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Animus captimente

von

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[27. Juni] "Ich bin bei dir."

Kaum hatte Reita begriffen, wer hinter ihm stand, löste sich ein Teil seiner Anspannung. Er wurde weich in den Armen, die ihn hielten, schloss erleichtert die Augen. Sein Mann zog ihn daraufhin nur noch stärker gegen sich und nahm die Hand von seinem Mund. Lippen pressten sich in seinen Nacken, während sie ansonsten weiterhin reglos in dem Zimmer standen, in das Aoi sie gezogen hatte. Die schweren Schritte waren jedoch verstummt, ohne dass sein Verfolger ihr Versteck bemerkt zu haben schien. Sekunden verstrichen, bevor sich der Halt um seine Mitte soweit lockerte, dass er sich umdrehen konnte.

 

„Aoi“, wisperte er und nun war er es, der die Arme fest um seinen Liebsten legte. „Du bist es wirklich, oder? Kein Trugbild?“ Die schönen Lippen seines Mannes verzogen sich zu einem kleinen Lächeln, bevor sie sich auf die seinen legten. Er war es wirklich. So konnte nur Aoi ihn küssen.

„Wie bist du hier her gekommen?“, murmelte er eine ganze Weile später, bevor er sein Gesicht gegen die Halsbeuge des anderen vergrub.

„Oh Gott, ich bin so froh, dass du da bist. Ich hab ihn gefunden. Uruha – er ist …“ Er schüttelte den Kopf, spürte noch immer den Unglauben in sich, obwohl er mit eigenen Augen gesehen hatte, in welcher Gestalt sein bester Freund ihm erschienen war.

„Ich … ich begreife das alles nicht …“

 

„Schsch, ruhig.“ Die samtene Stimme war wie Balsam für seine aufgewühlte Seele und ließ seinen unzusammenhängenden Redeschwall verstummen.

„Du hast ihn wirklich gefunden?“

 

Er nickte und spürte, wie ein Beben durch Aois Körper ging. Kaum verständlich wisperte sein Liebster Uruhas Namen, bescherte ihm damit eine dicke Gänsehaut. In diesen drei Silben lagen so große Verzweiflung und gleichzeitig Hoffnung, dass Reita sich auf die Unterlippe beißen musste, um keinen Laut von sich zu geben. Für den Moment konnte er nichts weiter tun, als gegen Aoi gelehnt hier zu stehen und der Erschöpfung nachzugeben, die sich wie Blei in seinen Knochen festgesetzt hatte. Erst, als sein Mann ihn ein Stück auf Abstand schob, um ihm ins Gesicht sehen zu können, öffnete er die Augen wieder.

 

„Erzähl mir, was mit dir passiert ist.“ Aois Daumen rieb über seine Oberlippe, wodurch das getrocknete Blut dort unangenehm an seiner Haut zog.

„Himmel, Reita, ich hatte solche Angst um dich. Du hast plötzlich gekrampft und wir wussten nicht, was wir tun sollten.“

 

„Es tut mir leid.“ Er senkte den Blick. „Ich hätte auf dich warten und mir diesen Alleingang verkneifen sollen. Mein kopfloses Handeln hat uns Uruha keinen Schritt näher gebracht.“

 

„Schon gut, sei nicht so hart zu dir.“ Aoi küsste seine Stirn. „Ich bin nur froh, dass dir weiter nichts passiert ist.“

 

Er seufzte leise, nickte aber und sah seinen Liebsten fragend an, als ihm wieder einfiel, was ihm vorhin schon aufgefallen war.

„Kai ist auch hier, oder?“

 

„Ja, er kam quasi genau zur rechten Zeit. Frag mich nicht, wie er es angestellt hat, aber Pfleger Takeshi ist nun in alles eingeweiht und unterstützt uns, soweit es ihm möglich ist. Ihm haben wir es vermutlich zu verdanken, dass dir nichts Schlimmeres zugestoßen ist.“

 

„Was? Wie hat Kai das angestellt? Und wieso überhaupt?“

 

Aoi schüttelte den Kopf.

„Nicht jetzt, ich erzähl dir später alles, in Ordnung? Verrat du mir lieber, was hier vor sich geht.“

 

„Gott, wenn ich nur wüsste, wo ich anfangen soll.“ Reita fuhr sich durch die Haare. Einige Strähnen waren verklebt und auch an seinem Hals in der Nähe seiner Ohren konnte er Spuren getrockneten Blutes fühlen. Verdammt, dieses Wesen hatte ihm wirklich zugesetzt.

„Wo sind wir hier eigentlich?“ Er blickte sich um, konnte jedoch außer den Umrissen von mit Stoff abgedeckten Möbeln nicht viel erkennen.

 

„Keine Ahnung, ich bin in diesem Raum angekommen und hatte kaum Zeit, mich umzusehen, als ich Schritte gehört habe, die sich mir näherten. Was war das für ein Ding, das dich verfolgt hat? Viel hab ich ja nicht gesehen, aber …“

 

„Es war Uruha. Oder etwas, das behauptet, Uruha zu sein. Ich weiß nicht.“ Er schüttelte den Kopf, fasste sich an die Schläfen, hinter denen der Druck noch immer nicht nennenswert nachgelassen hatte.

 

„Setz dich“, verlangte Aoi und führte ihn zu einem der Möbelstücke. Mit wenigen Handgriffen hatte er es vom Tuch befreit und ihn auf das Polster gedrückt. Der aufgewirbelte Staub kitzelte in seiner Nase, aber er unterdrückte das reflexartige Niesen mit aller Macht. Er wollte sich die Schmerzen in seinem Kopf gar nicht vorstellen müssen, die es mit sich bringen würde.

