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Stichflamme

Der Aufstieg des Phönix
von

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Koboldgambit

»Signum.«

Ein letztes Mal schwang Minerva den Zauberstab im Kreis, bevor sie ihn ruckartig gen Boden stieß. Die Luft vor ihr glühte rot auf, als die soeben gezeichnete Siegelrune mit dem Kamingitter verschmolz. Ein Knirschen – ähnlich dem von Stein auf Stein – bestätigte, dass ihre Arbeit getan war.

Sie atmete aus und ihre Schultern sanken ein Stück herab. Doch sie hielt nicht an, um ihr Werk länger zu betrachten. Mit wenigen Schritten war sie aus dem Büro zurück auf dem Gang. »Wie viele noch?«, fragte sie Eugenia Jenkins, die ihrerseits gerade den gigantischen Kamin der Tierwesenbehörde versiegelte.

»Auf dieser Ebene? Nur noch Miss Janssons.«

Die Ministerin seufzte und trat einen Schritt von der überlebensgroßen Wandöffnung zurück, die wie ein aufgerissenes Drachenmaul vor ihnen lauerte. Irgendwann in früheren Zeiten waren tatsächlich Drachen und andere, gefährliche Tierwesen hier durch in ihre neu eingerichteten Reservate geschleust worden. Heute erinnerten nur noch tiefe Scharten im Stein daran.

»Testest du meinen Zauber?« Eugenia sah Minerva nicht direkt an, doch ihr Tonfall machte deutlich, dass sie ihrer eigenen Kraft nicht traute.

An der Versiegelung gab es allerdings nichts zu beanstanden. Ein einfacher Incendio-Zauber, der sofort zu Rauch verpuffte, bewies, dass sich im Kamin kein Feuer mehr entzünden ließ und somit niemand von außen hineinflohen konnte. Trotzdem löste Eugenia nur langsam den Blick von der Feuerstelle.

»Stell dir nur vor, sie würden wirklich hier durchkommen«, murmelte sie und rang ihre Hände. »Da passen doch mindestens zwanzig Mann auf einmal rein. Das sind fast mehr, als wir Leute zählen. Und ich Idiotin habe wirklich geglaubt, mit diesen Reinblütern verhandeln zu können. Und jetzt bin ich Schuld an so viel ... Leid.« Blinzelnd starrte sie auf die rußbefleckte Innenseite des steinernen Kaminschlunds. »Ich – ich habe mich noch nie so ... so geschämt, seit ich Ministerin geworden bin.«

»Nun ...« Minerva sah auf ihren Zauberstab hinab, den sie immer wieder ungeduldig in ihre eigene Handfläche stach. »Albus würde sagen, dass es für jeden Fehler auch die Möglichkeit gibt, ihn durch Taten zu sühnen, solange man nur aufrichtig bereut. Nichts anderes tust du gerade.«

Ein Zittern bewegte Eugenias Lippen. »Und trotzdem habe ich Angst.« Sie starrte zu den in Stein gemeißelten Drachen hinauf, die den Kamin rahmten, und Minerva meinte, ihre Wimpern glitzern zu sehen. »Ich bin so feige, ich will um keinen Preis ... sterben«, hauchte die Ministerin leise. »Auch wenn es wohl einfacher – und heldenhafter – wäre, als mit den Folgen dieses Tages – ach was, meines ganzen Handelns in den letzten Monaten! – zu leben. Alles in mir schreit danach, in einen Kamin zu springen und zu verschwinden. Wenn du und die anderen nicht wären ...«

Einen Moment lang starrte Minerva sie stumm an, ehe sie zum Glück ihrer – möglicherweise sehr direkten – Antwort entbunden wurde, denn Pippa trat gefolgt von Arrnd in die Tierwesenbehörde. Es dauerte keine zehn Sekunden, da fing auch Eugenia sich wieder. Mit einem letzten, bebenden Atemzug wandte sie dem wohl größten Kamin Londons den Rücken zu.

»Fertig?«, fragte sie energisch.

Pippa nickte und so eilten sie wieder zur Treppe, einen Stock hinab. Schnelle Aufspürzauber zeigten, dass die Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit sicher war, abgesehen von ein paar versprengten Diplomaten, die sie schleunigst nach Hause schickten.

»Gut«, seufzte Eugenia erleichtert. »Arrnd? Geben Sie bitte wieder den anderen Bescheid. Sie sollen die Treppe hinten in der Sportabteilung nutzen.«

»Natürlich.« Der Kobold trat zwei Schritte zurück. In einem Knall disapparierte er zur Nachhut.

Derweil rückte Minervas Gruppe vor und wirkte die ersten Siegelzauber. Da Arrnd und sein Kollege als Einzige innerhalb der Schutzzauber des Ministeriums apparieren konnten, hatten sie dieses Wechselspiel vorgeschlagen – »um die Eindringlinge nicht ahnen zu lassen, dass hinter der nächsten Ecke noch viel mehr von uns warten.«

Im Prinzip erinnerte es Minerva an ein Gambit im Schach. Sie war in der Gruppe der Figuren, die vorweg gingen und sich opferten, damit der Rest den Feind von einer besseren Stellung aus überwältigen konnte. Auch wenn sie hoffte, dass dieses Opfer niemandes Leben sein würde ...

Immerhin kamen sie auf diese Art erstaunlich zügig vorwärts. Geradezu einfach. Einige der jüngeren Angestellten trauten sich angesichts der Erfolge sogar, wieder leise miteinander zu reden. Ab und an schwebten ihre Stimmfetzen durch die Gänge zu Minerva. Offenbar unterhielten sich die Auszubildenden mit Arrnd, denn manchmal hörte sie das Keckern, das sie als Koboldgelächter identifiziert hatte.

