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Memento defuncti - Ein Requiem zu früh

von

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Stand by me

Die Schlacht um Ente Isla entschied sich nun innerhalb weniger Tage ohne dass Lucifer in seinem Kellerversteck etwas davon mitbekam. Die Truppen der äußeren Inseln hatten sich sammeln können und griffen gemeinsam die Hauptinsel an, sobald Alsiel gänzlich aus dem Osten vertrieben war. Es stand: Die Bevölkerung von vier Inseln gegen Maou und Alsiel mit einer Hand voll übrig gebliebener Dämonen. Letztendlich gaben die Magienutzer der Kirche den Ausschlag. Maou wurde bis in seinen Palast hinein zurückgedrängt. Dort stellte ihn die legendäre Heldin. Alsiel versuchte seinen König mit allen Mitteln zu verteidigen, doch schließlich flüchteten die beiden mit einer letzten Drohung Maous durch ein Portal. Die legendäre Heldin setzte ihnen mit einem beherzten Sprung nach. Sie rechnete damit, dass ihr Lehrmeister Olba ihr folgte. Doch der rührte sich nicht von der Stelle. Kaum hatte sich das Portal hinter der Heldin geschlossen, koordinierte er die Truppen und gab Anweisungen, die letzten Dämonen noch zu Fall zu bringen. Nur Emeralda Etuva hatte sich sofort der Stelle genähert, an der sich das Portal geschlossen hatte. Die Wissenschaftlerin untersuchte, so schnell und so gründlich es ihr nur möglich war, die flüchtige Restenergie des Tores und versuchte Proben davon zu konservieren, um Hinweise darauf zu erhalten, wohin es geführt hatte.
 

Unerwarteterweise leisteten die Dämonen auch ohne ihren König noch Widerstand. Die meisten Anführer in den dämonischen Bastionen klammerten sich an den verzweifelten Fanatismus, Maou würde bald wieder auftauchen und den Krieg wieder zu ihren Gunsten wenden. Andere befolgten einfach stur ihre letzten Befehle, weil sie keine Neuen bekamen. Die durch die Schlachten auf offenem Feld zerstreuten Dämonen-Trupps schlugen sich zu den Verschanzungen und Befestigungen ihrer Artgenossen durch und verstärkten sie. Das machte es den menschlichen Streitkräften lange Zeit schwer, alle Regionen von Ente Isla zu befreien, vor allem da die Magienutzer der Kirche sich – kaum dass die wichtigsten Städte gereinigt waren – aus der Schlacht zurückzogen und die weiteren Lokalkämpfe den Landadligen überließen.

Nach und nach begannen die Menschen, unter militärischer Aufsicht, den zentralen Kontinent und den Osten dort wieder zu besiedeln, wo es als sicher galt.

Nun erst reiste auch Olba zurück zum Hauptsitz der Kirche, um sich mit dem hohen Rat an einen Tisch zu setzten. Man beriet sich Woche um Woche. Doch im Endeffekt konnte man ohnehin nichts wegen Maou unternehmen, bis Emeralda dazu in der Lage wäre, das Ziel seines Fluchttors zu benennen. Außerdem gab es auf Ente Isla für die Kirchenmitglieder noch genug zu tun. Die durch den Krieg zerstörten Kirchen mussten wiederaufgebaut und das Volk zur Räson gebracht werden. Jede verfügbare Autoritätsperson stand nun inmitten all der Zerstörung, welche die Dämonen hinterlassen hatten, und sorgte für die Aufrechterhaltung der Ordnung. Die allgemeine Verzweiflung, wegen fehlender Unterkünfte, vermisster Familienmitglieder und der Hungersnot, durch die zerstörten Ernten ausnutzend, bildeten sich nun Gruppen, welche die Kirche kritisierten und auf einen Umsturzversuch hinarbeiteten. Auch die Inquisition hatte alle Hände voll zu tun.
 

Lucifer war derweil im Turmkeller einer ansonsten restlos zerstörten Grenzfestung untergebracht worden. Olba besuchte ihn jetzt höchstens noch ein bis zweimal die Woche. Das fiel dem Engel zunächst aber gar nicht auf, denn vorsichtshalber mischte Olba ihm starke Schlafessenzen in seine Genesungsmedizin, welche Lucifer für Tage ausknockten. Zunächst bemerkte Lucifer nur, dass ihn die Medizin neuerdings schläfrig werden ließ und seine Genesung auf einmal rasend schnell Fortschritte machte. Es dauerte allerdings nicht lange, da fiel ihm außerdem auf, dass nicht nur seine Wunden schneller heilten, sondern auch seine Haare schneller wuchsen. Als er das erste Mal von selbst aufwachte, ohne dass Olba ihn für die nächste Dosis weckte, da reichte ihm sein Pony schon bis auf die Schlüsselbeine. Olba war nirgendwo in der zwielichtigen Düsternis zu entdecken und so packte der General die Gelegenheit beim Schopf. Vorsichtig stützte er sich auf, verlagerte sein Fliegengewicht auf die Hüfte und entdeckte, dass der heftige Schmerz, den er erwartet hatte, ausblieb. Er glaubte nicht eine Sekunde lang an eine dermaßen beschleunigte Heilung, wenn er sich das rasche Wachstum seiner verfilzten lila Strähnen betrachtete und begann, Olba zu verdächtigen, irgendetwas wirklich Unfaires mit ihm angestellt zu haben. Das schrie geradezu nach Rache! Behutsam rutschte er etwas steif mit dem Hintern an den Rand seiner steinernen Bettstatt vor und ließ die Beine baumeln, bis seine bloßen Füße auf den dreckigen Boden trafen. Seine Federn in den Verbänden raschelten, als er Schwung holte. Olba hatte ihm nun beide Flügel mit Bandagen an den Leib gebunden und gemeint, er bewege sie im Schlaf zu viel, das sei nicht gut für die Heilung. Mit wilder Entschlossenheit, drückte Lucifer die Knie durch und stemmte sich in die Höhe, um auszuprobieren, ob er stehen könne. Durch knappe, zuckende Bewegungen versuchten seine Flügel sein Gleichgewicht zu finden, konnten aber in den Bandagen nicht richtig arbeiten. Lucifer schwankte bedenklich. Seine Muskeln fühlten sich an, als habe er sie seit Monaten nicht benutzt. Kurz bevor seine Gelenke unter ihm nachgaben, versetzte er sich mit Magie halb in die Schwebe. Auf diese Weise war nun zumindest sein Oberkörper stabil. Langsam bewegte er sich – halb schwebend, halb gehend – von seinem Trümmerstück zum nächsten und setzte sich erst einmal wieder. Seine Magie war ausgeruht, aber der Kreislauf schien komplett überfordert, als habe er viel zu lange geschlafen. Etwa zehn Minuten später wiederholte er die Prozedur und eroberte einen Mauerrest. Über diese selbst auferlegte Physiotherapie dauerte es nicht lange, bis sich sein Körper wieder an die Bewegungsabläufe erinnerte und sicherer wurde. Er trank viel, um die Drogen aus seinem Organismus zu schwemmen und merkte, wie nun auch sein Geist wieder klarer wurde. Dieser verdammte Bet-Heini, das würde er zurückbekommen!, schwor sich der Engel erzürnt. Nach zwei Tagen begann Lucifer seine Beine mit seinem Gewicht zu belasten und übte ohne magische Stütze weiter. Dies stellte sich mit an den Körper gebundenen Flügeln allerdings als äußerst unbequeme Erfahrung heraus. Lucifer verlor das Gleichgewicht, kippte in einen Haufen steinerner Trümmer und riss sich schmerzhaft den Unterarm an den scharfen Kanten auf. Stirnrunzelnd und das Gesicht vor Schmerz und Wut verzogen, wischte er sich mit der gesunden Hand die verstreuten Strähnen auf die rechte Gesichtshälfte zurück und betrachtete den Schaden. Blut lief über die dreckige, zerschrammte Haut seines Unterarm und tropfte von seinem Ellbogen. Glücklicherweise funktionierte sein Magiefluss inzwischen wieder einwandfrei, sodass er die Wunden problemlos schließen konnte. Danach kletterte er aus den Trümmern. Einigermaßen stabil auf einem Steinbrocken sitzend, befreite er seine Flügel aus den Bandagen und bewegte sie behutsam durch. Die geheilten Sehnen spannten und dehnten sich erst nur widerwillig.

