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Von Wölfen und Menschen

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Ein Angebot, das man nicht ablehnen kann

1. Oktober 2015, Flughafen Berlin-Tegel

 

Janko bestieg die erste Klasse des Direktfluges von Berlin nach Japan. Sein Handgepäck hatte er sicher über seinem Platz verstaut, als er sich in seinem Sitz ausbreitete. Ein kleines Grinsen huschte in sein Gesicht. „Das ist das Schöne an der Arbeit bei NERV: Business-Class!“, dachte er, als er merkte, wieviel Beinfreiheit er hier hatte. Und die war bei mehr als neun Stunden Flugzeit auch bitter nötig, fand er.

 

David und Ben hatten separate Flüge genommen, gestern sowie vorgestern. Es war von allen Beteiligten als sinnvoll erachtet worden, nicht zusammen in Japan aufzutauchen. Je unauffälliger sie sich verhielten, desto besser. Janko schlug nach dem Start der Maschine die Dokumentenmappe auf, die Thaddäus ihm mitgegeben hatte. Der Fingerabdrucksensor piepte leise, als er das Schloss des Ordners entriegelte. „GEHEIM! NUR FÜR IHRE AUGEN BESTIMMT!“ prangte in roter Stempelschrift auf den Dokumenten. Woher kamen diese Unterlagen? Er bezweifelte, dass das NERV-Hauptquartier sie einfach so einer anderen Niederlassung zur Verfügung stellte. Hatte K2 mal wieder tief gegraben und einige seiner Gefallen eingefordert? Eigentlich wollte er es gar nicht so genau wissen, beschloss er. 

 

Janko blätterte durch die Unterlagen. Die ausgedruckten, psychologischen Profile der Children machten den größten Teil der Papiere aus. Er starrte auf das Passfoto von Rei Ayanami, das an das entsprechende Profil geheftet war. Zugegeben, diese Art von Bildern war nicht gerade für ihre Natürlichkeit und Kreativität bekannt, aber er empfand ein seltsames Gefühl der Taubheit, als er es betrachtete. Es ging eine bleierne Schwere davon aus, die er nicht wirklich greifen konnte. Die blauen Haare und roten Augen waren sehr markant, aber sie passten irgendwie nicht zu dieser … Stille … die das Foto ausstrahlte.

 

„Wer bist du, Rei Ayanami?“, dachte er, als er den Ordner wieder zuklappte. Er würde später weiterlesen. Nachdem er sich nach dem Start der Maschine, ganz klassisch, einen Tomatensaft bestellt hatte, schaute er aus dem Fenster und sah langsam die Ausläufer Berlins in der Ferne verschwinden.

 

„Wir sind also die Vorhut.“, sinnierte er. „Nach mehr als drei Jahren dann jetzt mal wieder ein Auslandseinsatz. Hoffentlich läuft dieser besser als die Letzten...“ Er setzte die Kopfhörer seines Music Players auf und dachte an die Ereignisse zurück, die ihn, David und Ben als Team zusammengeschweißt hatten.

 

***

 

14. Januar 2012, etwas mehr als elf Jahre nach dem Second Impact, Alice Springs, Australien

 

