Zum Inhalt der Seite

Gleipnir

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Kapitel 1: Verfolgst du mich etwa?


 

»Mit Gehirnerschütterungen ist nicht zu spaßen.« Sakaki musterte mich durch kaum geöffnete Augen, auf seinen Lippen immer noch dieses Dauerlächeln, das nur in Notzeiten verschwand.

Ich stand in seinem Büro, vor dem großen Schreibtisch, der einmal Johannes von Schicksal als Arbeitsplatz gedient hatte. Manchmal wirkte Sakaki dahinter noch immer verloren, fast als gehöre er da nicht hin, doch bislang konnte sich keiner von uns über ihn als Direktor beschweren. Er achtete auf unsere Gesundheit – und bislang sah es nicht danach aus, als arbeite er intensiv daran, uns alle für irgendetwas zu opfern.

»Und die Infektion«, führte er weiter aus, »sah auch schlimm aus. Auf zukünftigen Missionen musst du wirklich mehr Vorsicht walten lassen. Auch die Erholungspillen können nicht alles auffangen. Und kein God Eater ist unkaputtbar.«

»Ich weiß«, sagte ich, bemühte mich dabei, nicht zu seufzen, obwohl ich diese Predigt in den letzten Wochen bereits oft genug gehört hatte.

Schließlich hatte ich die Nachwirkungen von allem erlebt, die Übelkeit, die Schwindelanfälle und auch die eigenartigen Träume. Dass alles erst aufgetreten war, nachdem ich nach der Rückkehr von der Mission aus dem Schlaf erwacht war, konnte ich nur als Glück bezeichnen. Wahrscheinlich hatte Soma recht und ich besaß davon mehr als Verstand.

»Ich bin jedenfalls froh, dass du dich so gut erholt hast«, fuhr Sakaki fort. »Du darfst die Basis damit wieder verlassen – aber diese Woche wird es noch keine Missionen für dich geben.«

Im Grunde passte das gut in meine Pläne, doch ich war noch unwillig: »Ist das auch kein Problem für meine Einheit? Ich könnte mich nicht ausruhen, wenn ich wüsste, dass sie mich brauchen.«

Sakaki wischte den Einwand direkt beiseite: »Mach dir darum keine Sorgen. Aktuell sind keine Deusphage aktiv, und die kleinen Aragami sind keine Herausforderung.«

Genau wie Alisa und Kota mir berichtet hatten. Mir war dennoch wichtig gewesen, es auch von Sakaki zu hören. Schließlich war es denkbar, dass die beiden logen, um mich zu beruhigen. Dasselbe galt aber nicht für den Direktor.

»Gut, dann nutze ich die Gelegenheit eben zum Training«, sagte ich. »Natürlich vorsichtig.«

Er nickte. »Sehr gut. Ach ja, falls du dich fragst, wie wir mit der Analyse des Kerns vorankommen, dessen eigensinnige Beschaffung dich fast getötet hätte …«

Diesmal hielt ich mich nicht zurück und seufzte schwer. »Ich habe verstanden, das war echt dumm. Es kommt bestimmt nie wieder vor.«

Sakakis Lächeln schien für einen kurzen Augenblick einen geradezu sadistischen Hauch zu bekommen. Doch ehe ich meinen Unmut darüber verkünden konnte, war er wieder der Alte und fuhr fort: »Die Analyse läuft hervorragend. Es ist ein wirklich interessanter Kern, allerdings bin ich mir noch nicht sicher, ob wir ihn künstlich nachahmen können.«

Dann wäre meine dumme Tat auch noch umsonst gewesen. Super.

»Aber zumindest Verbesserungen für das ein oder andere God Arc könnten möglich sein.«

Ich glaubte, dass er mir zuzwinkerte, aber das war bei ihm nicht sonderlich einfach zu sagen.

Bei Gelegenheit würde ich mit Licca über diese Verbesserungen sprechen, aber eine zu große Änderung würde ich nur ungern mitmachen. Meine Wandlungssense war eine Erinnerung an Shio, die wollte ich nicht einfach aufgeben.

