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Animus captimente

von

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[21. und 22. Juni] "Irgendwas hält mich hier."

Ich fasse es nicht. Ich KANN es einfach nicht glauben! Ich sollte dieses Solo spielen. Ich bin der bessere Gitarrist, nicht dieser gepiercte Schönling. Was finden die nur alle an ihm? Sogar Reita, MEIN Reita, steht rauchend mit ihm vorm Studio und grinst sich einen ab. Sieht denn niemand, wie … wie … Ach, verdammt, ich finde nicht einmal die richtigen Worte, um ihn zu beschreiben. Was auch nicht wichtig ist, weil – was interessiert er mich schon? Hätte sich Yune nicht über meinen Kopf hinweggesetzt und entschieden, dass ausgerechnet dieser Hochstapler das Solo spielen soll, müsste ich überhaupt nicht über ihn nachdenken. Das ist sowieso nur passiert, weil die beiden miteinander verbandelt sind. Wir hätten uns nie mit zwei anderen zusammentun sollen, die auch schon gemeinsam in einer früheren Band waren. Und wir hätten Yune nie zum Leader machen sollen. Warum hat Ruki sich nur so vehement gegen den Job gewehrt? Verdammt, ich hasse es, über all das nachdenken zu müssen, über IHN nachdenken zu müssen! Außerdem hab ICH den Löwenanteil für das Solo getan, von mir waren die meisten Ideen und ich könnte im Schlaf das umsetzen, wofür sich der ach so tolle Gitarrist nun erst mal zwei Tage Zeit erbeten hat. FUCK OFF, Aoi! Das ist mein Solo!

 

Reita ließ das Tagebuch sinken, in dem er bis eben gelesen hatte, und rieb mit der freien Hand über seine müden Augen. Als er zur Seite schielte und Aois etwas verkniffenes Gesicht betrachtete, zupfte ein Schmunzeln an seinen Mundwinkeln.

„Wow, das waren noch Zeiten, was? Ich erinnere mich daran, dass ich Uruhas Beschwerden über dich irgendwann nicht mehr hören konnte, weil es für ihn gar kein anderes Gesprächsthema mehr gab. Wenn ich das jetzt so lese, tut es mir richtig leid, dass du so schlecht wegkommst“, murmelte er, „aber wenn ich ehrlich bin, ist es auch unglaublich unterhaltsam.“

 

„Ja, ja, wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.“

 

„Ach, jetzt komm schon.“

 

Sein Freund murrte gespielt genervt, als er den Kopf gegen seine Schulter lehnte, drückte ihm jedoch einen kurzen Kuss auf die Stirn.

„Ich hab bis heute nicht verstanden, was ich falschgemacht hab oder besser, wo sein Problem mit mir lag. Es war ja nicht so, als hätte ich mir jedes Solo unter den Nagel gerissen oder hätte mir sonst irgendwas zu Schulden kommen lassen. Zumindest nicht, dass es mir bewusst gewesen wäre … aber vielleicht hat mich Yune zu der Zeit tatsächlich bevorzugt, ohne dass es mir aufgefallen ist?“

Aoi verstummte und fixierte die weiße Wand ihm gegenüber, als würde er scharf über etwas nachdenken müssen.

 

„Nun mach dir nicht so viele Gedanken über Dinge, die schon ewig in der Vergangenheit liegen. Außerdem … sieh es doch mal so, hättest du damals nicht schon auf eine gewisse, wenn vielleicht auch noch unbewusste Weise Uruhas Interesse geweckt, hätte er sich nie so an dir gerieben, glaub mir“, murmelte Reita, drückte seinem Liebsten noch einen kurzen Kuss auf die Wange und richtete sich wieder auf. „Er war schon immer ein Meister darin, die Leute in seiner Umgebung zu ignorieren, die ihm einfach egal waren. Zu denen hast du definitiv nie gehört.“

 

„Seine Art, sein Interesse zu zeigen, war schon immer sehr speziell, was?“

 

„Das ist Uruha für dich, mittlerweile sollte dich das nicht mehr wundern.“ Mit einem liebevollen Lächeln betrachtete er seinen besten Freund, der unverändert mit geschlossenen Lidern im Bett lag und so aussah, als würde er schlafen. Ob er dies tatsächlich tat, wusste er nicht, aber seine Augen waren ihm beinahe im selben Moment zugefallen, in dem Reita zu lesen begonnen hatte. Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass sie nur noch eine Stunde hatten, bevor die Besuchszeit auch für diesen Tag vorüber sein würde, und noch hatte ihr Geliebter keine weitere Reaktion auf die Tagebücher gezeigt.

„Denkst du, es hilft was?“

 

„Ich hab das Gefühl, er ist ruhiger als sonst“, murmelte Aoi und streichelte über Uruhas linke Hand. „Aber das kann auch nur Wunschdenken sein.“

 

„Mh“, brummte er und streckte sich. Sein Rücken gab ein unschönes Knacken von sich, was nicht verwunderlich war, bedachte man, wie unglaublich unbequem diese Plastikstühle waren. „Ich hätte wirklich gute Lust, uns ein kleines Sofa hier reinzustellen, damit wir es beim Lesen wenigstens ein bisschen gemütlicher haben.“ Er lächelte schief, stutzte aber, als von Aoi keine weitere Reaktion kam. „Aoi? Ist alles in Ordnung mit dir?“

 

„Wie?“ Sein Freund sah auf und ihm ins Gesicht, wo seine Augen zuvor noch wie gebannt das Buch in seiner Hand fixiert hatten.