Sie konnte es ihnen nicht verübeln. Auch bei ihr hatte sich irgendwo zwischen der Vergissmich-Zentrale und dem Hauptbüro des Unfallumkehrkommandos Routine eingestellt. Ihr Zauberstab bewegte sich mittlerweile wie von alleine und jede Rune war ein Sieg gegen die Furcht, dass sie es nicht schaffen könnten.

Dafür bedeutete allerdings jedes noch so verräterische Knarzen ein Eisbad für ihr Herz. Ganz besonders, wenn die Luft neben ihr sich ruckartig ausdehnte und Arrnd mit einem Knall wieder an ihrer Seite landete – so wie jetzt.

Sie konnte nicht verhindern, dass sie mit dem Zauberstab genau zwischen seine Augenbrauen zielte. Schuldbewusst – und mit rasendem Puls – senkte sie die Hand wieder. »Alles in Ordnung?«

Arrnds Mundwinkel zuckten leicht. »Kein Grund zur Besorgnis. Wir sind da hinten bloß fertig, deshalb bin ich zurückgesprungen.«

»Schon?«

Der Kobold verengte die Augen.

»Ich meine ... Danke. Ehrlich.« Unter Anspannung und Sorge rang Minerva ein Lächeln empor, bevor sie sich wieder in Bewegung setzte. »Wollen wir hoffen, dass der Rest auch schon durch ist, dann haben wir vielleicht eine echte Cha-«

Weiter kam sie nicht. Der überraschte Aufschrei jemand anderes riss ihr die Worte von den Lippen. Er kam vom Ende des Flurs. Vom nächsten Kamin.

»Pippa?«, schrie sie besorgt. »Pippa!« Ihre eben noch gesenkte Zauberstabhand schnellte wieder empor.

»Stupor!«, hörte sie Pippa in diesem Moment auch schon brüllen. Darauf folgten andere, undeutliche Rufe – und das unmissverständliche Zischen von Flüchen.

Ein Knall erschütterte die Wände und Minerva rannte. Sie war dankbar, ihre unbequemen Schuhe rechtzeitig losgeworden zu sein. Auf bloßen Strümpfen rutschte sie um die nächste Ecke, Arrnd dicht auf ihren Fersen. Bevor sie im Raum war, glühte ihr Zauberstab bereits rot auf, ein ungesagter Klammerfluch schoss hervor – und gerade so lenkte sie ihn in die Zimmerecke. Scherben und Erde ergossen sich über den Teppich, als der Fluch statt eines Menschen auf den Übertopf eines Gummibaums traf.

»Aufhören! Stopp, Pippa, stopp!«, rief Minerva ihrer früheren Kollegin zu, die den Zauberstab wild tanzen ließ. Die beiden Personen auf der anderen Seite ihres Stabes schwitzten sichtlich. »Das sind keine von Voldemorts Anhängern!«

»Woher willst du das wissen? Sie kommen aus dem Kamin!«

Ein spitzes Quieken ertönte, als Dädalus Diggel Reißaus vor den grünen Flohflammen nahm, die versuchten, ihn in den Hintern zu beißen. »Glauben Sie mir, gnädige Dame, ich wünschte gerade, ich wäre weit weg von diesem Höllenkamin!«

Pippa stockte. Lange genug, damit Minerva ihre Hand erfassen und gen Boden drücken konnte.

»Es ist in Ordnung, das versichere ich euch.« Sie nickte erst Pippa, dann Arrnd zu. Dädalus’ seltsamen kleinen Tanz, mit dem dieser sich bemühte, seinen kokelnden Umhang zu löschen, ließ sie dabei nicht aus den Augen. »Darf ich vorstellen – das sind gute Freunde von Albus. Dädalus Diggel und Emmeline Vance. Sie haben Elphinstone und mir bereits vor ein paar Tagen geholfen.«

Stolz streckte Dädalus die Brust vor, obwohl sein Gesäß immer noch qualmte. »Und wir sind auch jetzt wieder da, um zu helfen!«

Emmeline nickte so beflissentlich, dass die Fransen des Seidenschals über ihren Schultern hin- und herschwangen. »Wir haben beide eine Phönixfeder von Albus geschickt bekommen – aber sie sind direkt in unseren Händen zu Asche zerfallen! Ich konnte nur noch lesen, dass es ums Ministerium geht ... Und dabei war Fawkes’ Brandtag noch lange nicht gekommen!«

Minerva sog die Luft durch ihre Zähne ein. »Dann hat Voldemort ihn doch noch mit seinem Fluch erwischt ...« Mit einem Seufzen stach sie ihren Zauberstab erneut in die Handfläche, dass es schmerzte.

Emmeline tauschte einen Blick mit Dädalus. »Aber er wird wieder auferstehen«, verkündete sie und klopfte sich mit dem Stab in der Faust auf die Brust. »Genauso wie wir nicht aufgeben! Widerstand bis zur letzten Flamme –«

Es knisterte. Erst leise, dann immer lauter. Wie Feuerwerk kurz vor der Explosion.

»Erwartet ihr noch weitere Freunde?«, knurrte Arrnd.

Hinter ihm sprangen grüne Funken in bester Flohmanier über die Holzscheite im Kamin.

»... Nein!«

Aus den hüpfenden Punkten wuchsen tiefgrüne Feuerzungen empor.