„Erzähl mir alles, okay?“

 

Er nickte, während Aoi vor ihm in die Hocke ging, die Hände auf seine Oberschenkel legte und ihn von unten her ansah.

„Als ich hier ankam, bin ich eine Ewigkeit dem Korridor dort draußen gefolgt.“ Reita machte eine deutende Kopfbewegung in Richtung der geschlossenen Tür und dem dahinterliegenden Flur.

„Ich dachte schon, ich würde auf immer umherirren und nie irgendwo ankommen, aber dann hörte ich plötzlich ein Kind weinen.“ Er lachte kurz, trocken auf und rieb sich über die Stirn.

„Ausgerechnet hier, ein Kind? Genau wie du muss ich auch geguckt haben. Ich hab Uruha tatsächlich gefunden, in Gestalt seines kindlichen Selbst und dann …“ Er erschauerte, als er sich an die Erscheinung zurückerinnerte. An ihren alles durchdringenden Blick, ihr manisches Lachen.

„Ich bin mir mittlerweile sicher, dass dieses Ding Uruha hier gefangen hält …“ Es fiel ihm alles andere als leicht, aber er versuchte, sich an so viele Details wie möglich zu erinnern. Er wollte Aoi alles sagen, alles, was er erlebt und gefühlt hatte. Nur so würden sie weiterkommen – das hoffte er zumindest.

 

~*~

 

Wie lange er geredet hatte, hätte er hinterher nicht sagen können. Seine Kehle fühlte sich staubtrocken an und seine Stimme versagte immer öfter.

 

„Scheiße“, zischte Aoi und fuhr sich übers Gesicht. „Das hört sich wie die Handlung eines schlechten Horrorfilms an. Wie kann das sein?“

Reita wusste, dass die Frage nicht an ihn gerichtet war und dennoch krampfte sein Magen, als er den verlorenen Ausdruck im Gesicht des anderen erkannte. Er konnte beinahe die Anstrengung spüren, die es Aoi kostete, den rationalen Teil seines Verstandes über Bord zu werfen, einfach zu akzeptieren, ohne jedes Detail zu hinterfragen. Für einen Augenblick verbarg sein Mann das Gesicht hinter beiden Händen, bevor ein sichtbarer Ruck durch ihn ging, als er die Schultern straffte. Dunkle Augen fixierten ihn plötzlich, eine Entschlossenheit in ihnen, für die er Aoi unendlich beneidete.

„Gut, okay. Wie machen wir jetzt weiter?“

 

„Wir müssen Uruha finden und hier wegholen, aber ich weiß nicht wie.“ Mit einem Mal fühlte sich Reita unendlich müde, seelisch wie körperlich. Mit geschlossenen Augen beugte er sich vor, bis er die Stirn gegen die Schulter seines Liebsten lehnen konnte.

„Ich weiß einfach nicht, wie wir das anstellen sollen“, wiederholte er, die Verzweiflung in seinem Herz wie ein greifbares Ding, das ihn zu ersticken drohte.

 

„Du hast ihn einmal gefunden, dann werden wir es nun auch ein zweites Mal schaffen.“ Finger strichen über seinen Nacken, brachten ihn dazu, den Kopf wieder zu heben und Aoi ins Gesicht zu sehen. Warme Lippen legten sich für einen viel zu kurzen Moment auf die seinen, bevor der andere sich erhob.

„Mir wäre es zwar lieber, ich könnte sagen, dass du hierbleiben und dich ausruhen sollst, aber das ist unter diesen Umständen viel zu gefährlich.“ Mit einem verkniffenen Zug um den Mund streckte sein Mann die Hand nach ihm aus und wartete, bis er sie ergriffen hatte. Ihm wurde für einen Moment schwindlig, sobald er wieder in der Senkrechten war, aber Aois Arme waren da, um ihn zu stützen.

 

„Mist“, zischte er halblaut, genervt von seiner Schwäche und den Schmerzen in seinem Körper.

 

Sein Liebster lächelte nur gequält, streichelte ihm übers Haar.

„Ich sag es nur ungern, aber beiß die Zähne zusammen, Rei, ich schaff das hier nicht ohne dich.“

 

Reita nickte und als wären Aois Worte genau das gewesen, was er hatte hören müssen, ließ das anhaltende Unwohlsein ein wenig nach und seine Sicht schärfte sich. Seine Männer brauchten ihn. Sobald Uruha wieder bei ihnen war, würde er noch genug Zeit haben, sich auszuruhen.

 

„Worauf warten wir also noch, lass uns Uruha finden und nach Hause bringen.“

 

~*~

 

Sie rannten den Korridor entlang. Die Helligkeit und Wärme eines sonnigen Sommertages, die Reita noch bei seiner Ankunft begrüßt hatte, war verschwunden. Nun zogen sich lange Schatten über den Marmorboden und die untergehende Sonne tauchte ihre Umgebung in rötliches Zwielicht. Die Treppe war unauffindbar – mit nichts anderem hatte er gerechnet – und verwehrte ihnen somit jede Möglichkeit, ins untere Stockwerk zu gelangen.

 

„Uruha!“, rief Aoi und er stimmte mit ein, aber wie auch schon die Male zuvor blieb ihr Rufen unbeantwortet.

 

„Verflucht.“ Reita hielt inne, vornübergebeugt und beide Hände auf die Knie abgestützt. Sein Atem kam nur stoßweise und der Schwindel schlug erneut mit voller Macht zu.