„Ich weiß nicht, ob alles in Ordnung ist. Wenn ich mich so zurückerinnere, vermutlich eher nicht. Ich bekomme tatsächlich Angst davor, nun herauszufinden, was Uruha noch so alles über mich geschrieben hat. Ich verstehe jetzt, warum du so gezögert hast, die Tagebücher zu lesen.“

 

„Das war nicht der einzige Grund, aber ja, einer von ihnen.“

 

„Ich will nicht, dass mein Wissen über seine intimsten Gedanken irgendwas zwischen uns ändert, verstehst du?“

 

„Mhmh, ja. Ich denke zwar, dass deine Befürchtung unbegründet ist, aber ich kann auch absolut nachvollziehen, wo sie herkommt, glaub mir.“ Reita seufzte, ließ das Buch auf Uruhas Bettdecke sinken und legte seinem Partner einen Arm um die Schultern.

„Sollen wir mit späteren Einträgen weitermachen? Wir könnten uns das Jahr eurer Hochzeit heraussuchen, was hältst du davon? In dem Jahr hat er bestimmt einige sehr schöne Erinnerungen festgehalten und …“

 

„Nein“, unterbrach Aoi ihn und schüttelte den Kopf, bevor er fast zögerlich nach dem Buch griff und den nächsten Eintrag aufschlug. „Wenn, dann machen wir das richtig.“ Reita lächelte, drückte seinem Liebsten einen kurzen Kuss auf und lehnte sich im Stuhl zurück.

„Hat Uruha eigentlich erst mit dem Tagebuchschreiben angefangen, als wir uns für Gazette zusammengetan haben?“ Aoi blätterte die Seiten durch, den Zeigefinger an der Stelle, an der Reita zu lesen aufgehört hatte, und schaute sich die Datumsangaben genauer an. „Alles von 2002.“

 

„Ja, mehr oder weniger.“ Das Gute an Uruhas Tagebucheinträgen war, dass sie nie sonderlich lang waren und dass sein bester Freund so pedantisch penibel war, dass er für jedes Jahr ein neues Buch begonnen hatte. So hatten sie dieses hier, das Erste aus der kleinen Schachtel, bereits fast durchgelesen.

„Ich erinnere mich zwar, dass er zu Schulzeiten manchmal geschrieben hat, und später, als wir uns eine Wohnung geteilt haben, weil wir selbst mit Ma'die Kusse und unseren Nebenjobs zu wenig hatten, um uns was Eigenes leisten zu können, hat er ständig ein Notizbuch mit sich herumgetragen. Aber er hat nie so regelmäßig geschrieben wie jetzt, glaube ich, und ich weiß nicht mal, ob diese uralten Aufzeichnungen seine vielen Umzüge in den letzten Jahren überlebt haben. Ich würde mal behaupten, eher nicht.“

 

Aoi brummte verstehend und begann zu lesen, während Reita seine Arme auf dem Bett verschränkte, sich vornüberbeugte und seinen schweren Kopf auf ihnen ablegte. Er hörte nicht wirklich zu, was sein Partner vorlas, einerseits, weil er unendlich müde war, andererseits, weil ihn noch immer Skrupel plagten, so deutlich in Uruhas Privatsphäre einzudringen. Erst, als Aoi ein grunzendes Schnauben von sich gab, drehte er den Kopf zur Seite und schielte ihn aus nur einem geöffneten Auge fragend an.

 

„Was war das gerade?“

 

„Hör zu.“

 

Heute gab es eine extragroße Salamipizza mit Peperoni und Oliven und allen Schikanen. Gott, wie lang hab ich keine Pizza mehr gegessen? Vermutlich seit wir bei Matina unter Vertrag stehen. Warum muss eigentlich nur ich diese hautengen Klamotten tragen? Scheiß auf gutes Aussehen und Erfolg, wenn ich deswegen auf Pizza verzichten muss!

 

Reita drehte den Kopf und dämpfte sein Prusten in der Bettdecke.

„Sag ihm nur nie, dass wir das gelesen haben.“

 

„Ich werde mich hüten.“ Aoi rieb sich über die plötzlich feucht glänzenden Augen, während Reita so tat, als hätte er diesen kurzen Anflug der Schwäche nicht gesehen.

„Sobald du aufwachst …“, sagte sein Freund deutlich leiser an Uruha gerichtet, „bekommst du so viele, extragroße Salamipizzen mit Peperoni, Oliven und allen Schikanen, wie du magst, das versprech ich dir.“

 

„Ganz genau“, hakte er ein, griff nach Aois Hand, die erneut über Uruhas lag und drückte zu. „Du musst uns nur noch verraten, was du mit ‚allen Schikanen‘ meinst.“

 

