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DEATH IN PARADISE - 01

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Tod einer Tennislegende

Eine Stunde, bevor Derrick Faulkner die Polizeistation in Honoré betrat, stritt die ehemalige Tennislegende Henderson Wayne lautstark mit seinem Schwager James Watt. Auf der Terrasse der Mietvilla im Rollstuhl sitzend funkelte der Dreißigjährige ihn wütend an.

„Du bist eine Null, James!“

„Dafür saufe ich wenigstens nicht, wie ein Loch!“, gab Watt eisig zurück. „Seit einem Jahr lässt du dich nur noch gehen! Sicher, der Unfall war tragisch. Er hat deine sportliche Karriere beendet, doch das ist keine Entschuldigung für dein jämmerliches Verhalten!“

„Wer ist hier jämmerlich!“, begehrte der Querschnittgelähmte mit wankender Stimme auf. „Du hast doch keine Ahnung, wie das ist!“

„Oh, ja! Jetzt spielst du wieder einmal die Karte des armen, unverstandenen Krüppels aus, dessen Leben vorbei ist! Das hast du inzwischen wirklich drauf! Aber ich sage dir jetzt mal was: Es gibt eine Menge Leute, denen es viel schlechter geht als dir! Also hör endlich damit auf, dich selbst zu bemitleiden und hör auf mit der Sauferei!“

Bevor die Situation eskalieren konnte, flog die große Glastür auf, die von der Terrasse aus den Weg ins Innere der Villa freigab. Natalie, eine blonde Frau, in demselben Alter, wie Henderson Wayne, kam auf die Terrasse gerannt und legte von hinten die Arme um ihren Verlobten, beinahe als wolle sie ihn vor dem zehn Jahre älteren James Watt beschützen. Wütend zu James aufsehend fauchte Natalie den Schwager ihres Verlobten an: „Lass ihn endlich in Ruhe, James! Hen hat sich eben noch nicht damit abgefunden!“

„Ja, verhätschele ihn ruhig weiter!“, erwiderte der Vierzigjährige grob.

Ann-Doreen Watt, die Schwester von Henderson Wayne, kam nun ebenfalls aus der Villa gerannt. Sich an die Seite ihres Mannes stellend fragte sie frustriert: „Worüber streitet ihr zwei diesmal schon wieder? Muss das denn immer sein? Dieser Urlaub sollte der Erholung dienen, doch ihr zwei verderbt ihn gerade! Was war denn?“

„Frag das mal deinen Bruder!“, fauchte James Watt, noch immer wütend. „Er gefiel sich darin, mich als Null zu bezeichnen.“

„Du bist ja auch eine!“, legte Henderson Wayne nach.

James Watt funkelte seinen Schwager wütend an. „Wenn du nicht im Rollstuhl sitzen würdest, dann hätte ich die längst ein paar ins Gesicht gesteckt. Manchmal würde ich dich am liebsten umbringen, dann wäre endlich Ruhe!“

Ann sah ihren Mann vorwurfsvoll an. „James! Bitte!“

„Ist doch wahr!“, polterte Watt weiter und schritt in Richtung Innenbereich. „Von mir aus kann er sich hier draußen weiter besaufen und selbst bemitleiden, aber ohne mich!“

Ann-Doreen sah entschuldigend zu ihrem Bruder und seiner Verlobten, bevor sie James eilig ins Innere der Villa folgte.

Draußen auf der Terrasse legte Natalie sanft den Kopf ihres angetrunkenen Verlobten an ihre Brust und streichelte seine Wange. Nach einer Weile sagte sie sanft: „Er hat es vermutlich nicht so gemeint, Hen. Vielleicht hat er ja auch Recht. Du hast wirklich sehr viel getrunken, seit dem Autounfall.“

„Du meinst, seit dem Autounfall, bei dem du angetrunken gefahren bist!“, verbesserte der Querschnittgelähmte kühl. „Wäre es nicht so gewesen, dann hättest du einen Krüppel, der im Rollstuhl sitzt, doch längst verlassen.“

Henderson Wayne starrte geradeaus, die steile Treppe hinunter, auf den Tennisplatz. Dass diese Villa einen solchen Platz hatte, schien ihm wie ein Hohn. Er war sich sicher, dass James, der die Villa angemietete, das mit Absicht getan hatte.