»Nun, dann lasst uns dafür sorgen, dass das nicht unsere letzte Flamme wird!«

Im selben Atemzug krümmte Arrnd die Finger zu einer Beschwörung. Bevor Minerva überhaupt den Stab erhoben hatte, traf seine Magie schon auf die erste vom Feuer verhüllte Gestalt. Gleichzeitig erwischte auch Emmelines Schockzauber ihr Ziel.

Roter Schimmer überzog die Gliedmaßen des maskierten Zauberers, der aus den Flammen stolperte. Für einen Moment sah es so aus, als würde dieser sich durch Sirup bewegen – dann schleuderte es ihn wie von einem unsichtbaren Seil gezogen rückwärts. Geradewegs in seinen Kumpanen. In einem Knäuel aus schwarzem Umhangstoff gingen sie zu Boden.

»Huch«, meinte Emmeline mit trockenen Lachen, »das habe ich nicht erwartet.«

Arrnd grinste, dass seine Ohren zuckten. »Ich auch nicht. Aber es ist gut.«

Doch die Hand des zweiten Angreifers krümmte sich. Minerva sah die Spitze seines Zauberstabs unter dem Gewirr aus Armen und Beinen aufglühen.

»Petrificus totalus!«

Das Leuchten verlosch, als die Glieder des Mannes sich versteiften und scheinbar magnetisiert an seine Seite schnappten.

»Besser ist es nur, wenn auch beide bewusstlos sind«, kommentierte Minerva ihren Zauber.

Eigentlich wollte sie den anderen zulächeln, doch das Gefühl verging ihr beim Anblick ihres zitternden Zauberstabarmes. Sie konnte ihn einfach nicht mehr senken. Ihre Muskeln standen viel zu sehr unter Strom. Genauso hatte es sich angefühlt, als sie aus Versehen einen elektrisierten Viehzaun auf Dougals Hof berührt hatte. Und selbst nach dem Verlöschen der Flohflammen schwand das stetige Pulsieren in ihren Nerven nicht.

Ohne sich um die bewusstlosen Männer zu scheren, zeichnete sie die Siegelrune in die Luft. Wie all die Male zuvor sank der Bann in den Stein und nahm die letzte Glut mit sich. Die Anhänger Voldemorts blieben natürlich trotzdem.

Für einen Moment erfüllte Schweigen das Büro. Zum Glück, denn es enthüllte die schweren Schritte, die sich von fern näherten.

Ein erneuter Schlenker ihres Zauberstabs rief Minerva die Waffen ihrer Gegner herbei. Die anderen wirbelten bereits zur Tür herum, während sie die Stäbe in ihrem Rockbund versteckte.

»Das ist doch alles große Scheiße!«, fluchte Pippa leise.

Sie konnte ihr nur recht geben. Gerade rechtzeitig wandte sie sich vom Kamin ab, damit sie sah, wie Eugenia um die Ecke bog. Allerdings nicht alleine. Dädalus blieb ein erleichtertes Luftschnappen im Halse stecken, das auch für sie sprach.

Hinter der Ministerin gingen zwei Fremde – wie ihre bewusstlosen Freunde im Kamin in schwarze Kapuzenumhänge gehüllt. Und maskiert. Kunstvoll verschlungenes Silber legte ihnen ein surreales, unmenschliches Gesicht auf.

Pippa knirschte mit den Zähnen. »Ach, leckt mich do-«

Ihre Worte wurden zusammen mit der Luft von einem Knall zerrissen. Dädalus schrie auf und der Strom in ihren Glieder zwang Minervas Arme über ihren Kopf. Erst einige herzschlaggefüllte Sekunden später richtete sie den Stab auf die Angreifer. Doch keiner von denen hatte gezaubert. Im Gegenteil, sie waren genauso zusammengeschreckt, Zauberstäbe erhoben.

Arrnd war verschwunden. Disappariert.

Die Zähne fest zusammengepresst, unterdrückte Minerva einen Fluch.

Eugenias Geiselnehmer indes überwanden ihren Schock und damit die letzten Meter zwischen ihnen, sodass sie das Fehlen einer Mundöffnung in ihren Masken bemerkte. Gerade mal winzige, vergitterte Schlitze, die den Eindruck zusammengenähter Lippen erweckten, ließen neben den Sehschlitzen etwas von dem Menschen darunter durchblicken. Doch selbst ihre Augen schienen von einem kalten, metallenen Schleier belegt und die Münder formten unnatürlich harte Striche.

Die Zauberstäbe der Fremden wiesen zielsicher auf Eugenias Oberkörper, genau zwischen ihre Schulterblätter. Deren Unterlippe bebte, als sie Minervas Blick begegnete. »Es tut mir so leid ...«

»Ja ja, Klappe!« Der größere Kerl verpasste ihr mit dem Stab einen Stoß in den Rücken. Auch wenn seine Stimme durch die Maske blechern klang, konnte Minerva das Grinsen darin hören.

»Ihr seht«, wandte sich sein Kumpan an ihre Gruppe, »wir haben eure wertvolle Ministerin. Also seid besser brav, ja?«

»Davon träumst du wohl«, entgegneten Minerva, Pippa und Emmeline unisono.

Dädalus unterstrich ihre Worte mit einem leisen Knurren.

»An eurer Stelle wäre ich lieber ruhig«, fuhr ihr Gegenüber ungerührt fort. »Es reicht ja schon, dass ihr offenbar gewarnt worden seid. Sagt uns doch lieber, von wem, anstatt hier große Sprüche zu schwingen, hm? Das wird euch gut bekommen.«

Am liebsten hätte Minerva die Arme verschränkt. So aber schwenkte sie den Zauberstabarm nur in Richtung des Kerls, der Eugenia erneut mit seinem Stab pikste. »Das wäre dann wohl ich«, sagte sie.

