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Kigan

– The crime scene of Gotamo City –
von

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Kapitel 7
 

Nachdenklich starrte ich auf die drei leeren Gläser auf meinem Küchentisch. Die Kerze war fast komplett heruntergebrannt und glomm nur noch milde vor sich hin. Ansonsten war es dunkel in der Wohnung, Hara und Andou waren vor einer Viertelstunde gegangen. Inzwischen war es kurz nach zehn. Die Zeit war wie im Flug vergangen, ohne dass es überhaupt einer von uns bemerkt hatte.

Der ganze Abend war irgendwie seltsam… anders gewesen. Ich konnte das Gefühl nicht einordnen, das seit Stunden in mir zu toben schien. Es war lange her, dass ich mich derart lebendig gefühlt hatte. Etwas hatte sich verändert und ich merkte, wie sich meine Mundwinkel gerade dauerhaft oben halten wollten.
 

Es hatte noch eine ganze Weile gedauert, bis Andou schlussendlich im Büro aufgetaucht war.

In der Zwischenzeit hatten Hara und ich angefangen, eine meiner guten Bourbon-Whiskey-Flaschen zu leeren. Der Alkohol spülte mich immer auf eine angenehme Art weich, all die Probleme und Vorkommnisse lasteten dann weniger schwer auf meinen Schultern. Das erste Mal Durchatmen für diesen Tag. Warum ich Haras Anwesenheit einfach geduldet hatte, ihm sogar zuhörte und Glauben schenkte, konnte ich nicht sagen, aber es hatte sich richtig angefühlt. Von meiner generellen Abneigung gegenüber den Beiden war nicht mehr viel übrig geblieben und das war sicher nicht nur die Schuld des steigenden Alkoholpegels.

So waren wir kurz nach Andous Eintreffen ein Stockwerk höher in meine Wohnung umgezogen. Das Büro war mir in diesem Moment einfach zu groß und unpassend vorgekommen – in meiner Küche ließ es sich besser reden. Mit jeder verstreichenden Minute war die Stimme in mir, die mich vor ihnen warnte und mir zuflüsterte, ihnen nicht zu trauen, leiser geworden und schließlich ganz verstummt. Im Gegensatz zu ihrem Überfall die Woche davor, hatten sie mich diesmal auch nicht zur Weißglut getrieben, im Gegenteil.

Vielleicht lag es am Stress des Tages, meiner geistigen und emotionalen Erschöpfung. Doch plötzlich waren sie nicht mehr die beiden unsäglich nervenden Cops gewesen, die ich ignorieren und auf der Stelle rauswerfen wollte. Nein, vor mir hatten zwei junge Männer gesessen, in denen ich mich zum Teil selbst wiedererkannte. Oder vielmehr mein Ich vor fünf Jahren: Ernüchtert, frustriert, kurz davor alles hinzuwerfen. Und dennoch kämpften sie weiter und machten damit den ersten Eindruck, den ich von ihnen gehabt hatte, zunichte. Von der Überheblichkeit, die ich erwartet hatte und die ihren Berufskollegen überlicherweise so eigen war, war nichts zu spüren gewesen. Und auch wenn sie zugaben, ab und zu die Vorschriften so auszulegen, wie sie wollten und brauchten, so taten sie es in einer Art, wie ich es selbst getan hätte und nicht für den eigenen Profit.

Womöglich war genau das der Punkt, warum ich ihnen Glauben schenkte, als sie meinten, sie wollten mit mir zusammenarbeiten und unter dem Radar ihrer Vorgesetzten ermitteln.

Klar, theoretisch konnten sie mir etwas vormachen, mich um den Finger wickeln und dann auflaufen lassen. Wobei… was würde es ihnen bringen? Zum einen hatte ich nichts zu verbergen und war auch sonst kein besonderes wichtiges Tier in dieser Stadt. Gut, vielleicht würden sie dem Arsch von Takayama einen Gefallen tun, wenn sie etwas gegen mich in der Hand hätten. Dann bekäme er womöglich endlich seine Rache für die gebrochene Nase, die ich ihm bei meinem Abschied verpasst hatte. Aber das glaubte ich nicht. Außerdem: Etwas zu verlieren hatte ich nicht. Ich besaß nur eine kleine, unbedeutende Detektei am Rande der Stadt, lebte von der Hand in den Mund und kam damit irgendwie durch. Vielmehr wegnehmen konnte man mir also nicht.