Erst ein leises Schluchzen ließ ihn aufblicken.

Natalie wischte sich die Tränen weg, als er sie ansah. Mit erstickter Stimme sagte sie heiser: „Du weißt ganz genau, dass das nicht wahr ist. Ich liebe dich, Hen. Das wird sich niemals ändern, hörst du?“

Henderson Wayne tat es in demselben Moment leid, dass er eben zu weit gegangen war. Mit Tränen in den Augen erwiderte er: „Es war gemein von mir und es tut mir leid, Natalie. Ich liebe dich doch auch.“

Für eine geraume Weile verblieben sie so auf der Terrasse, bis Natalie zu den dunklen Wolken am Himmel sah und fragte: „Kommst du mit rein?“

„Gleich, Liebes. Ich möchte nur noch eine Weile hier draußen sitzen.“

Natalie löste ihre Arme von Henderson. „In Ordnung, du willst also wieder mit deiner Handheld-Konsole spielen. Aber lass mich nicht zu lange da drin allein, hörst du?“

Sie schritt davon und Henderson Wayne sah über den Tennisplatz hinweg auf die fernen Hügel der Insel. Dann nahm er seine Retro-Handheld-Spielekonsole von Nintendo aus einer Seitentasche seines Rollstuhls und schaltete sie ein. Wenn er schon nicht mehr richtig Tennis spielen konnte, dann zumindest auf dem Bildschirm dieser Konsole.

Einige Minuten später war er vollkommen in das Videospiel versunken. Er merkte nicht, dass sich eine Gestalt von hinten seinem Rollstuhl näherte. So kam die Kippbewegung nach vorne vollkommen überraschend für ihn. Hilflos stürzte er mit seinem Rollstuhl die steile Treppe hinunter. Dabei verlor er jegliches Orientierungsgefühl. Es wurde kurzzeitig schwarz vor seinen Augen, bevor er wieder etwas erkennen konnte. Wilder Schmerz durchströmte seinen Oberkörper. Aus den Augenwinkeln erkannte er eine Person auf der Terrasse, die boshaft zu ihm hinab lächelte. Sie wandte sich ab und ging davon.

Eine erneute Ohnmacht drohte ihn zu übermannen, als er vor sich seine Spielekonsole entdeckte. Mit geradezu übermenschlicher Anstrengung griff er nach ihr, löschte das aktuelle Spiel und stellte den Zweispieler-Modus ein. Henderson Wayne spürte in einem Moment vollkommener Klarheit, dass er sterben würde. Mit letzter Willenskraft schlug er für Spieler 1 zweimal ein Ass. Dann ließ er die Konsole aus seiner Hand zu Boden rutschen und starb.
 

* * *
 

„Wie lange sind Sie schon bei der London Metropolitan Police, Sir.“

Derrick Faulkner sah Florence Cassell von der Seite an. Erleichtert darüber, dass sie es war, die eine Unterhaltung beginnen wollte, antwortete er: „Ich war vierundzwanzig, als ich meine Laufbahn bei der Polizei von Greater London begann. Das ist rund fünfzehn Jahre her. Nach sieben Jahren wechselte ich zur National Crime Agency, kurz NCA. Das könnte man als die britische Version des FBI bezeichnen.“

„Klingt beeindruckend, Sir.“

Derrick Faulkner blickte düster vor sich hin, wegen der Erinnerungen, die er soeben selbst heraufbeschworen hatte. Rasch hakte er ein: „Was ist mit Ihnen, Florence? Mir wurde mitgeteilt, dass man Sie relativ früh zum DS befördert hat.“

Die Frau sah kurz zur Seite und bestätigte: „Ja, ich war gerade erst fünfundzwanzig. Mein damaliger DI, Humphrey Goodman, hatte zudem eine ziemlich chaotische Art, müssen Sie wissen. Deswegen habe ich sehr früh gelernt Verantwortung zu übernehmen.“

