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Die Gefühle, über die wir nicht reden

von

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Polaroids

Wie jeden Montagvormittag im Altenheim stapelte ich die Kartons verschiedener Inkontinenzeinlagen auf einen Rollwagen, mit dem ich meine Runde durch die Station zog, um allen Bewohnern ihre Schränke aufzufüllen. Endlich war ich an Schikos Zimmer angekommen, das letzte Zimmer auf dem Gang.
 

Nach meinem Anklopfen und dem darauffolgenden Herein trat ich ein. Ich begrüßte den fast kahlköpfigen alten Mann, der in seinem Sessel saß und seine klobige Lesebrille zurechtrückte.
 

„Dominique.“ Er war einer der wenigen Besuchern, mit denen ich mich duzte. „Ich muss wohl eingeschlafen sein...“ Die Zeitung faltete er mit zittrigen Händen zusammen und legte sie auf den Beistelltisch. Gekleidet war er wie immer, mit einem karierten Hemd, das in seine Cordhose gesteckt war und Hosenträgern darüber.
 

Ich mochte die Ruhe und den Frieden, den sein Zimmer ausstrahlte. Die vielen gerahmten Fotos in Schwarz-Weiß und Farbe und auch die zahllosen Bücher ließen auf sein langes, erfülltes Leben schließen.
 

Ich fragte ihn, ob ihn wieder Schmerzen quälten, während ich die Tür seines Nachttisches öffnete und dort meine Arbeit verrichtete.
 

„Es geht. Man gewöhnt sich dran, dass immer etwas zwickt. Der Arzt hat mir ja schon die stärksten Tabletten verschrieben; es ist halt einfach das Alter, gegen das kein Kraut gewachsen ist. Die morschen Organe, die wollen nicht mehr so wie ich.“ Er hustete. „Ich glaube, ein neues Buch fange ich besser nicht mehr an. Diesen Stapel da, kann ich zu Lebzeiten ohnehin nicht mehr fertig lesen.“ Unwillkürlich wanderte mein Blick zu dem Stapel Bücher auf seinem Nachttisch. So deprimiert kannte ich ihn gar nicht. „Ja, schau dich ruhig um, Junge, das ist es, was von einem Leben übrig bleibt – vergilbte Fotos und ein Stapel ungelesener Bücher. Und die Verwandtschaft lässt sich auch nur blicken, wenn sie was von einem braucht.“
 

Er schnäuzte sich die Nase, warf einen kritischen Blick in das Stofftaschentuch und verstaute es in seiner Hosentasche. „Aber mach dir um mich mal keine Sogen.“ Ein zuversichtliches Lächeln. „Was gibt es denn Neues bei dir?“
 

„Gestern war ich in der Kirche.“
 

„Aha. Online?“
 

Ich musste kurz lachen. „Nein, in echt, in einer richtigen Kirche.“
 

„Ja, weiß man es? Mit euren Onlinetafeln, die ihr überall mit hin schleppt heutzutage, da könnt ihr doch alles Mögliche machen. Wenn wir sowas nur gehabt hätten damals. Mein kostbarster Besitz als Bub war mein Taschenmesser! Jeder hat eines gehabt. Wie war denn die Messe?“
 

„Ich war nicht allein dort, sondern mit einem Freund. Sonst bin ich nie in der Kirche, aber mit ihm war es richtig cool. Er studiert Theologie, aber ob er Priester werden will, weiß er noch nicht.“
 