Die Hitze war das Schlimmste gewesen. Sergeant Janko Freytag patrouillierte mit seinen zwei Begleitern durch die Ausläufer der kleinen, einst stolzen Stadt Alice Springs, im Herzen Australiens. Er war angespannt, umklammerte den Griff seines Sturmgewehrs mit mehr Druck als notwendig. Die Sonne brannte mit unveränderter Intensität auf seinen Nacken, während sich seine Füße im staubtrockenen Wüstenboden vorwärtsbewegten. Er blickte auf das provisorische Flüchtlingslager vor sich. Australien war während des Second Impact übel mitgespielt worden. Nachdem die Flutwellen die Küstenstädte vollständig eingeebnet hatten, waren die Überlebenden panisch ins Landesinnere geflohen. Als der große Regen einsetzte und die eigentlich ruhigen Flüsse in rauschende Ströme verwandelte, spitzte sich die Lage erneut zu. Aber irgendwann ließ der Regen nach. Und nach 2003 kam dann die Hitze, mit unvorstellbarer Grausamkeit. Das wenige verbliebene Vieh verendete auf den Weiden, Hunger und Seuchen breiteten sich aus. Die Vereinten Nationen hatten in den Jahren danach mehrere „Hilfsmissionen“ gestartet, um die verbliebenen Menschen in Australien zu halten. Niemand wollte noch mehr Flüchtlinge in diesen chaotischen Zeiten umherwandern sehen, die Konflikte zwischen den Staaten genau deswegen waren noch zu frisch. Und er, Janko Freytag, hatte sich, mangels Alternativen in dieser wirtschaftlich kollabierten Welt nach dem Second Impact, 2005 bei der UN eingeschrieben. Seitdem war er also Teil der sogenannten Friedenstruppen, die nach dem Kollaps verschiedener Staaten auf der Welt für etwas Recht und Ordnung sorgen sollten. Friedenstruppen war dabei mehr als nur ein kleiner Euphemismus. Für viele Einwohner waren sie eine Besatzungsmacht, das hatte er in den Jahren bitter feststellen müssen. Invasoren, die sich aufschwangen, den noch übrigen Einwohnern ganzer Landstriche vorzuschreiben, wie sie sich zu verhalten hatten. Gefängnisaufseher, die sie am Wegziehen hindern sollten. Nahezu kein Land der Erde war nach dem Chaos der Migrationsbewegungen nach dem Second Impact mehr bereit, Flüchtlinge anderer Staaten aufzunehmen.

 

„Hätte ich vorher gewusst, dass man mich in diesem Höllenloch stationieren würde, wäre ich Bürohengst geworden, nicht Soldat“, dachte er, als er in eine der Straßen einbog, die die Stadt mit dem Sitz der UN-Streitkräfte in der Region verband. Seine zwei Begleiter fluchten ebenfalls leise vor sich hin.

 

„Hey Sergeant, mir gefällt die Atmosphäre hier ganz und gar nicht“, vermeldete der rundlichere der zwei anderen Soldaten. Schweißperlen liefen über seine Stirn, als er mit zusammengekniffenen Augen das Treiben um sie herum musterte. „Ich bin zwar erst vor kurzem hier angekommen. Aber auch mir ist nicht entgangen, dass auf jedem Friedhof ne ausgelassenere Stimmung herrscht.“ Er spuckte in den Sand. „Was bin ich doch für ein Trottel… ‚David, geh doch zu den Vereinten Nationen!‘, haben sie gesagt. ,Da machst du was Sinnvolles und lernst die Welt kennen!‘, haben sie gesagt.“

 

Corporal David Reimann, gleicher Jahrgang wie er und im ersten Auslandseinsatz. Der Kerl hatte zwar ein vorlautes Mundwerk, aber wenn’s drauf ankam, hatte sich Janko auf ihn verlassen können. Die Patrouille ins Outback letzte Woche wäre ohne sein schnelles Handeln mit Sicherheit in einem Desaster geendet. Janko fragte sich bis heute, wie der Corporal die vergrabene Mine mit bloßem Auge hatte erkennen können, über die sie beinahe gefahren wären. Nur sein beherzter Griff ins Lenkrad hatte Schlimmeres verhindert. Danach hatte sich Janko dafür eingesetzt, dass er fest seinem Trupp zugeteilt wurde.

 

Von seiner anderen Begleitung konnte er sich noch kein genaues Bild machen. Private Ben Jessel war ihm gestern an die Seite gestellt worden, um die Verständigungsprobleme untereinander möglichst gering zu halten. In dieser multinationalen Truppe, die die Vereinten Nationen stellten, bildeten die drei nun einen rein deutschsprachigen Aufklärungstrupp. Der Kerl wirkte wie ein Ruhepol inmitten als dieses Chaos. Selten war auch nur eine Regung in seinem Gesicht zu erkennen. Die wachen Augen sondierten unablässig die Gegend.

 

„Bewegung auf neun Uhr“, meldete Private Jessel. Hinter seiner getönten Brille musterte er die Gruppen von Menschen, die sich hier um den provisorischen Markt zwischen den Zelten drückten. Eine größere Menge ziemlich zerlumpter Gestalten hatte sich plötzlich in Bewegung gesetzt. Einige von ihnen trugen Stangen und andere lange Gegenstände in den Händen. Die Gruppe zog vorüber, nicht ohne die drei Soldaten mit unverhohlener Verachtung zu mustern. „Vielleicht sollten wir weitergeh’n, Sarge… Hier liegt was in der Luft.“

 

„Einverstanden, rücken wir ab“, antwortete Janko.