Es dauerte einen Moment, bis sich Faulkner erkundigte: „Kratzen Sie gerade an der Legende des DI Goodman?“

„Oh - nein. So meinte ich das nicht. Humphrey Goodman ist einer der brillantesten Ermittler, die ich kenne. Aber auch etwas, um es vorsichtig zu formulieren, unkonventionell.“

Der Brite lachte vergnügt auf. „Ach so. Das meinen Sie. Inzwischen wurde er übrigens zum DCI befördert. Seine zweite Frau scheint ihm gutzutun.“

„Er hat Martha also wirklich geheiratet? Das freut mich für ihn.“

Um etwas von diesem Thema wegzukommen, erkundigte sich Faulkner rasch: „Wohin genau fahren wir eigentlich?“

„Die Villa, in der sich das Unglück ereignet hat, liegt am Rand des Naturschutzgebietes, Sir. Ein gewisser James Watt, der mit seiner Verlobten seiner Schwester und deren Mann hier Urlaub macht, hat sie für drei Wochen angemietet. Bei dem Toten handelt es sich um den ehemaligen Tennisprofi Henderson Wayne.“

Etwas verlegen wirkend meinte der Ermittler: „Na, toll. Sie haben das auf dem Revier als Information bekommen und ich war nicht genügend auf Zack zuzuhören. Sie müssen ja einen schönen ersten Eindruck von Ihrem neuen Chief haben.“

„Den hatte ich bereits“, entfuhr es der Polizistin. Erst einen Moment später bemerkte sie den Fauxpas und fügte schnell hinzu: „Tut mir leid, Sir, das ist mir so herausgerutscht.“

„Ich mag ehrliche Menschen“, gab Faulkner spitz zurück. „Solange die Ehrlichkeit nicht allzu schmerzhaft wird.“

Für eine Weile blieb es still in dem Land-Rover vom Typ Defender-110. Erst nach einer ganzen Weile fragte Florence Cassel, um den Faden der begonnenen Unterhaltung nicht abreißen zu lassen: „Sind Sie in London Humphrey Goodman jemals begegnet?“

„Nur einmal, ganz kurz. In dieser kurzen Zeit hat er es dennoch geschafft zwei Teetassen und einen Blumenkübel abzuräumen.“

Florence lachte hell auf. „Ja, das klingt ganz nach dem Chief.“

Derrick Faulkner beobachtete die Polizistin aufmerksam von der Seite. Nach einem Moment fragte er: „Sie haben ihn sehr gemocht, wie es scheint.“

Ein unmerkliches Lächeln umspielte die Lippen der Frau. „Ja, trotz seiner chaotischen Art ist er ein großartiger und sehr liebenswerter Mensch. Ich habe ihn am Ende nicht nur als Vorgesetzten gesehen, sondern als einen guten Freund.“

Wieder blieb es für eine Weile still, bevor Florence fragte: „Wenn ich eben gut zugehört habe, dann sind Sie erst neununddreißig, Sir?“

„Richtig“, bestätigte Faulkner. „All Ihre anderen Vorgesetzten waren wohl etwas älter, vermute ich mal.“

Ein melancholischer Zug erschien auf dem Gesicht der Frau. „Ja, der letzte DI, bevor ich für ein Jahr nach Martinique fuhr, hatte bereits eine erwachsene Tochter und hätte, zumindest dem Alter nach, als mein Vater durchgehen können.“

„Tja, dieser Eindruck entsteht bei Ihrem jetzigen DI bestimmt nicht. Als höflicher Mensch frage ich Sie natürlich nicht nach Ihrem Alter.“

„Weil Sie das vermutlich bereits meiner Dienstakte entnommen haben“, konterte Florence trocken.