»Mach dich nicht lächerlich.« Der Größere der beiden lachte. »Du bist nicht der Ursprung dieses Widerstands. Also, wer hat dich gewarnt? Doch nicht etw-«

»Niemand.«

»Tsss. Letzte Chance für die Wahrheit, sonst bringen wir Mrs Jenkins ihr hübsches Köpfchen ein bisschen durcheinander ...« Langsam legte der andere Mann die Spitze seines Zauberstabs an Eugenias Schläfe und fuhr darüber.

Minerva stieß Pippa den Ellenbogen in die Seite, das Kinn auf den größeren Zauberer gerichtet. Sie wartete nicht auf eine Reaktion.

»Expelliarmus!«, brüllte sie – »Flipendo!«, rief Pippa.

Wie schon bei der Zusammenwirkung von Emmelines und Arrnds Magie hob es den Kerl von den Füßen, bevor es auch ihn kopfüber gegen die nächste Wand schleuderte. Sein Zauberstab fiel zu Boden.

Ehe sein Komplize reagieren konnte, vollzogen Emmeline und Dädalus das Gleiche mit ihm. Dieses Mal fing Eugenia den entwaffneten Stab auf. Ohne Zögern jagte sie dem Kerl einen Schockzauber hinterher.

Das erste Opfer richtete sich dafür knurrend wieder auf. Den Zauberstab hatte der Mann ebenfalls zurück in der Hand.

»Confringo!«

»Protgeo!«

Tiefrote Flammen leckten an Minervas Schildzauber. Kostbare Zeit, die der Angreifer nutzte, um seinen Kumpel wiederzuerwecken.

Kaum, dass der Feuerball den Protego geschluckt hatte, sirrte auch schon der nächste Fluch heran. Gezielt hatte der Zauberer auf Eugenia, doch Dädalus stieß sie beiseite. Statt eines Gegenfluchs kam ihm nur ein Keuchen über die Lippen. Dann sackte er auf die Knie.

»Finite«, fauchte Emmeline in seine Richtung, während Minerva gemeinsam mit Pippa dem Angreifer nachsetzte.

Den Kleinen erwischten sie mit einem doppelten Beinklammerfluch, bevor sie ihn schockten, doch der Große wehrte sich verbissen. Selbst durch die Maske hörte man sein Keuchen und das Zähneknirschen.

»Diffindo! Impedimenta! Confundus!« Anscheinend wahllos überzog er sie mit Flüchen.

Immer wieder traf die Magie knallend auf Schilde und Wände. So laut, dass Minerva Arrnds Rückkehr erst bemerkte, als es nicht länger ihr Gegenzauber war, der einen hässlichen Würgefluch abfing. Stattdessen stand urplötzlich Mr Llewyn vor ihr und hüllte sie in den Schutz blassblauen Lichts.

»Sie ...?«

Der Junge hielt Arrnds Schulter fest umklammert.

»Er wollte unbedingt mit«, knurrte der Kobold, ohne sich umzudrehen. »Dabei wollte ich seine Gruppe nur warnen.« Er fing Minervas Blick auf. »Du dachtest doch nicht etwa, dass ich verschwinde, Hexe? Für diese Art des Danks habe ich mich nicht von einem Jüngling mit gezogenem Zauberstab zu einem Seit-an-Seit-Sprung nötigen lassen.«

»Mr Llewyn ...!«, rief Minerva empört und warf im gleichen Atemzug einen Schockzauber über dessen Schulter.

Er reagierte jedoch nicht auf ihren Ausruf. Gemeinsam mit Arrnd schleuderte er seinerseits einen Ball glühender Magie auf den Angreifer. Kurz sah es so aus, als hätten sie gar nichts bewirkt – dann ertönte ein helles Klirren, das an Gläser erinnerte, die zum Prosit aneinanderschlugen. Die silberne Maske des Fremden zerbrach noch auf seinem Gesicht in hunderte Einzelteile, fein wie Sandkörner.

Mit aufgerissenem Mund stand der Mann da. Ebenso wie Minerva, der ein Keuchen entkam, nun da sie den jungen Ambrose aus dem Keller wiedererkannte. Lange währte der geteilte Schock allerdings nicht. Schon drehten Ambrose’ Augen sich in den Hinterkopf und er brach zusammen.

»Der wird so schnell nicht mehr aufstehen«, verkündete Arrnd ungerührt. »Und jetzt hurtig voran! Noch ist die letzte Flamme schließlich nicht verloschen!«

 

Den nächsten Anhängern Voldemorts begegneten sie im sechsten Stock, der Abteilung für magisches Transportwesen. Hin und her gerissen zwischen der gebotenen Hast und Vorsicht, schlichen sie dort von Schatten zu Schatten. Immer wieder hielt Minerva den Atem an, um auf verdächtige Geräusche zu lauschen. Schließlich konnten die Eindringlinge inzwischen überall sein.

Immerhin bis zur sternförmigen Kreuzung zwischen den verschiedenen Unterabteilungen kamen sie unbescholten. Auch die Fahrstühle schienen unbenutzt, einer davon wartete sogar auf dieser Ebene. Gelbe Zauberbänder mit Warnhinweisen sperrten den Flur in Richtung Flohportal über eine Woche nach Minervas Kampf dort noch immer ab. Aber das hatte nichts zu heißen.

Nervös tauschte sie einen Blick mit den anderen. Niemand sprach, doch sie wusste, dass alle das Gleiche dachten. Es könnte eine Falle sein, genauso wie ihre Aufspürzauber, die nicht ausschlugen.