 

Die drei Soldaten verließen den Markt und zogen durch einige kleinere, weniger gut besuchte Seitenstraßen. Dieses Viertel war auch schon vor dem Second Impact in keinem guten Zustand gewesen, jetzt allerdings waren sie umgeben von jeder Menge heruntergekommener Gebäude. Um jedes größere Haus, das noch stand, hatten sich kleine Ansammlungen von Zelten gebildet, die versuchten, wenigstens etwas kühlenden Schatten abzukriegen.

 

„Bin mal gespannt, wann sie uns als Eskorte nach Darwin abordnen“, sagte Private Jessel. „Gegen ein bisschen Meeresluft hätte ich nichts einzuwenden. Ich hab‘ heute Morgen erfahren, dass schon wieder zwei Hilfskonvois im Outback abgefangen wurden.“

 

„Was haben die denn erwartet?“, fragte Corporal Reimann. „In diesen Zeiten kann man keine Wagenladungen von Nahrungsmitteln auf LKWs packen, durch die verdammte Wüste fahren und dann auch noch erwarten, dass das gesamte Zeug unbehelligt am Zielort ankommt. Wenn ich Warlord wäre, würd‘ ich ebenfalls auf so ne Gelegenheit warten.“

 

Das Funkgerät krächzte. „Achtung, an alle Einheiten! Ein Mob sammelt sich vor den Toren des Stützpunktes. Erbitten sofortige Unterstützung, die Situation gerät außer Kontrolle!“

 

„Scheiße!“, fluchte Janko, als er losspurtete. „Das war ja zu erwarten gewesen!“ Es rumorte bereits länger unter den Menschen der Stadt. Die UN hingegen war hier verhältnismäßig gut versorgt, da ihre eigenen Vorräte von mehreren Transportmaschinen aus der Luft eingeflogen worden waren. Das war auch den Menschen außerhalb des Stützpunktes nicht entgangen.

 

Jankos Trupp erreichte die Anlage wenige Minuten später. Mehrere Humvees hatten links und rechts des großen Eingangstores Position bezogen, die aufmontierten Maschinengewehre im Anschlag. Eine große Gruppe von Menschen hatte sich in einiger Entfernung versammelt. Sie schrien und gestikulierten in Richtung der Truppen. Ungefähr fünfzehn Soldaten waren aufmarschiert, aufgestellt hinter einem Sprecher mit einem Megaphon. Schnaufend kamen die drei Patroulliengänger zum Stehen.

 

„Bitte bewahren Sie Ruhe!“, schallte es aus dem Lautsprecher zu der Gruppe Demonstranten herüber. „Ihre Situation ist uns bekannt und wir haben Ihre Forderungen vernommen. Wir werden mit unseren Vorgesetzten die Situation besprechen!“ Der Soldat mit dem Megaphon drehte sich zu Janko um, als dieser auf ihn zuging. „Wir haben bereits nach dem Captain geschickt.“ Er musste sich reflexartig ducken, als mehrere Steine an einem der Humvees neben ihm einschlugen. Janko nahm das Megaphon.

 

„Wir wissen um Ihre Lage, bitte beruhigen Sie sich!“, versuchte Janko es ebenfalls. Adrenalin flutete seinen Körper, als er sah, wie mehrere Soldaten ihre Waffen durchluden und entsicherten. „Hey, nicht anlegen!“, rief er ihnen zu. Dann begann er durch das Megaphon zu improvisieren: „Die ersten Rationen werden soeben verladen. Wir werden Sie mit Teilen unserer eigenen Vorräte versorgen, soweit wir das …“

 

„Was reden Sie da für einen Scheiß, Soldat!?“, erschall es auf einmal hinter ihm. Captain Richmond, leitender Offizier der Anlage, trat aus dem Tor. „Sie sind weder befugt noch befähigt, hier in irgendeiner Form die Verhandlungen zu übernehmen!“ Er entriss Janko das Megaphon.

 

„Aber Sir, irgendwie müssen wir die Lage beruhigen. Es war absehbar, dass das passieren wird. Diese Menschen haben vermutlich seit Tagen nichts gegessen!“ Ein weiterer Stein krachte in eine der Autoscheiben. Glas splitterte und Janko riss die Arme hoch.

