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Katzenjammer

von

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Lektion 3 - Freunde sind das wertvollste Gut.

„Ich hab wirklich noch keine Katze erlebt, die es so sehr genießt, gebadet zu werden, wie du.“ Die lächelte ihn an, während er ihm einen weiteren Becher lauwarmes Wasser über den Pelz kippte, um die letzten Reste des parfümfreien Tiershampoos aus seinem Fell zu waschen. Wie er schon geahnt hatte, war sein Freund wirklich auf alles vorbereitet gewesen. Kaum waren sie bei Die zu Hause angekommen, hatte er ihm eine große Portion Thunfisch vors Mäulchen gestellt, worüber Kaoru mehr als glücklich gewesen war. Die hatte zwar irgendetwas davon gemurmelt, dass er dringend Futter für ein Kätzchen besorgen musste, aber wenn es nach ihm ging, würde es jeden Tag Fisch geben. Er mochte Fisch und als Katze schmeckte der tatsächlich noch um einiges besser.
 

Kaoru streckte sich, nachdem er aus dem Waschbecken gehoben und auf der Ablage abgesetzt worden war, und machte sich einen Spaß daraus, sich genau in dem Moment kräftig zu schütteln, als ihm Die ein Handtuch über den Körper legen wollte.
 

„Bah!“ Lachend ging der Gitarrist etwas auf Abstand und rieb sich über das nass gewordene Gesicht. „Du bist mir einer.“ Kaoru hätte gegrinst, wäre ihm das möglich gewesen, schloss stattdessen für eine lange Sekunde die Augen, als ihm Die über die Nase streichelte. Es war eigenartig. Er hätte gedacht, vor Scham im Erdboden versinken zu müssen, als sein Freund damit begonnen hatte, ihm den Schmutz der Straße aus dem Fell zu waschen, aber das Gegenteil war der Fall gewesen. Dies Berührungen hatten sich gut angefühlt und Kaoru war dankbar dafür gewesen, dass er sich das ganze eklige Zeug nicht selbst aus dem Pelz hatte lecken müssen. Katze zu sein war schön und gut, aber es gab Grenzen, die er nicht überschreiten wollte.
 

Wieder vibrierte sein gesamter Körper, weil er ein tiefes Schnurren nicht mehr zurückhalten konnte, als Die begann, ihn vorsichtig abzutrocknen. Die Bewegungen fühlten sich beinahe wie eine Massage an, lockerten Muskeln, von denen Kaoru nicht einmal gewusst hatte, dass sie verspannt gewesen waren. Himmel, warum hatte er sich als Mensch so eine Behandlung nur dann gegönnt, wenn er sich kaum noch hatte bewegen können?
 

„Du bist wirklich ein niedliches Kerlchen. Ich hoffe, deine Besitzer melden sich, bevor ich mein Herz komplett an dich verliere. Das passiert mir immer viel zu schnell.“ Kaoru, der bis eben halb auf dem Rücken gelegen hatte und sich den Bauch trocknen ließ, richtete sich nun auf, um Die besser ins Gesicht sehen zu können. Die ihm so vertrauten Augen sahen traurig aus, aber wieso sollte sein Freund plötzlich traurig sein? Kaoru legte den Kopf ein wenig schräg, ließ Dies Worte in seiner Erinnerung Revue passieren, konnte aber den Finger nicht darauf legen, was genau ihn daran gestört hatte.
 

„Wollen wir versuchen, den Rest mit dem Föhn zu trocknen?“, erkundigte sich der Große gerade und riss ihn damit aus seinen Überlegungen. Er gab ein kurzes Murren von sich, bevor er sich auf alle viere hochrappelte, um Die dabei zu beobachten, wie er besagten Föhn aus der Schublade unter dem Waschbecken zog. „Das wird jetzt etwas laut, okay? Aber mir wäre wohler, wenn du die nächsten Stunden nicht mit feuchtem Fell herumlaufen musst. Dafür ist es in der Wohnung nicht warm genug.“
 