„Auch das“, gab Faulkner offen zu. „Doch wenn ich es nicht wüsste, dann würde ich sie auf höchstens achtundzwanzig schätzen.“

Die Polizistin hob leicht ihre Augenbrauen und erwiderte mit spöttischem Unterton: „Mein Vater hat mich vor charmanten Männern gewarnt.“

Derrick Faulkner seufzte übertrieben: „Das war vermutlich nicht verkehrt.“

„Dort vorne beginnt das Grundstück, das zur Villa gehört“, lenkte Florence Cassell die Gedanken des Detective-Inspectors wieder auf den Grund ihres Hierseins.

„In Ordnung, dann werden wir mal sehen, ob das Unglück tatsächlich eins war. Wenn es nach mir geht, dann ist es tatsächlich so einfach. Denn dann könnte ich den Rest des Nachmittags dazu nutzen, um mich in meiner eigenen Villa umzusehen.“

Mit einem beinahe verschmitzten Lächeln verbesserte Florence: „Sie meinen, in Ihrer eigenen Hütte, Sir.“

„Ja, das hatte ich befürchtet.“

Florence bremste den Land-Rover ab und erwiderte: „So schlimm, wie es sich anhört, ist es nun auch wieder nicht. Sie haben dort alles, was Sie brauchen. Eine komplett eingerichtete Küche, Dusche, Bett, Wohneinrichtung, Veranda und einen Baum. Zudem ein altes Boot, direkt vor der Veranda, am Strand. Sogar ein Haustier ist bereits da.“

Derrick Faulkner nickte und stieg aus, als der Wagen hielt. Erst, als auch Florence ausgestiegen war, fragte er über die Motorhaube des gelb-blauen Land-Rovers hinweg: „Sagten Sie gerade Baum? Und was für ein Haustier?“

Florence wirkte geradezu vergnügt, als sie zurückgab: „Nun ja, Sir, es wächst ein Baum durch das Dach der Hütte. Bei dem Haustier handelt es sich um eine kleine grüne Eidechse aus der Gattung der Anolis. Sie heißt übrigens Harry. Also passen Sie nachher bitte auf, wohin Sie treten, Sir.“

Kopfschüttelnd wartete der Chief darauf, dass Florence den Rover umrundete und meinte dabei: „Das muss ich erst einmal verdauen. Aber direkt am Strand klingt gut.“

„Es wird Ihnen bestimmt gefallen, Sir.“

Faulkner nickte nur und warf einen Blick auf das Motorrad mit Seitenwagen. Erst jetzt entzifferte er den Schriftzug am Tank und meinte: „Eine Royal-Enfield habe ich bereits seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Unser Team ist also vollzählig vor Ort. Dabei fällt mir ein, dass wir das Revier gar nicht zugesperrt haben.“

Niemand, auf dieser Insel, würde das Sakrileg begehen, dort hineinzugehen und etwas zu entwenden, oder dort unerlaubt Akten einzusehen, oder sonst etwas anzustellen. Zumal wir Insulaner aufeinander achten. Selbst wenn es jemand wagen sollte, würde mindestens ein Dutzend Menschen sofort auf die Barrikaden steigen. Der- oder diejenige hätte nichts zu lachen, Sir. Sie könnten dort zehntausend Dollar offen liegen lassen und die wären nach Stunden immer noch da.“

Der Hochgewachsene sah etwas verwundert zu Florence. „Erstaunlich. Das wäre so in London, oder in sonst einer Großstadt in Europa, kaum möglich. Ich bin begeistert. Aber jetzt lassen Sie uns sehen, was der Rest des Teams bis jetzt herausfinden konnte.“
 

* * *
 

Derrick Faulkner betrat mit Florence die Terrasse der Villa, wo sie die drei übrigen Bewohner des Anwesens entdeckten. Während sie gemeinsam zu den drei Angehörigen des Verstorbenen schritten, sagte der Inspector: „Sie reden mit den Angehörigen, Florence. Ich selbst werde mich derweil mal direkt am Ort des Unglücks umsehen.“

„In Ordnung, Sir.“

Faulkner nickte ihr dankbar zu. Er selbst fühlte sich momentan noch nicht in der Lage, den Schmerz der Hinterbliebenen auszuhalten. Dazu würde es wohl einiger Einsätze bedürfen. Er musste erst wieder langsam zu dieser Seite seines Berufs zurückfinden.

