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Die Gefühle, über die wir nicht reden

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Endspurt! Jetzt gibt es an jedem Advent ein Kapitel! Komplett anzeigen

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Kaffee

Ich wischte den viel zu früh erklingenden Weckton meines Handys weg und stöhnte. Mein Kopf fühlte sich an, als wurde er von einem glühenden Fleischspieß penetriert, mitten hindurch, und meine Augäpfel standen kurz vor dem Platzen. Gottverdammt. Dieser Whiskey... Dabei war es doch kein billiger Fusel gewesen, im Gegenteil! Aber das war ja noch nicht mal das Schlimmste, sondern das, was danach passiert war... Simon, der Blödmann mit seiner bescheuerten Idee! Nackt vor dem Spiegel… Nun gut, er hatte ja auch empfohlen, es alleine zu tun. Zehn Minuten lang, und bloß gucken. Er sagte nicht, es betrunken zu tun und mit jemand anderem, der zufällig gay war, und auch kein Wort davon, auch noch zu tanzen. Dann wäre ich nicht mit Linus in der Kiste gelandet! Mit Linus! Das musste einfach ein schlechter Traum sein!

Ich scrollte durch mein Telefonbuch, rief meine Teamleiterin an und meldete mich bei ihr krank. So belegt wie meine Stimme klang, musste ich ihr nicht mal etwas vorlügen. Sie reagierte freundlicher, als es mir zustand und ich fühlte mich beschissen. Dann schlief ich noch einmal ein und träumte seltsame Dinge.
 

Erst zur Mittagszeit gelang es mir, die Leiter von meinem Hochbett herab zu kriechen und mich unter die Dusche zu stellen. Noch mit feuchten Haaren setzte ich in der Küche Kaffee auf. Dort goss ich mir auch ein Glas Wasser ein und schluckte eine Kopfschmerztablette.

Wie geht es dir? Ich hoffe, besser als mir, tippte ich eine Nachricht an Linus. Er antwortete: Bin auch noch im Bett statt in der Uni. Aber ich bereu nix!

Da war ich ja erleichtert. Mich erreichte ebenfalls eine Nachricht von Fatima: Mahlzeit! Sei froh, dass du nicht hier bist, hast echt nix verpasst! Dazu ein Foto ihres Mittagessens, bei dem sich mir der Magen umdrehte: Verunfalltes Spiegelei, mit einer undefinierbaren Substanz daneben, die an Algenkotze erinnerte, und zum Nachtisch Vanillepudding. Dann doch lieber die trockenen Salzstangen vom Küchenregal. Ich hatte die halbe Packung leergefressen, als Sandro anrief. Oh, fuck. Der würde mir den Kopf waschen!

„Hey...“

„Hey. Ich bin gerade draußen, eine rauchen… Du bist krank? Hast du dich bei mir angesteckt?“

„Nee, keine Sorge. Behalt das für dich, ja? Denn das muss nicht das ganze Heim wissen: Ich hab es gestern übertrieben mit einem Kumpel und einer Flasche Whiskey. War scheiße, ich weiß! Halt mir keine Predigt, der Kater ist mir Strafe genug.“

Sein Schnauben kam sogar übers Telefon rüber. „Mit Neunzehn darf man noch einen Kater haben“, zog er mich auf, „aber besser nicht unter der Woche.“

Ich sagte gar nichts dazu, seufzte nur schwer. Wenn er wüsste! Ich war ja nicht mal halb so betrunken gewesen, wie bei seinem Auftritt, als ich bemerkt hatte, dass er mir sehr gefiel…

„Ist irgendwas vorgefallen bei dir?“, fragte Sandro jetzt mit so ernster Stimme, sein Interesse war echt. Ich wusste wirklich nicht, was ich auf seine Frage antworten sollte, wie viel ich ihm anvertrauen konnte, denn so vertraut waren wir ja noch nicht. Wurden wir vielleicht auch nie. Ich stellte ihn mir vor, wie er dort draußen in der Kälte stand – ein schwarzer Fleck mit schönen Proportionen, sein Rücken eine beispiellose V-Form, umhüllt von Rauchschwaden – auf meine Antwort wartend. Jetzt hustete er in den Hörer.