Kaoru duckte sich, als wie angekündigt das hohe Surren des Föhns einsetzte, nachdem Die das Gerät in Betrieb genommen hatte. Und es stimmte, die Frequenz war alles andere als angenehm, aber noch einigermaßen erträglich. Der warme Luftstrom hingegen, der durch sein Fell fuhr und es leicht aufplusterte, fühlte sich wunderbar an. Kaoru legte sich hin, machte sich ganz lang, damit die warme Luft auch überall hinkonnte, und schloss die Augen. Das unbeschwerte Lachen seines Freundes wehte genauso angenehm über ihn wie der Luftstrom und erinnerte ihn daran, wie sehr er dieses Geräusch mochte. Wenn Die lachte, konnte sich die Stimmung in einem Raum von jetzt auf gleich zum Positiven ändern. Für dieses Talent hatte Kaoru ihn schon immer bewundert, aber wenn er genauer darüber nachdachte, war es schon sehr lange her, dass er ihn so herzlich hatte lachen hören. Ein verschämtes Kichern, ja, ein Glucksen oder Feixen, aber dieser herzerwärmende Laut war dem anderen Mann zumindest in seiner Gegenwart sehr lange schon nicht mehr über die Lippen gekommen. Wieder tauchten Dies traurige Augen in seinem Geist auf und er fragte sich mit einem Anflug der Scham, ob er in letzter Zeit so unaufmerksam geworden war, dass ihm diese Veränderung im Verhalten des anderen erst jetzt auffiel. Shinya schien etwas zu wissen, erinnerte er sich, was ihn jedoch auch nicht weiterbrachte.
 

Das hohe Surren verstummte, als Die den Föhn ausschaltete und wegpackte. Kaoru sprang von der Ablage, schüttelte sich kräftig und begann wie automatisch, sein aufgeplustertes Fell zu putzen. Jetzt, wo er nicht mehr dreckig war, war das gar keine so üble Beschäftigung.
 

„Na, Kleiner, wie sieht es aus? Kommst du mit ins Wohnzimmer?“ Die ging vor und er folgte ihm, musste sogar rennen, um Schritt halten zu können. So klein zu sein, hatte definitiv einige Nachteile. Flink hüpfte er aufs Sofa, auf dem sich Die gerade langgemacht hatte und durch das vorabendliche Fernsehprogramm schaltete. Einen Augenblick lang betrachtete er den Großen, überlegte, wo er sich hinlegen sollte, bis er sich für Dies Brustkorb entschied. Dort war es warm und die geschickten Finger des Gitarristen mussten sich nicht sehr weit bewegen, um ihn erneut kraulen zu können. Den Gedanken, wie unpassend das war, schob er sogleich weit von sich. Solange er in diesem Katzenkörper festsaß, konnte er auch das Beste daraus machen – keine Diskussion!
 

„Ich muss mir noch einen Namen für dich überlegen, was?“, begann Die zu sprechen und streichelte ihm über den Kopf. „Kann dich ja schließlich nicht ständig Kleiner oder Katerchen nennen.“ Neugierig sah er Die an, der seinen Blick überlegend erwiderte. „Shinya meinte zwar, es würde mir nicht guttun, aber was hältst du davon, wenn ich dich Kao nenne?“ Dies Lippen teilten sich und gaben den Blick auf sein strahlendes Grinsen preis. „Ich würde unseren Leader sowieso im Leben nie so nennen, da müsste ich Angst haben, er würde mir den Kopf abbeißen.“
 

Kaoru für seinen Teil war sprachlos und mehr als froh darüber, dass er dem anderen gar nicht antworten konnte. Mehr als ein ungläubiges Was? Wäre ihm ohnehin nicht über die Lippen gekommen. Als Die vorhin zu Shinya meinte, er könnte ihn Kaoru nennen, hatte er das Ganze noch für einen Scherz gehalten, aber sein Freund schien fest entschlossen zu sein, ihm den richtigen Namen zu geben, selbst wenn es nur ein Spitzname war. Steckte Die etwa mit der Zauberkatze unter einer Decke? War er mit daran schuld, dass Kaoru sein Dasein als Katze fristen musste? Noch bevor ihm die Absurdität seiner Gedanken klar werden konnte, hatte er sich aufgerichtet und dem anderen seine Fragen entgegengerufen. Dass sein Freund sein aufgebrachtes Maunzen nicht verstehen konnte und er sich gerade nur lächerlich machte, war Kaoru für den Moment egal. Wenn es eine Chance gab, den Zauber rückgängig zu machen und Die seine Finger mit im Spiel hatte, dann sollte er gefälligst jetzt dafür sorgen, dass wieder alles normal wurde!
 