Wie lange sie so dasaßen, ihren Geliebten stumm betrachteten und versuchten, den Schmerz auszuhalten, der erneut in ihren Herzen aufgeflammt war, hätte er nicht sagen können. Irgendwann räusperte sich Aoi, setzte sich etwas gerader hin und begann erneut zu lesen, ohne jedoch seine Hand zurückzuziehen. Reita seufzte unhörbar, blieb in seiner vornübergebeugten Position halb auf Uruhas Bett liegen und gab dem Drang nach, seine schweren Lider zu schließen. Aois Stimme war wie ein warmer Frühlingswind, der ihn in eine andere Welt zu wehen schien. Er hatte das Gefühl zu fallen, langsam, getragen von den Worten seines Liebsten, der Uruhas Gedanken und Erinnerungen eine Stimme verlieh. Lange schwebte er in Finsternis – einer warmen, einhüllenden Schwärze – bis sich vor seinen Augen ein heller Lichtpunkt zeigte. Erst war er so klein wie ein Stecknadelkopf, wuchs jedoch rasend schnell an, bis ihn ein Tunnel aus Helligkeit einhüllte. Er fühlte sich noch immer ruhig, beinahe wie in Trance, als seine Füße harten Marmorboden berührten und ihm ein unerwartet vertrauter Geruch in die Nase stieg. Es roch nach Staub, der von der Sonne aufgeheizt worden war, nach alten Büchern und etwas, dass er immer mit Uruha in Verbindung gebracht hatte, ohne es benennen zu können. Verwundert blickte er sich um, fand sich in einem breiten, lichtdurchfluteten Korridor mit hoher Decke wieder. Ihm gegenüber schienen sich bodentiefe Fenster bis in die Unendlichkeit aneinanderzureihen, während er hinter sich nur eine einsame, schwarze Tür erblickte.

Wo war er hier? Träumte er etwa?

 

Langsam ging er auf die Tür zu.

„Uruha?“, wisperte er, doch seine Stimme hallte so blechern und laut von den Wänden wider, als befände er sich in einem viel größeren, viel leereren Raum. Er erschrak sich, der Schall dröhnte in seinen Ohren, schien sich zu vervielfältigen, bis er abrupt verstummte, als auch er in jeder Bewegung innehielt. Sein Atem ging stoßweise, eine unbestimmte Vorahnung breitete sich in ihm aus, bis er die Anspannung kaum noch ertragen konnte. Mit einem Ruck hob er die Hand, stand nun genau vor der schwarzen Tür. Ob er den Messingknauf hatte drehen wollen oder nur anklopfen, hätte er nicht mit Bestimmtheit sagen können, doch …

 

… die anderen schienen heute alle Spaß an unserem Videodreh gehabt zu haben. Bin ich wirklich der Einzige, der das unendlich anstrengend gefunden hat? Ruki wollte hinterher sogar noch …

 

Das anhaltende Hintergrundrauschen, zu dem Aois beständiges Vorlesen geworden war, verstummte, und mit einem Mal veränderte sich seine Umgebung drastisch. Wo ihn eben noch das Sonnenlicht gewärmt hatte, das durch die Fenster gefallen war, erhellte nun nur noch silbriges Zwielicht den Korridor. Das Gefühl der Vertrautheit war verschwunden und klamme Kälte ließ ihn frösteln. Er hörte stolpernde Schritte auf sich zukommen, sah die Umrisse einer Gestalt, die sich aus den Schatten schälte.

„Uruha? Bist du das?“

 

„So, ich muss euch leider bitten, nun zu gehen. Die Besuchszeit ist vorbei und Herr Takashima braucht Ruhe.“

 

Schwester Karens Stimme, die Reita bislang immer als angenehm, wenn auch ein wenig laut beschrieben hätte, explodierte in seinem Kopf und ließ seine Trommelfelle schmerzen. Er verzog das Gesicht und würgte. Die Luft um ihn herum schien sich zu komprimieren, der Druck lastete so schwer auf seinen Knochen, dass er glaubte, jeden Moment in die Knie gehen zu müssen. Und immer noch hörte er diese Schritte, sah Bewegungen in den tiefen Schatten.

„Uruha!“

Er rief so laut, dass sein Kopf zu zerspringen drohte, als er glaubte, eine weitere Gestalt erkennen zu können. Sie packte die Erste, schleifte sie fort, während er sich wie von Dutzenden Händen zurückgezogen in der Realität von Uruhas Krankenzimmer wiederfand.

 

„Oh Gott“, keuchte er, sprang auf und presste die Hand vor den Mund, während er halb blind zu der kleinen Nische hinüberstolperte. An ihrem Ende führte eine Tür zur Toilette, die er mit letzter Kraftanstrengung aufzog. Gerade so schaffte er es noch, den Deckel hochzuklappen, bevor er sich auf die Knie fallen ließ und sich geräuschvoll in die Schüssel übergab.

 

„Reita!“ Aois erschrockenen Ausruf hörte er nur am Rande und auch die vorsichtigen Berührungen erst an seiner Schulter, dann in seinem Nacken, nahm er kaum war. Seine Gedanken rasten und fanden doch kein Ziel, während sein Kopf derart schmerzte, als würde er jeden Moment in zwei Hälften zerbrechen. Er verstand nicht, was gerade geschehen war, ob überhaupt etwas geschehen war und weshalb er sich nun so elend fühlte.

Lange Momente, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, konnte er nichts anderes tun, als zu würgen, und als sein Magen nichts mehr in sich hatte, was er hergeben konnte, ließ er sich von Aoi zurück in seine Arme ziehen. Er hatte kaum noch genug Kraft, die Augen zu öffnen, geschweige denn seinem Freund auf die immer dringlichere Frage, was mit ihm los sei, eine Antwort zu geben.