Nachdem Faulkner kurz Umschau gehalten hatte, entdeckte er Sergeant Dechiles und Officer Karr bei der Leiche, die unten, am Zaun des Tennisplatzes lag. Neben einem umgestürzten Rollstuhl.

Auf dem Weg, die Treppe hinunter, rief sich Faulkner den Namen des Toten in Erinnerung. Erst jetzt realisierte er, dass es sich offensichtlich um die Tennislegende handelte, die für England zweimal hintereinander Wimbledon gewonnen hatte. Die gesamte Sportwelt war nach seinem Autounfall erschüttert gewesen.

Wie schon früher, in ähnlichen Situationen wie dieser, blendete Derrick Faulkner alles um sich herum aus und konzentrierte sich auf das Wesentliche. Sich zu den beiden Polizisten unter seinem Kommando begebend, wandte er sich an Sarah Dechiles.

„Was konnten Sie bisher feststellen, Sergeant?“

Die Frau, deren Teint deutlich dunkler war, als der von Florence Cassell, sah zu ihm auf und erwiderte mit rauchiger Stimme: „Er scheint die Treppe hinuntergestürzt zu sein, die von der Terrasse zum Tennisplatz führt, Sir. Die sichtbaren Verletzungen am Körper der Leiche unterstützen diese Vermutung. Eine Unachtsamkeit, die ihn das Leben gekostet hat.“

„Hm“, machte Faulkner. „Zuerst der Autounfall und jetzt dieser Treppensturz. Das ist wirklich spektakuläres Pech, finden Sie nicht auch, Sergeant?“

Während Dechiles noch herauszufinden versuchte, ob diese Bemerkung rhetorisch gemeint gewesen war, begab sich der Dunkelblonde zu dem umgestürzten Rollstuhl. Er sah ihn sich von mehreren Seiten aus an. Nach einer Weile meinte er zu Dechiles gewandt: „Ich brauche ein Paar Handschuhe.“

Die Angesprochene reichte sie Faulkner, der sich die Einweghandschuhe rasch überstreifte und dann am rechten Rad des Rollstuhls rüttelte. Nach einem Moment meinte er nachdenklich, mehr zu sich selbst: „Das ist seltsam.“

„Was ist seltsam, Sir?“

Es war Officer Karr gewesen, der die Frage mit sonorer Stimme gestellt hatte.

Derrick Faulkner sah den Vierundzwanzigjährigen an und erklärte: „Seltsam ist, dass die Bremse des Rollstuhls angezogen ist. Ich glaube, wir können ausschließen, dass das bei dem Sturz passierte. Schon gar nicht von selbst, denn dazu ist der Mechanismus der Bremse zu kompliziert aufgebaut. Sie wurde also angezogen. Fragt sich nur von wem. Bitte nehmen Sie Fingerabdrücke von dem gesamten Rollstuhl, bevor er von hier entfernt wird.“

„Vermutlich hat der Tote die Bremse angezogen“, orakelte Karr.

„Ja, das glaube ich auch“, stimmte Faulkner nachdenklich zu. „Die Frage ist nur: Wann genau passierte das? Wissen Sie, wenn ich in einem Rollstuhl sitzen und dann plötzlich eine Treppe hinunterstürzen wurde, dann würde ich an alles Mögliche denken, aber nicht daran, automatisch zur Bremse des Rollstuhls zu greifen. Vermutlich würde ich sie auch gar nicht finden, bevor ich aus dem Stuhl herausfalle.“

Sarah Dechiles sah ihren neuen Vorgesetzten nachdenklich an. „Was schließen Sie daraus, Inspector? Denken Sie, jemand hat daran gedreht?“

„Steht noch nicht fest“, versetzte Faulkner. „Allerdings wird der Verstorbene wohl kaum mit angezogener Bremse gefahren sein. Hat er sie also selbst angezogen, dann hat jemand bei diesem… Unfall etwas nachgeholfen. Doch darüber machen wir uns erst dann Gedanken, wenn wir die Fingerabdrücke identifiziert haben.“

„Falls es welche gibt“, wandte Sarah Dechiles ein.