In stiller Übereinkunft griffen sie die Zauberstäbe fester und stahlen sich in den Schutz des Wartebereichs vor der Portschlüsselaufsicht. Dort drängten sich Sitzbänke, Topfpflanzen und Drehständer voller Informationsbroschüren auf engstem Raum aneinander, sodass sie von den Seiten schwerer zu erkennen waren.

Auch Mr Llewyn folgte ihnen weiterhin, da er sich standhaft weigerte, zur Nachhut zurückzukehren. »Ich habe einen Kobold gezwungen, mich beim Apparieren mitzunehmen, damit ich helfen kann, also werden Sie mich jetzt auch nicht los!«, zischte er auf Minervas vorwurfsvollen Blick hin.

Darauf fiel ihr keine Erwiderung ein – außer einem allgemeinen Ratschlag. »Schön. Tun Sie bloß nichts, was ein Gryffindor täte.«

»A-aber Sie, Professor, sind doch selber –«

Sie hob den Mundwinkel zu einem schmalen Lächeln. »Ich weiß. Deshalb sage ich Ihnen das ja. Immerhin kenne ich den Preis für Übermut ziemlich gut.«

Die Stirn gerunzelt, hielt Llewyn kurz inne, bevor er nickte. »Gut.« Ohne ein weiteres Wort färbte er durch Drehen des Zauberstabs seine Kleider in demselben Muster wie die Polster auf den Sitzbänken. Einem Chamäleon gleich verschmolz er mit den Schatten.

Minerva suchte sich einen Pappaufsteller aus, der für neue Portschlüsselverbindungen in die Südsee warb. Im Schutze einer grinsenden Hexe, die zwischen Nixen durch türkises Wasser tauchte, sah sie auf Alstons Karte. Nur drei Wege blieben den Eindringlingen noch. Einer davon im Gemeinschaftsbüro der Flohnetzwerkaufsicht. Diese Laune des Schicksals ließ sie beinahe seufzen.

Gerade wollte sie ihren Begleitern anbieten, in Animagusform dorthin zu schleichen, während sie weiterzogen, da polterte es in der ganz anderen Richtung. Weiter hinten auf dieser Seite des Stockwerks. Wump, wump, wump – dumpfe Schläge aus dem Dunkel des Ministeriums echoten ihren Herzschlag.

Dann schlug Holz auf Stein, als eine Tür gewaltvoll aufflog.

»Bah, ich hasse Portschlüssel«, fluchte eine Frauenstimme in der Ferne. »Der Kamin wäre mir deutlich lieber gewesen.«

»Sei lieber froh, dass niemand daran gedacht hat, den letzten, eingehenden Portschlüssel umzuleiten. Oder willst du so dringend im Flohnetzwerk feststecken?«

»Na, Thomp- äh, ich meine die anderen, sind offenbar doch durchgekommen.«

»Und dennoch ist das kein Anlass, sorglos zu sein! Die Übernahme hat gerade erst begonnen. Mit dem Portschlüsselbüro alleine haben wir noch gar nichts gewonnen. Das sind ja nur zwei Hexen im Nachtdienst.«

»Leise jetzt!«, zischte eine dritte Stimme.

Eugenia hinter den Informationsbroschüren über Reisekrankheiten schloss die Lider für einen Augenblick. Minerva erschien sie wie jemand, der ein Stoßgebet zum Himmel schickte. Oder eher eine Entschuldigung an jene armen Hexen, für deren Rettung sie zu spät kamen ...

Den Schritten nach zu urteilen waren es gleich mehrere Personen, die sich ihnen näherten. Vier, vielleicht auch fünf oder gar sechs. Und nicht nur das – der goldene Fahrstuhl sank mit einem Mal rasselnd in die Tiefe. Herbeigerufen von weiteren Eindringlingen?

Jetzt war es Minerva, die ihre Augen gen Himmel wandte, in der Hoffnung, der Gott ihres Vaters würde auch sie erhören. Womöglich tat er das sogar – oder es war ein schlichter Zufall. In jedem Fall erkannte sie etwas Bekanntes wieder. Etwas ziemlich Hässliches.

»Arrnd«, zischte sie, so leise sie konnte, »ist Koboldsilber eigentlich magisch?«

Der Ficus zu ihrer Linken raschelte. »Natürlich!«, drang es aus dem Blattwerk.

»Gut. Wahrscheinlich einfach für dich zu verzaubern?«

»Verdammt richtig, Hexe.«

»Minerva, wenn es dir nichts ausmacht.« Ein grimmiges Lächeln schlich sich auf ihre Züge. Sie lehnte sich vor und teilte ihre Idee mit dem Ficus.

Der grollte leise. »Daraus lässt sich was machen – Minerva.«

»Perfekt. Auf mein Zeichen.« Mit fragend hochgezogenen Augenbrauen wandte sie sich als nächstes Pippa zu. »Bereit, unsere Gäste zu begrüßen?«

»Schon immer.«

»Dann folg mir.« Geduckt stahl Minerva sich aus ihrem Versteck. Jetzt kam ihr die schwache Nachtbeleuchtung zu Gute, denn die Schatten würden sie noch ein wenig länger vor den Eindringlingen verbergen.

Diese hatten offenbar ihrerseits einen Aufspürzauber angewandt. Zumindest kam an der Wand gegenüber der nächsten Flurbiegung ein rot pulsierendes Licht näher, dicht gefolgt von Geflüster. Sie brauchte keinen Abhörzauber, um zu wissen, dass die Angreifer überlegten, wie sie ihre Gruppe am Besten überwältigen konnten.