„Wirklich? Jemand in deinem Alter? Das ist ja wirklich selten heutzutage, eine richtige Rarität. Ach, die Anne würde sich im Grab umdrehen, wenn sie wüsste, wie lang ich nicht mehr in der Kirche war. Unser Gemeindepfarrer, das war ein ganz lieber Kerl, der ist steinalt geworden, hat schon mich getauft, gefirmt, und uns getraut, und den Benedikt und die Elisabeth auch die Ulla getauft, bis er dann bald darauf gestorben ist, Gott hab ihn selig, den Mann. Den Michael hat dann schon der Neue getauft, ja das weiß ich noch. Ist viel Wert, so ein Pfarrer, mit dem man sich gut versteht. Bei dem neuen bin ich oft in der Messe eingeschlafen.“ Er lachte grunzend. „Der war irgendwie komisch, kam auch von woanders her, der hat nie so dazugehört wie der alte. Man hat auch gemunkelt, dass er nur Priester geworden wäre, weil er mit Frauen nix anfangen kann... Wie die Leute halt so reden. Muss dein Freund gut abwägen, ob das seine Berufung ist, so ein Zölibat ist sicher kein Zuckerschlecken.“
 

„Hm…“, machte ich nachdenklich.
 

„Na, aber jetzt erzähle mal, hast du was von deiner Marie gehört?“
 

„Sie hat mir zurückgeschrieben.“ Ich fasste ihm kurz den Inhalt von Maries Brief zusammen.
 

„Hm, soso. Und sie will dich gar nicht mehr sehen?“
 

„Das hat sie so nicht gesagt.“
 

„Junge, es wird doch wohl nix passiert sein? Die Anne war früher auch mal so komisch, ich dachte, die mochte mich nicht mehr. Ja und was war? Da war der Benedikt unterwegs, deswegen mussten wir heiraten, die Anne und ich. Das waren ganz andere Zeiten als heute. Ach, was waren wir jung gewesen!“
 

„Was?! Nein, unmöglich!“, widersprach ich.
 

„Das passiert ganz schnell, selbst wenn man aufgepasst hat, dass nix passiert“, sinnierte er, und mir wurde der Mund trocken. „Na, vielleicht ist ja auch nichts passiert, man muss ja nicht immer vom Schlimmsten ausgehen, wenn die Frauen sich komisch benehmen. Junge, du bist ja ganz blass. Windeln wechseln kannst du doch ganz gut, du musst dir keine Sorgen machen, und volljährig bist du ja auch schon! Wir waren es erst mit Einundzwanzig.“ Er lachte heiser und schien plötzlich so weit weg zu sein. „Was für Zeiten! Aber manche Dinge ändern sich wohl nie, ja...“
 

„Ich muss jetzt weiter“, murmelte ich und verfrachtete den Windelwagen wieder hinaus in den Flur. Hinter mir im Zimmer lachte Schiko, bis er einen Hustenanfall bekam.
 

Ich versuchte mich zu beruhigen und mit Arbeit abzulenken. Doch es war wie eine Dosis lähmendes Gift, das Schiko mir mit diesem Gedanken injiziert hatte, auch wenn das nicht seine Absicht gewesen war, und den ganzen Tag lang stellte ich mir die unmögliche Frage: Was, wenn Marie von mir schwanger war? In dieser Angelegenheit war sie stets sehr gewissenhaft gewesen und hundertprozentige Garantie gab es nie. Doch… Immerhin hatte sie ihre Eltern erwähnt und Familienfotos… Fuck, passte das nicht alles unheimlich gut zusammen? Meine Kehle trocknete aus, meine Hände dagegen waren schweißnass und mir wurde schlecht. Ich konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen, ihren Brief nochmal gründlich, auch zwischen den Zeilen zu lesen und meine Antwort zu verfassen.
 

Liebe Marie!
 

Dein Vergleich mit der Leinwand spricht mir so aus der Seele. Ich weiß auch noch nicht, wohin mit mir. Wo mein Platz ist, beruflich gesehen. Naja, und nicht nur beruflich. Aber ich mache ja jeden Tag neue Erfahrungen und auch im fortgeschrittenen Alter werde ich immer noch Neues entdecken, denn die Welt ist groß.
 