Irgendwann fühlte er etwas Kaltes in seinem Nacken, eine im Kontrast zu der Agonie seines Kopfes so wohltuende Empfindung, dass er beinahe geschluchzt hätte.

 

„Reita-kun“, begann Schwester Karen betont leise auf ihn einzureden, „versuch dich aufzusetzen und mich anzusehen, in Ordnung?“

Nein, nichts war in Ordnung. Er wollte sich einfach nur hinlegen, sich nicht bewegen und hoffen, dass so diese fürchterlichen Kopfschmerzen verschwinden würden. Aber er gehorchte, versuchte es zumindest, und schaffte es mit Aois Hilfe in eine einigermaßen aufrechte Sitzhaltung. Seine Augen begannen unvermittelt zu tränen, als er die Lider auch nur ein Stück anhob und die Helligkeit stach und brannte. Nicht einmal die Zähne konnte er zusammenbeißen, weil die Schmerzen dadurch nur noch unerträglicher wurden.

„Sieh mich an“, bat Schwester Karen erneut und drehte seinen Kopf vorsichtig in ihre Richtung. „Siehst du irgendwas Ungewöhnliches?“

 

„Alles ist … verschwommen …“ Himmel, reden war so anstrengend. „An den Rändern … wabert es? So viele Farben …“, nuschelte er, fühlte sich beinahe wie betrunken… Was war denn nur los mit ihm? Verflucht, wenn nur diese Kopfschmerzen nicht wären.

 

„Hat er in der Vergangenheit auch schon so schwere Migräneanfälle gehabt?“ Die Frage war offensichtlich nicht an ihn gerichtet, so schloss er die Augen wieder und lehnte sich gegen Aoi, der ihm in diesem Augenblick wie die einzige Stabilität in einer taumelnden und sich ständig neu arrangierenden Wirklichkeit vorkam.

 

„Reita? Nein, noch nie, denke ich. Uruha hat oft Probleme mit Migräne, aber er …“

 

Reita spürte, wie Aoi den Kopf schüttelte, bekam von Schwester Karens Reaktion allerdings nichts mit.

 

„Mh, das ist zwar selten, aber nicht ungewöhnlich. Sie stehen beide im Moment unter großem seelischem und vermutlich auch beruflichem Stress. Ich hole ihm erst einmal etwas gegen die Übelkeit und sag unserem Stationsarzt Bescheid, dass er sich Reita-kun kurz ansieht. Keine Sorge, das wird wieder. Bleiben Sie vorerst einfach mit ihm hier sitzen – Bewegung ist gerade Gift für ihn, genau wie Lärm und Licht.“

 

Er hörte es rascheln, als sich Schwester Karen aufrichtete, das viel zu laute Klicken, als sie die Beleuchtung im Toilettenraum ausschaltete und ihre leisen und doch für seine empfindlichen Ohren unerträglich lauten Schritte, als sie das Zimmer verließ. Er stöhnte, ein Laut, den er sich besser verkniffen hätte, und verbarg sein Gesicht an Aois Brust.

 

„Was machst du nur?“, flüsterte sein Partner, worauf er ihm nicht einmal eine Antwort geben konnte. Einerseits, weil ihm dazu die Kraft fehlte, andererseits, weil er die Antwort darauf selbst nicht wusste.

 

~*~

 

„Brauchst du noch was?“ Aoi saß neben ihm auf dem Bett und strich zum dritten Mal die Decke glatt, die er wie einen Kokon um ihn drapiert hatte. Reita verkniff sich ein Seufzen und verneinte mit einem matten Lächeln auf den Lippen.

 

„Du könntest mir Gesellschaft leisten, es ist doch sowieso schon recht spät?“ Das Schmerzmittel, das ihm der Arzt gespritzt hatte, machte ihm das Denken schwer und ließ seine Worte lallend und etwas unkoordiniert aus seinem Mund taumeln. Er konnte diesem Gefühl des Kontrollverlusts zwar nichts abgewinnen, besonders, wenn nicht er es war, der ihn mit Alkohol herbeigeführt hatte, aber eines musste man dem Zeug lassen – es wirkte. Schmerzen verspürte er tatsächlich keine mehr, wobei ein dumpfer Druck hinter seinen Schläfen davon zeugte, dass seine Synapsen noch immer ordentliches Fehlfeuer produzierten.

 

„Ich brauch noch ein paar Momente, um runterzukommen“, murmelte Aoi in diesem Augenblick und hauchte einen kaum fühlbaren Kuss auf seine Stirn. „Du hast mir einen ziemlichen Schrecken eingejagt, wenn ich das mal so sagen darf.“

 

„Tut mir leid.“ Tat es wirklich, besonders weil er noch immer nicht begriff, was eigentlich mit ihm geschehen war. Solche Kopfschmerzen hatte er noch nie in seinem Leben ertragen müssen und niemand konnte ihm sagen, was diese ausgelöst hatte. Selbst der Arzt hatte sich diesen Anfall mit Stress und Übermüdung erklärt, aber Reita wusste, dass das nicht alles war. Da war sein Traum gewesen, dieser lichtdurchflutete Korridor, der mit einem Mal so bedrohlich gewirkt hatte, und dann dieser Zug, wie Dutzende Hände, die erbarmungslos an ihm gezerrt hatten. Er verzog das Gesicht, als ein stechender Schmerz durch seine Grübeleien schnitt und beschloss im Stillen, das Denken lieber auf morgen zu verschieben.