Und große Ziele hatte ich seit Jahren keine. Hauptsache über die Runden kommen, vielleicht hier und da mal jemanden helfen, etwas fürs Gewissen und das gute Gefühl tun und das war's. Alles andere hatte bisher für mich keinen Sinn mehr gemacht, dafür hatten mich die vergangenen Jahre zu sehr desillusioniert.

Und nun?

Auf einmal tauchten da diese beiden Typen auf und appellierten an mein Gewissen und meine Berufsehre und das mit Erfolg, was mich wohl selbst am meisten überraschte.
 

Seufzend griff ich nach der fast leeren Whiskyflasche, füllte den letzten Rest ins Glas und trank ihn in einem Zug leer. Es brannte in meiner Kehle, während sich gleichzeitig die wohlige Wärme in meinem Inneren verstärkte.

Ich war fertig – fix und alle und bereit fürs Bett. Gleichzeitig war ich wiederum zu aufgekratzt, um schlafen zu können. In meinem Kopf schwirrte es wie in einem Bienenstock und da gab es so viele Dinge zu verarbeiten. Ungewohnt. Sonst war mein Leben ziemlich ereignislos und konstant, doch nun war alles irgendwie aus den Fugen geraten.

Angefangen hatte es mit dieser blöden Visitenkarte, die im Zimmer dieses verschwundenen Jungen gefunden worden war und von der ich immer noch nicht wusste, wie sie dorthin gekommen sein sollte.

Ich vergrub die Hände in den Haaren und schloss für einen Moment die Augen. Und dann Frau Sumida. Ich konnte nicht verhindern, dass sich das hässlich schmerzende Gefühl des Versagens und des Verlusts in mir breit machte. Zwanghaft versuchte ich die Selbstvorwürfe zur Seite zu schieben. Es brachte nichts.

Andou, Hara und ich hatten das Geschehene die letzten Stunden zur Genüge durchgekaut. Auch wenn ich wusste, dass sie recht hatten und ich ihren Tod vermutlich nicht hätte verhindern können, mein Herz sagte mir etwas anders. Es zwickte und zwackte, schien mich anzuschreien: „Hättest du nur…!“

Sich in diesen Schuldgefühlen zu verlieren, holte sie aber auch nicht wieder zurück. Dennoch würde es wohl noch eine Weile dauern, das Ganze wenigstens zum Teil hinter mir zu lassen. Vergessen wollte ich nicht, dafür war Frau Sumida ein zu wichtiger Teil meines Lebens gewesen.
 

Mit einem leisen Ächzen erhob ich mich von meinem Stuhl und ging zum Fenster, wo meine Zigaretten griffbereit lagen. Trotz des mäßigen Regens, der gegen die Scheibe trommelte, öffnete ich es einen Spalt breit.

Wann würde es in dieser elenden Stadt endlich einmal nicht regnen?

Schnaubend stieß ich den Rauch durch die Nase aus und beobachtete, wie er in kleinen Schwaden hinauszog.

Wie hatte dieser Tag nur so viele Wendungen nehmen können? Noch am Morgen hatte ich das Gefühl gehabt, meine Welt sei stehengeblieben und plötzlich raste sie einfach so weiter.

Diese Beiden… Hara und Andou. Schon bei unserer ersten Begegnung hätte ich eigentlich ahnen müssen, dass sie keine gewöhnlichen Cops waren. Nein, nicht unsere erste Begegnung. Wie ich heute erfahren hatte, war das unsere zweite gewesen, wobei ich mich beim besten Willen nicht an die erste erinnern konnte. Was auch nicht verwunderlich war: Die Beiden waren kurz bevor ich gekündigt hatte, in den Polizeidienst eingetreten. Zu dem Zeitpunkt hatte ich anderes um die Ohren gehabt, als mich auf neue Kollegen zu konzentrieren.

Allerdings hatte sich mein wortreicher Abgang voller Verwünschungen und Vorwürfen anscheinend so sehr in ihr Gedächtnis gebrannt, dass er auch heute noch einen gewissen Einfluss auf die beiden ausübte, was mich durchaus stolz machte und mich insgeheim triumphieren ließ. Also jedenfalls was korrekte Ermittlungsarbeit und die eigentlichen Ziele der Polizei anging.

Dennoch hatte die unumgängliche Desillusionierung auch vor ihnen nicht Halt gemacht und sie recht schnell an die Abgründe dieser Stadt und dieses Systems geführt. Tja, wenn jemand von oben nicht wollte, dass man weiterkam, dann kam man nicht weiter – egal, wie sehr man kämpfte oder wie brisant die Angelegenheit war.