»Verstanden.«

»Ich frage mich ja, was ein Aragami dazu geführt hat, sich so zu entwickeln, dass es andere abstößt.« Sakaki neigte den Kopf zur Seite. Der Wissenschaftler in seinem Inneren musste gerade vor Freude über dieses Mysterium durchdrehen. »Soma hat den Verdacht geäußert, dass es eine fehlerhafte Evolution war, eine sogenannte Sackgasse der Evolution.«

An Soma wollte ich gerade eigentlich nicht denken. Es erinnerte mich nicht nur an meine seltsamen Träume, sondern auch an dessen Vorhaltungen und mein schlechtes Gewissen. Wenigstens konnte ich mich damit trösten, dass er mit der Forschung beschäftigt gewesen war.

»Ich kenne mich nicht sonderlich mit der Wissenschaft aus«, erwiderte ich. »Also …«

Sakaki sah mich an, einen Moment ratlos, als wüsste er gar nicht, warum ich noch da war. Doch plötzlich schien es ihm wieder einzufallen. »Oh ja. Dann entlasse ich dich hiermit in deine Freizeit. Und denk daran, dich ein wenig zu schonen.«

Ich salutierte, ehe ich das Büro verließ. Natürlich wartete niemand auf mich, ich war darauf bedacht gewesen, nicht zu erwähnen, wann ich die Krankenstation verlassen dürfte. Niemand sollte mich aufhalten, wenn ich endlich die Basis verlassen konnte.

Mit dem Aufzug fuhr ich in den Eingangsbereich. Dort standen ein paar God Eater – spontan erkannte ich Kota und auch Kanon – auf der unteren Ebene direkt vor dem großen Bildschirm, der gerade eine Nachrichtensendung übertrug. Damit niemand mich sehen könnte, huschte ich rasch zum anderen Aufzug, der nach draußen führte. Seufzend stellte ich fest, dass er gerade auf einer anderen Etage war, und ich warten müsste.

»... wurde ein weiterer Fenrir-Transporter als vermisst gemeldet«, sagte die Nachrichtensprecherin. »Damit ist dies in diesem Monat bereits der dritte Transporter, der zwischen der Fenrir-Produktionsstätte und der Fernost-Abteilung verschwunden ist. Ein Sprecher erklärte, die Einwirkung von Aragami könne nicht ausgeschlossen werden, doch das Fehlen jeglicher Spuren weise nicht aktiv darauf hin. Die Namen der betroffenen Fahrer wollte Fenrir nicht preisgeben. Wir werden Sie auf dem Laufenden halten.«

Ich rollte mit den Augen. Was, außer einem Aragami, könnte denn einen kompletten Transporter – den dritten sogar schon – verschwinden lassen? Vielleicht war es eine Art, die wir bislang noch nicht kannten und die Löcher im Untergrund schuf – möglicherweise sogar La Llorona. Wir würden es wohl nur erfahren, wenn man uns irgendwann einmal zur Untersuchung hinschickte.

Die Fahrstuhltüren öffneten sich endlich, noch bevor jemand auf mich aufmerksam wurde, aber die Person in der Kabine, die mich mit einem Grinsen begrüßte, ließ meine Laune sinken.

»Na, sieh mal einer an, wer wieder-«

Ich unterbrach ihn rasch, indem ich ihn zurückdrängte, ebenfalls einstieg und den Knopf für eine der unteren Etage drückte. Erst als die Türen sich wieder schlossen, atmete ich auf.

»Versuchst du, inkognito zu bleiben?« Lindow neigte den Kopf ein wenig. »Die anderen freuen sich bestimmt, wenn der Captain wieder fit ist.«

»So richtig fit bin ich noch nicht. Sakaki lässt mich nur die Krankenstation verlassen, und ich habe etwas vor, bevor ich mit allen anderen reden will.«

Nachdem ich das gesagt hatte, bemerkte ich, dass noch eine Person im Aufzug stand. Sie schwieg schmunzelnd, weswegen sie mir nicht aufgefallen war. Aber nun ging ich lächelnd zu ihr hinüber. »Hey, Sakuya~. Wart ihr gerade auf Mission?«

»Ja, aber es war nicht weiter erwähnenswert. Wir waren sogar nur zu zweit unterwegs.«

»Ein echtes Kinderspiel«, bestätigte Lindow und klopfte sich mit der rechten Hand gegen die Brust.