„Richtig Sergeant.“

Nach einem Moment richtete sich Faulkner auf und schritt um den Rollstuhl herum. Dabei fiel sein Blick auf eine Handheld-Konsole. Interessiert kniete sich Derrick Faulkner ab und sah sich die Konsole an. Ohne seinen Blick von dem kleinen Bildschirm zu nehmen, fragte der Inspector nachdenklich: „Gehört diese Spielekonsole dem Toten?“

„Danach wollten wir die Angehörigen fragen, sobald wir hier unten fertig sind“, gab Sarah Dechiles zurück.

Erst, als die Polizistin schon nicht mehr mit einer Antwort rechnete, erwiderte Faulkner in Gedanken: „Das werde ich übernehmen, Sergeant. Bitte machen Sie ein Foto von der Konsole und speziell von dem Bildschirm. Wenn diese Konsole tatsächlich dem Toten gehört hat, dann finde ich es schon etwas schräg, dass er ausgerechnet ein Tennisspiel darauf gespielt hat. Außerdem…“

Als Derrick Faulkner abbrach, erkundigte sich Sarah Dechiles neugierig: „Außerdem was, Sir?“

Faulkner sah die Frau an. „Nun, hier scheint der Zweispieler-Modus eingeschaltet zu sein. Doch um auf einer solchen Konsole ein Spiel im Zweispieler-Modus spielen zu können, braucht man einen Mitspieler, der eine identische Konsole hat. Mit dem gleichen Spiel.“

Officer Karr sah Faulkner überlegend an. „Könnte sich das Gerät nicht von selbst auf diesen Modus eingestellt haben, Sir?“

Der Inspector schüttelte den Kopf. „Das Gerät sieht nicht so aus, als wäre es mehrmals auf dem Boden aufgeschlagen. Außerdem liegt es in unmittelbarer Nähe der Hand, des Toten. Das legt den Schluss nahe, dass der Tote es in den Händen hielt. Doch er wird kaum im Zweispieler-Modus gespielt haben. Das wäre extrem langweilig. Außerdem ist da der Spielstand. Irgendwer hat den Modus eingestellt und zweimal gepunktet. Doch wozu?“

Wellesley Karr nickte zustimmend. „Rätselhaft, Sir.“

Derrick Faulkner zog die Handschuhe aus und stopfte sie achtlos in seine linke Hosentasche. Dabei meinte er mit schwachem Grinsen zu Karr: „Sie sind ein Meister der Untertreibung, Officer.“

Derrick Faulkner sah zum Himmel hinauf. Nach einigen Regentropfen, auf dem Weg hierher, schien nun die Sonne zwischen den immer weniger werdenden Wolken hindurch. Sich mit den Fingern der linken Hand durch das kurze, dichte Haar fahrend meinte er: „Schön warm hier.“

„Warten Sie erst einmal den Sommer ab“, spöttelte Sarah Dechiles. „Da braten auf dieser Insel dicke Leute in ihrem eigenen Fett.“

Die Polizistin musterte den Briten ungeniert und sagte dann gönnerhaft: „Na, Sie sehen ja ganz gut aus, Sir.“

Faulkner warf dem Sergeant einen langen Blick zu, erwiderte aber nichts auf ihre Worte. Stattdessen meinte er nach einem Moment mahnend: „Vergessen Sie nicht, auch Fingerabdrücke von der Konsole zu nehmen. Nachdem Sie mindestens zwei Fotos von dem Bildschirm der Konsole geschossen haben schalten Sie das Gerät bitte aus, bevor Sie es vorsichtig eintüten. Falls Sie mich brauchen, ich bin bei Detective-Sergeant Cassell.“

Damit wandte sich der Inspector ab und schritt rasch die Treppe hinauf.