Aber Hara und Andou überraschten mich. Sie wollten weitermachen – und das nicht nur bei dem aktuellen Vermisstenfall – und wenn es sein musste, dann eben abseits der offiziellen Wege. Und dass sie mich dabei haben wollten, ehrte mich auf eine gewisse Art. Ich wusste gar nicht, womit ich dieses Vertrauen verdient hatte, besonders nachdem ich so abweisend zu ihnen gewesen war.

Vielleicht gab genau dieses Vertrauen mir wieder Auftrieb. Ja, ich wollte etwas tun. Obwohl mich niemand mit dem Vermisstenfall betraut hatte und obwohl ich nicht einmal ansatzweise wusste, warum Frau Sumida ermordet worden war – ich wollte etwas tun. Ich konnte nicht mehr abwarten, bis die Cops wieder auf meiner Matte standen, vielleicht diesmal mit schwereren Anschuldigungen. Dass da irgendetwas vor sich ging, konnte keiner von uns leugnen. Genauso wenig, dass Frau Sumida nicht rein zufällig ermordet worden war. Wir sahen nur die Zusammenhänge noch nicht. Aber das würde kommen, inzwischen war ich da zuversichtlicher.
 

Ich drückte die aufgerauchte Zigarette im Aschenbecher aus und schloss das Fenster, ehe ich die Kerze löschte und die Küche Richtung Schlafzimmer verließ. Heute brauchte ich nicht mehr nachzugrübeln. Mit einem übervollen Kopf käme sowieso nichts Gescheites heraus.

Im Schlafzimmer angekommen stutzte ich, nachdem ich den Schalter der Nachttischlampe betätigt hatte, und blieb neben meinem Bett stehen. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah ich auf Rina hinab, die es sich äußerst bequem auf meiner Decke gemacht hatte und mich nun aus treudoofen Hundeaugen anblickte.

Hallo? Wo gab's denn sowas? Ihr Hundekorb stand nicht zur Dekoration herum und das wusste sie auch. Aber scheinbar galt die aufgestellte Regel „Niemals in Kaorus Bett“ heute nicht. Nur konnte ich ihr nicht böse sein, selbst wenn ich es versucht hätte. Vielmehr zupfte ein verstecktes Lächeln an meinen Mundwinkeln.

Dieser Hund… Ach, was soll's…

Theatralisch seufzend unterbrach ich das ungleiche Blickduell, zog Hemd und Hose aus und ließ mich auf die Bettkante sinken. Ich hatte heute keinen Elan mehr, um noch wegen irgendetwas Banalem zu diskutieren und sei es mit meinem Hund über seinen Schlafplatz. Vielleicht wäre auch ein wenig Kuscheln heute gar nicht mal so schlecht.

„Los, rutsch mal.“

Nachdrücklich schob ich sie ein Stück zur Seite und kroch unter die Decke.
 

*
 

Ein paar Tage später
 

Die Stimmlage, mit der der Pastor seine Trauerrede herunterleierte, war derart einschläfernd, dass ich mich bereits vor Minuten geistig verabschiedet hatte. Mein Blick schweifte abwesend umher, glitt mal über die Anwesenden, dann zur Straße, an der vereinzelt Autos parken und von wo einige Leute aus sicherer Entfernung die Zeremonie verfolgten, und schließlich immer wieder über die allzu vertraute Grasfläche, aus der aller paar Meter kleine Steintafeln mit teils unleserlichen Inschriften ragten. Überall hin, nur nicht zu dem kleinen, dunklen Loch, das zu Frau Sumidas letzter Ruhestätte werden sollte und die sie sich von nun an mit zig Anderen teilte. Es war nicht das erste Mal, dass ich vor den Sammelgräbern des städtischen Friedhofs stand. Und wie jedes Mal hatte ich das Gefühl, sofort wieder gehen zu müssen.

Das war doch scheiße… und viel zu endgültig!

Ich konnte nicht verhindern, dass sich mein Herz schmerzhaft zusammenzog und ein Seufzen sich den Weg nach außen bahnte.

Es waren wenige zur Beisetzung gekommen: Einige Anwohner, die ich nur flüchtig vom Sehen kannte, und eine handvoll Stammgäste des Cafés. Wir hatten uns kurz zur Begrüßung zugenickt, ansonsten hüllte sich jeder der Anwesenden in Schweigen. Was hatten uns auch zu sagen? Jeder lebte sein Leben für sich, ab und zu kreuzten sich die Wege, aber sonst hatte man nichts miteinander zu tun. Traurig eigentlich, besonders wenn man bedachte, dass es noch weniger werden würde – jetzt, wo Frau Sumidas Café für immer geschlossen blieb.