„Wie sollen wir ihn finden, wenn sich dieses Haus ständig verändert?“

 

„Pscht, sei mal kurz still“, zischte Aoi und legte den Kopf schief, als würde er angestrengt lauschen. Reita richtete sich wieder auf, ein Ächzen unterdrückend und tat es dem anderen gleich. Für einen langen Moment hörte er nichts weiter als seinen rasenden Herzschlag, dann jedoch schälte sich Rukis Stimme aus dem Rauschen in seinen Ohren.

‚Ruki liest wieder?‘, fragte er sich noch, bevor er sich auf die Worte konzentrierte.

 

… Antrag gemacht.

Ich kann es noch gar nicht fassen. Nicht, dass ich mich nicht freuen würde, aber heiraten? Ich? Ausgerechnet ich, der sein Leben lang Angst davor hatte, sich an jemanden zu binden? Der nie abhängig sein, sich nie auf diese Art verletzlich machen wollte?

Zu meiner grenzenlosen Überraschung kann ich dazu nur Ja sagen. Es ist, als würde ich mich selbst nicht mehr kennen. Als hätte ich über die Jahre, die ich mit Aoi verbracht habe, eine Stärke in mir erlangt, derer ich mir bis heute nicht bewusst war.

Der Gedanke daran, mein Leben mit ihm zu verbringen, alles mit ihm zu teilen, was ich bin und was mich ausmacht, ist weitaus weniger erschreckend, als ich immer angenommen hatte.

Es ist, als würde ich ihm den wertvollsten Teil meiner Selbst darbieten, nur um einen noch Wertvolleren von ihm zurückzubekommen.

Und das … Ja, das fühlt sich genau richtig an.

Habe ich schon gesagt, dass ich es nicht fassen kann?

 

„Das muss er geschrieben haben, kurz nachdem ich ihm den Antrag gemacht habe“, murmelte Aoi und sah verloren aus einem der hohen Fenster. Reita trat nahe an ihn heran, legte seine Hand an die Wange seines Liebsten, aber noch bevor er etwas sagen konnte, fuhr Aoi fort: „Das heißt, wir haben nicht mehr viel Zeit.“

 

„Wie?“ Er blinzelte, konnte dieser Logik gerade nicht folgen.

 

„Der Antrag ist jetzt etwas mehr als ein Jahr her.“

 

Reitas Augen weiteten sich, als er begriff, worauf Aoi hinaus wollte.

„Das vorletzte Tagebuch.“

 

„Ganz genau. Ich hab keine Ahnung, was passiert, wenn Kai und Ruki alle Tagebücher fertig gelesen haben. Ich denke, sie fangen dann zwar wieder von vorne an, aber …“

 

„Ob das dann noch dieselbe Wirkung hat, ist fraglich.“ Er ging etwas auf Abstand und presste Zeige- und Mittelfinger gegen seine Nasenwurzel.

„Verdammt, wie viel Zeit haben wir hier schon mit sinnlosem Umherrennen verschwendet?“ Es war zum Haareraufen. Sie wussten noch immer nicht, wie sie Uruha finden sollten, und jetzt saß ihnen auch noch die Zeit im Nacken. Er biss sich auf die Unterlippe, starrte vor sich an die weiße Wand und verstand erst mit einigen Sekunden Verspätung, was genau er dort sah.

„Trägst du eine Uhr?“

 

„Bitte?“

 

„Trägst du eine Armbanduhr, in der sich das Licht spiegeln könnte?“

 

„N… Nein, wieso?“

 

„Ich auch nicht.“ Er deutete auf einen kreisrunden Lichtpunkt ungefähr so groß wie eine Hundert-Yen-Münze, der schwach vibrierend vor ihm an der Wand hing. „Sieh doch.“

 

Mit gerunzelter Stirn ging Aoi näher heran, streckte eine Hand aus und berührte mit dem Zeigefinger den Lichtkreis. Wie, als wäre er ein lebendiges Wesen, glitt er einige Zentimeter beiseite, nur um beinahe neugierig wirkend langsam wieder näher zu kommen. Er umkreiste Aois Finger, machte einen Satz nach vorn und glitt an der Wand den Flur weiter entlang.

 

„Ich denke, wir sollen ihm folgen“, stellte Reita trocken fest und rechnete beinahe damit, nun mit Aois berühmter, hochgezogener Augenbraue konfrontiert zu werden. Sein Liebster ließ jedoch nur leise seufzend die Hand sinken und nickte.

 

„Ich bin wirklich gespannt, wann ich mich an all das Übernatürliche gewöhne und nicht mehr ständig davon überrascht werde.“

 

Reita lachte kurz, nahm Aois Hand in die seine und setzte sich in Bewegung. Das Licht begann immer schneller vor ihnen an der Wand entlang zu schweben, bis sie erneut laufen mussten, um mitzuhalten. Plötzlich machte der Flur vor ihnen einen scharfen Knick nach rechts, bevor sich Reita erneut am Absatz der steilen Treppe wiederfand.

 

„Oh, danke, Ruha“, entkam es ihm keuchend. Fest umfasste er den Handlauf, bevor sich die Treppe entschließen konnte, sich wieder in Luft aufzulösen. Ihr Geliebter war dort unten und auch wenn ihm ein eiskalter Schauer bei dem Gedanken an das Untergeschoss über den Rücken lief, war er entschlossen, Uruha endlich zu finden.