Nach sechs weiteren Tagen allnächtlicher Übungen unterstützt von Magie, die er nun in seine Beine leitete, stand er endlich wieder vollkommen ruhig auf seinen Füßen, konnte aufstehen, sich hinsetzen und laufen. Der Rest war nur noch eine Frage der Kondition. Auch die Flügel bewegten sich nun wieder geschmeidiger und Lucifer stellte fest, dass die Kellerräume, in denen er hauste, für Flugübungen zu eng waren. Überhaupt waren ihm Olbas schmutzige Kerker längst zu eng für seinen Freigeist, aber nun hatte er endlich auch die physischen Möglichkeiten, dem zu entfliehen, wiedererlangt.
 

Mit in der Dunkelheit aufleuchtenden Augen erklomm er barfuß und nur mit dem Lendenrock bekleidet die sandigen Stufen, die nach oben in die Freiheit führten und lief geradewegs Olba vor die Brust, der eine Fackel in der rechten Hand gerade zu ihm hinuntergestiegen kam. Völlig verdattert glotzte der Geistliche auf ihn hinab, während sich Lucifers schöne Augenbrauen missmutig über der Nasenwurzel zusammenzogen.

„Was in drei Teufels Namen machst du da?!“, wollte der Glatzköpfige wissen. Er war so erschrocken und wütend, dass er gleich zu explodieren schien. Da der Erzbischof ihm den Weg versperrte und auch keine Anstalten machte, zurückzuweichen, musste Lucifer zwei Stufen tiefer steigen, um Abstand zu ihm zu gewinnen.

„Ich geh an die Luft. Soll sehr heilsam sein, hab‘ ich gehört. Zu viel Schlaf ist ungesund.“, patzte er mit deutlichem Vorwurf in der Stimme. Olba setzte sich in Bewegung und drängte den Engel auch noch die restlichen Stufen zurück in den Keller.

„Bis du des Wahnsinns? Da draußen darf dich niemand sehen! Wenn rauskommt, dass du noch lebst, machst du damit alles zunichte!“, schimpfte er auf den Geflügelten ein, aber Lucifer reckte ihm nur trotzig das Kinn entgegen.

„Ich gehe bei deiner Pflege noch ein, Olba!“, gab der Engel zurück und legte nur allzu offensichtlich die Botschaft in seine Worte hinein, dass er Olbas Machenschaften durchschaut hatte. Der Blick der grauen Augen wurde plötzlich verhängnisvoll steinern.

„So, du glaubst also, du bist gesund genug, um herum zu stromern, ja?“, knurrte Olba mit gefährlich tiefer Stimme. Dann hob er abrupt den linken Arm und stieß ihn Lucifer so hart gegen die rechte Schulter, dass es den Kleineren umriss und stürzen ließ. Die Narben, die Better-Half an seiner rechten Seite hinterlassen hatte, waren immer noch zu sehen und sie ziepten fürchterlich, als Olba sie traf. Unrühmlich halb liegend und halb sitzend auf dem Boden vor den Füßen des Geistlichen kauernd, hielt sich Lucifer die Schulter und funkelte Olba böse von unten herauf an.

„Du kannst mich hier nicht ewig festhalten!“, schrie er ihn an, doch ein seltsames Leuchten erhellte plötzlich das süffisant lächelnde Gesicht des Alten.

„Oh doch, das kann ich.“, grollte er unheilvoll. Seine Hand vollführte eine Bewegung in der Luft und um Lucifers dünne Handgelenke schlossen sich silberne Ketten. Klirrend zogen sich die einzelnen Glieder stramm und zerrten einen sich zeternd wehrenden und mit den Flügeln schlagenden Engel rückwärts an eine der wenigen festen Wände, wo sie sich knirschend im Stein verankerten. Lucifers Augen loderten vor Zorn.

„Himmlisches Silber, mein Lieber. Es schadet dir nicht, aber die Fesseln werden halten.“, erklärte Olba ungefragt und sonnte sich sichtlich in seiner zurückgewonnenen Überlegenheit. Lucifer ging auf, dass sich der Glatzkopf diese Fähigkeit extra für ihn neu angeeignet haben musste und nur für einen Fall wie diesen. Ebenso wütend wie verzweifelt stemmte die zierliche Gestalt die nackten Fersen gegen die Wand und warf sich mit aller Gewalt in den Ketten nach vorn. Das Ergebnis war nur, dass er sich dabei fast die Schultern auskugelte.

„Das ist gegen unseren Vertrag!“, behauptete Lucifer zähnefletschend, wie ein Wolf an der Kette.