„Ich glaub, ich vermiss deinen Qualm.“ Wie schön es wäre, jetzt auch dort zu stehen. „Ach, es bringt ja nichts, dir was vorzumachen, Sandro. Die Party war eine Katastrophe! Ein guter Kumpel von mir, der mit Drogen überhaupt nichts zu tun hat, hat da was von jemandem genommen. Dann ist er zusammengebrochen und liegt seit Sonntagnacht im Krankenhaus, im Koma.“

Eisiges Schweigen in der Leitung, ich stellte mir vor, wie Sandro erst mal einen tiefen Zug nehmen und das auf sich wirken lassen musste.

„Scheiße. Das ist übel. Ich weiß, wie du dich fühlen musst. Aber es ist nicht deine Schuld, wenn er was nimmt. Wir können nur für uns denken, nicht für andere.“

„Ja, das stimmt wohl.“

„Weißt du, was ich dich heute eigentlich fragen wollte?“

„Hm? Was?“

„Ob wir uns Freitagabend treffen wollen, in der Piano-Bar in Kornheim. Weil, ich finde, wir sollten nochmal bei Null starten, nach allem was geschehen ist. Natürlich nur, wenn du möchtest. Deine Nachricht gestern Abend…“ Er schnaubte. „Na gut, jetzt weiß ich, dass du blau warst, als du die geschrieben hast.“

„Doch, die hatte ich so gemeint. Ich will dich gern wiedersehen, und besser kennenlernen!“

Klar wäre es geschickter gewesen, Sandro von Anfang an einfach nach seiner Nummer zu fragen, oder uns in einer Bar zu treffen, anstatt mich selbst bei ihm einzuladen, mit allen Konsequenzen, die das nach sich gezogen hatte…

„Gut. Dann also bis Freitag.“

„Sehen wir uns vorher nicht mehr?“

Er lachte. „Nein. Damit du große Sehnsucht nach mir bekommst!“

„Na, das ist aber fies... du wirst größere bekommen, ätsch!“, verabschiedete ich mich und legte auf.

Ich ertappte mich, wie ich vor mich hin grinste, über beide Ohren. Mein richtiges erstes Date mit Sandro! Aber war es moralisch vertretbar, mich zu vergnügen, während David immer noch im Krankenhaus lag?
 

~
 

Nach Ende meiner Spätschicht und letztem Arbeitstag in diesem Jahr war ich in der Umkleide duschen gewesen und Parfüm hatte ich auch aufgelegt und meine Haare ordentlich frisiert, ich wollte schließlich nicht mit meinem Arbeitsschweiß und Altenheimdunst in der Piano-Bar aufkreuzen. Sie befand sich im Herzen von Kornheim und war wohl keine Schwulenbar, wie ich gerade am Handy recherchierte; sie war noch nicht einmal wirklich eine Bar, vielmehr ein inhabergeführtes Café mit innovativem Konzept.

Eine Nachricht von Linus trudelte ein: David ist aufgewacht! Er darf heute nach Hause! Ich bin so unendlich froh!!!

Das bin ich auch! Was für ein Wunder, schrieb ich zurück mit einem Smiley. Nicht zu fassen! Endlich mal gute Nachrichten! Sofort rief ich Jo an, um ihm diese Neuigkeit mitzuteilen.

„Wirklich? Ist ja Wahnsinn! Was für ein Scheißglück David hat! Ob er sich an alles erinnert?“

„Ich hoffe es, sonst wäre es doch echt blöd. Du, Jo, es tut mir übrigens leid, dass ich dich angeschrien habe neulich.“ Aber es tat mir nicht leid, was ich zu ihm gesagt hatte, denn das musste raus, wenn nicht unbedingt auf diese Art und Weise.

„Kein Ding, Alter, ich war nur so geschockt, ich wusste gar nicht, was ich sagen soll in dem Moment. Das ist so krass mit deiner Mutter!“

„Ja, das war es auch.“ Die Straßenbahn hielt an der Haltestelle, von wo aus es nur noch ein kurzer Fußweg zur Piano-Bar war.