 

„Ich gehe davon aus, wir sollen die Treppe runtergehen, oder?“ Aois Miene sprach Bände und als er nickte, seufzte sein Liebster nur langgezogen. „Kommt nur mir das nicht ganz koscher vor?“

 

„Definitiv nicht, aber alles ist besser, als noch länger einen Gang entlangzulaufen, ohne irgendwo anzukommen.“

 

Aoi nickte und verzog seine Lippen zu einem grimmigen Grinsen, das Reita unter anderen Umständen tierisch anziehend gefunden hätte. So jedoch erwiderte er seinen Blick nur stumm, bevor er entschlossen die ersten Stufen hinabstieg. Das Untergeschoß wirkte noch düsterer als beim ersten Mal, als er hier gewesen war, und die Schatten schienen länger, bedrohlicher. Obwohl ihm Aois Präsenz ein gewisses Gefühl der Sicherheit vermittelte, rann ihm ein kalter Schauer über den Rücken, als er den ersten Fuß auf den Marmorboden der Eingangshalle setzte. Er trug einfache Sneaker, also eigentlich Schuhe mit weicher Sohle, und dennoch hallten seine Schritte von den Wänden wieder.

 

„Was ist das?“, wisperte Aoi und rückte ein kleines Stück näher an ihn heran.

 

„Ich schätze, wir sind nicht unbemerkt geblieben. Vielleicht will uns das Wesen damit verunsichern?“ Er sah sich um, doch augenscheinlich hatte sich bis auf das Echo hier unten nichts verändert. Die Ölgemälde waren noch immer unscharf, die Schatten in den Ecken waberten und tanzten, und das Portal am anderen Ende war fest verschlossen. Er ging weiter voran, fragte sich, ob der Korridor wieder auftauchen würde, wenn er sich der Stelle von vorhin näherte.

 

Plötzlich knackte es in seinen Ohren, als hätte sich der Luftdruck in der Halle verändert. Statik knisterte um ihn herum, während sich sämtliche Härchen in seinem Nacken aufrichteten. Verflucht, er kannte dieses Gefühl und wusste, was es zu bedeuten hatte. Sein Verstand schien wie eingefroren, genau wie sein Körper, als ihm auffiel, dass er die erdende Präsenz seines Mannes im Rücken nicht mehr spüren konnte.

‚Aoi? Nein!‘

Erst ein eigenartig gedämpfter Aufschrei, der das Blut in seinen Adern gefrieren ließ, riss ihn aus seiner Erstarrung.

 

„Aoi?“ Langsam drehte er sich herum, inständig hoffend, seine böse Vorahnung würde sich als falsch herausstellen. „Aoi!“

 

Mit weit aufgerissenen Augen starrte er die Erscheinung an, die Aoi in ihre Gewalt gebracht hatte. Erneut gab sein Mann einen erstickten Laut von sich, aber seine Gegenwehr schien mit jeder verstreichenden Sekunde schwächer zu werden. Noch während Reitas Schrei von den Wänden widerhallte, verzog sich das Gesicht des Nicht-Uruhas zu einer grausam amüsierten Fratze. Blaues Licht umgab die beiden, das von einem ovalen, pulsierenden Durchgang direkt hinter ihnen zu kommen schien. Die rechte Hand des Wesens lag fest auf Aois Mund, während es mit der Linken beinahe zärtlich über seine Wange streichelte.

 

„Wir sollten uns bedanken. Nachdem du vorhin so Hals über Kopf vor uns weggelaufen bist, hätten wir nicht gedacht, dass du uns ein Spielzeug mitbringst. Und noch dazu so ein hübsches. Damit werden wir sicher unseren Spaß haben.“

 

„Nimm deine Pfoten von ihm!“ Endlich fiel die Erstarrung von Reita ab und er machte einen Satz nach vorn, auf seinen Liebsten und das Ding zu. Oder er hätte es getan, hätte sich nicht plötzlich irgendetwas um seine Oberarme gelegt und ihn nach hinten gerissen. Das manische Lachen der Erscheinung schrillte in seinen Ohren, während er hilflos mitansehen musste, wie Aois Gegenwehr endgültig versiegte.

„Wehr dich“, schrie er, betete, dass Aoi ihn hören würde, aber sein Mann starrte nur blicklos vor sich hin. Seine Augen waren glasig geworden und es schien, als würden ihn nur noch die Arme des Wesens aufrechthalten. Reita hatte am eigenen Leib spüren müssen, wie stark dieses Ding war, wie vereinnahmend es sein konnte, und Aoi schien seinem Zauber vollkommen erlegen.

„Aoi, bitte!“ Mit aller Macht stemmte er sich gegen das, was ihn hielt. Er sah blattlose Ranken, wie knorrige Äste toter Bäume, die sich schmerzhaft fest um seine Arme und den Oberkörper geschlungen hatten. Erst verspätet begriff er, dass seine Fesseln die lebendig gewordenen Verzierungen waren, die sich bis eben noch über das Holz des Portals gezogen hatten.

„Lass ihn los, verdammt noch mal!“

 

„Nein“, entgegnete der Nicht-Uruha trocken. Das Amüsement war von seinen Zügen verschwunden und hatte einem fast trotzigen Ausdruck Platz gemacht. „Wir sind es leid, allein zu sein.“

 

Reita hörte auf, gegen die Fesseln zu kämpfen, und sah dem Wesen direkt in die Augen. Täuschte er sich, oder konnte er tatsächlich so etwas wie Trauer in den dunklen Tiefen erkennen? Er öffnete den Mund, ohne zu wissen, was er sagen wollte. Doch eine Chance bekam er ohnehin nicht, denn die Kreatur machte plötzlich einen Schritt nach hinten, Aoi noch immer gegen sich gepresst haltend.

 

„Nein!“, entkam es ihm. Er hörte das Reißen der Ranken, als er sich mit einer schier unmenschlichen Kraftanstrengung gegen sie stemmte. Stück für Stück gaben sie nach, bis er endlich frei war. Er flog die wenigen Schritte beinahe, die ihn von seinem Mann trennten, doch er war zu spät. Die Erscheinung war verschwunden und mit ihr … Aoi.