Für einen kurzen Moment musste ich diesen Aragami-Arm wieder anstarren. Manchmal fiel es mir immer noch schwer zu glauben, dass es mir gelungen war, ihn davon abzuhalten, zu einem vollständigen Aragami zu werden – und dass weder ihn noch Sakuya dieser Arm störte.

Die Tür öffnete sich wieder in einer der unteren Etagen durch die ich in die Stadt kommen könnte. Es sah ein wenig aus wie eine Bahnhofshalle, mit Bänken, die für Wartende gemacht worden waren, allerdings dienten sie eher dem Komfort der Zivilisten als dem der God Eater.

Ich trat hinaus, um die beiden nicht aufzuhalten, doch Lindow lehnte sich zwischen die Türen, so dass sie sich nicht mehr schließen konnten. »Hey, warum hat Soma uns eigentlich nicht gesagt, dass du heute wieder Freilauf bekommst?«

»Weil er es nicht weiß«, antwortete ich. »Ich hab es selbst erst vorhin erfahren.«

Lindow schielte kurz über meine Schulter, dann sah er mich wieder direkt an. »Ist das so? Na dann kümmer dich mal um deinen Kram, Captain. Aber heute Abend wird erst mal gefeiert, dass du deinen letzten Einsatz überlebt hast. Keine Ausreden!«

Ich setzte zum Widerspruch an, doch Sakuya schnitt mir das Wort ab: »Ich koche auch extra was, also lass uns ja nicht hängen.«

Bei so viel Einsatz konnte ich schlecht nein sagen, deswegen stimmte ich dem zu. Erst dann beugte sich Lindow zufrieden zurück. »Also bis später, Captain

Er grinste, während Sakuya mir zuwinkte. Die Türen schlossen sich endlich, so dass ich allein war. Wenigstens hatten sie nicht wissen wollen, wo ich hinging.

Ich fuhr herum und durchschritt die Halle, in der sich gerade nur einige Zivilisten aufhielten. Unter anderem entdeckte ich Erina, die kleine Schwester von Eric, der bei einem meiner ersten Einsätze vor meinen Augen von einem Ogerschweif gefressen worden war. Im Moment unterhielt sie sich mit einigen anderen Kindern, von denen manche einfach nur kamen, weil sie God Eater so cool fanden. Mit mächtigen Waffen gegen Aragami zu kämpfen musste für manche von ihnen wie das Wirken eines Superhelden scheinen – aber mir wäre es lieber, sie suchten sich andere Vorbilder. Da ich selbst God Eater war, mochte das eine Doppelmoral widerspiegeln, aber meiner Meinung nach zeigte das nur deutlich, dass ich genau wusste, wovon ich sprach, und dass es kein Job war, den man verherrlichen sollte.

Draußen stand direkt ein Bus an der Station bereit, da es sich um eine Endhaltestelle handelte; er brachte Menschen aus der Stadt in unsere Abteilung und auch wieder zurück. Deswegen fuhren sie häufig genug, um eine komfortable Reisemöglichkeit zu sein. Im Moment saßen auch schon ein paar Personen darin, die in verschiedenen Abteilungen arbeiteten, bei denen nicht erforderlich war, dass sie rund um die Uhr für die Firma verfügbar waren.

Ich ließ mich auf einen der hinteren Sitze sinken und schloss die Augen. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn ich mich vorher bei meinem Zielort gemeldet hätte, aber es erschien mir angemessen, alles von Angesicht zu Angesicht zu erklären. Außerdem erinnerte man sich vielleicht besser an mich, wenn ich persönlich vorbeikam.

Der Bus setzte sich rumpelnd in Bewegung. Aufgrund der Aragami-Angriffe, die es notwendig machten, den Wall zu warten und gegebenenfalls schnell zu reparieren, nahm man sich keine Zeit, hier Straßen zu erbauen. Deswegen fuhren Busse oder Autos auf dem Erdboden, was den Federungen über kurz oder lang arg zusetzte und man gut durchgeschüttelt wurde. Für manche hatte das auch eine einschläfernde Wirkung, mich erinnerte es lediglich an die Schwindelanfälle meiner Gehirnerschütterung, deswegen zog ich es vor, die Augen geschlossen zu halten.