Ich unterdrückte ein erneutes Seufzen, während ich nur am Rande mitbekam, wie der Pastor salbungsvoll von Nächstenliebe und Güte sprach. Alles zwecklos und machte das Geschehene auch nicht rückgängig. Am liebsten hätte ich mich auf der Stelle umgedreht oder hätte mich zu Andou und Hara gesellt, die wenige Meter entfernt unter einem der Bäume standen und die Zeremonie aus der Position der Unbeteiligten beobachteten.
 

Einige Minuten später landete die erste Schaufel mit Erde in dem schmalen Loch und nun konnte ich nicht mehr wegschauen. Mit jeder weiteren Schaufel wurde mein Herz schwerer und hatte ich das Gefühl, dass sich Frau Sumida immer weiter von mir entfernte, obwohl sie schon längst gegangen war. Aber vielleicht half es, wenigstens etwas abschließen zu können.

Himmel, wie ich Beerdigung hasste!

Schließlich zeugte vom Grab nur noch ein frischer Erdhaufen, von dem in wenigen Monaten auch nicht mehr viel zu sehen sein würde, wenn sich erst das Gras seinen Platz zurückerobert hatte.

Ach, das war doch alles Mist!

Auch wenn Frau Sumida nicht mehr die Jüngste gewesen war, so ein Ende hatte sie nicht verdient.

Ich löste mich aus der Runde der Trauergäste, während der Pastor seine Abschlussworte sprach, und folgte langsam einer Reihe von Grabsteinen Richtung Straße. Mein Blick glitt über die vielen Inschriften. Neben den unzähligen Namen stand auf manchen Steinen wiederum nur „Unbekannt“ – dahinter Striche, als hätte jemand Freude daran gehabt, durchzuzählen, wie viele der Toten keinen mehr hatten, der sich an sie erinnerte. Beschissenes Gefühl.

Irgendwann blieb ich stehen, starrte auf den von Wetter gegerbten Stein vor meinen Füßen. Eine einsame, vertrocknete Rose lag davor. Die zwölf Namen waren gerade noch so zu entziffern, allerdings interessierte mich nur einer.

Schnaufend ließ ich mich in die Hocke sinken, wischte einige Blätter von der feuchten Oberfläche, ehe ich dagegen klopfte.

„Hey, Ren. Lange her, was?“

Zu lange, wenn man es genau nahm, denn seit der Beisetzung war ich höchstens zwei- oder dreimal hier gewesen. Gleichzeitig kam ich mir etwas albern vor, dass ich mit dem Grabstein sprach, als würde mir jemand antworten. Ich war nicht gläubig. Da sah keiner auf mich herab, beobachtete mich auf meinem Lebensweg, stand mir bei und richtete am Ende über mich. Nein, wer tot war, war fort, egal wie sehr man sich das Gegenteil wünschte. Und dennoch brauchte ich von Zeit zu Zeit das Gefühl, einen Teil meines Lebens mit jemanden, der mich von früher kannte, zu teilen.

„Wer ist das?“

Ich zuckte zusammen, als eine leise Stimme hinter mir erklang. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass Hara und Andou mir gefolgt waren. Mühsam schluckte ich den bitteren Geschmack in meinem Mund herunter, blickte noch einen Moment lang auf den Namen, ehe ich mich erhob.

„Ren. Masada Ren, mein alter Partner aus dem Polizeidienst.“

Angespanntes Schweigen antwortete mir, als ich mich zu meinen neuen, inoffiziellen Partnern herumdrehte. Sie wirkten überrascht, wenn nicht gar betroffen, und starrten still auf den Grabstein. Scheinbar war das eine Information, die sie noch nicht gekannt hatten.

„Er ist während einer Razzia bei einer Waffenschieberbande erschossen worden. Etwa ein halbes Jahr, bevor ich gekündigt habe.“

Ich begegnete kurz Haras Blick, Verstehen lag darin. Ja, es gab für alles einen Auslöser – oder gar mehrere.

„Tut mir leid.“

Zwar galten die Worte anscheinend mir, doch Andou sah mich nicht an, sondern seinen Partner, so als hätte er noch etwas anderes sagen wollen. Ich ahnte, was in ihm vor sich ging. Eines der schlimmsten Dinge, die einem im Dienst passieren konnte, war es seinen Partner zu verlieren, besonders wenn man ein so eingespieltes Team war wie die beiden. Blieb nur stets das Beste zu hoffen.