„Nein!“, schrie er erneut, hielt nicht an, obwohl das blaue Tor aus Licht vor ihm zu schwinden begann. Er hechtete nach vorn, seine Fingerspitzen berührten Luft, die sich wie elektrisch aufgeladen anfühlte … Dann begann er, zu fallen.

 

~*~

 

Er landete hart auf Händen und Knien, spitze Kieselsteine bohrten sich in seine Haut. Er ächzte, rappelte sich hoch und schaute sich hektisch um.

„Aoi! Wo bist du?“, rief er, aber von seinem Liebsten und dem Wesen war nichts zu sehen. „Verflucht.“ Er biss sich auf die Unterlippe, für einen Moment vollkommen überfragt, was er nun tun sollte. Er stand auf einer Anhöhe, das Herrenhaus, in dem Aoi und er sich bis eben noch aufgehalten hatten, war in der Ferne kaum noch zu sehen. Vor ihm erstreckte sich ein Labyrinth aus Hecken, saftig grün und dennoch bedrohlich wirkend. Die Sonne war längst untergegangen, ein silbriger Mond stand am Himmel und der kühle Wind spielte mit seinen Haaren. Als er über die Schulter nach hinten sah, verlor sich die Landschaft in einer undurchdringlichen Nebelwand. Schön, dann würde er eben nicht dort entlanggehen. Wieder wollte ihm ein Fluch über die Lippen kommen, doch er schluckte ihn herunter, genau wie seine anhaltende Panik. Was hatte dieses Wesen mit Aoi vor? Er musste daran glauben, dass sein Uruha und diese Gestalt tatsächlich irgendwie zusammengehörten, so wie sie es behauptet hatte, und ihrem Mann nichts antun würde. Was hatte sie noch gleich gesagt? Sie hatte es leid, allein zu sein? Reitas Herz schmerzte bei dem Gedanken, dass es wirklich ein Teil von Uruha sein könnte, der sich so allein und einsam fühlte.

‚Ich hol euch zurück‘, dachte er, bevor er sich in Bewegung setzte.

 

Der Eingang des Labyrinths kam in Sicht – eine unspektakuläre Lücke zwischen zwei Hecken. Reita war gerade kurz davor, den ersten Schritt ins Innere zu setzen, als ihm etwas auffiel. Er konnte Ruki noch immer vorlesen hören, leise zwar, aber eindeutig. Hoffentlich war das ein Zeichen, dass er die Verbindung zur Realität trotz allem noch immer nicht verloren hatte. Dieses Wesen, dieser unheimliche, einsame Uruha konnte die Traumwelt hier zwar manipulieren und nach seinen Wünschen gestalten, aber er hatte keinen Einfluss auf die Realität. Das hoffte er zumindest. Und solange er diesen Gedanken festhielt, würde er auch Aoi wiederfinden können. Entschlossen betrat er das Labyrinth und erschauerte, als die Temperatur um weitere Grade zu fallen schien. Er schlug ein brüskes Tempo an, war sich beinahe sicher, dass er wieder zurück zum Herrenhaus finden musste. Er hatte versucht, sich von seiner erhöhten Position auf dem Hügel aus so viele Abzweigungen wie möglich einzuprägen. Kaum war er jedoch einige Hundert Meter vom Eingang entfernt, fand er sich in der ersten Sackgasse wieder.

 

„Mist“, zischte er, drehte sich herum und sah gerade noch, wie der Eingang, durch den er gekommen war, zuwuchs und dafür einen anderen freigab. „Echt jetzt?“, seufzte er, nicht einmal mehr wütend. Warum wunderte er sich überhaupt noch, dass die Umgebung sich ständig veränderte? Nichts anderes hatte das Herrenhaus schließlich getan. Er verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, als würde sein böser Blick die Hecken davon abhalten, ihr Spielchen erneut mit ihm zu spielen. Mangels anderer Alternativen nahm er also den neu erschaffenen Weg und spurtete in die Richtung, in der er noch immer das Haus vermutete.

 

Mehrere Male veränderte sich das Labyrinth, bis er atemlos an einer Weggabelung stehen blieb. Er hatte vollkommen die Orientierung verloren. Aus lauter Verzweiflung hatte er versucht, durch die Hecken zu kriechen, oder irgendwie auf sie zu steigen, aber sie waren wie lebendige Wesen und ließen das nicht zu. Er schrie frustriert auf, schlug mit den Fäusten auf das Grün ein, das jedoch auswich wie Wasser, nur um sich neu zu formen.

 

„Uruha, bitte“, flehte er, „du kennst mich doch und weißt, dass ich dir nie was Böses will. Ich will dich doch nur zu uns zurückholen. Bitte, wieso machst du es mir so schwer? Du musst nicht allein sein, nie.“ Er verstummte, plötzlich unglaublich erschöpft, und lauschte in die Stille. Keine Tiere waren zu hören, nicht einmal der Wind, der noch immer mit seinen Haaren spielte, schien ein Geräusch zu machen.

„Ducky, bitte.“

 

Ruckartig hob er den Kopf. Da war doch etwas gewesen?

Ja, da war es wieder!

Zunächst konnte er das rhythmische Klopfen, das einen eigenartig hohlen Unterton hatte, nicht zuordnen. Dennoch ging er in die Richtung, aus der er es zu hören glaubte. Er bog nach rechts ab, folgte dem Weg einige Hundert Meter und erneut einer rechten Biegung, bis er einer Wand aus Grün gegenüberstand.