Unten sah Wellesley Karr etwas unwillig seine Kollegin an und fragte leise: „War das eben etwa ein Versuch den Inspector anzubaggern, Sergeant?“

„Blödsinn!“, fauchte die zwölf Jahre ältere Frau heiser. Den Inspector dabei gleichzeitig mit interessierten Blicken abcheckend fügte sie grinsend hinzu: „Aber etwas Spaß wird ja wohl noch erlaubt sein, Wes.“
 

* * *
 

Als Derrick Faulkner die Terrasse erreicht hatte, bekam er gerade noch mit, wie sich Florence Cassell von den drei Hinterbliebenen verabschiedete. Als sie ihren Vorgesetzten erkannte, ging sie zu ihm und sagte: „Ich habe die drei Angehörigen befragt und mir ihre Personalien und Aussagen notiert, Sir. Möchten Sie sofort hören, was der Mann und die beiden Frauen ausgesagt haben?“

Derrick Faulkner schüttelte den Kopf. „Wir tragen alle Informationen auf dem Revier zusammen, sobald auch Sergeant Dechiles und Officer Karr wieder dort sind, Florence. Das hilft mir, ein besseres Gesamtbild von diesem Fall zu bekommen.“

„Denken Sie auch, dass es ein Unfall war?“

Der Inspector sah seine Kollegin ernst an. „Nein, Florence. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es Mord war. Wenn wir wieder auf dem Revier sind, dann erkläre ich Ihnen und dem Rest des Teams, was mich zu dieser Annahme veranlasst. Bevor wir den Tatort verlassen, werden wir noch die Pässe dieser drei Angehörigen einziehen, denn ich bin mir sicher, dass es einer von denen gewesen ist.“

„Warum kein Außenstehender, Sir?“

„Zu viele Unwägbarkeiten“, erklärte Faulkner. „Der- oder diejenige hätte in einem solchen Fall genau wissen müssen, dass der Verstorbene ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt allein und unbeobachtet sein würde. Nein, das scheint mir zu abwegig. Wir behalten es aber im Hinterkopf, falls unser Verdacht, dass es einer der Angehörigen war, sich nicht bestätigt.“

„Wer hätte etwas von Henderson Waynes Tod?“

Der Inspector lächelte unmerklich. „Das ist genau die richtige Frage, Florence. Wenn wir das wissen, dann haben wir unseren Mörder, dessen bin ich mir sicher.“

Zehn Minuten später meldete Sarah Dechiles mit tragender Stimme, vom Tennisplatz her: „Sir, wir haben die Spurensicherung abgeschlossen!“

„Sehr gut, Sergeant!“, rief Faulkner zurück. „Dann können wir den inzwischen eingetroffenen Sanitätern sagen, dass sie die Leiche endlich abtransportieren können. Ach, und Officer Karr: Bringen Sie bitte den Rollstuhl mit hinauf. Wir werden das Teil im Rover mit zum Revier nehmen!“

Derrick Faulkner sah auf seine Armbanduhr, die zur Hälfte blau und zur Hälfte rosa war und auf dem Zifferblatt eine Maus mit übergroßen Füßen zeigte.

Florence Cassell fiel diese seltsame Armbanduhr am Handgelenk des Mannes erst jetzt auf und teils neugierig, teils erstaunt fragte sie: „Ist das etwa eine Diddl-Uhr?“

Das Gesicht des Mannes verschloss sich und dunkel erwiderte er: „Ist eine lange Geschichte, Florence. Heute werden wir im Revier noch die Beweisstücke sichten und Sie bringen mich und das Team auf Ihren Wissensstand. Danach werden Sie mir meine Unterkunft zeigen. Ab morgen Früh werden wir dann Vollgas geben.“

Florence Cassell, die instinktiv spürte, dass sie mit ihrer Frage eine Saite bei dem Inspector berührt hatte, hakte nicht weiter nach, sondern erwiderte: „In Ordnung, Sir.“

Gemeinsam verließen sie das Grundstück und sagten den Sanitätern Bescheid. Nachdem Officer Karr den Rollstuhl in den Rover gehoben hatte, schloss Derrick Faulkner die Hecktür und begab sich zur Beifahrerseite des geländegängigen Polizeifahrzeuges.