Ich wünschte trotzdem, ich könnte ein halbes Jahr vorspulen und hätte diese Entscheidung dann längst getroffen. Unsere Generation hat heutzutage wohl einfach viel zu viele Möglichkeiten, sich zu entfalten, wir leben im Frieden und im Überfluss und sind keine Krisen gewohnt und permanent online. Das ist so das, was ich von den alten Leuten im Altenheim oft gesagt bekomme. Ich würde echt nicht gerne mit ihnen tauschen wollen, wegen diesen ganzen Entbehrungen, die sie hatten und die ganzen Erfindungen, die es noch nicht gab zu ihrer Zeit wie Internet, Fernsehen, Waschmaschinen!!! Einfach alles, was heutzutage, selbstverständlich ist... Das ist sehr taff, digitales Detox durchzuziehen. Ich könnte es nicht, Marie!
 

Neulich hat Jo mich mit jemanden von seiner Uni bekannt gemacht, der noch ein altes Handy benutzt und SMS schreibt und auch sonst irgendwie sehr eigenartig ist. Aber nicht auf negative Weise, sondern auf eine coole. Du würdest ihn sicher mögen.
 

Marie. Wir hätten definitiv mehr reden sollen, ja, ich bereue das sehr, jetzt im Nachhinein. Es stimmt nicht, dass es mich nicht interessiert, was mit dir los ist, vielleicht halt nicht im Detail Deine ganzen Sprünge und Choreos, über die Du mir immer so viel erzählt hast – ganz ehrlich, es ist nicht viel hängen geblieben, wie die alle heißen, und ja, vielleicht hat es mich manchmal gelangweilt. Wenn ich dir aber zugesehen hab, wie Du das Publikum verzaubert hast, dann war nur eine selbstbewusste junge Frau, die wusste, was sie tut und nicht dieses an allem zweifelnde Mädchen, das ich aufbauen musste vor einem Wettkampf (oder einer Klausur) obwohl es das nicht nötig hatte.
 

Ist doch verdammt cool, dass du ausziehst! Wie ich Dich kenne, machst du dir wieder einen Kopf - aber Du wirst auch das mit Leichtigkeit wuppen!
 

Lange Rede, kurzer Sinn: Ich möchte Dich nicht verlieren, Marie. Ich bin so froh, dich kennengelernt zu haben, denn ohne dich wäre mein Leben um einen wundervollen Menschen ärmer. Egal was du gerade durchmachst, lass mich daran teilhaben! Man kann nicht immer alles alleine stemmen, erst recht wenn man erst 19 ist. Manche Lasten sind zu schwer zu tragen für einen alleine, erst recht wenn es zwei verbockt haben. Was auch immer ist, du kannst auf meine Unterstützung zählen! Ich kann was, ich muss ja immerhin jeden Tag Leute anziehen und waschen und zur Toilette bringen. Hier im Altenheim lernt man wirklich was fürs Leben, will ich damit sagen. Du kennst zwar mich, aber noch die alte Version von mir. Lerne doch die 2.0 kennen!
 

Dominique


 

Die Tinte noch nicht trocken, tütete ich ihn ein und klebte vor lauter Hast die Briefmarke schief aufs Kuvert. Egal. Ich schnappte mir meine Jacke und unternahm einen langen Spaziergang zum Briefkasten, während es draußen dämmerte. Zwei öde Wochen lang sollte ich nichts mehr von ihr hören. Dafür aber regelmäßig einen Zweizeiler von David. Am Samstag wollte er mich in die vegane Eisdiele einladen.
 

~
 

Während ich in besagter Eisdiele saß und auf David wartete, textete mich Jo im Chat zu. Nun wusste er endlich, wie die Asiatin hieß, hatte er mir stolz berichtet: Xia.
 

Hast du Bock auf die Halloweenparty auf dem Campus, heute Abend?, fragte er.
 

Nein, hab ich nicht, antwortete ich ganz ehrlich. Gehst du nur dorthin, weil Xia zufällig auch hingeht? Mir konnte er doch nichts vormachen.
 

Vielleicht lernt du ja dort eine kennen, die dich von Marie ablenkt. Als ich das las, schnappte ich nach Luft.
 