„Wollen wir uns heute treffen, Dome?“

„Äh, geht nicht. Ich hab gleich ein Date.“

„Oh.“ Er verstummte. „Mit wem?“

„Mit Sandro.“

„Ein Kerl?“

„Ja.“ Ich musste grinsen. „Ich glaube, ich bin Bi. Mindestens.“

„Okay...“

„Du, war Xia eigentlich auch mal David im Krankenhaus besuchen?“

„Nicht dass ich wüsste. Sie hat sich nicht mal nach ihm erkundigt! Sie ist wohl doch so, wie du gesagt hast. Wenn ich da im Koma liegen würde, würde es sie wohl auch nicht kümmern. So eine brauch ich echt nicht!“

„Hak sie ab, Jo. Die nächste wird kommen!“

„Du klingst schon wie Simon... Na egal. Feiern wir Silvester bei mir?“

„Können wir gerne machen.“ Wenn er auch nicht der beste Freund zum Reden war, so war er dennoch der beste Kumpel zum Feiern, Partys bei ihm wollte ich nicht missen. Diese Wahnsinns-Küche...! „Du hast jetzt auch Weihnachtsferien, oder?“

„Ja, heute der letzte Vorlesungstag. Dann, äh, joa, ein gutes Date!“

„Danke. Wir sehen uns!“
 

Gut besucht war es, Rock´n´Roll Musik dudelte aus den Boxen, die Bar wirkte edel, mit all diesen goldenen Notenlinien und Verzierungen an den dunklen Wänden. Einfach total passend für Sandro! Im hinteren Teil stand sogar ein Flügel auf einer Bühne, ganz verlassen.

Sandro winkte mir von einer Eckbank aus zu. Oh Mann, er sah so gut aus! Als hätte er sich heute extra aufgebrezelt, um seinen Bad-Hair-Day neulich aus meinem Gedächtnis zu radieren.

„Alles klar? Wieder erholt?“, fragte er, erhob sich und umarmte mich flüchtig. Ein dünnes schwarzes Shirt, das so figurbetont an ihm saß, dass kein Muskel verborgen blieb… Ich sog die Wärme seiner Umarmung gierig in mir auf, ebenso seinen dezenten Duft nach Moschus und Tabak.

„Bestens!“, sagte ich und nahm ihm gegenüber Platz. „Es gibt nämlich gute Nachrichten!“

„Hm?“

„Meinem Kumpel geht es besser und er wird aus dem Krankenhaus entlassen!“

„Das ist schön.“

Ich ließ die Atmosphäre des Cafés auf mich wirken. „Da hast du eine richtig coole Location ausgesucht.“

„Ja, ich wollte schon lange mal hier etwas trinken, sie hat vor ein paar Wochen neu eröffnet.“

Alle möglichen Spirituosen standen auf der Karte zur Auswahl, doch ich würde von Alkoholischem die Finger lassen. Für das restliche Jahr! Das hatte ich mir fest vorgenommen. Erst wieder um Punkt Mitternacht an Silvester würde ich mir einen Schluck Sekt gönnen. Danach erst wieder an meinem Geburtstag.

Sandro bestellte beim Kellner einen Espresso, und ich einen Latte Macchiato, dazu einen Schokoladenkuchen namens Kleine Nachtmusik. Schneller als ich damit gerechnet hatte, wurden sie bereits von der Kellnerin serviert, nachdem wir gerade mal zwei Sätze Smalltalk ausgetauscht hatten.

Unter Sandros aufmerksamen Blick versenkte ich einige Zuckerwürfel in die Tasse, was den kunstvollen Kakao-Violinschlüssel auf dem Milchschaum zerstörte. Auch schwappten ein paar Tropfen über den Rand des Glases, einer spritzte sogar bis weit über die Untertasse und sickerte in die weiße Tischdecke.

„Ups. Naja, wenn es nicht spritzt, macht es keinen Spaß“, sagte ich zu mir selbst, um von dem Missgeschick abzulenken.

Sandro prustete sofort los, da erst wurde mir die Zweideutigkeit bewusst, und ich lachte mit. „Ach Dominique. Du bringst mich so oft zum Lachen.“

Ich lächelte geschmeichelt, bekam heiße Wangen.

„Wie schmeckt der Kuchen?“

„Großartig, schön saftig und fluffig…“ Als ich seinen Gesichtsausdruck sah, nahm ich meine Gabel und hielt sie ihm hin. Er ließ sich von mir das Kuchenstück füttern.

„Was machst du eigentlich, wenn du nicht gerade auf der Bühne stehst, oder Songs schreibst?