 

Corporal David Reimann ergriff nun das Wort: „Captain, das gibt hier ein Blutbad, wenn wir nichts unternehmen. Diese Leute haben nichts zu verlieren. Die wissen um die Nahrungsvorräte, die die UN hier abgeladen hat.“

 

„Das gibt diesen Leuten dennoch nicht das Recht, einen Stützpunkt der Vereinten Nationen anzugreifen! Die Bereitstellung von Lebensmitteln liegt auch nicht in unserer Zuständigkeit! Wir sind hier zur Durchsetzung von Ruhe und Ordnung!“, brüllte Richmond zurück. Sein sonnenverbranntes Gesicht färbte sich noch rötlicher.

 

„Die greifen keinen Stützpunkt an, die kämpfen um ihr Leben“, antwortete Janko. „Diese Leute haben nichts mehr zu verlieren! Wenn wir sie nicht mit unseren eigenen Vorräten mitversorgen, gehen die hier draußen zugrunde!“ Janko hatte in den letzten Jahren zu viele Dörfer gesehen, in denen Berge von Verhungerten in Massengräbern verscharrt worden waren. Das Kompetenzgerangel der verschiedenen Organisationen und Abteilungen hatte ihn schon immer angewidert. „Dieses Mal nicht!“, dachte er bei sich.

 

„Das sind Güter für Notfälle und militärische Maßnahmen! Ich bin nicht hier rausgekommen, um mit Ihnen zu diskutieren, Sergeant!“

 

„Aber das hier ist ein Notfall!“ Private Jessel hatte seine Stimme nach dem Spurt ebenfalls wiedergefunden. „Was denn für Maßnahmen?! Wir sind hier in einem scheiß Niemandsland! Wir sind eine Hilfsmission! Ich habe mich jedenfalls nicht zum Dienst bei der UN gemeldet, um Gewehre auf hungernde Menschen zu richten!“

 

„Sie haben nicht darüber zu entscheiden, wohin Sie ihr Gewehr richten, Soldat! Zurück auf Ihren Posten!“ Richmonds Gesichtsfarbe wechselte langsam von Rot zu Lila.

 

Der Private gab sich unbeeindruckt. Seine Stimme wurde schneidend, blieb aber ruhig. „Wir haben hier gerade einmal 80 Soldaten und Vorräte für mehrere Monate. Hinzu kommt die Möglichkeit, Nachschub aus der Luft anzufordern, wenn’s knapp wird. Wir können diese Menschen bis zur nächsten LKW-Lieferung mitversorgen! Wir können …“ Weiter kam er nicht. Ein einzelner Mann hatte sich aus der Gruppe der Protestierenden gelöst und rannte nach vorne, auf die Humvees zu. Richmond zögerte keine Sekunde. Er zog seine Pistole und gab einen Schuss ab. Der Mann stolperte und fiel in den Wüstensand. Seine Schreie halten über die Ebene, während er versuchte, das ausströmende Blut aus seinem Oberschenkel mit seinen bloßen Händen zu stoppen. „Bastard! Mörder!“, schallte es aus der Gruppe herüber, als weitere Menschen vorpreschten, um den Getroffenen zu sich zu ziehen. Eine weitere Ladung Geschosse prasselte auf die Humvees nieder. Mehrere Soldaten schossen einige Salven über die Köpfe der Steinewerfer hinweg.

 

Vor Jankos Augen spielte sich die Szene wie in Zeitlupe ab. In der Rückschau konnte er bis heute nicht genau sagen, was ihn zu den nächsten Schritten bewogen hatte. Richmond war ein bürokratischer Drecksack, aber ganz Unrecht hatte er nicht. Nichtregierungsorganisationen kümmerten sich um die Verteilung der Lebensmittel, nicht der militärische Zweig der UN. Aber konnten sie diese Menschen im Stich lassen? Besagte nicht das UN-Mandat, durch das sie beauftragt worden waren, dass die Durchsetzung von friedensstiftenden Anweisungen nur in enger Begleitung von Versorgungsmaßnahmen durchzuführen war? Sein Bauchgefühl übernahm ab hier.

 

„Ach scheiß drauf, wenn ich mir schon wieder die Finger schmutzig machen muss, dann wenigstens einmal für die richtige Sache!“, dachte er bei sich.