 

„Alles in Ordnung? Ich wollte dir damit wirklich kein schlechtes Gewissen einreden … Ich brauch nur noch ein paar Momente für mich. Nimm mir das nicht übel, bitte.“

 

„Nein, nein, alles gut.“ Er versuchte sich an einem beruhigenden Lächeln, wühlte seine Rechte unter der Decke hervor und fuhr Aoi durch die wirren Haare. „Versprich mir nur, dass du nicht wie so oft die ganze Nacht auf dem Sofa verbringst und über deinen Gedanken brütest. Das würde dir dein Rücken nur wieder übel nehmen. Mir geht es gut, du hast den Arzt doch gehört. Ich brauch nur ein bisschen Ruhe, das ist alles.“

 

„Wer neigt hier zum Brüten, ich sicherlich nicht.“ Aoi grinste und zwinkerte ihm zu, während er diese dreiste Lüge nur mit einem Schnauben quittierte. „Aber ja, ich versprech dir, dass ich bald ins Bett komme, okay?“

 

„Mhmh, okay.“ Er ließ sich zurück in die Kissen sinken, als sich Aoi über ihn beugte und ihn unendlich zärtlich zu küssen begann. Dass sein Partner nur wenige Momente später das Schlafzimmer verließ, hatte er schon gar nicht mehr mitbekommen. In dieser Nacht träumte er von Gängen, die sich in die Unendlichkeit erstreckten, Türen, die nirgendwohin führten und einem Haus, das zu atmen schien.

 

~*~

 

Am nächsten Tag hatte Reita das Gefühl, eben erst die Augen geschlossen zu haben, obwohl er beinahe zehn Stunden durchgeschlafen hatte. Auch zwei Tassen Kaffee machten ihn nicht sonderlich munter und so saß er zur Mittagszeit eher schlecht als recht an ihrem Besprechungstisch im Studio und versuchte, Kais Ausführungen zu folgen, mit denen er ihnen gerade ihre Pläne für die nächsten Tage nahelegte. Wenigstens war er nicht der Einzige, dessen Aufmerksamkeitsspanne heute nicht vorhanden war, denn Ruki tippte schon die ganze Zeit über auf seinem Smartphone herum, während sich Aoi mit verbissener Miene krampfhaft an seinem Energydrink festhielt. Reita würde wetten, dass sein Liebster doch die halbe Nacht auf dem Sofa verbracht und seinen Gedanken beim Kreisen zugesehen hatte. Aber da er heute Morgen brav neben ihm gelegen hatte, als er aufgewacht war, ließ sich das nur schwer beweisen.

 

„So, jetzt noch mal für alle zum Mitschreiben …“, durchbrach Kais Stimme seine Gedanken und das dumpfe Geräusch, mit dem seine Dokumentenmappe auf dem Tisch aufkam, riss sogar Ruki aus seiner geschriebenen Unterhaltung. Manchmal tat ihm ihr Leader fast leid … aber nur fast. Reita verkniff sich ein Schmunzeln und griff nach der Flasche Wasser, die vor ihm auf dem Tisch stand, um sich einen großen Schluck zu genehmigen. Vielleicht machte ihn ja das kühle Nass munter. Er bezweifelte es, aber wenigstens konnte ihm niemand vorwerfen, er hätte nicht alles versucht.

„Ihr drei fahrt heute nach Osaka …“ Tja, da waren seine Gedanken also schon wieder abgedriftet und so brauchte er ein paar Sekunden, bis er begriff, dass Kais ‚ihr drei‘ auch ihn miteinschloss – großartig.

„Organisiert ist schon alles, ihr müsst also nur pünktlich vor Ort sein. Euer Zug geht in knapp zwei Stunden. Interview, Bilder, kurzes Fanmeeting, ihr kennt das ja.“

 

„Oh nein“, jammerte Reita und konnte sich gerade so noch davon abhalten, seinen Kopf auf die Tischplatte knallen zu lassen. Das hätte ihm sein angeschlagener Schädel sicherlich übel genommen. „Können wir uns nicht fahren lassen?“

 

„Nein, weil ich heute Abend noch eine Besprechung wegen der neuen Schmuckkollektion hab und deshalb früher als ihr zurückfahren muss.“

 

Dezent verwirrt musterte er Ruki, der direkt neben ihm saß und von dem diese Erklärung gekommen war. Nicht nur, dass das die meisten Worte waren, die ihr Sänger bislang aneinandergereiht hatte, sie ergaben auch absolut keinen Sinn.

 

„Sorry, aber bin ich gerade zu blöd, dich zu verstehen, oder liegt das an dir?“

 

„Ehm …“ Nun war es an Ruki konfus zu blinzeln. „In meinem Kopf hat sich das irgendwie nachvollziehbarer angehört.“

 

„Aoi, rück die Gehirnzelle raus, die beiden haben sie gerade mehr als nötig.“ Kai schüttelte den Kopf, konnte sein Schmunzeln jedoch nicht verbergen, während es ihren Gitarristen aus seiner Starre riss, als ihm ein herzhaftes Lachen entkam. Derweilen grinsten sich Ruki und er nur verschmitzt an und verständigten sich mit stummen Blicken darauf, lieber nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Kais Geduldsfaden in allen Ehren, aber sie sollten ihn besser nicht überstrapazieren.