Ich trat auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Ist schon lange her. Aber Danke.“

Ein kurzes Lächeln huschte über Andous Gesicht, ließ ihn dabei jungenhafter erscheinen.

„Wie habt ihr so schön gesagt? Es bringt nichts, sich den Kopf über Sachen zu zerbrechen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind.“

Synchrones Nicken antwortete mir.

„Ja, ist trotzdem beschissen.“

„Bestreitet auch keiner.“

Erneut sah ich auf den Stein hinab, ehe ich mich endgültig abwandte und an den Beiden vorbei Richtung Ausgang steuerte.

„Lasst uns gehen, bevor es wieder anfängt zu regnen.“
 

*
 

Ein schaler Geschmack machte sich in meinem Mund breit, als ich auf das gelb-schwarz-gestreifte Absperrband starrte. Es nahm die Hälfte von Frau Sumidas Haustür ein und schien sich regelrecht auf meine Netzhaut brennen zu wollen.

Mühsam drängte ich die unerwünschten Erinnerungen, an das, was passiert war, als ich das letzte Mal durch diese Tür gegangen war, zurück. Es schien Ewigkeiten her zu sein, dabei waren es erst wenige Tage. Seither hatten die Cops anscheinend den gesamten, übrigen Hausstand auseinandergenommen und aus dem Fenster geschmissen. Es sah aus wie auf einer Müllhalde. Diverse Möbelstücke verteilten sich im Innenhof, lieblos weggeworfene Bücher weichten in den Pfützen vor sich hin, Geschirr lagen zerbrochen herum. Da fehlten mir glatt die Worte. Wie kamen sie dazu, so mit den Sachen Verstorbener umzugehen? Ich hatte nicht übel Lust, jedem, der an dieser Schweinerei beteiligt gewesen war, persönlich in die Fresse zu schlagen.

Ich wusste nicht, ob Frau Sumida Familie hatte, sie hatte nie etwas in die Richtung erwähnt. Und selbst wenn nicht, gab es den Bullen kein Recht dazu, so mit ihren Besitztümern umzugehen.

Ich spürte, wie es in mir brodelte, gleichzeitig versuchte ich mich zu beruhigen, denn es brachte nichts. Wir konnten froh sein, wenn wir drinnen überhaupt noch Hinweise fanden.

Frustriert schnaubend wandte ich mich von dem Chaos ab und sah zu Andou, der seit einigen Minuten vor der Haustür hockte und versuchte das Schloss aufzubekommen.

„So ein Scheiß! Wir hätten echt den Schlüssel anfordern sollen“, hörte ich ihn leise fluchen, während Hara unbeteiligt daneben stand und den Blick über die angrenzenden Häuser des Innenhofs wandern ließ. Das Schloss war nach Beendigung der Ermittlungsarbeiten von den Cops ausgetauscht worden, um Unbefugten den Zutritt zu verweigern – was auch herausragend funktionierte, wenn man Andous Gemotze Glauben schenkte. Vielleicht hätten Hara und Andou sogar einen Antrag für eine weitere Durchsuchung des Tatorts gestellt, wenn wir nicht von vornherein gewusst hätten, dass Chief Takayama ihn nicht mal mit dem Arsch anschauen würde. Einfach aus Prinzip.
 

„Wir werden beobachtet“, murmelte Hara und nickte dabei in die entsprechende Richtung. Ich folgte seinem Blick und sah gerade noch, wie sich die Gardinen in einem der Fenster ruckartig bewegten, als wäre jemand in diesem Moment davon zurückgetreten. Das fehlte uns noch, dass einer der neugierigen Nachbarn sich plötzlich auf seine Bürgerpflicht besann und die Bullen rief, obwohl es sie Tage zuvor auch nicht interessiert hatte, wer hier ein und aus ging.

„Vielleicht solltest du klingeln und ihnen deinen Ausweis unter die Nase halten, zur allgemeinen Beruhigung.“

Eigentlich war das eher ein schlechter Scherz gewesen, doch Hara sah mich einen Moment lang schweigend an, als würde er ernsthaft darüber nachdenken. Schließlich stieß er sich sogar von der Hauswand ab und griff schulterzuckend und mit einem Schmunzeln auf den Lippen in seine Jackentasche.

„Gute Idee, sollte ich wirklich tun. Nicht, dass wir demnächst hier unerwünschten Besuch erhalten.“

Bevor ich reagieren und ihn aufhalten konnte, ging er mit gezückter Marke an mir vorbei und auf den gegenüberliegenden Eingang zu.

