‘

Und er sollte damit aufhören, seine innere Stimme wie Toshiya klingen zu lassen – das war dezent irritierend.

 

„Hey, Kaoru, kommst du?“

 

Die winkte ihm, als stünden sie nicht in einer überschaubar großen Hütte sondern wären Kilometer voneinander entfernt. Ein kleiner Teil in Kaoru, den er als seinen Überlebensinstinkt identifizierte, wünschte sich, es wäre so. Der weitaus größere Teil jedoch war nicht in der Lage, seinem Freund etwas abzuschlagen, und ergab sich mit wehenden Fahnen seinem Schicksal.

 

„Komme schon.“



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