„Ihr müsst leider mit dem Zug fahren“, begann ihr Leader seine Erklärung, nachdem sich Aoi wieder beruhigt hatte, „… weil ich heute einiges an Organisationskram zu erledigen hab und deshalb sowohl den Van brauche, als auch nicht mitkommen kann.“

 

„Ja, das klingt logisch“, meinte Ruki im Brustton der Überzeugung, als hätte er gerade ganz allein den Sinn des Lebens entschlüsselt.

 

„Hey, dann haben wir ja quasi sturmfrei … ehm … kann man das so sagen?“

 

„Jeder weiß, was du meinst, Rei.“ Aoi grinste ihn an, während Kai ihm einen mahnenden Blick schenkte und Ruki ihm die flache Hand entgegenhielt, damit er einschlagen konnte.

 

~*~

 

Der Zug lag so leise auf den Schienen, dass er beinahe den Eindruck gewinnen könnte, sie würden sich gar nicht bewegen, würde die Landschaft nicht in rasendem Tempo an seinem Fenster vorbeiziehen. Reita gähnte hinter vorgehaltener Hand und war froh über das Wetter, das sich kurz vor ihrer Abfahrt eingetrübt hatte und Regen versprach. Irgendwie war er heute für Sonnenschein nicht in der Stimmung. Aoi ihm gegenüber hatte die Augen geschlossen, aber als er vorsichtig sein Bein ausstreckte und mit den Zehenspitzen gegen seinen Fuß tippte, öffnete sich ein Lid und das feine Lächeln, das sich auf seine Lippen schlich, ließ seine müden Züge gleich viel frischer wirken.

 

„Mh? Alles gut?“

 

Reita nickte und wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als ihn ihr Sänger unerwartet unterbrach.

 

„Nein, eigentlich ist nichts gut. Wann wollt ihr mir sagen, was mit euch los ist?“ Verblüfft starrten sie Ruki an, der jetzt erst das Display seines Handys aus den Augen ließ, um stattdessen ihn und Aoi streng zu mustern.

„Seit wir eingestiegen sind, habt ihr kein Wort gesprochen und heute bei der Besprechung saht ihr aus, wie zwei halbverweste Zombies.“ Reita verzog bei dieser bildhaften Beschreibung ihres Anblicks das Gesicht, konnte dem Kleinsten ihrer Runde diesen Vergleich aber nicht mal übel nehmen.

„Dass wir momentan alle nicht auf der Höhe sind, ist klar, aber ihr könnt mir nicht weismachen, dass nicht irgendwas zusätzlich vorgefallen ist.“

Nach all den Jahren, die er Ruki nun schon kannte, sollte es ihn wahrhaftig nicht mehr wundern, mit welchem Feingefühl er seine Umgebung und seine Mitmenschen wahrnahm, und dennoch war er nun derart verblüfft, dass ihm für einige Augenblicke die Sprache fehlte.

„Geht es Uruha schlechter?“

 

„Nein.“ Schnell schüttelte er den Kopf, konnte die Furcht, die in diesen wenigen Worten mitgeschwungen war, kaum ertragen. „Sein Zustand ist … unverändert, zumindest wenn man die Ärzte fragt.“

 

Rukis fein gezupfte Augenbrauen wanderten nach oben, während sich ein fragender Ausdruck auf seine Züge legte. Aoi und er wechselten einen Blick, bevor sein Partner es war, der mit der Sprache herausrückte.

 

„Mir ist bewusst, dass sich das wie aus einem schlechten Fantasy-Roman zitiert anhören wird, aber …“ Aoi unterbrach sich selbst, um einmal tief durchzuatmen. Seine Finger malten nervöse Muster auf seiner Jeans und alles in allem wirkte er auf Reita so unbehaglich, als wäre er gerade am liebsten überall nur nicht hier. „Also, was ich damit sagen will, ist … Reita und ich … wir glauben, da auf etwas gestoßen zu sein.“

 

„Mensch Aoi, mach es bitte noch spannender, mein Puls hat die zweihundert noch nicht erreicht“, schnappte Ruki deutlich irritiert.

 

„Sorry, ich versuch ja nur, irgendwie die richtigen Worte zu finden. Das ist gar nicht so einfach …“

 

„Lass mich das machen, mh?“, bot Reita an, weil er das Herumdrucksen seines Freundes nicht mehr mitansehen konnte. „Ich weiß ja, wie schwer du dir damit tust.“

 

„Wunderbar, wenn wir das jetzt geklärt hätten – Aoi betüddeln kannst du später auch noch.“ Ruki war eindeutig am Ende seines ohnehin immer sehr kurzen Geduldsfadens angekommen, aber in Anbetracht dessen, dass er wohl schon den ganzen Tag über bemerkt hatte, dass Aoi und ihm etwas auf der Seele brannte, konnte er ihm seine Ungeduld nicht einmal übel nehmen.

 

„Schon gut, schon gut.“ Beschwichtigend hob Reita beide Hände und begann kurz und knapp zu erzählen, was in den letzten Tagen geschehen war. Angefangen von den Botschaften in Uruhas Tagebuch, über die geisterhafte Präsenz, die nicht nur er bereits mehrmals gespürt hatte, bis hin zu dem Moment, als es ihrem Geliebten nicht gut ging, bis sie ihm eben jenes Tagebuch zurückgebracht hatten. Eines musste man Ruki lassen, er hatte ihn die ganze Zeit über, in der er geredet hatte, kein einziges Mal unterbrochen und schaute ihn auch jetzt nur nachdenklich an, obwohl bestimmt schon seit einer Minute Stille zwischen ihnen eingekehrt war.