„Oh nein.“, entgegnete Olba sanft, „Es ist sogar ganz in dessen Sinne. Ich rette dir damit das Leben. Wenn du diese Mauern verlässt, werden sie dich jagen und töten, weil es niemanden mehr gibt, zu dem du dich flüchten kannst, mein armer Lucifer.“, erklärte er genießerisch. Lucifers Augen weiteten sich. Er glaubte bereits zu verstehen, was Olba andeutete, aber seine inzwischen wieder geschmeidigen Lippen öffneten sich beinahe von selbst: „Wie meinst du das?“

Olbas Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen, das ihn in dem orangefarbenen Zwielicht von Olbas Fackel teuflischer erscheinen ließ, als Lucifer ihn je gesehen hatte.

„Maou und Alsiel haben aufgegeben. Sie sind geflohen und Emilia ist ihnen hinterher. Der feindliche Dämonensturm ist vorbei. Da draußen bauen die Menschen gerade in aller Ruhe ihre Zivilisation wieder auf. Nur du bist noch übrig. Allein. Zurückgelassen. Und auf Gedeih und Verderb nur meiner Gnade ausgeliefert!“

Die Worte brauchten einen Moment, um bei Lucifer anzukommen. Die schmale Brust des Engels hob und senkte sich aufgeregt, während der restliche Körper erstaunlich regungslos verharrte.

„Du lügst.“, wehte es wie ein Hauch unter Lucifers langen Haaren hervor.

„Es ist die Wahrheit. Dein König und sein letzter General sind fort. Die Kirche arbeitet daran ihre Spur wiederzufinden und sobald das gelingt, werden wir beide ihnen folgen, damit du sie umbringen kannst. Es gefällt mir wahrscheinlich noch weniger als dir, aber die Lage hat sich dadurch um einiges verschärft. Wir müssen wohl oder übel anfangen, einander zu vertrauen. So abwegig das auch klingt. Aber du kommst ohne mich nirgendwo mehr hin und ich brauche dich für das Attentat. Alleine kann ich es nicht mit Maou, Alciel und Emilia aufnehmen. Also gilt unser Handel, oder soll ich dich hier und jetzt töten, damit ich keine Schwierigkeiten mehr mit dir habe?“ Die Worte waren hart, aber glaubhaft. Olba holte etwas unter seinem Kapuzenumhang hervor und warf es dem Engel aufgeschlagen vor die Füße.

„Das ist der aktuelle Band der heiligen Chronik von Ente Isla. Eine Abschrift selbstredend, es würde mich also nicht übermäßig ärgern, wenn du sie aus Bosheit vernichtest. Unterlasse es bitte trotzdem! Kaplan Bernadus hat sehr viel Zeit und Kraft darauf verwendet. Die neusten Entwicklungen sind schon eingetragen worden. Du kannst also selbst nachlesen, was in der Zeit deiner Genesung draußen vor sich ging und brauchst dich nicht auf mein Wort zu verlassen.“

Lucifer hatte den Kopf gesenkt, sodass die langen Strähnen seiner ungewaschenen Haare sein Gesicht verbargen. Er regte sich nicht und gab keinen Laut von sich. Seine Gedanken rasten, wogen Wahrscheinlichkeiten gegeneinander ab, schmiedeten Pläne und verwarfen sie wieder. Schließlich klirrten die Ketten, als er erneut daran zog.

„Lass mich frei. Ich muss es selbst sehen!“, verlangte er. Angesichts einer solchen Unvernunft und Sturheit brauste in Olba von Neuem die Wut auf den Kleineren auf.

„Ich sagte dir doch, das geht nicht! Der Kontinent ist wieder voller Menschen! Die Garde des Königs, kirchliche Würdenträger und die Inquisition sind überall! Sie suchen nach dämonischen Ausreißern wie dir! Dich zu zeigen wäre Selbstmord!“

„Sagst du!“, giftete Lucifer.

Olba stützte in einem Anflug von Verzweiflung das Gesicht in die freie Hand.

„Willst du denn unbedingt sterben, nur um herauszufinden, dass ich die Wahrheit sage?“, fragte er bebend vor unterdrücktem Hass. Allmählich bereute er es sehr, den Engel am Leben gelassen zu haben. Doch jetzt waren seine Pläne zu weit fortgeschritten, um zu kneifen.

Olba hob die Hand und die Ketten ließen insoweit locker, als das Lucifer die Arme an seinen Seiten herunterhängen lassen konnte.

„Komm zur Vernunft, Lucifer. Schüre deinen Hass, aber wende ihn gegen Maou und Emilia. Ich bin nicht dein Feind.“ Unter langen Strähnen glommen zwei funkelnde Amethyste auf, doch Lucifer stand einfach nur da. Olba wandte sich um und verschwand die Treppe hinauf aus dem Gewölbekeller. Einen Moment später hockte sich Lucifer kettenrasselnd auf seine Fersen. Rauschend schlug er die prachtvollen, schwarzen Fittiche um sich und zog dann mit spitzen Fingern die Chronik zu sich heran. Routiniert blätterten seine Hände durch die Seiten bis zu dem Tag, als sein Angriff auf den Westen begonnen hatte. Dann saß er ganz still da. Nur seine Augen bewegten sich, Zeile um Zeile der ordentlichen Handschrift des Kaplans Bernadus folgend, durch die Geschichte und ab und an, blätterte er knisternd eine der großen Seiten um.
 

Als Olba das nächste Mal in den Kellerraum trat, starrte die Wand hinter Lucifer vor Ruß und Löchern, die offenbar von gezielten Detonationen herrührten. Der Engel selbst war mit Dreck, Sand und Geröll überschüttet. Offenbar hatte er versucht, sich von den Ketten loszusprengen und das wiederholt. Aber die Ketten hatten gehalten und waren im Stein verankert geblieben, egal wie viele Schichten Lucifer davon abtrug. Nun saß er inmitten all des angeschwärzten Schutts im Schneidersitz auf dem Boden und faltete kleine Tiere, Engel, Sterne, Schiffe und Girlanden. Olba wunderte sich noch, wo der Lümmel plötzlich das Papier dafür herhaben konnte, da sah er die aufgeschlagene Chronik neben dem nackten Knie des Engels liegen. Das Buch war nun um etliche Seiten dünner.