„Verdammt, nicht schon wieder“, zischte er und wollte sich gerade umdrehen, als sich die dünnen Äste vor seinen Augen teilten. Sein Herz begann schneller zu schlagen und so etwas wie Hoffnung keimte in ihm auf. War er zu seinem besten Freund durchgedrungen? War das Uruhas Art, ihm zu zeigen, dass er ihn gehört und verstanden hatte? Ohne weiter darüber nachzudenken, durchquerte er den entstandenen Durchgang und fand sich auf einer weitläufigen Rasenfläche wieder.

 

Reita hatte so sehr gehofft, nun das Herrenhaus vor sich aufragen zu sehen, dass er die schmale Gestalt einige Meter von ihm entfernt beinahe übersehen hätte. Mitten auf dem saftig grünen Rasen, der zu allen Seiten von den Hecken umgeben war, stand ein Junge. Er war schlank, mit langen Gliedmaßen, die so aussahen, als wären sie schneller gewachsen als der Rest seines Körpers. Unwillkürlich schlich sich ein Grinsen auf Reitas Lippen. Er erinnerte sich noch gut genug an dieses seltsame Stadium seiner eigenen Teenagerjahre, in dem irgendwie nichts an ihm zusammenpassen wollte. Aber so ungelenk der Junge vor ihm auch aussehen mochte, seine Kontrolle über den Fußball, den er auf den Knien oder dem Kopf balancierte, war unbestritten.

 

Eine Welle der Nostalgie überkam ihn, je länger er dem anderen bei seinem Tun zusah. Er trug sogar das Trikot ihrer früheren Highschool-Fußballmannschaft, aber selbst ohne diesen Hinweis hätte Reita seinen besten Freund in ihm wiedererkannt. Wie oft hatte er Uruha früher so gesehen? Ganz versunken in seiner Interaktion mit dem Ball, für nichts anderes einen Blick übrig.

 

„Hallo, Uruha“, rief er halblaut aus und winkte. Er hatte ihn nicht erschrecken wollen und dennoch zuckte der Junge heftig zusammen. Der Fußball prallte auf seinem Kopf auf, aber ohne den nötigen Schubs nach oben landete er in einem ungewollten Bogen auf dem Rasen. Große Augen schauten verdutzt in Reitas Richtung, bevor sich so etwas wie Unbehagen über die jugendlichen Züge legte.

 

„Ja? Meinen Sie mich?“

 

‚Erkennst du mich denn nicht?‘, wollte er fragen und sein Herz krampfte. Schon bei dem kleinen Jungen hatte er eine Vermutung gehabt und auch das Verhalten des düsteren Uruhas schien diese bestätigt zu haben. Aber jetzt zu sehen, dass auch bei dieser Version seines besten Freundes weder die Erwähnung seines Namens noch Reitas Anblick irgendeine Form des Erkennens zur Folge hatte, war niederschmetternd. Uruha schien vergessen zu haben, wer er selbst war und auch, wie viel ihn mit Reita verband.

 

„Ja, ich meine dich“, erwiderte er mit belegter Stimme und schluckte den Kloß herunter, der sich in seiner Kehle gebildet hatte. Mit einem bemüht freundlichen Lächeln auf den Lippen trat er langsam näher, um den anderen nicht zu verschrecken.

„Aber mir scheint, ich hab dich verwechselt“, log er. „Tut mir leid.“

 

„Oh, wirklich? Mit wem denn?“ Der Junge bückte sich nach seinem Ball und hob ihn auf, bevor er seinen Kopf neugierig schief legte.

 

„Ich …“ Reita überlegte einen langen Moment, was er sagen sollte. „Mit meinem besten Freund, Uruha. Er hatte früher das gleiche Trikot wie du. Du erinnerst mich sehr an ihn. Er ist auch so fußballbegeistert. Wir haben früher oft zusammen gespielt.“

 

„Ehrlich?“ Die großen Augen strahlten, bevor Reita mitansehen musste, wie sich ein Schatten über sie legte. „Ich bekomme hier nie Besuch“, murmelte sein Gegenüber, setzte sich im Schneidersitz auf den Rasen und bedeutete ihm, es ihm gleichzutun.

„Ich weiß ja, dass ich viel trainieren muss, um in die Nationalmannschaft aufgenommen zu werden, aber manchmal fühle ich mich einsam … so ganz allein.“

 

„Bist du schon lange hier?“ Reita setzte sich und schloss für einen Moment die Augen, als die Schwäche seines Körpers mit aller Macht zuschlagen wollte. Aber, verdammt, dafür hatte er nun wirklich keine Zeit. Er straffte die Schultern und schaute sein Gegenüber an, der seinen Blick noch immer neugierig erwiderte.

„Also?“

 

„Ich glaube schon. Ich weiß es nicht so genau. Ich trainiere viel …“ Der Junge verstummte und sein Blick verlor sich für einen Moment im Nichts.

 

„Ich bin noch nicht sehr lange hier“, sagte Reita. „Ich will meine Geliebten nach Hause zurückbringen.“

 

„Deine… Geliebten?“, echote der andere und Reita erkannte die Röte, die sich plötzlich über die noch rundlichen Wangen zog.

 

„Ja, Uruha ist einer von ihnen.“

 

„Und der andere?“

 

„Aoi.“

 

„Aoi“, wiederholte der Junge und für einen Sekundenbruchteil glaubte er, einen Funken des Erkennens in den schönen Augen aufflammen zu sehen.

