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Dein rettendes Lachen

von

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Vergangenheit

In den nächsten Tagen dachte ich viel über die Worte meines Vaters nach. Vielleicht hatte er Recht. Die Zeichen waren da. In Jadens Nähe fühlte ich mich wohl, und wenn ich allein war, vermisste ich ihn. Bin ich wirklich verliebt? Eine andere Erklärung gab es nicht für mein Verhalten, wenn er in meiner Nähe war. Mein Vater sagte, ich soll es ihm sagen. Aber was, wenn er nicht so fühlt wie ich? Ich will unsere Freundschaft nicht riskieren, dafür ist sie mir viel zu kostbar. Wenn er mich ablehnen würde, wüsste ich nicht, was ich tun soll. Ich würde zurück in die Dunkelheit sinken, und käme nicht aus eigener Kraft wieder raus. Mutter. Was soll ich nur tun?
 

Dann kam der Tag, der so besonders für unsere Familie hätte sein sollen. Ich wollte nicht allein sein, und ich wollte auch, dass mein Vater nicht allein war. Es war ein Samstag, und ich hatte vor ihn zu besuchen, doch an der Rezeption sagte man mir, dass er niemanden sehen wollte. Dieser Egoist. Sieht er nicht, dass es für mich genauso schwer ist? Er ist doch der Einzige, mit dem ich an diesem Tag hätte reden können. Aber so war ich gezwungen zu Hause allein damit fertig zu werden…
 

* Die Sicht von Jaden *
 

Endlich Samstag! Heute kommt mein verdammter Verband ab. Ich musste die ganze Zeit mit Krücken zur Schule gehen und konnte kein Fußball spielen. Gut, in den nächsten Tagen konnte ich das noch immer vergessen, aber wenigstens konnte ich meinen Fuß wieder belasten. Meine Mutter sagte trotzdem, ich soll die Schiene weiter tragen. Nur zur Sicherheit. Diese Frau war einfach überfürsorglich.
 

Na schön, was stell ich heute an? Ich hatte mir für diesen Tag noch nichts vorgenommen, doch die Entscheidung nahm mir Crow ab, der mich plötzlich anrief. „Hey Jaden! Lust auf ein kleines Spiel im Park? Ich hab den Rest der Mannschaft auch zusammengetrommelt. Sogar Leo kommt mit seinen Krücken, und sieht uns zu“ erklang es von der anderen Leitung.

„Sehr witzig, ich kann doch noch nicht spielen! Ich glaube meine Mutter springt im Dreieck, wenn sie mich erwischt. Außerdem hindert mich die Schiene noch dran.“

Er lachte. „Dann treffen wir uns eben einfach so. Heute soll der letzte schöne Tag vor dem Dauerregen sein, der im Wetterbericht angesagt wurde. Das sollten wir ausnutzen!“

„Na schön, ich komme. Wann treffen wir uns denn?“

„So in einer Stunde? Und vielleicht kannst du es mal bei Yusei versuchen, er ist der Einzige, den ich nicht erreicht hab.“

„Okay, bis später!“
 

Damit drückte ich auf den roten Hörer. Ich freute mich, dass Yusei endlich wirklich Anschluss zu den Anderen gefunden hatte. Anfangs hatte er sich ja noch ziemlich distanziert, und die anderen aus unserer Mannschaft wollten nicht viel mit ihm zu tun haben, aber das hatte sich geändert. Ich konnte schon wieder nichts gegen das Grinsen in meinem Gesicht machen. Schnell wählte ich seine Nummer, aber er ging nicht ran. Vielleicht arbeitet er ja heute wieder. Ach nein, er hat seine Schicht doch auf Freitag gelegt und kam deshalb nicht zum Training. Er wollte heute seinen Vater besuchen. Samstags war die Besuchszeit nur am Vormittag. Ich beschloss, ihm einfach zu schreiben, meistens antwortete er ziemlich schnell.
 

Hey Yusei, die Jungs wollen sich mit uns im Park treffen. Hast du Lust mitzukommen? Die nächsten Tage soll es ja nicht so besonders werden.
 

Ich ging in die Küche und packte noch ein paar belegte Brote ein. Wenn es schon der vorerst letzte schöne Tag werden würde, wollte ich so lange wie möglich im Park bleiben. „Hey, mein Spatz, wo willst du denn hin?“ fragte meine Mutter. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie reinkam, deswegen hatte ich mich auch kurz erschrocken.
 

„Ich treff mich mit dem Team im Park“ sagte ich fröhlich. Sie hob eine Augenbraue. Ich wusste schon, was sie damit sagen wollte. „Keine Angst, ich spiele nicht. Geht mit dem Ding auch nur schwer“ antwortete ich auf ihre stumme Frage und deutete auf die Schiene an meinem Knöchel.