„Lucifer, du verdammtes Aas!“, begrüßte Olba den Schuldigen. Er hatte zwar von vornherein damit gerechnet, dass Lucifer die Chronik möglicherweise zerstören könnte, aber dass er sie auf so kreative Art zerstörte, hätte er nicht geglaubt. Lucifer faltete eine kompliziert aussehende Blume zu Ende und grinste hinterhältig in sich hinein.

„Ich kann furchtbar werden, wenn ich mich langweile. Und ich lese schnell.“, gab er zu bedenken, „Das nächste Mal bringst du mir besser eine Lektüre, die mich länger beschäftigt.“, riet er.

Olba ging zu ihm hin und hob das Buch auf, um zu retten, was noch zu retten war. Die ausgerissenen Seiten konnten ja womöglich neu geschrieben und wieder in das Buch eingebunden werden. Doch auch diese Hoffnung hatte Lucifer bereits zerstört, noch bevor Olba sie fasste. Ein Blick in das Buch zeigte dem Erzbischof, dass Lucifer das Papier nicht nur zum Falten verwendet hatte. Er hatte außerdem jede einzelne Seite des Buches mit akkuraten, schwarzen Federzeichnungen versehen. Die meisten davon zeigten entweder unanständige, obszöne oder gewalttätige Motive. Nicht selten stellten sie einen an grausamen Verstümmelungen und Torturen verstorbenen Olba dar oder Olba in demütigenden Situationen und sehr oft, war ein siegreich gezeichneter Lucifer der Grund dafür. Angewidert und gekränkt, aber auch neugierig und fasziniert vom akkuraten Zeichenstil des Engels, blätterte Olba das gesamte Buch durch, in der Hoffnung, Lucifer hätte in den Bildern etwas über sich selbst, den Himmel, oder Maous Pläne verraten. Die brutalen Olbagemälde wurden immer weniger, je weiter er blätterte und wurden von dämonischen Party- oder Kriegszenen abgelöst. Wenige der Bilder zeigten Maou und die anderen Generäle, doch sie wirkten lediglich wie Momentaufnahmen aus der Erinnerung Lucifers. Bedeutungslose Szenen von Feiern, Besäufnissen, Jagdausflügen und Orgien. Olbas Blick blieb unfreiwillig am gezeichneten Penis des Dämonenkönigs haften, bis ihm aufging, das dieser Teil der Zeichnung gar keinen Penis darstellte, sondern eine Faust mit ausgestreckten Mittelfinger. Olbas Ohren wurden heiß. Der kleine Bastard hatte die Szene offenbar nur gemalt, um ihn, Olba, hereinzulegen, zu beleidigen und zu demütigen. Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er die Kränkung entdeckt hatte, denn dann hätte er ja indirekt zugegeben, dass er Maous Penis genauer betrachten wollte. Lucifer schien es aber trotzdem zu ahnen, denn sein verschlagenes Grinsen wurde noch breiter. Olba räusperte sich und schlug energisch das Buch zu. Dann schlug er es wieder auf, weil ihm so war, als läge etwas zwischen den Seiten und etwas sehr leichtes rutschte ihm auf den Schoß. Es war eine schwarze, angespitzte Feder mit schwarz verschmiertem Kiel. Als sie auf Olbas weiße Robe auftraf, hinterließ sie feine schwarze Spritzer auf dem Stoff.

„Woher hast du die Tinte für diese sündigen Schmierereien?“, fragte er alarmiert. Lucifer hob den Blick von seiner Faltarbeit auf und zeigte seine makellosen Zähne.

„Sind geil, was? Schau‘s lieber nicht zu lange an. Wir wollen ja nicht, dass dein altes Herz vor Erregung den Geist aufgibt.“, spottete er.

„Wo du die Tinte her hast, will ich wissen, Schandmaul!“, wurde Olba nun laut und warf das Buch klatschend zu Boden. Er befürchtete, Lucifer könnte inzwischen einen Komplizen gefunden haben, der ihr hier unter versorgte.

„Du verliert ja die Contenance, Erzbischof. Wird dir der Unterrock zu eng?“, weiter ließ ihn Olba nicht reden. Ein Wink seiner Hand und die Ketten zogen sich so weit in die Wand zurück, dass Lucifer kurz darauf, wie ein Gekreuzigter an den Stein geschmiedet war, die bloßen Füße zwanzig Zentimeter über dem Boden baumelnd. Doch damit nicht genug, trat Olba mit harschen Schritten auf den Gefangenen zu und packte ihn bei der schmalen Kehle. Seine Finger umschlossen den dünnen Hals beinahe und Olba wurde überraschend bewusst, wie klein und zierlich Lucifer eigentlich war. Ein dumpfes Knirschen verriet, dass Olbas stürmischer Angriff Lucifers Hinterkopf hart auf den verrußten Stein hatte aufschlagen lassen. Der schwarze Staub rieselte von der Wand und färbte Olbas Finger ein. Wutentbrannt sah Olba Lucifer ins Gesicht und erlebte gleich die nächste Überraschung. In den Augen des Engels stand die nackte Panik. Aber nur für einen Moment, denn dann glitten die violetten Iriden zur Seite und Olba spürte einen unbeschreiblichen Schmerz, der von seiner Leistengegend bis in die Bauchhöhle ausstrahlte. Stöhnend ging Olba in die Knie und kassierte den nächsten Tritt Lucifers ins Gesicht.

„Du … verabscheuungswürdige … kleine Ratte!“, japste der Geistliche atemlos, während er sich leidend die Hände auf den Schritt presste. Lucifers Knie hatte voll getroffen. Das Ende vom Lied war, dass der Engel nun auch noch Fußfesseln bekam. Aber Olba hatte die Demütigungen und Frechheiten des kleinen Wichts nun endgültig satt. Als er wieder stehen konnte, trat er erneut an Lucifer heran, der sich nun reichlich nervös in seinen Ketten wand.

„Komm mir nicht zu nahe, Alter! Ich bin immer noch scharf.“, drohte der Dämonengeneral, richtete seine Handflächen so gut es ging in Richtung des Erzbischofs aus und schoss mehrere magische Projektile auf ihn ab. Dummerweise lagen seine Hände zu weit auseinander, um Olba zu treffen. Er war ihm schon zu nah. Die grauen Augen blitzten vor Rachsucht.

„Weg von mir! Hau ab! Wage es nicht!“, schrie Lucifer und wand sich. Doch Olba lachte nur boshaft.