Stumm wies sie mit der Stabspitze auf eine angelehnte Bürotür. Selbst im Halbdunkel glänzte das Messingschild mit der Aufschrift ‚Zentrale für kontinentalübergreifende Reiseroutenüberwachung‘ daran.

In wenigen Schritten erreichten Pippa und sie den Raum. Vier kleine Schreibtische drängten sich darin aneinander. Allesamt ächzten sie unter der Last von Akten.

»Perfekt.« Minerva richtete sich auf und schickte eine strahlende Lichtkugel hoch zur Deckenlampe.

Pippa kniff die Augen zusammen. »Was bitte ist dein Plan?«

»Sie ablenken, damit die anderen zuschlagen können. Schon mal etwas von Gambits im Schach gehört? In den ersten Zügen opfert man einige Figuren, um den Gegner aus der Reserve zu locken, und dann setzt man ihn matt. Also los, tun wir so, als würden wir hier arbeiten.«

»Aber –«

Auf einen Schlenker von Minervas Zauberstab hin verwandelte sich Pippas Aurorenumhang in einen Bademantel, passend zu ihrem Nachthemd.

»Jetzt siehst du aus wie eine, die von einem Notfall aus ihrer wohlverdienten Nachtruhe gerissen wurde. Na los, schnapp dir eine Akte.«

Nach wie vor skeptisch folgte Pippa der Anweisung. Mit einem dramatischen Seufzen warf sie sich auf einen Schreibtischstuhl, legte die Füße hoch und murrte extra laut: »Immer diese unfähigen Kollegen, die es nicht mal hinkriegen, ein Formblatt richtig auszufüllen – schau dir nur an, was Belinda hier wieder gerissen hat! Ich schwöre dir, eines Tages ...«

Minerva unterdrückte ein amüsiertes Schnauben. Dann machte sie sich daran, ein paar Pergamentstapel so zu verhexen, dass sie sich selbst ordneten. Nichts ließ einen geschäftiger wirken als umherschwebende Dokumente, so viel hatte sie im Ministerium gelernt.

Abschließend verpasste sie sich noch eine übergroße Hornbrille, indem sie einen Federhalter verwandelte. Ob das von ihrer wahren Identität ablenken konnte, würde sie gleich erfahren, denn die ersten Schritte erreichten ihr Büro.

»Hier!«, rief jemand triumphierend.

Schon stieß man die Tür wieder auf. Dahinter tauchte eine breitschultrige Gestalt auf, den Zauberstab vorgestreckt wie ein Messer. »Arbeit und Stäbe niederlegen!«, bellte er.

»Hoppla, wer sind Sie denn?« Pippa schaffte es, ihrer Stimme gleichzeitig ein erschrockenes und doch entrüstetes Kieksen zu geben.

»Eure Retter«, verkündete der Mann, dessen Gesicht von einer Maske mit schwarzen Akzenten verborgen wurde. »Wir befreien euch von eurer unfähigen, korrupten Führung.«

Ihr vorwurfsvolles »Bitte?« brauchte Pippa nicht spielen.

»Ab heute steht das Ministerium unter neuer Kontrolle«, verkündete aus dem Hintergrund die Frau, welche sich über den Portschlüssel beschwert hatte. »Sie brauchen nichts befürchten, solange Sie uns jetzt Ihren Zauberstab aushändigen und Treue zum neuen Ministerium schwören.«

»Ich glaube, ich spinne!« Pippa warf Minerva einen intensiven Blick zu. »Hörst du das Midge? Wir können doch nicht einfach irgendwelchen Maskenmännern unseren Stab geben –«

Die beiden vordersten Eindringlinge traten beiseite, sodass sie deren vier Begleiter sehen konnten, die sich dicht hinter ihnen aufgestellt hatten. Alle mit dem Rücken zum versteckten Rest ihres Teams.

Minerva streckte zitternd die Hand mit dem Zauberstab vor. Dieser Teil ergab sich von alleine, wo doch das ganze Adrenalin immer noch wie Strom durch ihr Blut jagte.

»Bitte ... tun Sie mir nichts«, stammelte sie hoffentlich überzeugend, während sie sich dem Frontmann näherte. »Und Caroline auch nicht, sie meint es nicht so ...«

Pippa schnaubte. »Ich will wissen, was hier los ist! Vorher mache ich gar nichts!«

Im Hintergrund sah Minerva derweil Dädalus und Emmeline aus ihrer Deckung zielen. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf.

Nur ein bisschen noch ... Direkt vor dem fremden Zauberer hielt sie inne. Auffordernd langte dieser nach ihrem Stab –

»Jetzt, Arrnd!«

Sie riss den Zauberstabarm empor und zielte auf die Deckenlampen im Flur. Einer nach dem anderen explodierten ihre gläsernen Lampenschirme.

Arrnd antwortete seinerseits mit einem Wirbel aus Magie. Durch den Hagel aus Glasscherben schossen glänzende Fangarme von der Decke auf die Anhänger Voldemorts herab. Noch während diese herumwirbelten, packten sie bereits die ersten Silberstränge.

Die Frau unter ihnen schrie laut auf, sobald sich das Metall auf ihrer Haut ausbreitete. »Macht das runter von mir! Hilfe! Nehmt das weg!«

Doch das Koboldsilber schnürte sich dank der Flüche ihrer Gefährten nur fester, verschmolz mit ihrer Maske und umhüllte sein Opfer, bis es zu einer grotesken Statue gefror. So mussten durch Medusa versteinerte Menschen aussehen, schoss es Minerva durch den Kopf. Nur dass diese Frau noch mit den Überresten der koboldgefertigten Lampenfassung hoch oben an der Decke verbunden war. Es wirkte, als hätte sie ein Lichtstrahl gefangen.