„Na schön, dann viel Spaß, Spätzchen! Wird Yusei auch dabei sein?“ Ich wusste nicht, warum sie mich dabei so seltsam ansah.

„Weiß ich nicht, ich hab ihn nicht erreicht. Aber ich denke schon“ sagte ich und zuckte mit den Schultern. „Wann wirst du eigentlich endlich aufhören, mich Spatz zu nennen?“ fügte ich noch grummelnd hinzu.

„Nie. Du bleibst immer mein Spatz“ sagte sie glücklich und wuschelte mir durch die Haare.

„Mama!“ beschwerte ich mich und sah sie genervt an. Aber sie kicherte nur, und verließ den Raum. Ich hab sie ja lieb, aber manchmal…
 

Ich ging wieder hoch in mein Zimmer und schaute aufs Handy. Er hat noch nicht zurückgeschrieben. Ob er noch bei seinem Vater ist? Er war gestern auch schon wieder so still. Ich hoffe wirklich, es geht ihm gut. Ich setzte mich vor den Fernseher um mich etwas abzulenken.
 

Ein entsetzter Blick auf die Uhr, und ich bemerkte, dass ich schon wieder zu spät dran war. So ein Mist! Und Yusei hatte noch immer nicht geschrieben. Die Besuchszeit ist doch schon vorbei. Vielleicht sollte ich noch mal bei ihm vorbeischauen. Ich packte mein Zeug schnell zusammen und lief in die Garage. Fahrrad fahren war ja wieder drin.
 

Bei ihm angekommen, bemerkte ich, dass die Rollos in der unteren Etage unten waren. Oh je, ich hoffe er hat nicht wieder Migräne. Ich stellte mein Rad ab und klingelte. Als nach einiger Zeit immer noch nichts passierte, versuchte ich es wieder. Dieses Mal schien er es gehört zu haben, denn die Tür öffnete sich einen Spalt. Ich sah nur einen Teil meines Freundes, denn weiter machte er die Tür nicht auf. Was war denn los? „Hallo, Jaden. Was machst du hier?“ fragte er müde. Hat er eben noch geschlafen? Ich konnte ihn in der Dunkelheit kaum erkennen. „Ist alles in Ordnung? Du hast nicht auf meine Nachricht reagiert und ich wollte fragen, ob du mit in den Park kommst“ sagte ich.
 

„Nein. Heute nicht. Mir… geht’s heute nicht allzu gut.“
 

Jetzt sah ich seine leicht verquollenen und roten Augen. Er hatte geweint. Als er die Tür wieder schließen wollte, redete ich schnell weiter. „Warte!“ Die Tür stoppte in ihrer Bewegung und ging wieder einen Spalt auf. Er wartete, dass ich weiterredete. „Brauchst du vielleicht ein bisschen Gesellschaft?“ fragte ich deshalb mit einem Lächeln. Ich wollte ihn so nicht allein lassen. Eine kleine Weile lang senkte er den Blick und schien zu überlegen. „Bist du dir sicher?“ sagte er und sah mich traurig an. „Ich bin heute keine sehr gute Gesellschaft.“
 

Ich grinste. „Na klar!“ Er war mir immer eine gute Gesellschaft. Ich fühlte mich wohl bei ihm. Und hätte er niemanden bei sich haben wollen, hätte er mich gleich wieder weggeschickt. Er brauchte jetzt jemanden, der für ihn da war. Und ich wollte dieser jemand sein. Langsam ging die Tür auf, und er trat etwas beiseite, sodass ich eintreten konnte. Er sah wirklich furchtbar aus. Seine Augen waren von den Tränen gezeichnet und er war blass. Wortlos ging er ins Wohnzimmer und ich folgte ihm.
 

Im Fernseher lief wieder das Klavierkonzert vom letzten Mal. Auf dem niedrigen Tisch vor dem Sofa stand ein Bilderrahmen, daneben ein kleines Plüschtier. Es war ein rosafarbenes Küken. Darunter war ein brauner Umschlag mit ein paar Flecken darauf. Die einzigen Lichtquellen im Raum waren der Fernseher und eine dicke, rote Kerze, die neben dem Bilderrahmen stand. Ehe ich das Foto im Rahmen sehen konnte, klappte Yusei es um, sodass es mit dem Bild nach unten auf dem Tisch lag. Dann setzte er sich und legte wieder die Decke über seine Schultern. Als ich mich neben ihm niederließ, zog er die Beine an und schlang seine Arme darum. Ich saß ihm zugewandt, um zu zeigen, dass ich ihm zuhören würde, wenn er bereit war zu reden.
 