„Warum ist dieser … Aoi hier? Wollte er auch euren Geliebten zurückholen?“

 

„Ja. Er hat mir geholfen, nach Uruha zu suchen, aber dann wurde er entführt. Darum muss ich ihn wiederfinden, bevor ihm noch was passiert. Aber ich finde den Weg aus diesem Labyrinth nicht.“

 

„Ihm passiert nichts.“

 

Reita zuckte zusammen, als die etwas piepsige Stimme des Teenagers dunkler geworden war und mit einem Mal der seines Uruhas glich.

 

„Was?“, hauchte er, wurde jedoch nur mit einem weiteren, fragenden Blick bedacht.

 

„Mh? Ich hab nichts gesagt.“

 

„Nicht? Ich dachte … Ach, nicht so wichtig.“ Er zwang sich ein Lächeln auf die Lippen, während seine Gedanken rasten. Hatte er sich das nur eingebildet oder hatte ihm Uruha, sein Uruha, gerade gesagt, dass Aoi nicht in Gefahr war? Himmel, er hatte das Gefühl, den Verstand zu verlieren.

„Sag mal …“, begann er, bevor er noch vollends in seinen Gedanken versinken würde. „Kannst du mir helfen, den Weg zum Haus zu finden?“

 

„Ich weiß nicht …“, zierte sich der Junge und stand auf. „Ich muss trainieren.“ Wieder begann er geschickt kleine Kunststücke mit dem Fußball aufzuführen, als wäre das Leder ein Teil seines Körpers. War Uruha früher auch so verdammt talentiert gewesen?

„Ich muss noch richtig gut werden, verstehst du?“

 

„Bitte, ich schaff das nicht allein und mir läuft die Zeit davon.“

 

„Wieso? Hast du noch etwas vor?“

 

„Ja, so könnte man es nennen.“ Reita lächelte den Jungen von unten her an, bevor er sich ebenfalls erhob. „Ich gehöre nicht hierher, dieser Ort tut mir nicht gut.“

 

„Oh, das ist schade.“ Der Teenager hörte auf, mit seinem Ball zu spielen, und drückte ihn stattdessen gegen seine Brust. Beinahe als wäre er ein Kuscheltier, das ihm Geborgenheit schenkte.

„Ich hatte gehofft, du würdest vielleicht mal mit mir spielen.“

 

Reita musste sich bemühen, nicht mitfühlend das Gesicht zu verziehen. Wie gerne hätte er diese jüngere Version seines besten Freundes nun in den Arm genommen und gesagt, dass er nicht allein war. Aber er vermutete, dass sein Gegenüber dieses Zeichen der Zuneigung nicht ganz so gut auffassen würde.

 

„Ehm … Hallo?“

 

„Wie? Tschuldige, ich war gerade in Gedanken.“

 

 

„Macht ja nichts.“ Plötzlich lachte der Junge, fuhr sich durch die Haare und die Röte auf seinen Wangen schien sich zu vertiefen.

 

„Sag ruhig noch mal, was du wolltest.“

 

„Nein, nein, das war nicht so wichtig, ehrlich.“

Bevor Reita noch etwas sagen konnte, dribbelte der Junge einige Meter von ihm weg, bevor er in einem Bogen wieder näherkam.

„In Ordnung. Ich hab mich entschieden, dir zu helfen. Aber wir müssen uns beeilen. Ich …“

 

„Du musst noch trainieren, das hab ich verstanden.“ Reita erwiderte das Lächeln und streckte beide Arme aus. „Kann ich den Ball mal haben?“ Verdutzt schaute ihn der junge Uruha an, zuckte dann jedoch nur mit den Schultern und warf ihm den Ball zu. Reita ließ ihn von seiner Brust abprallen, schubste ihn mit dem Knie nach oben, bis er ihn mit dem Kopf in die Luft befördern konnte. Der überraschte Ausdruck auf dem Gesicht des Jungen blieb bestehen, während er ihn bei seinem Tun musterte.

„Wir können den Weg für ein wenig Training nutzen, was hältst du davon?“

 

~*~

 

Reita versuchte, nicht aus dem letzten Loch zu pfeifen, aber so sehr, wie Uruha neben ihm lachte, gelang ihm das nicht wirklich. Sie hatten das Labyrinth in Rekordzeit durchquert – ein Vorteil, wenn man jemanden an seiner Seite hatte, der alle Abkürzungen kannte – und standen nun vor einem großen Springbrunnen. Das Herrenhaus ragte dahinter in den Nachthimmel auf und so erleichtert er war, es endlich erreicht zu haben, so verunsichert war er auch. Was ihn wohl erwarten würde? Würde er überhaupt eingelassen werden? Und wie um alles in der Welt sollte er seine Männer nach Hause bringen?

 

„Du bist ziemlich aus der Übung, was?“

 

„Das darfst du laut sagen.“ Reita gab es auf, sich und dem Jungen noch länger etwas vormachen zu wollen, lehnte sich vornüber und stützte die Hände auf die gebeugten Knie ab.

„Sobald wir wieder zu Hause sind, muss sich das ändern.“ Er sah mit einem breiten Grinsen auf den Lippen auf, das jedoch verblasste, als er den verlorenen Ausdruck im Gesicht seines jungen Gegenübers erkannte.

 

„Ich hätte gern einen Trainingspartner wie dich“, murmelte Uruha und senkte für einen Moment den Blick. „Auch wenn du noch etwas fitter werden müsstest.“ Das verschmitzte Grinsen auf den vollen Lippen war zwar nicht ganz ehrlich, aber dennoch brachte es Reita zum Lachen.

 

„Ach, Kleiner.“ Er richtete sich auf und strubbelte dem Jungen durch die ohnehin zerzausten Haare. „Du bist schon so gut, ich glaube kaum, dass du noch lange hier trainieren musst.“

 

„Nicht?“

 

Er schüttelte den Kopf.