Mir kam der Gedanke, dass ich Soma eine Nachricht hätte hinterlassen können, damit er sich keine Sorgen machte. Am Ende würde er noch glauben, Sakaki habe mich bereits wieder auf Mission geschickt – und ich dürfte mir dann die nächste Standpauke anhören.

»Wann wolltest du mir sagen, dass du aus der Krankenstation raus bist?«

Da, ich hörte schon seine vorwurfsvolle Stimme in meinem Kopf. Jedenfalls glaubte ich das, bis jemand mir einen leichten Stoß gegen die Schulter versetzte. Ich öffnete die Augen – und sah direkt in Somas ernstes Gesicht. Seine gerunzelte Stirn verriet mir, dass ich Ärger erwarten durfte. Dennoch übersprang mein Herz einige Schläge.

»Oh … ähm, ich hätte es dir gesagt, wenn ich wieder zurück bin.«

Er hob eine Augenbraue. Es war offensichtlich, dass er mir nicht glaubte. Ich gab ihm keine Gelegenheit, sich eine weitere Frage auszudenken, weil ich ihm zuvorkam: »Verfolgst du mich etwa?«

Er schnaubte. »Natürlich nicht! Es war reiner Zufall, dass ich dich gesehen habe.«

Ich erinnerte mich an Lindows Blick über meine Schulter, sicher hatte er Soma da bereits entdeckt – und mir nichts gesagt! Verdammter Lindow.

»Und dann musste ich sichergehen, dass du nicht direkt in den Tod rennst.«

Deswegen war er hier. Einerseits empfand ich das als nette Geste, aber andererseits ärgerte es mich auch ein wenig. »Ich habe so viele Missionen erfolgreich bestritten, dann in einer Mist gebaut, und die ist plötzlich die einzige, die du als Maßstab nimmst, um mich zu bewerten?«

»Eric hat auch nur in einer Mission versagt«, erwiderte er tonlos, er ballte eine auf den Knien ruhende Hand zur Faust. »Eine Mission reicht vollkommen, um zu sterben.«

Bedrückt senkte ich den Blick. An ihn hatte ich auch schon gedacht, deswegen tat es mir direkt wieder leid, mich überhaupt beklagt zu haben. Ich entschuldigte mich bei ihm. Er sagte dazu nichts mehr und stellte mir eine andere Frage: »Zurück von wo eigentlich?«

Jeden anderen hätte ich problemlos anlügen oder darauf hinweisen können, dass es ihn nichts anging, aber bei Soma nicht. Bei ihm wollte ich möglichst ehrlich sein, nach allem, was er in der Vergangenheit durchgemacht hatte, deswegen antwortete ich ihm: »Ich besuche eine Klinik in der Stadt. Dort bin ich aufgewacht, bevor ich God Eater wurde.«

In seinen blauen Augen flackerte Verwirrung. »Wenn du dich weiterhin nicht gut fühlst, warum lässt du dich dann nicht in der Basis untersuchen? Da sind sicher bessere Ärzte.«

Das stimmte durchaus. Gute Ärzte waren stets in Fenrir zu finden. Aber das war nicht der Grund meines Besuchs, wie ich ihm gleich erklärte. »Ich habe seit Beginn meiner Arbeit nicht darüber gesprochen, aber eigentlich erinnere ich mich nicht an mein Leben bevor ich God Eater wurde.«

Somas Augen weiteten sich. »Warum hast du das nie jemandem erzählt?«

»Weil es unwichtig war. Für mich jedenfalls. Und ich habe nie etwas vermisst. Für mich war nur das Leben bei Fenrir wichtig.«

Und er, aber das sagte ich lieber nicht laut. So wie ich ihn kannte, würde er das als dumme Idee abtun oder sogar als Scherz sehen. Dabei hatte ich ihm bereits gesagt, dass ich seine Augen für wunderschön hielt (sogar die schönsten der Welt) – das war mein Ernst gewesen, aber er hatte das als wirres Gerede im Delirium eingestuft, wie er mir im Anschluss berichtete.