„Hey, was hast du denn?“ Finger begannen, sanft unter seinem Kinn zu kraulen, und besänftigten ihn derart schnell, dass er sich über sich selbst gewundert hätte, wäre das nicht gefühlt sein Dauerzustand, seit er eine Katze war. Ruckartig hockte er sich auf seinen Hintern, den Kopf nach oben gereckt, damit Die noch mehr Platz für seine Streicheleinheiten hatte. Es war unfair, wie gut das tat und wie effektiv es ihn beruhigen konnte.

„Magst du den Namen nicht?“ Kaoru blinzelte, senkte den Kopf und folgte dem Impuls, seine Nase gegen die seines Freundes zu reiben. Ein leises Glucksen ließ den Brustkorb, auf dem er saß, erbeben und er reagierte mit tiefem Schnurren darauf. Er mochte es, wenn er Die zum Lachen bringen konnte. Das sollte er viel öfter tun.

„Also, darf ich dich Kao nennen?“ Beinahe hätte er genickt, begnügte sich jedoch mit einem weiteren Reiben an Dies Kinn. Er sollte dem Großen lieber nicht mit kohärenten Antworten einen Schock verpassen.

„Sehr schön“, murmelte die mit einem Lächeln in der Stimme und stupste ihm gegen die Nase. „Dann ist es amtlich. Willkommen in deinem temporären Zuhause, Kao.“
 

Ein eigenartig warmes Gefühl, das sich Kaoru nicht ganz erklären konnte, breitete sich in seinem Körper aus. Es fühlte sich beinahe wie Zufriedenheit an, wie etwas, das er schon sehr lange nicht mehr gespürt hatte. Er reckte sich den kraulenden Fingern entgegen, während ihm langsam aber sicher bewusst wurde, wie dumm seine Anschuldigungen gewesen waren. Wie hätte Die auch in den Plan der Zauberkatze involviert sein sollen? So, wie er das magische Tier bislang erlebt hatte, gab es vermutlich nicht mal einen Plan. Es musste also einen anderen Grund geben, warum er ihn unbedingt so nennen wollte, aber welchen?
 

„Weißt du“, begann Die in diesem Moment zu reden, als hätte er seine Frage gehört, und machte es sich etwas bequemer. „Ich hab das Gefühl, einfach nicht mehr an ihn heranzukommen. Er vergräbt sich nur noch in der Arbeit und achtet kein Stück mehr auf sich. Manchmal frage ich mich, ob er überhaupt noch schläft oder ob er einfach so lange durcharbeitet, bis er vom Stuhl kippt. Ich mach mir Sorgen um ihn.“ Die seufzte und wieder lag dieser Schatten in seinen Augen, der von Traurigkeit sprach. Kaoru hingegen fehlten jegliche Worte, nicht einmal einen klaren Gedanken konnte er fassen. Redete Die wirklich von ihm?

„Ich glaube, wenn ich dich Kao nenne, kann ich mir wenigstens vormachen, mich um ihn kümmern zu können. Ich weiß, das ist dumm, aber …“ Die drehte den Kopf, weg von ihm und schien das Fernsehprogramm plötzlich sehr interessant zu finden.
 