Ich brauche keine Ablenkung! Wir kommen wieder zusammen! Warts nur ab!
 

Wenn du meinst. Glaube versetzt ja bekanntlich Berge, schrieb er vielsagend und brachte mich auf die Palme damit. Wollte er damit andeuten, dass er mehr wusste als ich?
 

„Hallo, Dominique“, hörte ich eine bekannte Stimme.
 

„David! Hi.“ Als ich den Kopf hob und sein Gesicht erblickte, spürte ich regelrecht, wie sich meine Miene wieder glättete.
 

Er setzte eine uralt aussehende Umhängetasche aus Leder auf dem Boden ab, bei der ich mich fragte, wie viele Generationen sie auf dem Buckel hatte, weil sie roch wie ein altes Tier. Auf dem Stuhl mir gegenüber nahm er Platz, entschuldigte sich wieder einmal für sein Zuspätkommen, doch ich winkte nur ab und legte das Handy beiseite.
 

„Halloween-Party, gehst du da hin?“
 

David schüttelte den Kopf. „Ich habe das noch nie gefeiert, warum auch? Es ist ein ursprünglich keltisches Fest, bei dem einem Totengott gedacht wird. Meine Familie feiert Allerheiligen.“
 

„Interessant“, machte ich nur. In diesem Moment kam er mir so seltsam fremd vor, als käme er aus einem ganz anderen Kulturkreis.
 

„Jo versucht mich überreden mitzukommen, aber da will er doch nur hin, weil diese Xia hingeht. Da wäre ich also das fünfte Rad am Wagen… daher dachte ich an dich.“
 

„Oh, um Xia geht es also“, meinte er, hellhörig geworden und räusperte sich. „Heute in der Mensa habe ich ihm den Gefallen getan, sie zu fragen, wie sie heißt, und in welchen Kurs sie geht. Da hat sie die Party erwähnt.“
 

„Warum hast du das denn getan?“ Ich war baff. Jo hatte sie also nicht mal selbst angesprochen.
 

„Naja. Ich konnte es nicht länger mit ansehen, wie er sie von Weitem anhimmelt und sich einfach nicht an sie heran traut. Das ist doch traurig. Aber er hätte mich dafür fast gefressen. Muss wirklich ein schlimmes Gefühl sein, wenn man sich so sehr eine Freundin wünscht, aber es dann immer selbst vereitelt. Er tut mir irgendwie leid“, murmelte David vor sich hin.
 

Ich prustete. „Am Ende muss er noch ins Kloster, der Ärmste.“ Erst als ich seinen Blick sah, wurde mir bewusst, was ich da gesagt hatte.
 

Dass gerade die Kellnerin kam und uns die Speisekarten brachte, kam mir sehr gelegen, ich vergrub meinen Kopf regelrecht darin, obwohl ich schon längst wusste, dass ich mir ein Spaghetti-Eis bestellen würde.
 

Ich hörte David sich räuspern und wusste, dass das jetzt noch so einiges kommen würde.
 

„So denkst du also darüber, Dominique?“
 

Ich verkroch mich noch tiefer in der Speisekarte, doch es nützte nichts, er sprach weiter: „Wer keine abbekommt, muss ins Kloster? Wer keine Frau an seiner Seite hat, ist kein vollwertiger Mensch, und hat in der Gesellschaft keinen Platz, deiner Meinung nach? Kommt dir überhaupt nicht in den Sinn, dass man sich sogar freiwillig der Ehelosigkeit, und einem höherem Ziel im Leben verschrieben haben könnte, nämlich der Suche nach Gott?“
 

Ganz tapfer hob ich den Blick und schaute ihm in die Augen. Er sah jedoch nicht aufgebracht aus, eher ruhig und gelassen.
 