»Was hat sich jetzt geändert?«, fragte Soma. »Du gehst doch bestimmt nicht nur deswegen hin, um dort in Erinnerungen zu schwelgen, oder?«

In möglichst wenig Worten erzählte ich ihm von den eigenartigen Träumen, die ich seit meinem Sturz in das Loch und dem Fieber hatte. »Ich glaube, das sind Erinnerungen an früher, und ich hoffe, in der Klinik gibt es irgendwelche Hinweise. Vielleicht trug ich irgendetwas bei mir, dem man damals keine Bedeutung beigemessen hat, oder man kann mir sagen, wo genau ich gefunden wurde – und vielleicht gibt es dort dann Hinweise.«

Soma verschränkte die Arme vor der Brust. »Warum ist es jetzt wichtig?«

Es wirkte ein wenig als schmolle er – das war fast schon niedlich. Am liebsten hätte ich ihn dafür umarmt, aber er hasste solche Gefühlsbekundungen. Darum überging ich das. »Kennst du dieses Gefühl, wenn du glaubst, etwas ganz Wichtiges vergessen zu haben? So geht es mir dabei. Ich möchte einfach nur herausfinden, worum es sich handelt.«

»Verstehe.«

Dennoch wirkte Soma weiterhin verstimmt, als hätte ich irgendetwas gesagt, um ihn zu verletzen. Vorsichtig stieß ich mit meiner Schulter gegen seine und blieb derart angeschmiegt sitzen, er wehrte sich auch nicht dagegen, das war das höchste Maß an Körperkontakt, das er zuließ.

»Es ist okay, wenn dir der Gedanke nicht gefällt. Das tut mir auch leid. Aber ich tue es wirklich nur um sicherzugehen.«

»Das hat nichts mit mir zu tun«, erwiderte er schroff. »Tu, was du nicht lassen kannst – aber ich werde dir folgen, damit du nicht doch noch von etwas gefressen wirst.«

»Mitten in der Stadt?«

Er warf mir einen Seitenblick zu, den ich nur aus den Augenwinkeln wahrnahm. »Dir würde ich zutrauen, sogar in der Basis selbst gefressen zu werden.«

Ich lächelte. Auch wenn er es nie zugeben würde, aber das war eben seine Art, zu zeigen, dass er sich um mich sorgte. Ich mochte das irgendwie, denn so kannte ich ihn – aber manchmal wäre es vielleicht doch ganz schön, es von ihm direkt zu hören.

Ein kurzer Blick nach draußen zeigte mir, dass wir bereits in der Nähe der Klinik waren. Als der Bus hielt, stand ich wortlos auf, Soma folgte mir.

Die Fernost-Abteilung war der Mittelpunkt einer großen Siedlung, die von einem Anti-Aragami-Wall geschützt war. Aufgrund der Umstände war keines der Häuser ein Neubau, sondern lediglich die reparierte Form eines Gebäudes, das zuvor in Mitleidenschaft gezogen worden war; manchmal musste es reines Glück gewesen sein, dass es den Angriff überstanden hatte, denn manchmal entdeckte man dazwischen ausgebrannte Ruinen. Immerhin war es aber besser als die aus Schrott zusammengebastelten Häuser, die im äußeren Ghetto für die arme Bevölkerung üblich waren.

Die Klinik befand sich in einem Gebäude, das früher einmal demselben Zweck gedient haben musste. Im Gegensatz zu den Häusern in der Umgebung sah dieses hier sogar noch ziemlich gut aus, lediglich etwas Putz war abgeblättert, und einige Ziegel waren ersetzt worden, so dass sie nun wie dunkle Flecken zwischen den üblichen roten herausstachen.