Aufgewühlt richtete sich Kaoru auf, drehte sich einige Male um die eigene Achse, bis er sich eng auf Dies Brust zusammenrollte. Er hörte den gleichmäßigen Herzschlag seines Freundes, spürte mit jedem Atemzug das stetige Auf und Ab seines Brustkorbs. Die sorgte sich um ihn. Auch wenn dieser Umstand nicht mehr der Offenbarung glich, die er zum ersten Mal in Shinyas Wagen gehört hatte, machte er ihn dennoch gleichermaßen fassungslos. Er blinzelte einmal, zweimal, während sich seine Gedanken überschlugen. Übertrieb Die oder hatte er in den letzten Wochen und Monaten tatsächlich zu viel gearbeitet? Sicher, er hatte selbst bereits festgestellt, dass es ihm in letzter Zeit nicht sonderlich gut gegangen war. Der Rücken tat ihm weh, seine Kopfschmerzen waren zu einem ständigen Begleiter geworden und sein Magen hatte sich auch schon mal entspannter angefühlt. Aber das war nichts, was er mit ein paar freien Tagen nicht wieder in den Griff bekommen hätte, oder doch? Nun ja, wenn er ehrlich war, ohne diese unfreiwillige Auszeit, in der er sich gerade befand, hätte er bis zur nächsten Tour sicher so weitergemacht. Es gab immer etwas zu tun, Dinge zu organisieren, und damit war noch nicht einmal der kreative Teil seiner Arbeit abgedeckt. Himmel, er war tatsächlich zum Workaholic geworden und hatte es nicht einmal bemerkt.
 

‚Tut mir leid, Die‘, seufzte er in Gedanken und sah aus dem Fenster, hinter dem es langsam zu Dämmern begann. Seine Kollegen würden sich bald zur angekündigten Krisensitzung treffen – hatte Die nicht telefoniert, als er seinen Fisch verspeist hatte? Bis eben noch hatte Kaoru sich Gedanken darüber gemacht, wie er seinen Freund dazu bekommen würde, ihn mitzunehmen, damit er hören konnte, was besprochen wurde. Jetzt jedoch traf er für sich den Entschluss, sich rauszuhalten – wenigstens für heute.
 

Kaoru schloss die Augen und spürte mit einem Mal, wie Erschöpfung bleischwer in seine Knochen sank. Kein Wunder, so viel wie er heute erlebt und so wenig Schlaf wie er in letzter Zeit abbekommen hatte. Statt sich, wie es seine Angewohnheit geworden war, jedoch gegen dieses Gefühl zu wehren, gähnte er ungeniert und vergrub seine Schnauze zwischen den Vorderpfoten. Dies Hand legte sich wie eine wärmende Decke auf seinen Rücken, Finger kraulten ihn sanft im Nacken und geleiteten ihn in eine Traumwelt, in der er den Mut besaß, vor seinen Kollegen zuzugeben, dass ihm alles über den Kopf wuchs.
 

~*~
 

Lautes Krachen und tiefes Grollen rissen ihn aus dem Schlaf. Mit angstgeweiteten Augen sah er nach draußen, versuchte, zu begreifen, was ihn geweckt hatte. Regen rann in langen Schlieren am Fensterglas herab, wenn er nicht gerade von kräftigen Böen in mächtigen Wellen dagegen gedrückt wurde. Das Jaulen des Sturms war ohrenbetäubend laut und das dumpfe Poltern des Donners schien durch seinen gesamten Körper zu vibrieren. Kaoru duckte sich, als ein Blitz das Wohnzimmer für einen Sekundenbruchteil in gleißendes Licht tauchte. Sein Instinkt schrie ihn an, sich einen sicheren Ort zu suchen und sich dort zu verkriechen, doch sein rationaler Verstand hielt dagegen, dass es nur ein Gewitter war. Nichts vor dem er sich fürchten musste; und doch fühlte er sich nicht imstande, sich vom Fleck zu bewegen.
 

Er musste so fest eingeschlafen sein, dass er weder bemerkt hatte, wie Die zum Treffen mit den anderen aufgebrochen noch wie er zurückgekehrt war. War sein Freund überhaupt schon wieder zu Hause? Was war, wenn der Große in diesem Unwetter feststeckte, ihm etwas zugestoßen war? Kaorus Herz raste nun nicht mehr nur der unsinnigen Angst vor dem Gewitter wegen. Mit enormer mentaler Anstrengung brachte er seinen Körper dazu, aus seiner Paralyse zu erwachen und ihm wieder zu gehorchen. Er sprang vom Sofa, ging jedoch weiterhin geduckt, als würde ihm das Unwetter so weniger ausmachen. Ein absolut irrationaler Gedanke, aber einer, mit dem sich seine Katzeninstinkte zufriedengaben.
 