„Jetzt bist du nicht mehr so mutig, was?“, zischelte der Würdenträger gefährlich, „Ist dir eigentlich klar, wer ich bin? Ich habe schon ganz andere Vögelchen als dich zum Singen gebracht, größere Dämonen als dich gebrochen. Ich habe dich von der Schwelle des Todes geholt und es wäre mir ein Leichtes, sogar ein Vergnügen, dich doch noch darüber hinweg zu stoßen!“, drohte er so nah an Lucifers Gesicht, dass sich ihre ungleichen Nasen fast berührten. Lucifer versuchte es mit einem Schutzzauber, aber Olba durchbrach ihn. Die Ketten aus himmlischem Silber dämpften Lucifers Magie spürbar.

„Wovor hast du gerade die meiste Angst? Hm? Vor mir? Vor dem Tod? Oder vor...“, Olba streckte die Hand nach ihm aus. Er hatte „Schmerz“ sagen wollen, aber die Reaktion des Engels auf die Bewegung änderte die Sachlage mit einem Mal gravierend. Er presste die Oberschenkel zusammen, drückte den unteren Rücken gegen die Wand, sodass er den Oberkörper vornüber krümmte und schrie aus Leibeskräften: „Fass mich nicht an!“

Eine Druckwelle aus Energie erfasste Olba, doch sie war nicht stark genug, um ihn umzuwerfen. Seine Robe schlug im Wind knatternd Falten und legte sich dann wieder glatt um ihn, als der Angriff verebbte. Olba zog ungläubig eine Augenbraue hoch, ansonsten wirkte seine Miene nun fast ausdruckslos. Sein Blick lag auf Lucifers in der verzweifelten Schutzhaltung zitternden Gestalt.

„Von einem Dämonengeneral hätte ich etwas mehr Haltung erwartet.“, stichelte der Geistliche herablassend. Lucifers Atmung ging unregelmäßig und stoßweise.

„Lass mich runter! Lass mich hier raus! Mach mich sofort los und … bleib von mir weg!“, forderte der Engel keuchend. Er hielt die Flügel über sich ausgebreitet, als wolle er jeden Moment, wie ein Falke, auf Olba niedergehen.

„Was genau macht dich eigentlich so panisch, wenn ich dich anfasse?“, wollte Olba nun wissen und ignorierte Lucifers Forderungen, „Ich beobachte das, seit ich dich pflege. Die Angst vor Schmerz ist es jedenfalls nicht. Du weichst jeder Berührung aus und erträgst es schon kaum, wenn ich dir nur nahe komme. Zusätzlich belästigst du mich mit diesen obszönen Vorwürfen! Erkläre mir das einmal, das würde mich wirklich interessieren.“ Lucifer spuckte aus und funkelte Olba zornig an.

„Fick dich! Du würdest es auch nicht prickelnd finden, dauernd von so nem alten Lurch begrabbelt zu werden!“, giftete er abweisend.

„Nein, so leicht kommst du mir nicht davon. Da steckt was dahinter und ich will jetzt wissen, was! Ich bin dein Gehabe jetzt nämlich endgültig leid! Entweder du verhältst dich kooperativ, mehr verlange ich ja gar nicht, oder ich bekomme auf die harte Tour aus dir heraus, was dein Problem ist!“, drohte er. Lucifers Blick verfinsterte sich weiter.

„Geh und schieb dir ‘n Stock in den Arsch!“ Olba schob lässig die Finger ineinander, streckte die Arme durch und ließ die Knöchel knacken, gerade so als lockere er sich für eine kleine, intime Foltersession. Dann legte er den Kapuzenumhang ab und schlug die Ärmel seiner Robe zurück. Lucifer verfolgte es mit Grausen.

„Ich tue das nicht gern, weißt du? Mir liegt eigentlich nichts daran. Aber ich bin durchaus in der Lage dazu und erfahren in körperlicher Notzucht. Das wird für mich nicht mehr als ein rein beruflicher Akt, der seinen Zweck erfüllt.“ Er hob die Hände auf Hüfthöhe und legte seinen Gürtel ab. Ein Wink mit der Hand und Lucifers silberne Fußfesseln strebten weit genug auseinander, um seine Beine zu spreizen.

„Hör auf!“, gellte Lucifers von hysterischer Angst erfüllte Stimme durch das Gewölbe. Tränen rannen ihm über das hübsche, kluge, aber verdreckte Gesicht.

„Du hast keine Ahnung!“, wimmerte er, „Du hast keinen Schimmer, wie es ist, der Kleinste unter Dämonen zu sein! Wie es da zugeht!“, er schluckte und holte dann tief und zitternd Luft.

„Ich musste der Schlauste und Fieseste unter ihnen sein, um nicht jedes Mal als Opferlamm zu enden! Du weißt nicht, wie die sind, wenn sie-“, seine Stimme versagte für einen Moment und seine Flügel senkten sich kraftlos um seine bebenden Schultern. Olba wusste nicht recht, ob der Engel bloß verteufelt gut schauspielerte, oder ob ihm bei den Dämonen wirklich etwas zugestoßen war, das er nicht verarbeiten konnte. Er hob die Hand und fuhr – wie um dessen Worte zu prüfen – durch Lucifers schwarzen Federn, nur um zu sehen, ob es daran etwas Begehrenswertes zu finden gab. Sie waren unheimlich seidig und zart. Der Flügel zuckte vor der Berührung zurück und Lucifer schreckte zusammen.

„Bitte! … nicht!“, keuchte er, „Wenn du es unbedingt wissen musst. Ich bin ihr General in der Luft, aber bei den Feiern… diese riesigen Körper, … hast du Maou mal gesehen? Oder einen der anderen? Ich bin winzig im Vergleich zu ihnen! Wenn sie trinken … in Stimmung kommen, dann habe ich ihnen nichts entgegenzusetzen.“

Lucifers Gesicht sah in seiner makellosen Schönheit unter all dem Dreck und mit den Spuren der Tränen darauf einfach herzzerreißend zerbrechlich aus. Er schluckte.