„Lass dir Zeit, es kann noch etwas dauern“, rief ihm sein Kollege hinterher, ohne seine verzweifelten Versuche, das Schloss zu knacken, zu unterbrechen.

„Ach, und Toshiya, vergiss dein charmantestes Lächeln nicht. Damit wickelst du die alten Ladies doch immer um den Finger.“

Die Antwort folgte als erhobener Mittelfinger, ehe Hara im Hauseingang verschwand und mich verdutzt zurückließ. So wortwörtlich hatte ich das nicht gemeint, aber vielleicht verschaffte uns das wirklich Zeit bei unserem illegalen Vorhaben. An die unkonventionelle Art der Beiden musste ich mich noch gewöhnen und definitiv aufpassen, was ich sagte. Die handelten schneller, als ich denken konnte. Dass wir das Schloss aufbrechen sollten, hatte ich auch nur im Nebensatz fallen lassen, während ich überlegt hatte, ob wir nicht durch eins der Kellerfenster klettern könnten. Nun gut.
 

Wenige Minuten später war Hara nach erfolgreicher Mission zurück und das Schloss endlich offen. Derjenige, der am meisten darüber überrascht zu sein schien, war Andou selbst.

„Nochmal mach ich so nen Scheiß nicht. Da klau ich lieber persönlich den Schlüssel aus dem Chefbüro“, meckerte er vor sich hin, während wir das dunkle Treppenhaus betraten. „Ich bin einfach nicht fürs Schlösser knacken gemacht. Hatte immer andere berufliche Ziele. Und überhaupt -“

„Wenn wir eh schon vom rechten Wege ankommen, könntest du ruhig mehr üben, Dai“, unterbrach Hara seinen Monolog. „Wer weiß, wann wir deine nicht vorhandenen Fähigkeiten das nächste Mal brauchen.“

„Ey, mach's doch selbst besser. Oder, ach nein. Nicht, dass die gefeilten Nägel drunter leiden.“

„Sagt der, der letztens rumgeheult hat, weil ihm ein Nagel eingerissen ist.“

So ging es in gedämpfter Lautstärke im Treppenhaus weiter. Ich sparte mir meinen Kommentar. Keine Ahnung, ob die beiden untereinander immer so waren, ob sie gerade einen besonders guten Tag hatten oder ob sie einfach versuchten, mich zu unterhalten. War auch egal, denn es gelang ihnen, mir ein amüsiertes Grinsen aufs Gesicht zu zaubern. Ich kam mir beinahe wie der Dienstälteste vor, der auf die Neulinge aufpasste und dabei stand weder ich im Dienst, noch hatten die Beiden frisch angefangen. Wenn das unser erster, gemeinsamer Einsatz war, konnte das heiter weitergehen. Aber es war nichts, worüber ich mich beschweren würde, denn sie besserten gerade sehr meine Laune und machten den Anblick von Frau Sumidas zerstörter Wohnung etwas erträglicher.

Es herrschte noch mehr Chaos darin als auf dem Innenhof, aber nichts anderes hatte ich erwartet. Was die Mörder nicht von den Wänden gerissen hatten, war den absolut unfähigen Händen der Ermittler zum Opfer gefallen.

Seufzend trat ich über einen zerschellten Bildrahmen im Eingang zur Wohnung hinweg und sah mich um. Es wirkte nicht so, als hätte sich überhaupt jemand die Mühe gemacht, ernsthaft Beweise zu sichern. Zwar hatte man den Umriss von Frau Sumidas Körper nachgezeichnet, bevor er abtransportiert worden war, aber das war's auch schon. Es tat beinahe weh, sich hier umsehen zu müssen.

Ob die ganze Aktion heute überhaupt etwas brachte?

„Ich bezweifle ja arg, dass wir noch was finden werden, das uns weiterhilft“, sprach Hara laut aus, was ich dachte, während er an mir vorbei Richtung Küche ging. Dort sah es nicht besser aus.

„Aber vielleicht entdecken wir irgendetwas. Wobei ich nicht einmal weiß, wonach wir suchen sollen“, gab ich zu. Ich hatte keinen Plan, keine Idee, nur die leise Hoffnung, wenigstens irgendwie voranzukommen und nicht alles den offiziellen Ermittlern zu überlassen – die sowieso keinen Finger für eine alte Frau aus einem der abgeschriebenen Stadtviertel rühren würden.