Sein charakteristisches Schnauben. „Ich habe Physiotherapeut gelernt. Nach einem angefangenen Philosophiestudium. Momentan arbeite ich in einem Fitnessstudio, mein Vertrag wurde zum Jahresende aber nicht verlängert.“

„Oh, Philosophie? Warum ausgerechnet Philosophie?“

„Naja… als junger Mensch sucht man nach der Wahrheit, du etwa nicht?“

„Doch. Ich kenne sogar jemanden, der nach Gott sucht...“

„Gott? Wird das auch die Richtung sein, die du anpeilst, nach dem Altenheim?“

Ich lachte bei der Vorstellung. „Nein, wirklich nicht! Da bin ich mir sehr sicher. Aber ich sollte echt bald einen guten Plan haben. Ich habe nämlich noch keinen.“

Das erinnerte mich wieder an mein Ultimatum – noch 12 Tage bis zur angedrohten Obdachlosigkeit! – und der Kuchen lag mir schwer im Magen. Das Gesprächsthema war suboptimal, doch ich war ja derjenige gewesen, der es angeschnitten hatte. Selbst schuld. Mich interessierte ja ein ganz anderes Thema brennend, aber ich traute mich nicht, ihn über seinen Ex auszufragen. Das war einfach kein Thema für ein erstes Date. Ich würde ja auch nicht von Marie erzählen wollen.

„Jedenfalls, das Fitnessstudio war eh nur als Übergangslösung geplant, um eine Weiterbildung zu finanzieren, auf keinen Fall mein Traumjob“, nahm Sandro den Faden wieder auf. „Weißt du, die Fitnessbranche ist ziemlich krank, da pass ich nicht rein, es ist das Gegenteil von dem, wovon ich tief im Inneren überzeugt bin. Ich fühle mich wohler, wenn ich Verletzten ihre Lebensqualität zurückgeben kann, als wenn ich Fuckboys beim Schwitzen zuschauen muss, die meinen, zwanzig Kilo Muskelmasse wären alles, was ihnen im Leben fehlt.“

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, rein optisch könnte man Sandro ja auch zu ebendiesen Jungs zählen. „Wieso hast du dort angefangen, wenn du etwas anderes gelernt hast? Das ist ja wirklich kein Geheimnis, wie es dort zugeht.“

Er zuckte die Schultern. „Ich bin halt auf naive Versprechen reingefallen, dabei hatte ich schon beim Vertrag unterzeichnen ein komisches Bauchgefühl. Das einzig Gute daran waren die Arbeitszeiten, die sich gut mit Vaters Pflege vereinbaren ließen…was ihm übrigens gegen den Strich ging, er wollte auf keinen Fall von mir gepflegt werden.“

„Hm. Ich war sozusagen auch der Pfleger meiner Mutter, als es ihr nicht gutging. Jetzt geht es ihr besser… und sie lebt im Ausland“, sagte ich vage.

„Ach ja?“ Sein Blick ruhte auf mir, auch während er an der Tasse nippte. „Ich weiß so vieles noch nicht über dich. Du lässt dir nicht gerne in die Karten schauen.“

„Wer tut das schon?“

„Aber du hast ja fast schon Mauern um dich aufgebaut. Geht es dir wirklich gut?“, fragte er mich abermals, und imponierte mir mit seiner bohrenden Hartnäckigkeit. Wie oft würde er das noch fragen? Bis ich in Tränen ausbrach? „Und warum trinkst du immer so viel? Nur um deinen Freunden etwas zu beweisen, brauchst du das?“

Diesmal zuckte ich mit den Schultern, wich seinen tiefseeblauen Augen aus, die sich in meine zu bohren schienen. „Vielleicht deswegen, weil mich gerade so viel Kram beschäftigt... Wer weiß, vielleicht besaufe ich mich mal so sehr, dass ich mich im Leben nie wieder um irgendwas kümmern muss“, fügte ich an und lachte bei dem Gedanken. Zu spät bemerkte ich seine Falten werfende Stirn, die nichts Gutes verhieß.

„War bloß ein Scherz“, stellte ich klar, doch das glättete sie nicht. Er öffnete den Mund, aber fand wohl nicht die richtigen Worte. Wahrscheinlich hielt er mich für einen Fuckboy, der nichts auf die Kette brachte. Ein Junge, kein Mann; jemand dessen Lebensweg vorgezeichnet war, nämlich nach unten, in die Gosse mit einer Flasche in der Hand. Einer, der am besten mit seinesgleichenabhing…

„Du denkst richtig schlecht von mir, oder, Sandro? Neulich sagtest du sogar zu mir, ich soll zu meinesgleichen gehen...“

„Das? Ach… damit meinte ich nicht, dass ich schlecht von dir denke, sondern etwas anderes.“