„Ich habe darüber noch nie nachgedacht, David. Entschuldige.“
 

„Warum entschuldigst du dich?“
 

„Weil ich dich nicht beleidigen wollte.“
 

„Du hast mich nicht beleidigt. Es ist aber nicht damit getan, sich zu entschuldigen. Man sollte schon auch etwas dazulernen wollen, denn deine Aussage zielte ja nicht darauf ab, jemanden zu beleidigen, sondern du bist einfach nur falsch informiert, schon allein, dass du Mönche und Priester in einen Topf wirfst.“
 

„Das ist halt nicht meine Welt, David.“
 

„Es interessiert dich ja auch nicht wirklich.“
 

„Stimmt“, gab ich zu. „Wieso auch?“
 

„Weil du getauft bist.“
 

„Ja und? Das habe ich mir nicht ausgesucht, das haben meine Eltern so arrangiert.“
 

Er seufzte. Unser Gespräch unterbrach kurz die Kellnerin, um die Bestellungen aufzunehmen. Ich bestellte das gleiche wie David.
 

„Weißt du, nach dem Abi wäre ich am liebsten eine Zeit lang in ein Benediktiner-Kloster gegangen. Noah hat mir aber geraten, lieber gleich mit dem Studium anzufangen. Ich hätte nicht auf ihn hören sollen...“
 

„Du hast ernsthaft darüber nachgedacht, ins Kloster zu gehen?“
 

„Zumindest auf Zeit. So etwas gibt es zur Orientierung.“ Er nahm den Saum seines Pulloverärmels und zwirbelte ihn zwischen den Fingern. „Auf dem Camino habe ich jemanden kennengelernt, der ins Kloster wollte. Leider weiß ich nicht, wie das ausgegangen ist.“
 

Ich schaute mich um, bemerkte, dass fast nur Pärchen an den anderen Tischen saßen. Ich hörte David tief seufzen, dann wühlte er in seinem Lederrucksack. „Womit wir beim Thema wären: Magst du meine Fotos vom Camino sehen?“ Er nahm aus seiner Umhängetasche eine hübsche Blechdose, die für Kekse wie geschaffen war.
 

„Ja klar!“
 

Die nächste Zeit waren wir damit beschäftigt, ein Polaroid nach dem anderen zu betrachten und unser Eis dabei zu löffeln. Zu jedem der spanischen Landschaften, Straßen, Hinweisschildern mit Muschelsymbolen oder Sehenswürdigkeiten sagte er ein paar Worte, doch mich ermüdete das Ganze nach kurzer Zeit.
 

„Das ist die Kathedrale von Santiago de Compostela. Das Ziel der Reise, wo das Grab des Apostels Jakobus liegt“, sagte er irgendwann zu dem letzten Foto, auf dem eine sehr imposante Kirche abgebildet war und reichte es mir.
 

Ich betrachtete das Foto ausgiebig. Ja. Eine Kathedrale. Nett anzusehen. Wie all diese Fotos. Aber das konnte doch nicht alles sein. David schaute mich gespannt an, und ich druckste herum.
 

„David. Warum bist du selbst denn auf keinem einzigen Foto zu sehen?“
 

Er starrte mich mit offenem Mund an, legte den Kopf schief. „Das ist doch keine Selfie-Tour, die man dann im Internet hochlädt, um Applaus zu bekommen. Gut, jeder geht diesen Weg aus anderen Gründen, aber mein Ziel war ein anderes.“
 

Ich kam nicht umhin zu grinsen. „Ah ja, dein Ziel war ein Höheres“, klaute ich mir seine Worte. „Deswegen hast du auch nur austauschbare Fotos von irgendwelchen Wegen, Flüssen, Bergen und Mauern gemacht, anstatt von dir oder den Menschen, die dort leben. Die hätte ich im Internet auch finden können. In zehn, zwanzig Jahren wirst du dir doch bestimmt wünschen, dass du Fotos von dir auf dieser Reise gemacht hättest.“
 

Fast schien es, als biss er auf die Knöchel seiner Faust. „Doch, natürlich gibt es auch Fotos von mir!“
 

„Na, da bin ich aber froh, wirklich.“
 

Und warum zeigte er mir sie dann nicht? Weil wir uns noch nicht so lange kannten, und noch Lichtjahre davon entfernt waren, Freunde zu sein? Dann war dieses Treffen hier die reinste Zeitverschwendung. Enttäuschung, das war alles, was ich fühlte. Wie bei einem Lostopf den Trostpreis zu ziehen. Das war doch gequirlte Scheiße! Ich erhob mich so ruckartig, dass der Stuhl über den Boden quietschte.
 