 

Unmittelbar darauf war seine Waffe auch schon angehoben. Er entsicherte das Sturmgewehr und zielte auf Captain Richmonds Kopf. Dessen Augen verengten sich zu Schlitzen. „Sind Sie wahnsinnig, Soldat? Sie bedrohen einen Captain der UN?!“

 

„Sir, ich fordere Sie hiermit auf, Ihre Pistole wegzulegen! Diese Menschen sind nicht unsere Feinde, die Soldaten Reimann und Jessel haben Recht. Wir können, und wir werden, diese Menschen bis zur Ankunft des nächsten Konvois mitversorgen!“ Er schrie beinahe. Seine Handflächen waren feucht und sein Herz schlug ihm bis zum Hals.

 

„Insubordination!“, rief Richmond. „Lieutenant Spikes, nehmen Sie diese Männer fest!“

 

„Lieutenant Spikes, wo…?“ Die Frage erstarb in Jankos Mund. Der Gewehrkolben, der ihn in der gleichen Sekunde mit voller Wucht im Nacken traf, ließ die Welt um ihn herum schwarz werden. Als er mit dem Kopf auf dem Wüstenboden aufschlug, hatte er das Bewusstsein bereits verloren.

 

***

 

Janko erwachte in einem staubigen, halbdunklen Raum. Der pochende Schmerz, der seinen Rücken und seinen Kopf durchbohrte, rief ihm augenblicklich die letzten Momente vor seinem unfreiwilligen Nickerchen wieder in Erinnerung. Er saß auf einem Stuhl, die Hände hinter seinem Rücken mit Handschellen gefesselt. Im Zwielicht konnte er zwei weitere Insassen erkennen, mit der gleichen Körperhaltung.

 

„Sieh an, der Sarge is‘ wieder unter‘n Lebenden…“ Davids Stimme klang leicht undeutlich. Die wenigen Lichtstrahlen, die durch das vergitterte Fenster und die Vorhänge in den Raum fielen, ließen Janko die Prellungen und Verfärbungen im Gesicht des Corporals erahnen. „Die haben uns ganz gut‘n paar mitgegeben…“ Er hustete laut und spuckte eine Ladung Speichel und Blut auf den Fußboden.

 

„Is‘ ja auch keine Kaffeefahrt hier“, meldete sich Ben zu Wort. Er versuchte auf dem Stuhl eine bequemere Haltung zu finden, aber seine Füße waren ebenfalls an den Stuhlbeinen gefesselt.

 

„Und nun?“, fragte Janko. „Da haben wir uns wohl in eine schöne Scheiße manövriert.“

 

„Ah, ich wünschte, ich hätte Richmond noch eine mitgeben können“, antwortete David. Er wippte leicht zurück und ließ den Kopf nach hinten hängen, während er an die Decke starrte. „Verdient hätte der Bastard es allemal…“

 

Mit einem Mal wurde die Eingangstür aufgestoßen. Ein unbekannter Mann in Zivilkleidung betrat den Raum. Janko musste unweigerlich die Augen zusammenkneifen, als das helle Licht das Zimmer erleuchtete. Der Mann trug einen Aktenkoffer in der einen sowie einen weiteren Stuhl in der anderen Hand. Als er beides in einiger Entfernung zu den Dreien abgestellt hatte, schaltete er das Licht ein und schloss die Tür.

 

„Guten Tag, die Herren“, sagte er und nahm langsam Platz. Er musterte die gefesselten Soldaten und konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen.

 

Janko wunderte sich, dass ein Zivilist das Erstgespräch nach dem Vorfall führen sollte.

 

Der Mann lehnte sich zurück und rückte seine Vollrandbrille zurecht. Mit seinen kurz geschorenen Haaren und dem Vollbart musterte er die Soldaten. Er wirkte nur unwesentlich älter als die Gefangenen. „Meine Herren, mein Name ist Dr. Thaddäus Weber. Es freut mich, Sie kennenzulernen.“

 

David ergriff zuerst das Wort. „Hey Doc, was wird das hier? Kriegen wir jetzt unser militärgerichtliches Verfahren? Oder kann ich bei Ihnen direkt die Henkersmahlzeit bestellen? Wenn dem so ist, hätt‘ ich gerne ne Pizza...“

 

„Meine Herren, die gegen Sie erhobenen Vorwürfe sind Ihnen sicherlich bekannt. Die von ihnen begangene Insubordination beinhaltet Befehlsverweigerung, Aufwiegelung und die Bedrohung eines Offiziers mit einer Waffe in einem schweren Fall und unter Verkennung einer gefährlichen Gesamtsituation.“