„Sobald wir alle wieder in der R…“ Mist, da hätte er doch beinahe Realität gesagt, ohne zu wissen, welche Auswirkungen das auf den Kleinen vor ihm haben würde. Obwohl er langsam begann, diese Welt hier zu verstehen, glichen seine Taten noch immer eher einer Aneinanderreihung von Improvisationen. Was, wenn er einen Fehler machte? Was würde das mit Uruha, mit Aoi und ihm tun?

„Tut mir leid, ich hab gerade den Faden verloren. Was ich eigentlich sagen wollte … Sobald wir wieder zu Hause sind, spielen wir mal richtig gegeneinander, was hältst du davon?“

 

„Ehrlich?“ Der glückliche Ausdruck in den Augen des Jungen brachte sein gesamtes Gesicht zum Strahlen, ein Anblick, dem Reita schon als Teenager hilflos verfallen war. Für einen Moment schloss er die Augen und spürte dem Ziehen nach, das sich durch sein Herz zog.

 

„Mein Ehrenwort“, erwiderte er und streckte die Hand aus, damit sein Gegenüber einschlagen konnte. „Aber jetzt muss ich gehen.“ Uruha nickte, ließ seine Hand beinahe unwillig los und bückte sich nach seinem Fußball. Statt diesen jedoch aufzuheben, richtete er sich noch einmal auf und sagte seinen Namen.

 

„Ja?“

 

„Ich … will dir noch was geben“, nuschelte er und wieder konnte Reita mitansehen, wie sich eine feine Röte über die jugendlichen Wangen legte.

 „Damit du mich nicht vergisst, wenn du deine Freunde gefunden hast.“

 

‚Das werde ich nie, Ruha‘, wollte er sagen, aber seine Aufmerksamkeit wurde von dem Kristall abgelenkt, den der Junge soeben unter seinem Trikot hervorgezogen hatte. Wie auch schon bei der Kette, die die unheimliche Version seines besten Freundes um den Hals trug, war der Edelstein an einer Lederschnur fixiert und leuchtete in einem sanft pulsierenden Blau. Reflexartig streckte er die Hand aus, als Uruha ihm den Stein entgegenhielt. Er war eigenartig warm, seine Ecken beinahe scharfkantig, als wäre er aus einem weitaus größeren Kristall herausgebrochen worden.

 

„Das …“, wisperte er, als ihn eine schmerzlich vertraute Präsenz einzuhüllen begann.

 

‚Ich bin bei dir‘, schien der Stein ihm zuzuflüstern. Das Pulsieren ging auf seinen Körper über, passte sich dem Schlagen seines eigenen Herzens an. Wärme flutete ihn, vertrieb Müdigkeit und Schmerzen gleichermaßen. Ein unendlich erleichtertes Ausatmen kam ihm über die Lippen, als wäre er nach Tagen der Dunkelheit endlich wieder ins Licht getreten. Doch so gut es sich anfühlte, so sicher, wie er sich war, dass er Uruha, seinem Uruha, in der ganzen Zeit hier noch nie näher gewesen war, so unumstößlich war die Gewissheit, dass der Kristall nicht für ihn bestimmt war. Für eine Sekunde drückte er ihn gegen seine Brust, genau über seinem Herz, bevor er seine Hand ausstreckte.

 

„Das kann ich nicht annehmen.“ Es schmerzte ihn beinahe körperlich, als der Junge den Stein wieder an sich nahm und ihn aus großen, enttäuschten Augen ansah.

 

„Willst du ihn nicht? Ich habe nichts anderes, was ich dir geben könnte.“

 

„Ach, du.“ Reitas Stimme brach beinahe, als er seine Hand in den Nacken des anderen legte und ihn gegen sich zog. In dieser Gestalt war Uruha tatsächlich noch etwas kleiner als er, was sich gleichermaßen ungewohnt wie vertraut anfühlte.

„Diese Kette ist viel zu wertvoll, du solltest sie nicht einfach hergeben, hörst du? Du musst gut auf sie aufpassen.“ Der Junge nickte, verbarg sein Gesicht an seiner Halsbeuge und schlang die dünnen Arme um seine Mitte.

 

„Aber ich will dir etwas schenken, damit du mich nicht vergisst.“

 

„Ich habe dich nie vergessen und werde es auch nie tun.“ Er drückte einen Kuss auf den wirren Schopf, bevor er den Kleinen sanft aber mit Nachdruck auf Abstand schob.

„Wenn du mir wirklich etwas schenken willst, dann vertrau mir, wenn es soweit ist, okay?“

 

„Vertrauen? Wie meinst du das?“

 

„Ich kann es dir nicht erklären, aber du wirst es wissen. In Ordnung?“

 

Uruha nickte, bevor er sich räuspernd wegdrehte und seinen Ball aufhob.

„Wir sehen uns!“, rief er, die Hand winkend gehoben, als er davonlief.

 

Reita sah ihm hinterher, bis die schmale Silhouette zwischen den Hecken verschwand. Er ballte die Hände zu Fäusten, drehte sich zum Herrenhaus um und stieg entschlossen die Stufen zum Eingangsportal empor. Er hoffte inständig, dass er gerade das Richtige getan hatte. Oh bitte, er durfte es nicht noch schlimmer gemacht haben.

Kaum hatten seine Fingerspitzen das verzierte Holz berührt, sprang es nach innen auf und gab den Blick auf eine ihm nur allzu bekannte Eingangshalle frei.

‚Ich komm euch holen, Uruha, Aoi, haltet nur noch ein bisschen durch.‘



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