Seine Nachtsicht war der Wahnsinn, stellte er beiläufig fest, als er durch die dunkle Wohnung schlich. Wie spät war es eigentlich? Ein schneller Blick zur Seite zeigte ihm das leuchtende Display von Dies Entertainmentsystem, aber eigenartigerweise konnte er die Zahlen nicht lesen. Selbst als er sich genau davorsetzte und die Blinkenden Zeichen so lange anstarrte, bis sie schwach leuchtende Nachbilder auf seiner Netzhaut hinterließen, wurde er nicht schlau aus dem, was er sah. Konnten Katzen nicht lesen? Lag es daran?
 

Das war eine Möglichkeit, die ihm gerade absolut nicht gefiel, über die er sich jedoch fürs Erste keine weiteren Gedanken machen würde. Viel wichtiger war es, Die zu finden. Er erhob sich, ging weiterhin geduckt über den Flur, bis er an der Schlafzimmertür angelangt war. Er drückte mit dem Kopf dagegen, aber entweder war er zu schwach oder die Tür fest geschlossen. Mist. Wie sollte er nun herausfinden, ob sein Freund sicher in seinem Bett lag und schlief? Ein weiterer Donner ließ ihn zusammenfahren und sich zitternd gegen das Holz der Tür pressen. Verdammt noch mal! Das war doch nicht die Möglichkeit. Er hatte zuletzt als Kind Angst vor Gewittern gehabt, da würde er jetzt nicht wieder damit anfangen. Er war ein gestandener Mann, auch wenn er sich gerade im Körper eines kleinen Kätzchens befand. Wieder donnerte es und ohne weiter darüber nachzudenken oder sich zur Vernunft zu rufen, sprang Kaoru panisch so lange an der Tür empor, bis er die Klinke mit vollem Körpereinsatz nach unten drücken konnte. Er purzelte haltlos in den Raum, überschlug sich einmal, bevor er wie erstarrt liegen blieb. Hatte Die ihn gehört? War er überhaupt hier? Nur langsam beruhigte sich sein wilder Herzschlag. Die unangenehmen Geräusche des Gewitters waren hier im Schlafzimmer deutlich abgemildert, stellte er erleichtert fest und rappelte sich hoch. Langsam ging er auf das Bett zu, fixierte die Kante und landete mit einem beherzten Sprung auf der Matratze.
 

Die lag friedlich schlafend auf der Seite, das Gesicht halb unter der Decke versteckt. Kaoru setzte sich, ließ seinen Blick für einen langen Moment auf der Gestalt seines Freundes ruhen. Die Erleichterung, ihn wohlauf zu sehen, machte ihn beinahe schwindlig und er tadelte sich in Gedanken, so übertrieben zu haben.

In diesem Augenblick hätte er gehen können, schließlich hatte er alles gesehen, was er sehen musste, um das schlechte Gefühl in ihm zu vertreiben, aber er blieb. Vorsichtig tapste er über Die hinweg, bis er sich hinter ihm auf dem Kopfkissen zusammenrollen konnte. Er tat das nicht, weil er Angst vor dem Gewitter hatte, sicher nicht. Hier in Dies Schlafzimmer war es nur ruhiger als im Wohnzimmer und außerdem war das Kissen weicher als das Sofa.
 

„Hat dich das Unwetter aufgeweckt?“ Die hatte sich behutsam zu ihm umgedreht und streichelte nun über sein Fell. „Eigenartig. Ich dachte, ich hätte die Schlafzimmertür zugemacht.“ Sein Freund versteckte sein Gähnen unter der Decke, bewegte sich ein paar Mal hin und her, bis er eine Position gefunden hatte, die ihm zu gefallen schien. „Schlaf gut, Kao.“
 

‚Du auch, Die‘, erwiderte er in Gedanken und stupste die ihn streichelnden Finger mit der Schnauze an. Kurz schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass Die sicher nicht so ruhig geblieben wäre, hätte sich Kaoru in Menschengestalt in sein Bett geschlichen, aber das Grinsen, welches darauf nur zu gerne seine Lippen geziert hätte, musste ein Innerliches bleiben.
 