 

„… belegt mit Salami und Paprika…“

 

„Sie scheinen den Ernst der Lage nicht ganz zu begreifen, Corporal Reimann. In Anbetracht der Ausnahmesituation, der sich die UN hier auf dem australischen Kontinent und weltweit immer noch gegenübersieht, wird gerade darüber beraten, ein kurzes standgerichtliches Verfahren einzuleiten, an dessen Ende möglichweise ihre standrechtliche Erschießung steht.“

 

„… und Pilzen …“

 

„JETZT HALTEN SIE DOCH MAL DIE KLAPPE!“ Dr. Weber hob seinen Aktenkoffer hoch und öffnete den Verschluss. Er holte eine Ladung Papier und einen kleinen Schlüsselbund heraus. Mit leiserer Stimme fuhr er fort. „Haben Sie schon einmal etwas von einer Organisation namens NERV gehört?“

 

Die Soldaten zuckten mit den Schultern.

 

„Ich kann Ihnen hier und heute einen Ausweg aus dem von Ihnen angerichteten Schlamassel bieten.“

 

Janko beugte sich leicht nach vorn. Jedenfalls soweit es die Handschellen zuließen. „Ich bin ganz Ohr…“

 

„Nach der Durchsicht ihrer Personalakten und unter Einbeziehung des heutigen Vorfalls sind Sie genau die Art von Menschen, die wir für die vor uns liegende Aufgabe gebrauchen können.“

 

Ungläubiges Schweigen erfüllte den Raum. Ben war der erste, der die Fassung wiederfand. „Was soll das denn heißen? Wie lautet ihre Aufgabe?“

 

Dr. Weber schmunzelte. Er hielt immer noch den Stapel Papier in den Händen. „Die Rettung der Menschheit vor der totalen Vernichtung. Nicht mehr und nicht weniger.“

 

Ein verächtliches Schnauben entwich Janko. „Wollen Sie mich verarschen? Warum wir?“

 

Der Fremde stand auf und trat hinter die drei Männer. In wenigen Augenblicken hatte er die Handschellen gelöst. Während sich die überraschten Soldaten noch die Handgelenke rieben, fuhr der Mann in den beigen Klamotten fort. „Unsere Organisation wurde gegründet, weil die Menschheit einer beispiellosen Gefahr ausgesetzt ist. Es arbeiten bei NERV Menschen aus unterschiedlichsten Teilen der Welt. Für die besondere Aufgabe, die uns bevorsteht, brauchen wir noch Personal, das nicht ganz den üblichen militärischen Karriereweg hinter sich hat. Wir brauchen Menschen, die … naja … einen eigenen moralischen Kompass haben. Menschen, die ihrem Bauchgefühl und ihren Instinkten folgen, auch wenn das bedeutet, Vorschriften und Regeln gelegentlich umzudeuten oder zu brechen.“ Ein spitzbübisches, amüsiertes Lächeln strich über sein Gesicht, als er in die ungläubigen Gesichter blickte. „Neben unseren Fähigkeiten sind es vor allem unsere Entscheidungen, die uns definieren. Die uns zu dem machen, was wir sind. Zum Guten oder zum Schlechten. Lesen Sie sich die Unterlagen gut durch, die ich Ihnen jetzt geben werde. Lassen Sie mich ehrlich sein: Ich kann nicht versprechen, dass Sie körperlich und seelisch gesund aus den Einsätzen zurückkehren werden, in die wir Sie schicken werden. Himmel, ich kann Ihnen nicht einmal versprechen, dass Sie die nächsten zwölf Monate überleben werden. Aber bei dem, was Sie hier heute versucht haben, scheint es um Ihre geistige Gesundheit eh nicht besonders gut bestellt zu sein.“ Er liebte es, kleine Beleidigungen in wohlmeinenden Worten zu verstecken. Er drückte den Soldaten jeweils einen Stapel Papier in die Hand. „In einer Stunde werde ich wiederkommen und mir Ihre Entscheidung anhören.“ Mit diesen Worten ging er zur Tür und öffnete sie.

 

Ein kurzer Moment des Schweigens setzte ein, während die anderen immer noch ungläubig die Dokumente in ihren Händen betrachteten. Die Tür schloss sich mit einem leisen Quietschen.

 

„… und Schinken!“



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