„Dann ist es wahr?“, fragte Olba unbarmherzig, „Dass die Dämonen Orgien feiern? Es mit Tieren treiben? Und sich untereinander vergewaltigen?“ Lucifer nickte und seine langen Haare fielen ihm wieder über das ganze Gesicht. Olba packte die verrutschten Ponysträhnen, legte die hübschen Züge wieder frei und riss dem Geflügelten dabei noch unbarmherzig den Kopf in den Nacken, sodass er jede Einzelheit in dem blassen Antlitz studieren konnte. Er versuchte, die Lüge und das Schauspiel zu entlarven, dem Engel die erfundene Geschichte nachzuweisen, den heimlichen Spott dahinter von seinen Lippen abzulesen. Aber er fand nichts als glasige, gerötete Augen, zitternde Lippen, einen angsterfüllten Blick und kleine, hektisch und unregelmäßig bebende Nasenflügel. Dann schlossen sich die tränenden Augen und makellose Zähne bissen knirschend aufeinander, bevor Lucifer mit Inbrunst ausrief: „Glaubst du, es fällt mir leicht, das zuzugeben? Zeig endlich ein wenig Anstand, du geistlicher Hirte und hör auf, mich zu quälen!“, jammerte der Gefallene und weitere Tränen stürzten über seine Wangen, um anschließend mit Schmutz verunreinigt den schönen Hals hinabzugleiten und hinter Lucifers hervorstehenden Schlüsselbeinen eingebettet zu vertrocknen. Dann wurde Lucifers Stimme plötzlich rau und tonlos.

„Ich seh‘ schon. Du willst wissen wie es ist; was sie an mir finden, nicht wahr? Dann tu‘s. Ich kann mich nicht wehren, also was soll‘s. Gegen Maou werde ich dich kaum spüren.“
 

Olba ließ ihn bei diesen Worten angewiedert los und wischte sich die Hand an seiner Robe ab. Er bereute es sofort, denn nun war der weiße Stoff besudelt mit Ruß und Schmutz. Ein genervter Wink mit der Hand und die Fußfesseln verschwanden. Die silbernen Ketten verlängerten sich wieder und ließen den Delinquenten rasch zu Boden sinken. Lucifer lag auf den Knien und schlug die Flügel um sich. Olba wandte sich ab und ging zu seinen Sachen zurück.

„Das Einzige, das ich wissen will, ist, wie du an die Tinte für die Zeichnungen gekommen bist.“, erinnerte er grimmig, während er sich Gürtel und Umhang wieder anzog. Aus dem Kokon aus Federn wurde ein blanker, dünner Arm gestreckt, der auf etwas deutete, das ganz in der Nähe lag, aber vom Schutt bisher verdeckt worden war. Olba trat wieder näher und sah es sich an. Eine Seite aus dem Buch, gefaltet zu einer Art Becher und gefüllt mit eingetrockneter, schwarzer Flüssigkeit, daneben ein rußbedeckter scharfer Stein. Die rußbedeckte Wand in der Nähe wies Kratzspuren auf.

„Ich habe den Ruß von der Wand abgekratzt und mit Spucke vermischt. Bist du jetzt endlich zufrieden?“, kam es leise aus den Federn. Olba beschlich wieder ein nagendes Gefühl von Schuld, so als hätte er gerade ein Kind geschlagen. Dabei machte es ihm gar nichts aus, Kinder zu schlagen, die es verdient hatten.

„Lass das endlich bleiben!“, zischte er den zitternden, raschelnden Federball an.

„Was denn?“, kam es gequält aus diesem zurück, „Womit soll ich mich denn beschäftigen, wenn du mich hier angekettet für Tage allein lässt?“

Olba hatte eigentlich den Zaubertrick mit den Schuldgefühlen gemeint, aber Lucifers Reaktion beunruhigte ihn etwas. Sollten es doch seine eigenen Schuldgefühle sein, die er da spürte? Unsinn! Dafür gab es überhaupt keinen Grund. Egal was er mit Lucifer anstellte, oder die Dämonen vielleicht mit ihm angestellt hatten, Lucifer war im vergangenen Krieg tausendmal schlimmer gewesen!

„Für deine Unterhaltung bin ich nicht verantwortlich! Du bist hier, weil ich Arbeit für dich habe!“, speiste er ihn mitleidlos ab.

„Dann lass mich was arbeiten!“, fuhr Lucifer plötzlich auf und lichtete seinen Wall aus Federn. „Lass mich helfen Maous Aufenthaltsort ausfindig zu machen!“ Olba blinzelte ihn verblüfft an.

„Wie soll das gehen? Emeralda erforscht die Daten, die sie aus der Analyse der Restenergie des Tors gesammelt hat. Ich bin kein Wissenschaftler, ich kann ihr die Sachen nicht einfach wegnehmen und später mit der Lösung des Rätsels wiederkommen. Das nimmt mir doch keiner ab. Mal ganz zu schweigen davon, dass ich dir in keinster Weise zutraue, in dieser Hinsicht nützlich zu sein!“

„Schön, du traust mir nichts zu. Gib mir wenigstens die Chance es zu beweisen!“

„Und dann machst du dich davon und schließt dich wieder Maou an, sobald du rausgekriegt hast, wo sie sind! Mich betrügst du nicht, Lucifer!“

„Dann bring mir eben nur einen Teil der Daten. Lass mich helfen sie auszuwerten!“

„Und was, wenn dir ein Teil schon reicht?“

„Tut es nicht. Ich schwöre!“ Olba lachte gemein auf.

„Worauf, denn bitte. Was könnte dir heilig genug sein, dass du darauf schwörst und den Schwur auch hältst?“, fragte er bissig, „Du hast den Himmel verlassen, verflixt nochmal!“

Lucifer schwieg. Dann erinnerte er sich an etwas, das ihm einmal geschworen worden war und warum er darin eingewilligt hatte. Er fuhr sich energisch über das Gesicht, um die Tränenspuren zu beseitigen, stand auf und trat Olba von Angesicht zu Angesicht gegenüber, bis die Ketten ihn zurückhielten.

„Du sagtest es wäre dir ein Vergnügen, mich umzubringen. Sollte ich mit dem Wenigen, das du mir bringst, ein Portal erschaffen können, das mich zu Maou führt, und sollte ich ohne dich dorthin aufbrechen, dann werde ich mich nicht wehren, wenn du kommst, um mich zu töten. Ich schwöre auf mein Leben.“

Olba war für einen Moment sprachlos. Dann wurde sein Ausdruck wieder streng.

„Billiges Geschwätz vom Trickser-General des Dämonenkönigs!“, tat er Lucifers Worte ab. Doch dessen Miene zeigte sich auf einmal überraschend abgeklärt und beherbergte sogar ein schmales Grinsen.

„Schön, wenn dir das lieber ist, dann lasse ich dich eben eine Runde auf mir drehen, wenn ich lüge.“ Jetzt war Olba wirklich sprachlos. Er starrte ihn an, wie ein toter Fisch. Lucifer hob die Hände und zuckte die Schultern.