„Schauen wir uns wenigstens um.“
 

*
 

Eine halbe Stunde später waren wir keinen Schritt weitergekommen, jedenfalls was mögliche Hinweise anging. Wir hatten einige Unterlagen gefunden, die aber auf dem ersten Blick nicht sonderlich hilfreich waren, und einen Großteil der Fotos, die sonst an der Wand gehangen hatten, durchgesehen. Doch auch dort gab es nichts zu entdecken, allerdings wussten wir ja auch nicht, wonach wir Ausschau hielten. Und die Zeit rannte uns weg. Ich hatte wenig Lust, dass vielleicht doch noch einer von Andous und Haras liebsten Kollegen hier aufkreuzte. Das ganze Unterfangen entsprach der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen.

Frustriert schob ich die Bilder auf dem Tisch zu einem Haufen zusammen. Ich würde sie mitnehmen, um sie später noch einmal in Ruhe durchzusehen. Außerdem waren sie bei mir allemal besser aufgehoben als hier. Denn spätestens, wenn die Wohnung geräumt wurde, kam alles auf den Müll und wenigstens eine kleine Erinnerung an Frau Sumida wollte ich behalten.

„Ich glaube, wir sollten langsam aufbrechen. Vermutlich wurde das einzig Wichtige bereits mitgenommen.“

Andou stand im Durchgang zum Flur und wirkte ähnlich desillusioniert wie ich.

„Hm, möglich. Dann hatten eure Kollegen wohl mehr Erfolg als die Schweine, die Frau Sumida auf dem Gewissen haben. Denn die sind mit leeren Händen gegangen, soweit ich mitbekommen hatte.“

Ich legte die Fotos in einer kleinen Kiste ab, wo sich schon einige andere Dokumente drin befanden, und warf einen letzten Blick in die Runde.

Einfach Scheiße! Etwas anderes blieb nicht zu sagen.

Ich konnte die Gefühlsmischung, die in mir brodelte, nicht beschreiben. Ernüchterung, Wut, Frustration? Irgendwas davon oder auch alles zusammen. Wenn das alles war, was man am Ende des Lebens hinterließ, war das einfach nur traurig. Nichts blieb. Und nicht mal –
 

Ein Scheppern riss mich aus den Gedanken und ließ mich erschrocken zusammenfahren.

Was –?

„Das kam von unten.“

Hara war aus der Küche zu mir getreten, während Andou bereits die Wohnungstür erreicht hatte. Was, wenn einer der Nachbarn kam? Oder die Täter, um weiterzusuchen? Oder noch schlimmer: die Bullen? Mir wollte so spontan keine Ausrede, warum wir hier waren.

Doch meine Überlegungen verebbten, als ich Andou am oberen Treppenabsatz entdeckte und der mich mit hochgezogener Augenbraue ansah.

„Was ist los?“

„Ähm, sag mal, gehört die hierher?“

Verständnislos folgte ich seinem Fingerzeig und hielt mitten im Schritt inne.

Ein kleiner, dunkler Schatten saß auf dem unteren Treppenabsatz und starrte mit leuchtenden Augen zu uns nach oben.

„Mila!“

Ich bildete mir fast ein, dass mich Frau Sumidas Katze vorwurfsvoll ansah, während sie sich in Bewegung setzte und mit erhobenen Haupt die Stufen empor spazierte.

Shit!

An sie hatte ich gar nicht mehr gedacht, über die ganze Aufregung hinweg völlig vergessen. Mein schlechtes Gewissen schlug augenblicklich zu. War sie dünner geworden? Hoffentlich hatte sie sich bei den Nachbarn durchgefressen oder genügend Mäuse gefangen.

Vorsichtig ließ ich mich in die Hocke sinken und streckte die Hand nach ihr aus.

Mist…

Warum hatte ich nicht mehr an den kleinen Stubentiger gedacht? Was sollte aus ihr werden – jetzt, wo ihr Frauchen nicht mehr da war? Im Zweifelsfall würde ich sie mit zu mir nehmen und sie und Rina vorerst in getrennten Räumen unterbringen. Aber auf der Straße sollte sie nicht bleiben. Wer wusste schon, in welches Tierheim man sie steckte, sollte sie eingefangen werden.

Während ich mit mir selbst gedanklich diskutierte und versuchte mein schlechtes Gewissen der kleinen Katze gegenüber, etwas zu besänftigen, nahm mir diese die Entscheidung ab und lief, meine Hand vollkommen ignorierend, an mir vorbei, um sich laut schnurrend an Andous Beine zu pressen.

„Ich glaube, die ist sauer auf dich.“

Das Grinsen in Haras Worten war nicht zu überhören, während ich verblüfft Milas Tun verfolgte, die mir hier gerade eindeutig die kalte Schulter zeigte.