Wir waren still. Eine ganze Weile lang hörten wir nur der Musik des Konzerts zu. Die Frau am Klavier war wirklich begabt. Etwas an ihrer Musik berührte mich. Yuseis Blick ruhte die ganze Zeit auf dem kleinen Tisch vor ihm. Ich wollte zwar wissen was los war, doch ich blieb still. Wenn er dazu bereit ist, dann wird er schon reden. Bis dahin wollte ich einfach nur für ihn da sein. Schon meine bloße Anwesenheit schien ihn zu beruhigen, denn er war nicht mehr so verkrampft.
 

„Ich kann dir vertrauen“ murmelte er kaum hörbar. Das war keine Frage. Es schien eher, als würde er es zu sich selbst sagen. „Natürlich“ antwortete ich ihm trotzdem leise. Darauf folgte wieder eine kurze Stille. Er schien mit sich zu ringen. Ob er mir endlich sagt, was ihn bedrückt? Er atmete tief durch und wir hörten eine Weile lang wieder nur der Musik zu.
 

„Meine kleine Schwester hat heute Geburtstag“ sagte er plötzlich. Überrascht sah ich ihn an. Ich dachte, er wäre ein Einzelkind. Ich wollte nicht, dass er aufhörte zu reden. Ich wollte seine Stimme hören. Wollte, dass er sich alles von der Seele redete, was ihn so fertig machte. „Wie ist ihr Name?“ fragte ich deshalb. Wieder legte sich dieses melancholische Lächeln auf seine Lippen. „Sachi.“ „Ein wirklich schöner Name“ sagte ich und lächelte ebenfalls.
 

Endlich sah er mich mit seinen schönen, blauen Augen an. Ein leichter Rotschimmer lag auf seinen Wangen. „Ja, das stimmt. Ich habe ihn damals ausgesucht. Es bedeutet ‚Wunder‘. Ich fand es sehr passend. Weißt du, nach meiner Geburt haben die Ärzte meiner Mutter gesagt, sie könnte keine Kinder mehr bekommen. Meine Eltern hatten die Hoffnung auf ein zweites Kind längst aufgegeben, aber dann wurde meine Mutter schwanger. Ich freute mich wirklich sehr auf ein Geschwisterchen. Irgendwann gab mein Vater dem Kind im Bauch meiner Mutter den Spitznamen ‚Küken‘, weil wir noch nicht wussten was es werden wird. Als sie mir sagte ich bekomme eine kleine Schwester, schlug ich ihr den Namen vor. Sie war sofort begeistert.“ Dann wanderte sein Blick zu der Frau von dem Konzert. „Ich liebte Sachi schon, als sie noch im Bauch meiner Mutter war.“
 

Auch ich sah wieder der Frau am Klavier zu. Ich glaube so viel hatte er seit seinem Umzug noch nie von seiner Familie preisgegeben. Ich wollte, dass er weiterredete. Wollte endlich verstehen, warum er sich so verschließt. Da fielen mir die Augen der Pianistin auf. Endlich verstand ich, warum er sich dieses Konzert immer wieder ansah. „Ist das deine Mutter?“ fragte ich deshalb vorsichtig und sah ihn wieder an.
 

Er nickte. Sein Blick ruhte aber weiterhin auf der Pianistin, während er sprach. „Ich habe ihre Musik schon als Kind geliebt. Immer, wenn ich traurig war, spielte sie mir ein bestimmtes Lied vor. Sie sagte irgendwann einmal ‚Dieses Lied gehört nur uns. Wenn ich es spiele, denke ich nur an dich, und wenn du es hörst, soll es dir die Kraft geben weiterzumachen‘. Ich habe es mit etwa fünf Jahren angefangen zu lernen, denn ich wollte es auch meiner Mutter vorspielen, wenn es ihr nicht gut ging. Einmal bin ich sogar während eines Konzerts zu ihr auf die Bühne gerannt, während sie spielte.“ Für einen kurzen Moment lachte er leise bei dieser Erinnerung. „Eigentlich sollte ich hinter der Bühne warten, aber mir war langweilig und ich wollte zu ihr. Sie war nicht sauer auf mich. Sie schlug mir sogar vor unser Lied zu spielen. Das war das erste Mal, dass ich auf einer Bühne stand.“
 