„David, danke für das Eis, ich gehe jetzt nach Hause.“
 

~
 

Lieber Nicki!
 

Nächstes Mal bitte mit Spoiler-Warnung, wenn du so ein Riesenlob über mich schreibst, okay? Sonst werd ich noch ganz rot!
 

Krass was du für Leute kennenlernst. (Mir fehlt dieser eine Emoji! Du weißt genau, welchen hihi) Scheint in deinem Leben gerade voll abzugehen. Seit die Schule aus ist, habe ich ehrlich gesagt eher Leute verloren, von wegen Kontakt halten, haha der war gut! Wer nicht an die Uni geht, vereinsamt. Berufsschule habe ich ja im Block, nächstes Jahr erst. Ich würde so gerne andere Azubis kennenlernen. Wenn doch nur die Firma größer und ich nicht die einzige Azubine wäre! Meine Kollegen könnten vom Alter her meine Eltern sein… Ich hatte mir das ganz anders vorgestellt. Aber so ein Praktikum bereitet null auf die Arbeitswelt vor. Und die Schule bereitet nicht aufs Leben vor!
 

Du, ich muss dir etwas beichten: Nämlich bin ich schon lange nicht mehr zum Training gegangen. Seit die Saison begonnen hat, um genau zu sein. Als es meine Mutter rausfand, ist sie ausgerastet und hat rumgeschrien, aber mittlerweile sagt sie gar nichts mehr. Sie redet wirklich kein einziges Wort mehr mit mir. Wahrscheinlich will sie das so lange durchziehen, bis ich wieder zum Training gehe, aber da kann sie lange warten. Ich sehe überhaupt keinen Sinn mehr in diesem Sport! Ich habe es nie wirklich in Frage gestellt, weil es etwas ist, das ich tue, seit ich denken kann. Weil meine Mutter das so für mich vorgesehen hat und ich als Kind nichts zu melden hatte. Soviel Zeit und Geld reingesteckt und auf so vieles verzichtet, dann kommt nichts dabei raus!!! Nur einmal der dritte Platz, seit ich bei den Senioren bin! Ich bin so durch damit, ich werde die Halle nie wieder betreten.
 

Erzähl mir doch bitte in deinem nächsten Brief etwas, was du bisher noch niemandem erzählt hast! Ich bin gespannt!
 

Liebe Grüße,
 

Marie
 

PS: Hab dir ein Aquarell von mir beigelegt.


 

Puh. Sie war also glücklicherweise nicht schwanger, das hätte sie erwähnt. Nun konnte ich wieder beruhigt schlafen. Ich legte den Brief weg und betrachtete ihr Aquarell. Eine Rispe Tomaten, in korrekter Tomatenfarbe, in einem fotorealistischen Stil, mit ausgeprägten Licht- und Schatteneffekten, sodass man es für ein Foto halten könnte. Marie. Was immer dieses Mädchen anpackte, machte sie richtig. Bildete ich mir ein, ihr Parfüm zu riechen? Immer mit einem zackigen Messer schneiden!, stand auf der Rückseite und ich grinste und dachte daran, wie ich sie mit einem Pflaster verarzten musste, als wir zusammen Tomatensalat gemacht hatten, und ihr diesen Rat gab.
 

Das Lächeln war immer noch auf meinen Lippen, als ich an den Küchenschränken einen Platz für das Bild suchte.



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