~*~
 

Er wusste nicht, wie spät es war, aber eine Bewegung neben ihm und Dies nicht allzu leises Gähnen holten ihn langsam aus dem Schlaf. Er streckte sich, gähnte ebenfalls und blinzelte, als sein Freund die Vorhänge aufzog und ein Fenster kippte. Frische, noch vom Regen feucht duftende Luft flutete den Raum und ließ Kaoru genießend tief einatmen. Alles, was er gestern erlebt hatte, war also wirklich kein Traum gewesen, stellte er fest, als er an sich herabsah und mit dichtem Fell und tapsigen Pfoten konfrontiert wurde. Großartig. Er hätte nicht sagen können, welches Gefühl diese Erkenntnis mit sich brachte. Enttäuschung? Erleichterung? Aufziehende Panik? Kaoru gähnte erneut und beschloss, diese viel zu komplizierten Emotionen auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Die Überlegung, ob er schon aufstehen sollte oder ob er seine neugefundene Freiheit genießen und faul liegen bleiben wollte, war gerade ohnehin wichtiger.
 

Die hatte das Schlafzimmer längst verlassen, einen Stapel Kleidung unter den Arm geklemmt, und Kaoru lauschte den verschiedenen Geräuschen, die sein Freund in der Wohnung machte. Eine Tür öffnete und schloss sich, Füße schlurften noch etwas müde wirkend über den Flur. Die Kaffeemaschine begann zu gurgeln, ein Futternapf schepperte metallisch. Kaoru hob bei Letzterem den Kopf, die Ohren gespitzt und der Magen knurrend, als wäre er ein Pawlowscher Hund, der auf das Klingeln einer Glocke mit Speichelfluss reagierte. Er hätte mit den Augen gerollt, aber auch das blieb ihm in dieser Form verwehrt. Stattdessen spielte er sein kleines Spielchen weiter, lauschte gespannt auf das, was Die als Nächstes tun würde. Leises Plätschern und das Betätigen der Toilettenspülung brachten ihn jedoch dazu, peinlich berührt den Kopf unter den Pfoten zu verstecken. Geschärfte Sinne schön und gut, aber er musste wirklich nicht alles hören. Mit dem Rauschen der Dusche als Hintergrundbeschallung verließ er schlussendlich das Schlafzimmer auf der Suche nach seinem Frühstück.
 

Hach ja, Frühstück. Auch so etwas, was er sich in letzter Zeit viel zu selten gegönnt hatte. Vermutlich war es diesem Umstand zu Schulden, dass er noch immer glücklich kauend vor seinem Napf saß, als er erneut Schritte hörte, die sich ihm näherten. Er hatte gerade noch ein großes Stück Thunfisch im Maul gehabt, als er sich umdrehte, und eigentlich seinen Mitbewohner begrüßen wollte. Dazu kam er jedoch nicht, denn der Fisch fiel unzeremoniell aus seinem weit geöffneten Mund direkt auf den Boden, während seine Augen kugelrund sein mussten.

Wie war das vorhin noch mit den geschärften Sinnen?
 

„KANNST du dir nichts anziehen?!“ Es wäre so befriedigend gewesen, hätte er diese Worte seinem Freund entgegenschreien können, was jedoch seinen Mund verließ, war wieder einmal ein Miau. Empört und aufgeregt zwar, aber doch nur ein Miau.
 