Die beiden uniformierten Polizisten kamen mit ihrer Royal-Enfield etwas vor dem Rover bei der Polizeistation Honoré an. Wieder übernahm es Wellesley Karr, den Rollstuhl zu tragen. Als er ihn im hinteren Bereich des Büros abgestellt hatte, wandte er sich erleichtert zu seinem Vorgesetzten um und erkundigte sich neugierig: „Was haben Sie denn mit dem Rollstuhl vor, Sir? Alle vorhandenen Fingerabdrücke haben wir bereits entnommen.“

„Ich möchte mich von einigen Dingen persönlich überzeugen“, erwiderte Derrick Faulkner nebulös. „Aber ebenfalls erst morgen Früh. Jetzt wird uns DS Cassell erst einmal davon unterrichten, was die Hinterbliebenen ausgesagt haben.“

Damit räumte Faulkner sein Gepäck aus dem Weg, ging zum Whiteboard, nahm einen Filzschreiber und sah auffordernd zu Florence Cassell.

Der Detective-Sergeant nickte und führte aus: „Da hätten wir zunächst einmal die Verlobte des Toten. Natalie Lorrimer – dreißig Jahre alt, Marketing-Managerin, geboren in East-Croydon. Dann wäre da die Schwester des Verstorbenen: Ann-Doreen Watt, wie auch ihr Bruder in Greenwich geboren, ebenfalls dreißig Jahre alt, wohnhaft in Chelsea, London. Zusammen mit ihrem Mann, James Watt, führt sie eine große, Londoner Werbeagentur. In den letzten Jahren brachen die Gewinne jedoch massiv ein. James Watt ist gebürtiger Schotte und vierzig Jahre alt. Er wurde in Inverness geboren.“

Florence Cassell unterbrach sich als sie ihren Vorgesetzten dabei beobachtete, wie er die Zahl 30 auf das Whiteboard schrieb.“

Als der Inspector bemerkte, dass Florence nicht weiterredete wandte er sich um und meinte: „Ich höre Ihnen zu Florence. Bitte fahren Sie fort.“

Die Frau räusperte sich leise und führte weiter aus: „Alle drei Hinterbliebenen berichteten mir, dass es vor dem Unglück einen Streit gab.“

„Vor dem Mord“, verbesserte der Inspector und sah dabei zu Sarah Dechiles und Wellesley Karr. „Zu Ihrer Information: Wir gehen hier von einem Mord aus.“

Auffordernd sah Faulkner wieder zum DS des Teams und Florence fuhr fort: „Laut einhelliger Aussage waren der Ver… ich meine, der Ermordete und James Watt in Streit geraten. Im Zuge des Disputes nannte Henderson Wayne seinen Schwager eine Null. Nach der Aussage von James Watt ging es bei der Auseinandersetzung um ausstehende Werbeeinnahmen, die Wayne noch zu bekommen hatte. Die beiden Frauen kamen dann dazu und schlichteten den Streit. Offenbar hatte der Ermordete eine Menge Alkohol getrunken und das wohl nicht zum ersten Mal, seit seinem Unfall.“

Derrick Faulkner, der hinter die 30 einen Doppelpunkt und eine Null geschrieben hatte, erkundigte sich interessiert: „Ist Wayne damals selbst gefahren?“

„Ich werde den Unfallbericht morgen anfordern, Sir.“

„Sehr gut.“

Derrick Faulkner schrieb ein Fragezeichen hinter die Null und schob die Kappe auf die Spitze des Filzstiftes. Den Stift auf die Ablage des Whiteboards legend sagte er zu Sarah Dechiles und Wellesley Karr. „Sie beide kümmern sich darum, den Hintergrund-Check zu komplettieren. Behalten Sie dabei für sich, dass wir in einem Mord ermitteln, ich will die Vögel nicht frühzeitig aufscheuchen.“

Der Hochgewachsene nahm sein Gepäck auf, das er vorhin hiergelassen hatte. Dann sah er zu Florence und meinte: „Dann wollen wir mal.“



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