An der Tür blieb ich noch einmal stehen und wandte mich Soma zu. »Du kommst auch mit rein, oder?«

Ich traute ihm zu, draußen warten zu wollen, wenn er glaubte, ich benötigte Privatsphäre. Doch zu meiner Überraschung runzelte er wieder die Stirn. »Natürlich. Ich sagte doch, ich folge dir.«

Dachte er wirklich, in einer gesicherten Umgebung würde sich auf einmal ein Aragami auf mich stürzen? Erst in diesem Moment fiel mir auf, dass er nicht einmal seinen God Arc mit sich führte. Aber ich bezweifelte, dass es hilfreich wäre, ihn darauf hinzuweisen. Also nickte ich nur und betrat die Klinik. Schon der Geruch der Rezeption erinnerte mich wieder an die Zeit, als ich das erste Mal aufgewacht war, verwirrt und allein, mit einem eigenartigen roten Zeichen auf meinem Arm, das mich als kompatibel für God Arcs auszeichnete.

Hinter der weißen Theke stand eine junge Frau, die mich freundlich anlächelte. »Hallo. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Bevor ich zu einer Antwort ansetzen konnte, hörte ich bereits eine weitere Stimme hinter mir: »Frea, Liebes! Was führt dich denn wieder hierher?«

Ich wandte mich der anderen Person zu und lächelte unwillkürlich. Es war eine ältere Frau, deren graues Haar wie üblich zu einem Knoten hochfrisiert worden war. Ihr Lächeln ließ selbst ihre dunklen Augen aufleuchten. »Wie schön, dass du uns besuchen kommst. Wir haben schon gehört, dass du ein sehr erfolgreicher God Eater geworden bist und dachten, du hättest deswegen keine Zeit mehr für uns.«

Die Frau hinter der Theke sah aufgeregt zwischen uns hin und her. Offenbar hatte man tatsächlich über mich geredet. Ob es andere God Eater gab, die von hier aus gestartet waren?

»Hallo, Kaori«, sagte ich. »Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, bis ich mal wieder vorbeikam. Ich war ziemlich beschäftigt.«

Kaori winkte rasch ab. »Ach, Liebes, mach dir da keine Gedanken, wir verstehen das. Hättest du Lust auf eine Tasse Tee? Möchte dein Freund vielleicht auch eine?«

Ich sah zu Soma, der mit den Schultern zuckte. Also blieb mir die Antwort überlassen: »Sicher, wir hätten gerne beide etwas Tee.«

Kaori führte uns in ein kleines gemütliches Büro, in dem sogar ein kleines Sofa stand, auf dem wir Platz nahmen. Aus einer Schublade förderte sie eine Packung mit Crackern aus der Rationszuteilung zutage, die sie für uns auf den Tisch legte. Ich knabberte an einem, um zu zeigen, dass ich die Mühe zu schätzen wusste. Während sie den Wasserkocher aufsetzte, stellte ich Soma vor, erklärte, weswegen er hier war, dann erzählte ich ihr ein wenig von dem Leben in der Basis und wie man als God Eater arbeitete. Soma saß neben mir, die Arme die ganze Zeit vor der Brust verschränkt, den Kopf leicht gesenkt.

»Das klingt ziemlich gefährlich«, kommentierte Kaori, als sie das Tee-Geschirr auf den Tisch stellte. »Wie schaffst du das alles nur?«

»Ich möchte helfen – und meine Freunde beschützen. Dafür ist das eben notwendig. Also tue ich es, ohne darüber nachzudenken.« Zu meinem Glück war ich bislang auch von irgendwelchen Folgen verschont geblieben, wenn ich von den Schuldgefühlen bezüglich Erics Tod absah.

Kaori seufzte schwer. »Das ist wirklich besorgniserregend.«

Als sie sich abwandte, warf Soma mir einen triumphierenden Blick zu. Ich hob ein wenig die Schultern und lächelte entschuldigend. Er senkte den Kopf wieder.

Nachdem der Tee fertig und eingeschenkt war, ließ Kaori sich auf einen Sessel uns gegenüber sinken. Soma und ich bedankten uns, wobei es bei ihm nur ein sehr leises und mürrisches »Danke« war. Kaori blieb auf mich konzentriert. »Also, Frea, du bist bestimmt nicht nur gekommen, um mir zu erzählen, wie du deine Arbeit findest, oder?«

Gut, so blieb mir ein unangenehmer Themenwechsel erspart und ich konnte direkt auf den Punkt kommen: »Genau genommen wollte ich dir Fragen zu meinen Umständen damals stellen.«

»Nur zu. Ich werde dir sagen, was ich noch weiß.«

Ich dachte an den damaligen Tag zurück, wie ich aufgewacht war, mich an nichts erinnern konnte – und dann verschwamm alles in einem Strudel von neuen Informationen und Änderungen, die mein neues Leben bilden sollten. Die einzige Konstante darin war Kaoris liebevolle Pflege gewesen, dank der ich mich schnell hatte erholen können.