Ich lächelte ihm entgegen. „Das würde ich gern mal hören.“ Er sah mich an, doch sein Blick wurde wieder traurig. „Ich spiele nicht mehr“ sagte er schlicht und sah wieder auf den Tisch. Hab ich jetzt was Falsches gesagt? Wieder hörten wir nur die Musik seiner Mutter und waren dabei ruhig. Eine stumme Träne bahnte sich den Weg über seine Wange, aber er schien es nicht mitzubekommen, oder es war ihm egal. Was ist nur passiert? Eben war er doch fast schon glücklich. Er zog die Arme fester um seine Beine und fing an leicht zu zittern. Immer mehr Tränen fanden den Weg seine Wange hinab, um dann seine Beine zu benetzen. Er vergrub sein Gesicht auf seinen Knien und begann zu schluchzen. Das Zittern wurde stärker. Ich ertrug diesen Anblick nicht. Ich wollte ihn nur noch trösten, deswegen legte ich ihm beruhigend meine flache Hand zwischen die Schulterblätter und strich ihm mehrmals über seinen Rücken. Irgendwie muss ich ihn doch beruhigen können. Aber diese Berührung schien irgendwas in ihm auszulösen. Er hörte auf zu zittern. Das Schluchzen verebbte.
 

Nach einer kleinen Weile hob er leicht seinen Kopf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Schon gut“ sagte er. Widerwillig zog ich meine Hand zurück. Er sah mich an und versuchte zu lächeln. Will er sich jetzt wieder verschließen? Ich hatte Angst, er würde nicht mehr weiterreden, deswegen nahm ich all meinen Mut zusammen und stellte die Frage, die mir so auf der Seele brannte: „Was ist passiert?“
 

Er schien überrascht. Wieder überlegte er, wie weit er gehen konnte. Doch er seufzte und redete weiter. „Als meine Mutter etwa im dritten Monat war, bestand mein Vater darauf, dass sie sich schonen sollte. Sie stellte die Konzerte vorerst ein, gab aber weiterhin Unterricht. So hatte sie auch mehr Zeit, und die verbrachten wir fast immer zusammen. Mein bester Freund Kalin zog mich deswegen sogar oft auf, aber das störte mich nicht. Ich war so glücklich. Vor etwas mehr als einem Monat war meine Mutter wieder bei einer Privatunterrichtsstunde. Die ging aber ziemlich lang, und ich rief sie an um zu fragen, wann sie wieder da wäre.“
 

Wieder war es still. Diese Erinnerung tat ihm weh, das konnte man ihm ansehen. Mit belegter Stimme sprach er weiter. „Wir haben uns am Abend zuvor wegen irgendwas Banalem gestritten. Ich weiß nicht mehr um was es ging. Als ich sie anrief, saß sie gerade im Auto und war auf dem Heimweg. Sie sagte ganz aufgeregt, sie war noch einmal in der Konzerthalle und hätte eine Überraschung für mich. Aber dann…“ Er brach ab und versuchte seine Stimme wiederzufinden. Ein wenig beugte er sich nach vorn und nahm das Bild an sich. Jetzt konnte auch ich es sehen. Es war ein Familienfoto. Seine Mutter war zu diesem Zeitpunkt schwanger, hielt ihre Hand behutsam auf ihrem Bauch und sein Vater stand neben ihr und umarmte sie. Yusei stand neben den beiden und lächelte glücklich. Plötzlich sprach er weiter. „Dann hörte ich einen Knall. Es klang, als wäre Metall auf Metall geschlagen und sie schrie erschrocken auf. Ich hatte Angst. Ich wusste nicht was passiert war. Sie antwortete mir nicht mehr.“ Eine Träne landete auf dem Foto. „Später wurden wir dann informiert, dass ein betrunkener Fahrer sie auf einer Kreuzung erwischt hatte. Er knallte mit seinem Fahrzeug direkt in die Fahrerseite unseres Autos und meine Mutter verstarb noch am Unfallort. Zu dem Zeitpunkt war sie im achten Monat schwanger.“
 

Ich spürte einen dicken Kloß in meinem Hals. Jetzt verstand ich endlich was ihn so aufwühlte. Ich konnte mich nicht rühren. Er saß einfach nur da, und versuchte die Erinnerung zu verdrängen. Aus einem Impuls heraus, schloss ich ihn in meine Arme. Ich dachte nicht darüber nach. Ich wollte ihn einfach nur trösten. Ich wollte, dass er seine Gefühle nicht mehr versteckte. In meinen Armen fing er an stockend weiterzusprechen. Zwischen den Sätzen schluchzte er leise. „Er riss meine Mutter einfach aus unserem Leben … Sie und Sachi … Heute wäre sie geboren worden … Meine kleine Schwester hatte nicht mal die Chance zu leben … Ich konnte sie nicht kennenlernen, dabei freute ich mich so auf sie … Ich hatte keine Chance ihr auf die Nerven zu gehen. Sie zu trösten, wenn sie traurig wäre. Sie zu beschützen … Es ist einfach so ungerecht … Dieser Mistkerl überlebte mit ein paar Schrammen und meine Mutter und meine Schwester sind tot … Ich werde sie nie wiedersehen … Dieser entsetzliche Knall, dieser Schrei. Diese bedrückende Stille … Das verfolgt mich heute noch in meinen Alpträumen! … Es … Es ist, als würde ich sie jede Nacht wieder verlieren!“
 