Der Kerl vor ihr hatte mehr Erfolg. Er schaffte es mit einer Rolle unter dem verhängnisvollen Silber hinweg. Sein Trennzauber zerschnitt den Fangarm und dieser regnete in einer Pfütze flüssigen Metalls zu Boden.

Knurrend schleuderte der Zauberer einen zweiten Fluch in Richtung Minerva. Sie sah einen grellen Blitz auf sich zurasen – dann schnipste Arrnd. Aus der Silberpfütze zu ihren Füßen wuchs ein Schild. Die schwarze Magie zerplatzte daran in hunderte purpurne Lichtscherben, dass es wilde Schatten auf die Wände malte.

Der Anblick brachte sie auf einen Gedanken. Mit dem Zauberstab beschrieb sie einen großen Kreis über ihrem Kopf. Und tatsächlich, die Fluchscherben reagierten auf ihren Luftwirbel. Wie Blätter im Wind stiegen sie immer höher, formten sich neu. Bildeten eine schwarz-violette Gewitterwolke. Bis sie den Arm wieder hinabstieß.

Ihre Gegner rissen gerade so einen Schutzkreis empor. Die erste Welle umgekehrter Magie glitt daran ab, doch schließlich stieß sie geradewegs hindurch. Fluchend schlugen die Zauberer auf die Löcher, die sich daraufhin in ihre Roben fraßen.

Emmeline und Dädalus zur anderen Seite gönnten ihnen jedoch keine Ruhe. Abwechselnd setzten sie mit Schockzaubern nach. Auch Llewyn warf sich in das Getümmel, indem er kleine Vögel heraufbeschwor, die sich auf die Köpfe ihrer Gegner stürzten.

Ein paar glückselige Sekunden lang glaubte Minerva wirklich, dass sie es wieder schaffen konnten. Zwei Angreifer waren inzwischen von Arrnds verzaubertem Koboldsilber eingefangen, einen anderen hatte Emmeline geschockt. Und einem Vierten entriss Pippa gerade den Zauberstab. Aber sie hatte die Rechnung ohne den Kamin in der Flohnetzwerkzentrale gemacht.

Von dort mussten die Männer kommen, die mit einem Mal an den Fahrstühlen vorbei auf sie zustürmten. Gleich fünf an der Zahl. Auch sie in schwarzen Umhängen.

»Glisseo!«, brüllte der Vorderste.

Im gleichen Moment verlor Minerva die Bodenhaftung. Die Schulter voran schlug sie auf den Teppich – der sich in eine spiegelglatte Schräge verwandelt hatte. Ihr Zauberstab kullerte zusammen mit der falschen Brille fort, geradewegs auf die Neuankömmlinge zu.

Während sie noch versuchte, sich mit den Füßen gegen Boden und Schwerkraft zu stemmen, traf Pippa hinter ihr ein Fluch. Die Aurorin rutschte in ihren Rücken wie ein nasser Sack Flubberwürmer. Das reichte, damit auch sie wegglitt.

Es ging alles so schnell, dass sie nicht einmal sah, wie den anderen geschah. Sie hörte nur ihre Schreie und noch mehr Flüche. Dann riss die Rutschpartie so plötzlich ab, wie sie begonnen hatte. Schwarze Lackschuhe schoben sich in Minervas Sichtfeld.

»Na sieh mal einer an, wen wir hier haben.« Jemand lachte. So heftig, dass den Kerl ein Hustenanfall überkam. Das bemitleidenswerte Geräusch zeugte von einem starken Raucher.

Everard Nott. Trotz Maske sah Minerva sein hässliches Gesicht und das goldzahnreiche Grinsen vor sich.

»Da konnte unser Freund sein kleines Spielzeug wohl nicht an der Leine halten.« Nott drückte ihre Hände mit dem Fuß hinter dem Rücken zusammen. Sofort schlangen sich Zauberseile um ihre Gelenke.

»Nicht mein Pech, wenn ihr mich unterschätzt«, knurrte sie.

»Ich begehe diesen Fehler nicht«, säuselte Nott. »Ich habe kein Interesse an einer ollen Schabracke wie dir. Du kannst dich gleich vor ihm verantworten.« Er hob seine Stimme. »Genauso wie ihr alle! Lord Voldemort wartet bereits darauf, euch der gerechten Strafe zuzuführen.«

»Hah«, machte Pippa, die zwar atemlos, aber ansonsten wohlauf klang, »eher schiebe ich dir deinen Zauberstab dahin, wo die Sonne nicht scheint!«

»Silencio!«

Behandschuhte Hände griffen Minerva und zogen sie unsanft auf die Beine.

Endlich wieder auf festem Grund erkannte sie, dass all ihre Begleiter sich in der gleichen Lage befanden: Die Handgelenke gefesselt, ihr Zauberstab verloren. Sogar Arrnd hatten die Männer überwältigt. Seine Hände steckten in etwas, das wie zu groß geratene Fäustlinge aussah. Vermutlich sollte es ihn davon abhalten, auch nur einen Finger zu krümmen. Dafür hatte er es immerhin noch geschafft, einen dritten Zauberer mit seinem Silberfluch zu erwischen.

Minerva erschauderte es beim Anblick des Kerls, der gerade auf ein Knie fiel, den Mund weit geöffnet, sein Zauberstab auf die Stelle gerichtet, an der sie und Pippa kurz zuvor gestanden hatten.

»Und was passiert mit denen?«, fragte jemand Nott.