„Viel eher beleidigt, weil ich sie vergessen habe.“

Schnaubend erhob ich mich und starrte auf den Stubentiger, der sich geradezu theatralisch an Andous Hosenbein rieb. Hätte Mila gekonnt, hätte sie mir sicher die Zunge rausgestreckt. Sowas Launenhaftes und das, obwohl ich in den letzten Jahren immer nett zu ihr gewesen war. Ich wusste, warum ich Hunde bevorzugte.

„Wem gehört die? Der alten Frau?“

„Ja.“

Ich fuhr mir mit den Fingern durch die Haare, beobachtete das Schauspiel noch einige Sekunden lang, ehe ich mich abwandte und an Hara vorbei zurück in die Wohnung ging.

„Ich könnte mir gerade in den Arsch beißen, dass ich sie vergessen habe.“

In der Küche angekommen, fing ich an, in dem ganzen Durcheinander nach Katzenfutter Ausschau zu halten. Irgendwo hier musste doch noch etwas sein.

„Na ja, aber wie du siehst, lebt sie ja noch.“

Hara war mir gefolgt, stand in den Türrahmen gelehnt und beobachtete schmunzelnd meine Suche.

„Was willst du jetzt mit ihr machen?“

Ha! Da!

In den Tiefen eines Küchenschranks fand sich ein kleiner Beutel Trockenfutter. War anscheinend nicht interessant genug für die Bullen gewesen, um es rauszuholen und auf dem Boden zu verstreuen.

„Ich würde sie ja mit zu mir nehmen, aber wie du richtig festgestellt hast, kann sie mich anscheinend gerade nicht mehr leiden.“

Schwungvoll drehte ich mich zu Hara um und hielt ihm triumphierend den Beutel entgegen.

„Aber jedes Tier lässt sich mit Futter bestechen.“

Hara sah mich an, als würde er sagen wollen: ‚Na, wenn du meinst…‘

Gerade wollte ich mich an ihm vorbeischieben – denn er machte keine Anstalten auch nur einen Zentimeter zur Seite zu treten – da kam Andou in die Wohnung zurück. Mit Mila auf dem Arm.

„Oder ich nehme sie.“

Ich war mir sicher, dass Hara und ich ähnlich überrascht aussahen, denn er fing an zu grinsen, als sein Blick von dem Fellknäuel zu uns wanderte.

„Ich wollte schon lange wieder eine Katze haben. Und hey, ich weiß, wie man mit ihnen umgeht, Niikura-San. Schließlich hatte ich als Kind eine. Also schau mich nicht so an.“

Anscheinend war mein Blick misstrauischer gewesen, als ich beabsichtigt hatte. Schön und gut, aber es war Mila, Frau Sumidas Katze und ich –

Eine Hand legte sich auf meine rechte Schulter und drückte leicht zu.

„Dai macht das schon. Und wenn die Mieze demnächst keinen Bock mehr auf ihn hat, kannst du sie ja immer noch zu dir holen.“

In Haras Gesicht machte sich dasselbe wissende Lächeln breit wie in dem seines Partners. Mit einem Mal fühlte sich der Futterbeutel in meiner Hand unnatürlich schwer an. Prinzipiell sprach nichts dagegen, dass Andou sie bei sich aufnahm. Dann müsste ich Rina nicht erst für eine neue Mitbewohnerin begeistern. Aber –

Ach, was soll's…

Seufzend gab ich mich geschlagen. Würde schon gut gehen. Und eigentlich machte es das Ganze doch leichter, wie ich mir eingestehen musste.

Ich zwang mir ein kleines Lächeln auf die Lippen, als ich auf Andou zu trat und ihm ungelenk den Futterbeutel unter die andere Armbeuge klemmte.

„Na gut. Hier hast du schon mal etwas Startkapital für deine Adoption.“

Hara lachte leise, während Andou protestierend versuchte den Beutel vor dem Absturz zu bewahren. Mit einem erleichterten Gefühl in der Brust nahm ich die Kiste mit den Fotos und den Unterlagen, die wir noch genauer durchsehen wollten, vom Tisch.

Dabei fiel mein Blick auf einen schmalen Zettelblock. Stirnrunzelnd starrte ich darauf. Irgendwoher kannte ich das Muster, aber ich konnte es nicht zuordnen. Also packte ich ihn erstmal mit zu den anderen Zetteln. Darüber nachdenken konnte ich auch später noch.

„Kommt, lasst uns gehen.“



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