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Für Sephiroth war es ungewohnt, nicht Genesis neben sich auf den Photos zu sehen. Der Soldat, der auf seinem Handybildschirm erschien, als er sich selbst über Google und Social Media recherchierte, war etwas kleiner, brünett, die Haare waren kürzer. Es war auf den Bildern nicht zu erkennen, aber aus einem unbekümmerten Gesicht blickten graue Augen hervor. Sephiroth war blau lieber.
Die Tweets rätselten über die Identität dieses mysteriösen neuen Mannes: „Frühlingsgefühle?“, titelte die Midgar Evening in einem reißerischen Boulevardartikel, unterfüttert mit einem Bild, auf dem der Soldat eine sanfte Hand auf Sephiroths Rücken gelegt hatte. Er erinnerte sich daran; er verkrampfte seine eigene freie Hand und knirschte unwillkürlich mit den Zähnen. „Man(n) geht also zum Militär, um die beste Auswahl zu haben ...“, kommentierte ein Profil namens Marco186439. Zahlenaccounts, dachte sich Sephiroth augenverdrehend. Fanprofile auf Instagram posteten Photostrecken, die einen gesamten romantischen Spaziergang durch Midgars Zentrum suggerierten. Er suchte auf den Bildern nach seinem Ehering, der in seinen Augen eindeutig zu sehen war. Wie konnte wirklich irgendjemand so dumm sein zu glauben, er würde seinem Mann fremdgehen? Und das öffentlich?
You did me wrong
And so now this is what you get
I hope that when you see my face
It starts to make you feel a little sick
Für die neuen Photos hatte irgendein User bereits einen neuen Post im Subreddit /rJustSeph (der Nachfolger des vorigen Subreddits /rSephirothCrescent, der nach seinem eigenen Twitterhandle benannt worden war) angelegt. Die Identität des „mysteriösen“ Soldaten war noch nicht geklärt worden, aber das allgemeine Urteil der Dutzenden Kommentare, die er überflog, schien zu sein, dass Sephiroth nun nach einem halben Jahr und einem einsamen zweiundvierzigsten Geburtstag (sogar mit Link zur Diskussion eines seiner Tweets) neu verliebt war. Im Fanforum traute man ihm hingegen mehr Treue zu und die Hardcorefans, deren Accountnamen er schon seit Jahren vom stillen Mitlesen kannte, waren sich ziemlich sicher, dass es auf Scheidung und neue Liebe keine wirklichen Hinweise gab. Mittlerweile war Sephiroth schwindelig und er war sich selbst schon nicht mehr sicher, wie es eigentlich um seine Ehe stand. Und das alles wegen so einem Typen, dachte er sich bitter. Er steckte das Handy weg.
Like a ticking timebomb, I’m about to
EXPLODE
Er betrachtete sich eingehend im Flurspiegel seiner bis auf ihn leeren Wohnung. Freilich, die anderthalb Jahre schwerer Krankheit waren ihm noch anzumerken, aber er zuckte die Schultern, an denen sein Hemd noch immer etwas zu weit war. Im Moment kümmerte ihn das wenig. Himmelherrgottnocheins, dann hatte er eben immens abgenommen und eine Menge Muskeln verloren, aber was konnte er dafür? Er hatte es satt, sich zu verstecken, und überhaupt hatte er ganz andere Probleme. Was sollte er jetzt tun? Was das Internet über ihn dachte, hatte ihn noch nie sonderlich interessiert. So richtig an Fahrt hatte es immerhin erst aufgenommen, als er schon über dreißig war, in dem Alter hatte er längst gelernt, sich nicht über Meinungen Fremder Gedanken zu machen. Aber wenn Doe, der da auf den Bildern mit ihm zu sehen war, einen Krieg über Social Media anfing, musste er da nicht mit einem Echo rechnen?
Sephiroth nahm das Handy wieder zur Hand und suchte den Tweet von der Midgar Evening heraus, in dem der Artikel verlinkt war. Er klickte auf „Tweet zitieren“ und überlegte. Ja, Doe hatte ihm offenbar übel mitgespielt. Sich in sein Leben geschlichen, sein Vertrauen missbraucht und sich wichtiger gemacht, als er war. Versuchte er wirklich, sich als der „neue Mann an seiner Seite“ darzustellen, indem er zweideutige Bilder provozierte? Und dann noch die Sache vom Abend zuvor ...
Alles in allem konnte Sephiroth Doe nicht einfach der Öffentlichkeit preisgeben, das wäre kindisch gewesen, egal, was zuvor passiert war. Und Dinge zu dementieren war noch nie seine Art gewesen. Wann immer die Würfel gefallen waren und die neuesten Scheidungsgerüchte ihn getroffen hatten, hatten sie einfach ihr Leben weitergelebt: Es war ja offensichtlich gewesen, dass sie sich nicht scheiden ließen. Aber jetzt, zumal man ihn und Genesis seit sechs Monaten nicht mehr zusammen gesehen hatte, hatte er das Gefühl, wenigstens eine vage Antwort geben zu müssen. Er fand es unfassbar, dass Doe, dem er vertraut hatte, ihn dazu trieb. Er biss die Zähne aufeinander.