»Keine Ahnung. Kümmern wir uns später drum. Tot sind sie ja nicht. Wenn Gringotts erst uns gehört, wird das schon irgendein anderer Kobold auflösen. Und jetzt vorwärts, wir haben keine Zeit zu verlieren. Der Dunkle Lord wartet!«

Nott führte sie in Richtung Fahrstühle. Kaum dass die Kabinen erschienen, teilten die Männer sie auf – zwei von ihnen quetschten sich mit Minerva, Arrnd und Mr Llewyn in den ersten vergitterten Kasten, der Rest begleitete Eugenia, Pippa, Dädalus und Emmeline.

In einem von Muggeln gebauten Fahrstuhl wäre nun wohl fröhliche Musik erklungen. So kannte Minerva es zumindest aus dem Einkaufszentrum, das sie gelegentlich mit ihrer Mutter besucht hatte. Hier allerdings konnte sie nur Mr Llewyns neugewonnen Mut anhand seiner klappernden Zähne wanken hören.

Ihre beiden Bewacher lehnten sich an die Gitterwand und schickten abwechselnd Zauberfunken zur Fahrstuhldecke empor, als sei das ein spannendes Spiel.

»Man, wenn ich gewusst hätte, dass das hier so öde wird, wäre ich doch in die Winkelgasse gegangen«, seufzte einer von ihnen. »Da haben bestimmt alle ihren Spaß beim Ausräumen der Läden ... und ich wollte schon so lange einen von diesen neuen Komet-Besen, aber die kosten ja viel zu viel. Das wär heute meine Chance gewesen, einen mitgehen zu lassen ...«

»Wenn wir hier fertig sind, kannste eh alles haben, was du willst«, erwiderte sein Kumpel.

»Was würdest du denn nehmen – den neuen Komet oder doch lieber nen Sauberwisch?«

Zwischen den Männern entwickelte sich ein Gespräch über die neusten Rennbesen, bei dem Minerva sich auf die Innenseite ihrer Wange beißen musste. Natürlich war der neue Komet um Längen besser als der Sauberwisch, dessen unkontrollierter Linksdrall sich in der aktuellen Produktionsreihe fortsetzte!

Aber diese Unwissenheit war auch ein Segen, denn so bemerkten die Männer nicht, wie sie sich näher an Llewyn hinter ihr heranschob. »Noch ist nichts verloren«, raunte sie ihm aus dem Mundwinkel zu.

»A-aber ... wir bräuchten schon einen Helden, um hier noch rauszukommen«, flüsterte der Junge zurück.

»Den Sie nicht spielen werden.«

Wie zur Bestätigung klapperten Llewyns Zähne etwas doller. Doch als Gryffindor wusste Minerva – der größte Mut entstand durch noch größere Angst.

Ein leises Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, auch wenn Llewyn es nicht sehen konnte. »Keine Sorge, gemeinsam können wir uns retten.«

»... Wie?«

»Drehen Sie sich um.«

Er leistete ihren Worten Folge. Derweil stritten die beiden Anhänger Voldemorts leidenschaftlich über den besseren Reisigschnitt bei Komet- und Sauberwisch-Besen. Arrnd hob nur eine Augenbraue, ehe er sich mit einem forschen Räuspern in das Gespräch der Männer einmischte und versuchte, sie von der Existenz eines geheimen Koboldbesens zu überzeugen, der angeblich Borsten aus unzerstörbaren, handgesponnenen Silberfäden hatte.

»Gut. Strecken Sie die Hände aus«, wies Minerva Llewyn an.

Vorsichtig tastete sie nach den Zauberstäben in ihrem Rockbund. Sie durfte bloß keine großen Bewegungen machen. Aus dem Augenwinkel behielt sie die Stockwerkanzeige im Blick, während sie unter ihre Bluse griff. Es dauerte, doch schließlich hatte sie einen Stab befreit. Llewyns Fesseln in spröde Gummibänder zu verwandeln war dagegen ein Klacks.

Der Junge schnappte nach Luft und sie drückte ihm den Zauberstab in die Hand. Ein paar Herzschläge später lockerten sich ihre Fesseln ebenfalls. Trotzdem zerriss sie diese nicht, sondern stupste den Stab an, damit er in Llewyns Ärmel verschwand.

»Sehen Sie? Noch ist nichts verloren«, wisperte sie.

In diesem Moment ging ein Ruck durch den Fahrstuhl. »Neunter Stock – Mysteriumsabteilung und die Gerichtssäle«, verkündete die magische Ansage gleich doppelt, da neben ihnen die zweite Kabine mit Nott ankam.

Überrascht sah Minerva in die Dunkelheit vor den Gittern. Sie hatte erwartet, dass Voldemort sie im Atrium empfangen würde. Was wollte er hier unten?

»Los, vorwärts!«

Ihre beiden Bewacher hatten die Besen offenbar wieder verdrängt und trieben sie nun die Treppe in den zehnten Stock hinab. Das konnte nur eines heißen – sie gingen geradewegs in den großen Gamotssaal.

Nicht einmal in ihrer kurzen Karriere hatte Minerva dort einer Verhandlung beigewohnt. Sie erinnerte sich nicht mal, ob überhaupt zu ihren Lebzeiten in diesem Saal verhandelt worden war. Immerhin war dieser Raum den allerschlimmsten, schwärzesten, verfluchtesten Verbrechen vorbehalten. Er öffnete nur dann seine Türen, wenn es das volle Gamot mit allen 236 Mitgliedern brauchte.

Und jetzt.

Direkt vor ihnen führte Nott Eugenia und die anderen durch die gewaltigen Flügeltüren. Der Schein greller Zaubersphären ergoss sich aus dem Inneren, sodass es Minerva blendete. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie, sich zu orientieren.



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