„Du hältst mich für komplett durchgeknallt, stimmt’s?“

 

„Das sowieso“, winkte Ruki ab und rieb sich über die Oberlippe.

 

„He~!“

 

„Pscht, ich denke nach.“

 

„Dann geh ich derweilen mal etwas zu trinken holen oder brauchst du mich gerade?“ Aoi schaute ihn fragend an und er konnte das anhaltende Unbehagen erkennen, das seine Miene fast wie versteinert wirken ließ, immer wenn sie über dieses Thema sprachen.

 

„Nein, geh nur. Bringst du mir eine Pocari Sweat mit?“

 

„Ja, mir auch, bitte.“

 

„Klar mach ich.“

 

Für einen langen Moment sah er seinem Liebsten hinterher, der sich durch die Sitzreihen schlängelte, bis er durch die Tür des Großraumabteils verschwand.

„Nun sag schon was“, bat er, als er Rukis anhaltendes Schweigen nicht mehr länger ertragen konnte.

 

„Ich weiß zwar nicht, was das über mich aussagt – vermutlich, dass ich schon zu lang mit euch Spinnern in einer Band bin – aber ich kann mir das tatsächlich vorstellen. So sehr, wie Uruha an seinen Tagebüchern hängt, sind die doch beinahe ein Teil von ihm.“

 

„Du glaubst mir?“

 

„Hab ich doch gesagt.“

 

Reita schluckte, als sich sein Hals mit einem Mal wie zugeschnürt anfühlte. Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht geahnt, wie wichtig es ihm war, dass Ruki seinen Worten Glauben schenkte. Einfach so, ohne Beweise, nur weil er es war, der ihm davon erzählt hatte. Eine feingliedrige Hand legte sich auf seinen Unterarm, drückte kurz zu, bevor er sich erneut mit einem musternden Blick aus wachen Augen konfrontiert sah.

 

„Und jetzt erzähl mir den Rest.“

 

„Manchmal machst du mir mit deiner Art wirklich Angst, weißt du das?“

 

„Das sagt Kai in letzter Zeit auch sehr häufig. Mh, vielleicht sollte mir das zu denken geben. Aber genug von mir … Was hast du mir noch nicht gesagt?“

 

Schmunzelnd schüttelte Reita über das Verhalten seines Freundes amüsiert den Kopf, wurde aber schnell wieder ernst, als er versuchte, seine Erlebnisse von gestern in Worte zu fassen. Was nicht so leicht war, wie es sich anhören mochte, bedachte man, dass er selbst keine Ahnung hatte, was genau überhaupt vorgefallen war.

 

„Wir haben begonnen, seine Tagebücher zu lesen. Sieh mich nicht so an, mir ist bewusst, was für ein großer Vertrauensbruch das ist. Ich oder besser wir haben uns diese Entscheidung auch wirklich nicht leicht gemacht und ich fühl mich dabei noch immer nicht gut …“ Reita hatte abwehrend beide Hände gehoben, als ihn Rukis unzufriedener Blick gestreift hatte, fuhr sich nun übers Gesicht und atmete einmal tief durch. „Aber ich hab da so eine Theorie, auch wenn ich ehrlich nicht sagen kann, ob ich mir das alles nicht nur einbilde. Irgendwie hängt alles mit Uruhas Tagebüchern zusammen …“

 

„Ja, soweit waren wir schon, aber was hat das nun damit zu tun, dass ihr sie lest?“

 

„Wir lesen sie nicht nur, wir lesen sie ihm vor … weil wir glauben, ihm dadurch seine Erinnerungen zurückgeben zu können. Ich weiß doch auch nicht. Aber da sind diese Hirnaktivitäten, die Doktor Fujida aufzeichnen konnte, die immer mit den Zeiträumen übereinstimmen, in denen Aoi und ich das Gefühl haben, Uruha wäre bei uns. Und die Art, wie er auf das Tagebuch reagiert hat, als wir es ihm zurückgebracht haben. Außerdem …“ Reitas Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er all seinen Mut zusammenkratzte, um endlich das zu erzählen, was er selbst noch immer nicht fassen konnte. „Außerdem glaube ich, dass ich bei ihm war.“

 

„Bitte?“ Nun zeichnete sich zum ersten Mal so etwas wie Skepsis in Rukis Gesicht ab und Reitas Magen zog sich schmerzhaft zusammen. „Wie meinst du das, du warst bei ihm?“

 

„Gestern, als wir ihm vorgelesen haben …“ Himmel, warum war es nur so schwer, darüber zu reden? Er hatte das Gefühl, die Erinnerungen würden vor ihm davonlaufen, immer wenn er versuchte, das Geschehene in Worte zu fassen. „Ich war so unglaublich müde, also hat mich Aoi mit dem Vorlesen abgelöst. Ich muss eingeschlafen sein, glaube ich zumindest. Es hat sich angefühlt, als würden mich Aois Stimme und Uruhas Worte irgendwohin tragen, ein Haus – ein Schloss vielleicht? – mit ewig hohen Decken und Böden aus Marmor. Alles war so weitläufig und leer, aber auch vertraut? Ich weiß wirklich nicht, wie ich dir das beschreiben soll. Auf jeden Fall hatte ich das Gefühl, als wäre ich Uruha in dem Moment ganz nah und ich glaube, ich habe ihn auch gesehen … Dann hat Aoi zu lesen aufgehört und alles hat sich verändert. Die Umgebung ist bedrohlich geworden, irgendwas war dort, etwas … Gefährliches.“ Als er sich durch die Haare fuhr, um sich ein wenig Zeit zu verschaffen, fühlte er, wie klamm seine Stirn war und wie stark seine Hand zu zittern begonnen hatte.