Eine Formulierung fiel ihm allerdings trotzdem nicht ein. So hatte die Wut reichlich Zeit, in ihm aufzusteigen, bis der Nachbar in der Wohnung unter seiner die Musik aufdrehte, sodass Sephiroth die Vibrationen durch den Boden spürte. Sie hatten es bereits seit Jahren aufgegeben, ihn darauf hinzuweisen, dass er seine Musik nicht so laut aufdrehen sollte. Er konnte wilde elektrische Instrumente und durchdringenden Bass hören, dazu eine kreischende weibliche Stimme. Durch seinen Nachbarn kannte er das Album mittlerweile ganz gut. Da kam ihm tatsächlich eine Idee.
Er reaktivierte den Handybildschirm und fand sich wieder auf Twitter, den zitierten Tweet noch immer geöffnet. Er wusste, dass Dutzende seiner Follower, deren Zahl sich im sechsstelligen Bereich befand, sofort Screenshots anfertigen würden, sobald sein Tweet gesendet wäre. Sein gelöschter Tweet vom Dezember zum Beispiel existierte nur noch in Screenshotform. Was er schrieb, würde also bleiben, egal, ob er sich später entscheiden würde, den Tweet doch noch zu löschen oder nicht. Er musste sich gut überlegen, ob er die Sache wirklich kommentieren wollte oder nicht. Ein Blick in Does Gesicht auf dem Bild der Evening bestätigte ihn allerdings.
Er tippte: „So why don’t you just look me in the eyes? #Lalalalalaliar“ und betrachtete, was er geschrieben hatte. Wenn er jetzt auf „Retweeten“ klickte, würde er Doe der Chimäre seiner geballten Fangemeinde aussetzen. Allerdings, dachte er mit Genugtuung, während er darauf wartete, dass der Tweet gesendet wurde, hatte Doe sich selbst längst in diese Situation gebracht. Augenblicklich sammelte sein Tweet Dutzende Herzen, nach wenigen Sekunden waren es deutlich über einhundert. Er schaltete das Handy aus. Das Feuer der Rache war in ihm entfacht. Er wusste, was er zu tun hatte. In Sachen Medien und PR war er immerhin erfahren; Doe wusste überhaupt nicht, worauf er sich eingelassen hatte.
Mit vielleicht etwas groben Bewegungen löste Sephiroth die Befestigung um seine Haare und ließ sie offen über seinen Oberkörper fallen; den obersten Knopf seines Hemdes öffnete er auch, so wie früher. Er sah sich zwar selbst mit jedem Tag etwas ähnlicher und er hatte sich nie unbedingt als wunderschön empfunden, aber er vermisste dennoch, wie er noch zwei Jahre zuvor ausgehen hatte, breitschultrig, muskulös, schlank, wach – gesund. Um die Verletzlichkeit in seinen Augen nun zu überspielen, presste er die Zähne aufeinander und im Spiegel konnte er deutlich erkennen, wie verbissen er wirkte. Er hatte etwas zu erledigen.
Take your best shot
Gimme all that you‘ve got
Er stieß die Tür auf und ließ sie hinter sich zufallen; die vierzehn Treppen zum Erdgeschoss trabte er locker nach unten, Stufe für Stufe. Als er auf die Straße trat, blendete ihn die Sonne; er hob die Hand, um seine Augen abzuschirmen, und sah seinen Plan bereits aufgehen. Mit der erhobenen Hand fuhr er sich nun durch die Haare, um sie in Form zu schütteln. Alles in allem, fand er, fehlte nur noch die überdimensionierte Sonnenbrille und er musste wie ein Superstar aussehen, wie ihn die Photographen sofort zu belagern und zu verfolgen begannen. Sie schrien durcheinander: „Wer ist dein neuer Freund?“ – „Lässt du dich scheiden?“ – „Liegt es am Kinderwunsch?“ – „Wo habt ihr euch kennengelernt?“ – „Seid ihr glücklich?“ – „Können wir einen Namen bekommen? Einen Namen!“ – „Ihr seid ein wirklich süßes Paar!“ – „Ein Photo? Bitte ein Photo, hier –“
Sephiroth ließ sich ein paar Schritte von der Traube begleiten. Offensichtlich hatten sie seinen Tweet noch nicht gesehen. „Oh“, sagte er dann, als würde er erst jetzt verstehen, wovon die Rede war. „Das.“ Er schlug demonstrativ die Augen nieder. „Kein Kommentar.“ Er drehte den Kameras den Rücken zu, bis sie sein Gesicht unmöglich einfangen konnten. Mit einem süffisanten Lächeln ließ er die Menge hinter sich.
I’ll be happy if we never meet again
I just deleted every memory from inside of my head