„Nur weil ich es auf den Tod nicht ertrage, unter Zwang angefasst zu werden, heißt das nicht, dass ich mich nicht überwinden kann, still zu halten. Außerdem habe ich ein hervorragende Singstimme, das müsste deinen Neigungen doch entgegen kommen.“

Olba rümpfte die Nase, als ginge von Lucifer ein widerlicher, verfaulter Gestank aus, und verließ auf dem Absatz kehrt machend den Keller. Lucifer sah ihm selbstgefällig, eine Hand in die Hüfte gestützt nach.

„Daran wird der alte Furz noch ne ganze Weile zu knabbern haben, denke ich. So schnell fasst der mich nicht mehr an.“, murmelte er mit einem verschlagenem Lächeln auf seinem engelsgleichen Gesicht, das all die Tränen und seine Leidensgeschichte von vorhin Lügen strafte. Dann strich er sich das Haar aus der Stirn und wandte sich wieder dem Falten von Papierfiguren zu.
 

Auch wenn Olba steif und fest behauptete, dass Lucifers Angebot sicher nicht der Grund dafür war, sondern lediglich die Hoffnung, zwei würden schneller an der Sache arbeiten und Lucifers Erfahrung mit den Dämonen könnte dabei von Nutzen sein, brachte er ihm schon in der nächsten Nacht eine Probe von Emeraldas gesammelten Daten.

Indes zogen sich die Beratungen des Hohen Rats hin. Aus Wochen wurden Monate.

Lucifer wertete ein winziges Datenpaket nach dem anderen aus und vervollständigte mit seinem Wissen über Maous Magie Emeraldas Forschungen. Olba behauptete, er hätte weitere Wissenschaftler der Kirche beauftragt, Emeralda zuzuarbeiten, und die Ergebnisse an ihn zu senden. Es seien aber nur unwürdige Amateure und sie brauche sich darüber keine Gedanken zu machen. Damit diese zufälligen Entdeckungen der Amateure sich nicht zu sehr häuften und vor allem auch, damit Lucifer das Puzzle am Ende nicht doch noch selbst zusammensetze, ließ Olba zwischendurch mehrere Tage vergehen, in denen er dem Dämonengeneral keine Datenpakete zum Auswerten brachte, sonders stattdessen Bücher, eine Bienenwachstafel mit Griffel, sowie einen Bottich, den er mit Wasser füllen konnte, und ein kleines Stück Kernseife, damit er sich waschen konnte, denn selbst Engel fingen nach einer gewissen Zeit, eingesperrt in einem Keller, an zu stinken. Er bot ihm sogar an, ihm Garn und einen Webrahmen, ein Spinnrad oder Häkelnadeln zu bringen, aber davon wollte Lucifer nichts wissen. Einen Stickrahmen mit Nadeln hingegen hätte er schon gern gehabt, aber Olba vertraute ihm nicht genug, um ihn mit spitzen Nadeln auszustatten. Musikinstrumente wollte er ihm auch nicht bringen. Erstens gab es auf Ente Isla nicht so viele davon und zweitens fingen die Menschen gerade wieder damit an, den Landstrich neu zu besiedeln, indem er Lucifer versteckt hielt. Da wollte er nicht riskieren, dass aus der Ruine Musik erklang!

Schon bald fand Lucifer allerdings selbst eine Beschäftigung, die ihn in den Wochen ohne Analyseprojekt bei Laune hielt. Da Olba ihm Seife gebracht hatte, war es nunmehr ein Leichtes für ihn, aus den heiligen Ketten zu schlüpfen und einen vorsichtigen Streifzug in die Umgebung zu unternehmen. Er wagte es nur bei Nacht, wenn er ganz sicher war, das Olba heute nicht kommen würde. Bei seinem ersten Ausflug fand er ein grobes Stück Stoff, das wohl einmal zu einem Soldatenzelt gehört haben mochte und das dunkel genug war, um ihn und seine Flügel in der nächtlichen Umgebung gut zu tarnen. Es wäre klug gewesen, dabei zu bleiben, aber kaum spürte er die erfrischende Nachtluft in den Federn, da musste er sie ausbreiten und zum ersten Mal seit Monaten endlich wieder fliegen. Das Gefühl der Freiheit war atemberaubend. Er glitt wie ein Nachtschatten unter den Sternen hindurch, hoch über den Wolken, die sich wie ein feiner Sprühnebel auf seine nackte Haut legten, wenn er hindurch segelte. Er hätte jubilieren mögen, doch das verkniff er sich schweren Herzens. Seine Lache war einfach zu lange gefürchtet worden, als dass man sie nicht sofort wiedererkannt hätte. Nach einer vollen Nacht im Himmel waren seine Flügel müde und schmerzten vor Muskelkater, sodass er sich kurz vor Morgengrauen zurück schlich. Er machte sich nicht die Mühe, wieder in die Ketten zu schlüpfen. Tagsüber kam Olba sowieso nicht und wenn er ihn nachts auf der Treppe hörte, war immer noch genug Zeit dafür, wieder den Gefangenen zu geben.

Es waren tatsächlich wieder Menschen in die Nähe gezogen. Momentan hausten sie noch in primitiven Lagern und saßen nachts um ein gemeinsames Feuer. Das war insofern für Lucifer perfekt, als dass die dem Licht zugewandten Augen der Menschen ihn in der Dunkelheit nicht erspähen konnten, selbst wenn er sich zu nah heranwagte und ein Geräusch verursachte. Und nahe heran musste er, denn er wollte mit eigenen Ohren hören, ob es wahr war, was Olba ihm erzählt hatte. Die Menschen waren hier, um die Bauernhöfe in der Gegend wieder aufzubauen und die Lebensmittelproduktion wieder aufzunehmen. Die meisten waren vom Krieg noch völlig traumatisiert und wollten nicht darüber reden. Es dauerte lange bis Lucifer einmal ein Gespräch belauschte, in dem es um den Sieg über den Dämonenkönig ging.

„Man sagt, die legendäre Heldin habe ihn mit einem Schlag durchgeschnitten! Von oben nach unten. Sein Blut soll Löcher in die Erde gebrannt haben...“

Da merkte Lucifer, dass er von den Bauern wohl kaum die Wahrheit über den Kampf erfahren würde. Die wussten auch nur, was die Kirche ihnen sagte. Und die Kirche sagte ihnen sicher noch weniger, als Olba Lucifer anvertraute. Dennoch erfuhr der Langhaarige durch seine Ausflüge, dass Maou wirklich verschwunden und die Dämonen vertrieben worden waren.
 