Dann brachen auch bei ihm die Dämme und er weinte bitterlich. Ich drückte ihn fester an mich, um ihm Trost zu spenden, ihn zu beruhigen. Einfach um für ihn da zu sein. Auch er ließ die Umarmung endlich zu und lehnte sich verzweifelt an mich. Dabei drückte er das Bild fest an seine Brust. Die einzigen Klänge, die durch den Raum hallten, waren die Musik seiner Mutter und sein Schluchzen. Es zerriss mich innerlich, ihn so zu sehen. Was er durchmachen musste war schrecklich. Seine Wunden waren noch so frisch. Er hatte sich wahrscheinlich vor diesem Tag noch nie mit seinen Gefühlen auseinandergesetzt, und jetzt kam all der Schmerz der letzten Wochen wieder hoch. Wie gern würde ich dir diesen Schmerz nehmen.
 

Nach einiger Zeit beruhigte er sich langsam wieder, und er schmiegte sich fester an mich. Zu meiner Überraschung sprach er leise und kraftlos weiter. „Die Polizisten gaben mir einen Umschlag, der aus dem Wrack geborgen werden konnte. Er lag auf dem Beifahrersitz. Mein Name steht drauf. Das war wohl die Überraschung, von der meine Mutter geredet hat. Ich habe bis heute nicht die Kraft gehabt, ihn zu öffnen… Die Beerdigung war nur eine Woche nach dem Unfall. Mein Vater hat die gesamte Zeit über nicht geweint und sich nur zurückgezogen. Ich konnte nicht mit ihm sprechen. Zwei Tage nach der Beerdigung sagte er plötzlich, wir ziehen um. Ohne Vorwarnung. Mein altes Leben war mit einem Schlag vorbei. Als mir deine Mutter sagte, er hätte versucht sich umzubringen, dachte ich jetzt wäre ich komplett allein. Ich hatte solche Angst.“
 

„Du bist nicht allein“ sagte ich schnell. Er löste sich aus meiner Umarmung und sah mich verwirrt an. Ich schenkte ihm ein kleines Lächeln. „Dein Vater ist noch am Leben und bald wird er wieder zu Hause sein. Und meine Mutter ist auch für dich da, und unsere Freunde. Und ich. Wir haben dich alle gern.“ Dann legte ich ihm meine Hand auf seine Wange und strich die Tränen aus seinem Gesicht. „Du wirst uns so schnell nicht los!“ fügte ich mit einem Grinsen dazu. Zu meiner Überraschung schenkte auch er mir ein müdes Lächeln und ergriff meine Hand, die auf seiner Wange lag.
 

„Danke.“
 

Dann lehnte er sich an meine Brust und betrachtete das Foto in seiner Hand. Ich schlang meine Arme wieder um ihn und legte meinen Kopf auf seinen ab. Ich genoss seine Nähe, und sein Vertrauen. Endlich konnte ich ihn wirklich verstehen. Gedankenverloren sprach er weiter. „In ein paar Wochen ist die Gerichtsverhandlung. Mein Vater sollte eine Aussage machen, aber bis dahin ist er noch nicht aus dem Krankenhaus raus. Ich soll stattdessen allein dort hingehen.“
 

„Dann begleite ich dich eben!“ sagte ich entschlossen. Er schwieg einen Moment. „Das kann ich nicht von dir verlangen. Es ist ein weiter Weg bis Osaka und die Verhandlung ist an einem Montag. Du musst in die Schule“ antwortete er geknickt. „Ach Quatsch“ sagte ich. „Ich bin sicher meine Eltern werden das verstehen! Außerdem hab ich dir gesagt, du bist nicht allein! Du kannst meine Hilfe gern annehmen, sonst würde ich dir den Vorschlag ja nicht machen!“
 

Er lachte müde. „Denkst du jemals über etwas nach, bevor du Entscheidungen triffst?“ fragte er mich. Ich lachte ebenfalls. „Nein, meistens nicht. Aber bei der Entscheidung muss ich auch nicht groß nachdenken. Es sei denn, du willst mich nicht dabeihaben.“ Er schüttelte den Kopf ganz leicht. „Nein, das wäre wirklich schön…“
 