„Was hast du denn? Schmeckt dir der Fisch nicht?“ Die ging vor ihm in die Hocke und Kaoru wäre am liebsten hier und jetzt in Ohnmacht gefallen. Es gab Dinge, mit denen sollte niemand am frühen Morgen konfrontiert werden. Vor allem nicht, wenn man, so wie Kaoru gerade, im Körper einer kleinen, sehr kleinen Katze gefangen war! Mit einem Satz sprintete er davon, nutzte Dies Schulter als Sprungbrett und schlitterte über das Parkett des Flurs, bis er sich mit wild klopfendem Herzen unter dem Bett verkrochen hatte. So lange die nur im Adamskostüm in seiner Wohnung herumspazierte, würde Kaoru schön hier unten in seinem Versteck bleiben. Basta!
 

„Kao? Wo bist du denn?“

Als Die Minuten später ebenfalls ins Schlafzimmer kam, hatte sich Kaoru wieder so weit beruhigt, dass er sein eigenes Verhalten recht ulkig fand. Dennoch lugte er misstrauisch unter dem Bett hervor und reagierte erst auf das Rufen, als er die mittlerweile besockten Füße seines Freundes am Bett vorbeigehen sah. Wehe ihm, die Socken würden das einzige Kleidungsstück an ihm sein. Zu seiner Erleichterung war Die jedoch vollständig angezogen, als er sich zu ihm herunterbeugte und ihn auf den Arm nahm.
 

„Ich hoffe, dir ist bewusst, dass ich dich nie wieder ernstnehmen kann“, maunzte er den Großen an, der ihn daraufhin nur ahnungslos anlächelte. „Junge, Junge, wenn du wüsstest.“
 

„Na, du bist aber heute gesprächig.“ Die trug ihn in die Küche, wo das letzte Stück Thunfisch wieder in seinem Napf lag und eine dampfende Tasse Kaffee auf dem Tisch stand, die ihr wunderbares Aroma verströmte. Was hätte er nicht alles dafür gegeben, jetzt seine Hände um die Tasse legen zu können und sich einen großen Schluck des Getränks schmecken zu lassen. Für einen Moment schloss Kaoru die Augen. Verdammt, er wollte wieder ein Mensch sein …

‚Oder, mmmmh, vielleicht auch nicht?‘

Sein Freund hatte ihn auf seinem Schoß abgesetzt und begonnen, ihm durchs Fell zu kraulen. Kaoru reckte sich der angenehmen Berührung entgegen, bevor er es sich gemütlich machte und aus halb geschlossenen Augen Die bei seinem morgendlichen Ritual beobachtete. Auf dem Tablet lief leise eine Nachrichtensendung, während er noch müde wirkend durch seine E-Mails auf dem Handy scrollte und hin und wieder aus seiner Tasse trank. Es war friedlich mit seinem Freund auf diese Weise wach zu werden und Kaoru ertappte sich bei dem Gedanken, dass er das gern öfter erleben würde. Nicht als Katze und sicher nicht auf Dies Schoß, aber als Freund ihm gegenüber. Eine unbestimmte Melancholie machte ihm das Herz schwer, als ihm bewusst wurde, dass er all das hätte haben können, hätte er nur einmal danach gefragt.
 

Dies Handy, das einen kurzen Ton von sich gab, riss ihn aus seinen Grübeleien und neugierig geworden hob er den Kopf. Wieder konnte er nicht lesen, was auf dem Display geschrieben stand, obwohl er so, wie sein Freund das Handy hielt, einen perfekten Blick auf die Zeichen hatte. Verdammt, das war nicht gut. Die seufzte, legte das Telefon beiseite und leerte die Tasse in drei großen Schlucken.
 

„Tut mir leid, Kleiner, aber ich muss mal kurz weg. Du bist brav und stellst nichts an, ja?“
 

Kaoru gurrte halb empört – was dachte Die bitte von ihm? – sprang jedoch ohne Weiteres von seinem Schoß und tapste ins Wohnzimmer. Er hatte ohnehin vor, herauszufinden, was es damit auf sich hatte, dass er nichts lesen konnte und dabei würde ihn ein neugieriger Die gehörig im Weg stehen. Er hörte, wie der Große seine Sachen zusammenpackte, im Flur in seine Schuhe stieg und die kurze Verabschiedung, mit der er die Wohnung verließ. Ob Die sich auch immer von Diva so verabschiedete? Irgendetwas in Kaoru wollte glauben, dass der andere das nur für ihn tat.
 