 

„Reita, was ist los? Alles in Ordnung?“ Rukis Blick war beinahe erschrocken, als er nach seiner freien Hand griff und zudrückte.

 

„Ja, alles in Ordnung. Es ist …“ Er schüttelte den Kopf, atmete tief durch und ließ die Hand kraftlos sinken. Noch einmal drückte Ruki seine Finger, bevor er ein wenig auf Abstand ging, um ihn kritisch zu mustern.

 

„Bist du dir sicher, dass du das alles nicht nur geträumt hast?“

 

„Ich weiß nicht.“ Verzweifelt erwiderte er erst Rukis Blick, bevor er seine Finger fixierte, die fest ineinander verschränkt in seinem Schoß lagen. „Es war zu real für einen Traum – viel zu real. Ich … ich finde nicht einmal die richtigen Worte, um dir zu beschreiben, wie ich mich gefühlt habe. Das Ding, diese unsichtbare Gefahr ist mir immer näher gekommen und plötzlich war da ein unerträglich starker Sog, der mich zurückgerissen hat. Als ich wieder im Krankenzimmer war, hat sich mein Kopf angefühlt, als würde er jeden Moment zerspringen. Der Arzt meinte, es wäre ein Migräneanfall gewesen, ausgelöst durch Stress, aber ich sag dir, das ist Schwachsinn. Ich hatte noch nie in meinem Leben Migräne. Ich war bei ihm, Ruki. Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir, dass ich einen Weg gefunden habe, ihn zurückzuholen.“

 

„Und die Kopfschmerzen? Diese Gefahr, die du beschrieben hast, was hat es damit auf sich?“

 

„Keine Ahnung. Vielleicht ist ja dieses Ding der Grund, warum Uruha nicht aufwacht?“ Erst, als er diese Vermutung ausgesprochen hatte, wurde ihm bewusst, wie wahr sie sich anhörte. „Es konnte nicht verhindern, dass ich reinkam, aber es konnte wenigstens versuchen, mich nicht wieder wegzulassen.“ Seine Lippen waren taub geworden und ein kalter Schauer rann ihm über den Rücken, während er Ruki aus geweiteten Augen ansah.

 

„Verdammt, Rei, was ist, wenn du recht damit hast?“

 

„Du glaubst mir also?“

 

„Nicht, dass ich will, aber das hört sich alles so abgefuckt an, dass ich nicht anders kann, als es zu glauben. Das sieht Uruha mal wieder ähnlich, wenn es um ihn geht, kann es wirklich nicht einmal einfach sein, oder?“

 

Ohne es zu wollen, entkam ihm ein kurzes, fast schmerzhaftes Lachen und er presste Daumen und Zeigefinger gegen seine geschlossenen Lider, als seine Augen verräterisch zu brennen begannen.

„Du hast recht, das passt wirklich zu ihm. Aber was mach ich jetzt?“

 

„Ich denke, in erster Linie solltest du Aoi erzählen, was du erlebt hast.“

 

„Woher weißt du, dass ich das nicht längst getan habe.“ Rukis rechte Braue wanderte ein Stück gen Haaransatz und strafte seine Worte damit Lügen. Reita ließ die Schultern hängen und rieb sich erneut übers Gesicht. „Du hast doch gerade selbst gesehen, wie unangenehm ihm das Thema ist. Wenn ich ihm nun auch noch damit komme …“

 

„Was dann, mh? Das Schlimmste, was in dieser Situation passieren könnte, ist, dass sich irgendetwas zwischen euch stellt. Ganz ehrlich, Reita, wenn an deinen Erlebnissen auch nur ein Fünkchen Wahrheit haftet, braucht Uruha euch beide. Aoi muss da durch und du über deinen Schatten springen. Das ist nicht die Zeit für Alleingänge oder Geheimnistuereien.“

 

Reita hatte noch etwas sagen wollen, aber in dem Moment sah er, wie die Tür zum Großraumabteil aufging und Aoi auf sie zukam.

„Ich rede mit ihm – heute Abend“, murmelte er noch, bevor er dankbar die gekühlte Flasche mit seinem gewünschten Energydrink entgegennahm, die sein Partner ihm reichte. Während Aoi sich lebhaft über eine Schulklasse beschwerte, die das gesamte Bordrestaurant in Beschlag genommen hatte, wanderte sein Blick erneut aus dem Fenster. Die Wolkendecke hatte sich zu einer undurchdringlichen Masse aus Grau verdichtet und erste Regentropfen hinterließen lange Schlieren auf der Scheibe. Ruki hatte recht, nun war nicht die Zeit für Alleingänge. Er wollte, musste Uruha erreichen, kostete es, was es wolle, und dafür würde er Aoi brauchen. Mehr als jemals zuvor.



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