„Dann ist es abgemacht!“
 

Eine Weile lang saßen wir noch zusammen auf dem Sofa und lauschten der Musik. Mit der Zeit entspannte er sich in meinen Armen und schlief ein. Die Musik verstummte. Ich lauschte seinem gleichmäßigen Atem und spürte sein Herz ruhig schlagen. Ich weiß nicht wie lange wir dort saßen, ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Es war mir auch egal. Ich freute mich einfach, dass er sich endlich ausgesprochen hatte. Inständig hoffte ich, dass ihm dieses Thema nun nicht mehr so zusetzt. Dass er es verarbeiten könnte. Er wird Zeit brauchen, aber irgendwann kann er seine Vergangenheit sicher hinter sich lassen, und nach vorn sehen. Ich genoss seine Nähe, auch wenn der Anlass ein trauriger war.
 

Das Schellen der Türklingel ließ mich hochschrecken. Erleichtert stellte ich fest, dass Yusei noch schlief. Wer kann das denn sein? Ehe die Person nochmal klingelt, sollte ich lieber nachsehen. Vorsichtig löste ich die Umarmung und lehnte ihn an die Rückenlehne des Sofas. Er schlief noch immer friedlich. Lächelnd betrachtete ich ihn noch einmal und seufzte. Ich schloss die Tür zur Küche hinter mir und machte die Haustür auf. Vor mir stand meine Mutter. „Jaden!“ sagte sie wütend, und doch erleichtert. Oh nein, weck ihn bitte nicht auf! „PSSSSST!“ machte ich und legte den Finger auf meine Lippen. „Er ist erst eingeschlafen und komplett fertig!“
 

Verärgert sah sie mich an, redete aber leiser weiter. „Bist du verrückt? Du hast mir erzählt, du wolltest in den Park gehen, aber Crow hat bei uns angerufen. Du bist nie dort aufgetaucht! An dein Handy gehst du auch nicht! Weißt du, was ich mir für Sorgen gemacht habe? Ich habe sogar bei Yusei angerufen, aber der ging auch nicht ans Festnetz! Was machst du denn hier?“ Wie soll ich ihr das jetzt am besten erklären? „Ich war auf dem Weg in den Park, aber … Ich weiß nicht, ich hab mir Sorgen um Yusei gemacht. Er war gestern so seltsam, und heute hat er nicht auf meine Nachricht reagiert. Ich wollte ihn mit in den Park nehmen, aber er war völlig fertig! Er…“ Ich weiß nicht, wie viel meine Mutter wusste. Ich kann ihr schlecht alles erzählen. Yusei würde mir nie wieder vertrauen. Ich senkte den Blick. „Er hat mir erzählt, warum er so traurig ist. Ich hab einfach die Zeit vergessen. Es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst… Entschuldigung.“
 

„Alles?“ war ihre Antwort. Ich sah wieder auf. Sie musterte mich neugierig. Ihre Wut war weg. Verwirrt sah ich sie an und antwortete. „Ja. Er hat mir alles erzählt, warum?“ Jeglicher Unmut wich aus ihrem Gesicht. Warum lächelt sie jetzt so zufrieden? „Verstehe. Wie geht es ihm jetzt? Du sagtest er schläft?“ Ich nickte. Warum ist sie nicht mehr sauer auf mich? Ich hab mich schon auf ein Donnerwetter gefasst gemacht. „Na schön, mein Spatz. Bleib lieber bei ihm bis er aufwacht, sonst fühlt er sich sicher gekränkt. Aber tu mir doch bitte den Gefallen und reagiere auf meine Anrufe, sonst bin ich noch ganz krank vor Sorge. Meldest du dich bitte, wenn er wach ist?“ Ich war immer noch verwirrt. Mit der Reaktion hab ich wirklich nicht gerechnet.
 

„Sicher“ sagte ich nur und kramte nach meinem Handy. Es war in der Jackentasche und lautlos. Sechs Anrufe in Abwesenheit und 29 Nachrichten… Upps.
 

* Die Sicht von Yusei *
 

Ich wachte auf und öffnete meine Augen. Es war stockdunkel. Leise schlugen die Regentropfen gegen die Fensterscheiben. Ich fühlte mich so ausgeruht wie seit Wochen nicht mehr. Es war so schön warm. Ich schloss meine Augen wieder und schmiegte mich näher an meine Wärmequelle. Dieser Duft. Ich fühlte mich so wohl. Er hüllte mich ein. Jetzt bemerkte ich auch den Druck auf meinem Körper. Hörte ein Herz schlagen. Spürte einen gleichmäßigen Atem auf meinem Kopf. Einen Brustkorb, der sich hob und senkte. Irgendjemand hielt mich fest. Wer? Plötzlich strömten die Erinnerungen des Nachmittags auf mich ein. Jaden. Ich habe ihm alles erzählt! Er hat mich beruhigt, war für mich da. Ich lächelte. Er hat mich wirklich die gesamte Zeit, während ich schlief, im Arm gehalten. Ich konnte ein zufriedenes Seufzen nicht unterdrücken.
 