Schließlich kam wieder eine Nacht, in der Olbas Schritte auf der Treppe zu hören waren und Lucifer zurück in seine Ketten schlüpfen musste. Schnell versteckte er das Stück Seife, das er heimlich für diesen Zweck behalten hatte – denn Olba war nicht so dumm ihm das Wasser und die Seife einfach dazulassen – unter dem Geröll am Boden, schnappte sich die angefangene Zeichnung auf der Wachstafel und nestelte mit dem Griffel weiter daran herum, sodass er schön unverdächtig aussah, als der Erzbischof in den Gewölbekeller eintrat.

„Es ist soweit, Lucifer. Der Rat hat mir den Auftrag erteilt, Maous und Emilias Verbleib zu untersuchen. Emeralda weiß jetzt, wohin das Portal führte.“, verkündete er mit höchst offiziell klingender Stimme.

„Na bravo, gut gemacht. Und es hat ja nur, wie lange gedauert? Sechs Monate? Das nenne ich mal schnelles Handeln in einer Notsituation, hoffentlich kommen die Beamten in ihren Schreibstuben da noch mit.“, spottete Lucifer gemein.

„Zügele dein loses Mundwerk! Du hast ja auch nicht gerade dazu beigetragen, dass es schneller ging!“, meinte Olba streng. Lucifer aber lachte keckernd auf.

„Machst du Witze? Ohne mich wüsste deine Emmentaler nicht mal in welche Richtung sie gucken muss. Du hast mir Brotkrümel gegeben und ich habe das verfickte Lebkuchenhaus samt kinderfressender Hexe drin gefunden, Glatzköpfchen!“, prahlte der Engel und dehnte die Fingerknöchel, wie nach langer und schwerer Schreibarbeit, „Das bedeutet dann ja wohl, dass du mir den Schmuck jetzt abnimmst, korrekt?“ Olba grummelte undeutlich in seinen kleinen Schnauzer und ließ mit einer Geste Ketten und Handfesseln verschwinden. Lucifer stand auf und bog den Rücken durch, als sei er ewig nicht aufgestanden.

„Aaah, süße Freiheit.“, stöhnte er.

„Denkst du, du bist für den Kampf gegen Emilia und den Dämonenkönig gewappnet?“, fragte Olba.

„Mal sehen.“, entgegnete Lucifer und wedelte fahrig mit der Hand in der Luft herum. Wie aus versehen löste sich ein violetter Energieball aus seinen Fingerspitzen und schlug in die Wand ein, an die der Engel so lange geschmiedet gewesen war. Dann machte er einen Satz hinter Olba und zog den überraschten Geistlichen am Gürtel drei Meter weiter in der Raum hinein. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen explodierte die Wand. Alle auf sie gestützten Mauern fielen ein und als der Staub sich legte, war die halbe Ruine dem Erdboden gleich gemacht. Lucifer legte unzufrieden den Kopf schief.

„Wohl doch noch nicht ganz. Ich wollte eigentlich die ganze Ruine pulverisieren.“, klagte er, bevor ein fieses Grinsen seine Züge durchschnitt. Olba sah ihn nur missbilligend an und klopfte sich den Sand von der Robe.

„Verdammter Dämon!“, schimpfte er, „Den Krach hat bestimmt jemand gehört!“

Lucifer zuckte mit den Achseln.

„Na und? Wir sind doch eh gleich weg, oder hab ich da was missverstanden.“ Olba schien kurz zu bereuen, das Ganze überhaupt angezettelt zu haben. Aber nun gab es kein zurück mehr. Mit ernstem Gesichtsausdruck kramte er in einer Umhängetasche und zog schließlich etwas heraus, das er dem Kleineren in den Arm drückte.

„Hier! Niemand will dich halbnackt kämpfen sehen!“, murrte er. Lucifer entfaltete das weiße Stoffbündel und hielt es dann mit ausgestreckten Armen vor sich hin. Er betrachtete das Geschenk keine zwei Sekunden lang, dann sah er Olba missmutig und herausfordernd an.

„Das is‘n Scherz!“, entschied er tonlos.

„Ganz sicher nicht.“, erwiderte Olba und sah schon wieder eine nervtötend lange Diskussion auf sich zukommen.

„Zieh dich schnell an! Ich gehe sicher nicht noch mal los, nur weil es deinem sündigen Modegeschmack nicht zusagt!“

„Es ist kurz! Weiß! Und Ärmellos! Es ist ein gottverdammtes Ministrantenhemd! Sariel trägt so was!“, begehrte Lucifer auf.

„Rede keinen Unsinn! Ministrantenroben haben Ärmel!“, hielt Olba dagegen.

„Du musst es ja wissen!“, giftete Lucifer beleidigend.

„Zugegeben, diese Untertunika gehörte einem unserer Ministranten, ...“

„Aha!“, schrie Lucifer ihm ins Wort. Olba beendete dennoch seinen Satz, als habe er nichts gehört.

„...aber das tut hier absolut nichts zur Sache! Es gibt nun mal nicht so viele Sachen für Erwachsene, die deine Größe haben!“ Das saß! Lucifer wirkte beleidigt.

„Ich habe keine Lust, der Nährstoff für deine feuchten Träume zu sein.“

Olba ballte wütend die Fäuste und sein kahler Kopf lief puterrot an.

„Spar dir endlich diese haltlosen Unterstellungen, du exhibitionistischer Homunkulus! Zieh dich an, oder ich liefere dich der Inquisition aus und sage denen, dass sie dich besonders liebevoll anfassen sollen! Verstehen wir uns?! Allmählich habe ich die Nase gestrichen voll von dir!“

„Und was dann?“, zischelte Lucifer ehrlich getroffen zurück, „Erledigst du den Dämonenkönig und die legendäre Heldin dann auf eigene Faust?“

„Wenn es sein muss, werde ich das tun!“, versicherte Olba ernst.

Grimmig starrten sich die beiden Kontrahenten gegenseitig in die Augen. Dann gab Lucifer ein unwilliges Murren von sich und schlüpfte in die Tunika. Sie stand ihm überraschend gut.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  TiJus_Art
2022-06-18T17:10:04+00:00 18.06.2022 19:10
Ein sehr delikates Kapitel. Beide Charas sind richtig gut dargestellt und ich mag deine Umschreibungen. Jetzt bin ich gespannt wie sie das Tor öffnen und was sich am Zielort so ergibt 🤩


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