„Und was genau?“

„Naja. Weißt du, mein Vater verurteilt mich einfach für alles; für Entscheidungen, die ich getroffen habe. Für die Parteien, die ich wähle, die Werte, die ich habe, Worte, die ich benutze, und sogar die Luft, die ich atme. Dann kommst du daher, der weder ihn richtig kennt, noch mich, und sagst, dass ich mit ihm einfach nur reden müsse, und schon löst sich alles in Wohlgefallen auf? Nein, Dominique, so läuft das nicht, mein Vater ist jemand, mit dem man eben nicht reden kann! Wirklich kein vernünftiges Vater-Sohn-Gespräch führen. Er ist nicht wie andere Väter, er ist... Er ist einfach Siegfried Schwarzer, Punkt. Da liegen nicht nur fast fünf Jahrzehnte zwischen uns; da ist so viel mehr, was uns trennt. Wir stammen von zwei verschiedenen Universen und unsere einzige Gemeinsamkeit ist, dass wir verwandt sind. Das hat mir auch meine Tante bestätigt, seine Schwester. Sie hat auch kein besonders gutes Verhältnis zu ihm.“

„Warum besuchst du ihn dann so häufig, wenn ihr nicht reden könnt? Warum tust du dir seine Gesellschaft an, wenn ihr euch nicht gut versteht?“

„Na…Weil ich Klarheit will, und Antworten, wieso er so ist wie er ist, was ihn dazu gemacht hat im Leben. Weil es mich auch betrifft! Und das geht nunmal nur zu seinen Lebzeiten. Ich bin kein Kind mehr, mit dem man nicht reden kann. Ich will ihn wirklich verstehen. Die Gefühle, über die wir nicht reden, vergiften unsere Beziehungen über Generationen hinweg, das sagt meine Tante immer. Früher habe ich das nicht verstanden, erst als ich älter wurde…“

Diesen Satz ließ ich eine Sekunde auf mich wirken. „Deine Methode über Gefühle zu reden ist die, alle in kryptische Songs zu packen und in die Welt hinausschreien zu lassen“, erfasste ich Sandros Wesen in einem einzigen Satz, drang dabei tief in seine Augen, die so dunkel wie geheimnisvoll waren. Ein Blickkontakt, so intensiv und lang, wie ich noch nie mit jemandem Blickkontakt gehalten hatte, mir gefiel die unausgesprochene Begierde, die zum Greifen nah war.

„Warum singst nicht Du die Songs, Sandro?“

Er winkte ab. „Ich schreibe die Songs, und ich komponiere sie... Basti würde sich bedanken, wenn ich jetzt auch noch singen will. Er ist dafür besser geeignet, hat eine Gesangsausbildung, und wir haben uns seines Gesangs wegen für ihn entschieden.“

„Du hast aber eine angenehmere Stimme, und du könntest die Gefühle viel besser transportieren als er, der bloß herumgrölt.“ Eine ganz leichte Verzerrung in seiner Mimik bei diesem Kompliment, die er sich selbst verbot, ein Räuspern.

„Ich habe euch übrigens auf YouTune gesehen...“, sprudelte es aus mir heraus. Mist. Das hätte ich nicht erwähnen sollen.

Er stöhnte auf. „Du meinst dieses eine Video, das im Netz kursiert, wo mir mittendrin die Saite gerissen ist?“

„Ach so war das…“ Wir wussten aber beide ganz genau, wie dieses Video geendet hatte, der Titel spoilerte bereits.

„Hör zu, zwischen Flo und mir ist es aus. Endgültig. Egal, was im Internet zu sehen ist.“

„Okay. Wie lange warst du mit ihm zusammen?“

Seine Stirn verriet, dass er dieses Thema jetzt nicht vertiefen wollte. „Knapp drei Jahre lang. Es ging sehr hässlich aus, nicht nur mit uns, auch mit der Band. Am Ende habe ich ihn angezeigt, das nimmt er mir bis heute übel. Aber ich musste das tun, allein schon deswegen, weil er eine Gefahr für sich selbst darstellte. Daher kann ich mir nie wieder jemanden als Partner vorstellen, der Substanzen missbraucht.“

Ich erinnerte mich dunkel, etwas von Entzug und Prozess mitangehört zu haben.... Seine linke Hand lag die ganze Zeit auf dem Tisch, zur Faust geballt, fiel mir auf. Ob er Schmerzen litt?