Ich spürte, wie er seinen Arm bewegte und seine Hand auf meinem Kopf ablegte. Langsam strich er mir durchs Haar. Es war ein schönes Gefühl. Ich genoss es. Genoss diese Wärme und Geborgenheit, die meinen Körper einlullte. Wenn dieser Moment doch nur ewig anhalten könnte. Doch dann erhellte ein schwacher Lichtschein den Raum. Wieder öffnete ich meine Augen ein Stück, doch die Quelle des schwachen Lichts war hinter mir. Jaden nahm seine Hand von meinem Kopf und bewegte leicht seinen Oberkörper. Der Lichtschein bewegte sich. Ist das sein Handy? Er ist also wach. Wie spät ist es? Wie lange liege ich jetzt schon in seinen Armen? „Jaden?“ murmelte ich leise.
 

Er hob seinen Kopf ein Stück, doch ich konnte noch immer seinen Atem in meinem Haar spüren. „Du bist ja wach“ sagte er sanft. Ich konnte hören, dass er lächelte. Ich wollte mich nicht bewegen. Wollte lieber noch einen Augenblick in seinen Armen liegen. „Wie spät ist es?“ fragte ich. Er kicherte und der Lichtschein bewegte sich wieder. „21:49 Uhr.“ Erschrocken löste ich mich etwas aus seiner Umarmung und sah ihn im schwachen Licht seines Handys an „Was?! Du wirst sicher Ärger bekommen!“ Er lachte leise auf. „Nein, keine Angst. Meine Eltern wissen Bescheid, wo ich bin. Wie geht’s dir?“
 

Überrascht sah ich ihn an. Er war fast neun Stunden bei mir, was hatte er seiner Mutter erzählt? Geduldig wartete er auf meine Antwort. Ich seufzte. Wie fühle ich mich eigentlich? Gute Frage. Während ich darüber nachdachte, musterte Jaden mich und zog mich wieder sanft an seine Brust. Im ersten Moment war ich etwas perplex, aber es fühlte sich so gut an, ihn in meiner Nähe zu haben. Ich entspannte mich wieder und legte meine Hand neben meinem Kopf ab. Ich hörte wieder seinen Herzschlag. „Besser“ antwortete ich wahrheitsgemäß und schloss erneut meine Augen.
 

„Du bist wirklich stark“ sagte er plötzlich. Ich lachte bitter auf. „Ich und stark? Ich bin vor deinen Augen seelisch und körperlich zusammengebrochen.“ Seine Arme legten sich fester um mich. Seine Stimme war ernst als er mir antwortete. „Ja, du bist stark. Stärke hat nichts damit zu tun, ob man weint oder nicht. Du lebst weiter. Ich wüsste nicht, was ich an deiner Stelle tun würde. Ich glaube, das würde ich nicht durchstehen. Du hast dich deinen Gefühlen gestellt, und das war mutig. Rede dir bloß nichts anderes ein!“ Was hat er gerade gesagt? Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Denkt er wirklich so über mich? Etwas sanfter sprach er weiter. „Ich mein es ernst, Yusei. Du hast so viel durchgemacht. Da würde jeder irgendwann zusammenbrechen. Ich bewundere dich dafür, dass du so stark bist. Ich meine, du hattest niemanden, an den du dich wenden konntest.“
 

Ich lächelte. „Nein, außer dich.“ Oh je, habe ich das eben laut gesagt? Peinlich. Doch es entsprach der Wahrheit. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Ich spürte wieder eine Hand auf meinem Kopf und sein Gesicht, dass sich in meinem Haar vergrub. „Ich hab dir doch schon gesagt, ich lass dich nicht allein“ murmelte er leise.
 

Nun war es an meinem Herzen, schneller zu schlagen. Ich konnte meine Dankbarkeit nicht in Worte fassen. Er seufzte, löste seine Hand von meinem Kopf und nahm sein Handy wieder an sich. „Na schön, ich hab meiner Mutter versprochen ihr zu schreiben, wenn du aufgewacht bist“ sagte er und hob seinen Kopf. Er würde also gleich wieder gehen. Zum Glück konnte er meine Enttäuschung nicht sehen. Ein letztes Mal noch genoss ich die Wärme seines Körpers, dann löste ich mich endgültig aus seinen Armen und sah in sein verwundertes Gesicht. „Danke“ sagte ich schlicht und schenkte ihm ein aufrichtiges Lächeln. Es war nicht annähernd genug für das, was ich fühlte, doch das brachte es im Moment in etwa auf den Punkt. Ich stand auf, um den Lichtschalter zu betätigen und kniff kurz die Augen zusammen. Es war verdammt hell.
 