Kaoru sprang auf den niedrigen Wohnzimmertisch, stieß so lange mit der Pfote gegen ein Boulevardmagazin, das dort aufgeschlagen lag, bis es auf den Boden fiel. Sehr schön. Die Zeitschrift so zu drapieren, dass sie anständig geöffnet war und, wie Kaoru nur anhand der Bilder vermuten konnte, auch nicht auf dem Kopf stand, dauerte länger, als ihm lieb gewesen wäre, aber irgendwann hatte er es geschafft. Was er jedoch nicht schaffte, war, etwas zu lesen. Verzweifelt suchte er nach einem Zeichen, das ihm vertraut war, einem Logo oder irgendetwas, mit dem er arbeiten konnte, aber nichts.
 

„Katzen können nicht lesen, Dummerchen.“

Die Stimme, die plötzlich neben ihm erklungen war, hatte ihn dermaßen erschreckt, dass er aus dem Stand einen halben Meter in die Höhe gesprungen war.

„Mmmh, willst du mich damit beeindrucken?“, schnurrte die Zauberkatze, kam auf ihn zu und rieb ihre Schnauze gegen die seine.

„Erzähl mal, wie gefällt dir dein Leben bisher?“ Sie setzte sich und begann über ihre Vorderpfote zu lecken, als gäbe es auf der Welt nichts, was sie aus der Ruhe bringen konnte.
 

„Wie bist du hier rein gekommen?“ Endlich hatte Kaoru seine Stimme wiedergefunden und funkelte sein Gegenüber angriffslustig an. „Ist dir eigentlich klar, was ich durchgemacht habe?“
 

„Du siehst nicht so aus, als würde es dir schlecht gehen. Ist doch ein schönes Zuhause, das du hier hast, und dein Mensch sieht auch echt nett aus.“
 

„Lass Die aus dem Spiel!“
 

Es hätte nicht möglich sein sollen, aber Kaoru hätte schwören können, ein Grinsen über das sonst eher ausdruckslose Gesicht der Zauberkatze huschen zu sehen.

„Territorial wirst du auch schon, ist doch alles perfekt.“
 

„Nichts ist perfekt. Ich muss wieder zu einem Menschen werden. Ich hab Verpflichtungen und …“

‚Und einen Freund, dem ich mehr als nur eine Entschuldigung schuldig bin‘, vollendete Kaoru seinen Satz in Gedanken.
 

„Ich sagte dir bereits, dass ich nur Herzenswünsche erfüllen kann. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.“
 

„Aber es ist mein Herzenswunsch, wieder normal zu sein, verdammt!“
 

„Wohl nicht.“ Die Zauberkatze erhob sich, schlenderte elegant zur Balkontür hinüber, die sich wie von Zauberhand öffnete. „Also, was ist? Willst du den ganzen Tag damit verbringen, dir das Lesen beizubringen, oder bist du bereit für ein Abenteuer?“
 

„Was? Hey, warte!“

Ohne weiter darüber nachzudenken, folgte er der Zauberkatze auf den Balkon, wo er gerade noch sah, wie sie leichtfüßig über das Geländer balancierte und einen beeindruckenden Sprung auf das benachbarte Hausdach vollführte. Verflucht, er brauchte Antworten, wenn er jemals wieder zum Menschen werden wollte. Und wenn das hieß, der Zauberkatze hinterherzulaufen und zu hoffen, dass er sich dabei nicht sämtliche Knochen brach, dann sollte das eben so sein. Für einen Herzschlag lang sah er zurück in die Wohnung, hoffte inständig, Die würde nicht mitbekommen, dass er gegangen war, schließlich wollte er seinem Freund keine Sorgen machen. Dann gab er sich einen Ruck, sprang beherzt auf das Geländer und folgte der Zauberkatze.
 

tbc ...



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  -Pharao-Atemu-
2024-04-26T23:43:04+00:00 27.04.2024 01:43
Niiiiiiiiiiiiiicht Kaokater du bist doof. Wie willst du denn den Rückweg finden?


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