„Nächstes Jahr ist der Gerichtsprozess wegen Körperverletzung, und dann habe ich endlich meine Ruhe vor ihm.“

„Körperverletzung?“, fragte ich alarmiert. Schon fanden meine Finger seine Hand. Meine Hand legte ich auf seine. Unsere Hände verflochten sich ineinander, seine von Hornhaut überzogenen Fingerkuppen, die kräftigen, sehnigen warmen Fingerglieder. Eine banale Geste. Aber was sie in mir auslöste! Nicht nur ging mein Puls rasant in die Höhe, es fühlte sich an als schwebte ich sachte vom Stuhl.

„Nein. Das ist wirklich nichts, was ich ihm anlasten könnte.“ Er rang sich ein Lächeln ab. „An allem ist er auch nicht schuld.“

Er setzte an, noch etwas zu sagen, wurde jedoch unterbrochen, von der Kellnerin, die an unserem Tisch vorbeikam: „Bei Ihnen alles in Ordnung?“

Sandro räusperte sich, er schien auch durch sie wieder in die Gegenwart geholt worden zu sein, doch seine Hand blieb genau da, wo sie war. „Ja. Zahlen, bitte.“ Während ich überhaupt kein Wort herausbrachte.
 

Nachdem Sandro gezahlt hatte, gingen wir nach draußen, wo es laut und belebt war, ein E-Scooter-Fahrer sauste knapp an mir vorbei, an der Kreuzung hupte ein Auto. Aber das war alles nicht wichtig, nur eine Sache war es: „Sieh mal: es schneit!“

Verträumt starrte ich in den Nachthimmel hinauf, auf die weißen Flocken, die mir entgegen rieselten, und Sandro auch. Ein schöner Moment.

„Danke für Kaffee und Kuchen. Ich muss in diese Richtung.“

„Ich muss in die andere Richtung.“ Doch keiner von uns machte Anstalten, sich in Bewegung zu setzen. Wir standen nah beieinander, beobachteten gegenseitig die Atemwölkchen, die wir produzierten. Ich wollte noch nicht nach Hause. Das Stündchen, die wir heute zusammen verbracht hatten, war viel zu kurz gewesen. Selbst ein ganzer Tag mit Sandro wäre zu kurz, aber zu ihm nach Hause konnte ich auch nicht, denn wir würden es nicht schaffen, die Finger voneinander zu lassen. Ich musste aber morgen noch Muffins backen für das Altenheim.

„Morgen ist unser Adventsbasar im Altenheim, und auch ein kleines Konzert, bei dem die Bewohner Instrumente spielen und Weihnachtslieder singen. Ich werde dort sein, kommst du auch?“ Ein beinahe flehender Unterton mischte sich in meine Frage, obwohl ich das doch cool hatte rüberbringen wollen, so als wäre es mir ganz gleichgültig, ob er sich dorthin bequemte oder nicht.

„Weihnachtslieder?“, fragte er mit gequältem Ausdruck. „Um wie viel Uhr denn?“

„Der Basar beginnt um fünfzehn Uhr, das Konzert um siebzehn Uhr.“

„So früh?!“

„Es sind alte Leute, Sandro. Hast du nicht die Plakate dafür gesehen? Die haben Fatima und ich gestaltet. Es werden auch Kuchen und Basteleien für den guten Zweck verkauft.“

„Ich überlege es mir. Komm gut heim, Süßer.“ Er machte einen Schritt auf mich zu, wuschelte mir durch die Haare und meinte dazu: „Das wollte ich schon so lange machen!“
 

~
 

Als ich in der Bahn saß, schickte ich eine Nachricht an Simon: Würdest du mir, und Sandro einen Gefallen tun und dieses YouTune-Video löschen? Er ist nicht mehr in der Phase, in der er Knutschvideos mit seinem Ex online haben will.

Denn es war mit Sicherheit Simon gewesen, der es damals gefilmt und online gestellt hatte, Simon, diesem Gitarrhö-Fanboy, war es zutrauen, schließlich hatte er selbst mir den Link geschickt, und lautete der Nickname des Users nicht Phase-irgendwas? Was für ein Zufall! Außerdem war er es gewesen, der mir dem Schwulendrama innerhalb der Band erzählt hatte!

Moin, danke dass du mich auf den neusten Stand bringst! Hast wohl deinem Namen wieder mal alle Ehre gemacht, was Cummy-nique? Muss dich aber enttäuschen, ich hab nicht mal einen YouTune Account.



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