Als ich mich an die Helligkeit gewöhnte, hörte ich wieder seine Stimme hinter mir. „Keine Ursache“ sagte er leise. Ich drehte mich um und er schenkte mir ein aufmunterndes Grinsen. „Mein Vater kommt gleich und holt mich ab. Draußen schüttet es ziemlich. Kann ich mein Fahrrad erstmal bei dir lagern?“ „Sicher.“ Ich ging Richtung Haustür und wollte es eben in die Garage stellen, da hielt er mich an meinem Handgelenk fest. Verwundert drehte ich mich zu ihm.
 

„Versprichst du mir was?“ fragte er mich. Verwirrt nickte ich und wartete neugierig, dass er weitersprach. „Bitte öffne den Umschlag. Ich glaube, das wird dir helfen!“ Ich verstand nicht ganz, warum er das so sah. Ich hatte bis heute nicht die Kraft ihn zu öffnen. Ich hatte Angst. Und ich weiß nicht mal, wovor ich eigentlich Angst hatte. Wieso sollte mir dieser Umschlag helfen, mich besser zu fühlen? In war noch in meinen Gedanken versunken als er weitersprach. „Bitte!“ Seine Augen waren wild entschlossen und flehend. Ich konnte ihm seinen Wunsch nicht abschlagen und nickte. Sein Gesicht erhellte sich. „Sehr gut! Öffne schon mal die Garage, ich schieb das Fahrrad rein.“
 

Als wir fertig waren, fuhr schon ein Auto auf unsere Einfahrt. Die Lichtkegel der Scheinwerfer blendeten mich durch die offene Garagentür und ich hob den Arm vors Gesicht. Als das Licht ausging, stieg Herr Yuki aus dem Auto und begrüßte mich. Jaden drehte sich noch einmal zu mir. „Na schön, ich muss los. Denk an dein Versprechen, ja?“ sagte er mit einem Zwinkern und lief zur Beifahrertür. Die beiden winkten mir noch einmal zum Abschied und fuhren los. Ich schloss die Garage.
 

Im Wohnzimmer angekommen, setzte ich mich wieder und legte mir Mutters Decke um. Mein Blick schweifte zu dem braunen Umschlag. Auf ihm waren noch immer Blutflecken zu sehen. Mir wurde übel. Wie konnte mir der Inhalt des Umschlags schon helfen? Ich versteh es einfach nicht. Zögerlich nahm ich ihn an mich. Mein Herz schlug mir vor Aufregung bis zum Hals. Ich schluckte schwer. Langsam öffnete ich die obere Lasche und zog den Inhalt heraus. Meine Augen weiteten sich, als ich es genauer betrachtete. „Das ist doch…“ murmelte ich. Mehr brachte ich nicht heraus. Jaden hatte recht.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hehe, böser Cliffhänger, ich weiß^^
Stellt euch bei rosafarbenes Küken das Monster "Klanghühnchen" vor^^ Wenn ich Duelmonsters schon komplett aus der Story streiche, wollte ich zumindest kleine Easter-Eggs verstecken :) Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Yumi_Kira_Ichimaru
2021-06-26T18:47:02+00:00 26.06.2021 20:47
Guten Abend ^-^
Ich habe nun bis hier her die FF gespannt verfolgt und musste bei diesem Kapitel schon etwas weinen...
Yusei tut mir sehr leid, solch ein Verlust ist kaum zu ertragen.
Du hast diesen Moment sehr gefühlvoll beschrieben, ich spürte regelrecht dieses bedrückende Gefühl in mir.

Allgemein bin ich richtig happy diese FF gefunden zu haben =)
Ich bin momentan wieder im Yu-Gi-Oh Fieber und habe das Original schon durch gesuchtet und bin nun bei GX
Durch einen Film bin ich auch auf das Pair Yusei x Jaden gestoßen und hab mich sofort verliebt *-*
Leider gibt es davon nicht viel, deshalb bin ich so froh deine FF gefunden zu haben ♡

Vielen Dank dafür ^-^
Antwort von:  stardustrose
27.06.2021 23:25
Das stimmt, ich wünschte auch es gäbe mehr Geschichten mit dem pairing ^^ ich liebe es!! Und ich bin super froh, dass es dir gefällt :)


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