Ich beschloss, am Anfang zu beginnen: »Wie kam ich hierher?«

»Wachmänner von Fenrir brachten dich zu uns. Sie sagten, sie hätten dich bewusstlos am Wall gefunden, nachdem mehrere Explosionen zu hören gewesen waren. Anscheinend lagst du in einer Blutlache zwischen toten Aragami.«

Soma sah mich wieder an. »Wie kann das sein?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt, ich erinnere mich nicht. Aber ich hatte diesen Armreif früher nicht, also kann es kein God Arc gewesen sein.«

Dabei blickte ich auf den roten Reif an meinem rechten Handgelenk, der mich als God Eater auswies und mir erlaubte, einen God Arc zu führen. Die Technologie gehörte Fenrir, man konnte sie außerhalb des Walls oder ohne die Firma nicht erlangen.

»Die Wachen machten einen Test«, fuhr Kaori fort, »und erkannten, dass du kompatibel bist, nur deswegen brachten sie dich hierher.«

Zu Beginn mochte es anders gewesen sein, doch inzwischen waren nur noch Beschäftigte bei Fenrir und deren Blutsverwandte innerhalb des Walls erlaubt. Auch wenn es im Hinblick auf die begrenzten Vorräte logisch erschien, war es aus humanistischer Sicht grausam, Flüchtlinge abzuweisen. Ich machte mir selten Gedanken darum, weil es bedrückend war, stattdessen konzentrierte ich mich lieber darauf, mit dem, was ich konnte, für alle eine bessere Welt zu erschaffen.

»Mehr weiß keiner von uns.« Kaori trank einen Schluck Tee, um das Ende ihrer Worte zu unterstreichen.

Sogar Soma griff nun nach seiner Tasse. An seinem Gesicht erkannte ich, dass er bereits ins Grübeln gekommen war. Leider konnte ich ihm dabei nicht helfen, denn ich besaß keine Antwort für die toten Aragami, schließlich erinnerte ich mich nicht einmal an diese. Wie an so vieles nicht.

»Was ist mit meinem Namen?«, fragte ich weiter. »Trug ich etwas bei mir, das darauf hinwies?«

Kaori lächelte nachsichtig. »Das war kurz nach deinem Erwachen, deswegen erinnerst du dich wohl nicht. Als wir dich fragten, hast du dich nicht gewusst, wer du bist, deswegen haben wir dich vorläufig benannt.«

Also brachte mich das schon einmal nicht weiter. Dennoch freute es mich, dass man sich die Mühe dafür gemacht hatte. Meine Zuneigung für Kaori wuchs weiter an, genau wie mein schlechtes Gewissen, dass ich so lange nicht zu Besuch gekommen war.

»Frea ist ein ungewöhnlicher Name«, bemerkte Soma plötzlich. »Wie kamt ihr darauf?«

»Nun, Fenrir ist eine Gestalt der nordischen Mythologie, also dachten wir, es wäre nett, wenn wir einem zukünftigen God Eater auch einen solchen Namen geben – und das war derjenige, der uns am besten gefallen hat.«

Und er war kurz genug, dass bislang jeder ihn sich hatte merken können – und ich benötigte keinen speziellen Codenamen für die Kommunikation auf dem Schlachtfeld. Das war nun aber auch keine Hilfe, vielmehr sah es bislang so aus als ob ich in einer Sackgasse gelandet wäre.

Meine Enttäuschung und Frustration musste mir anzusehen sein, denn plötzlich legte Kaori eine Hand an ihr Kinn und blickte nachdenklich an die Decke. »Hmm, da fällt mir ein, dass ich dir schon eine Weile etwas geben wollte.«

Sie stand auf und kehrte an den Schrank in der Ecke zurück, um darin nach etwas zu suchen. »Du wurdest so plötzlich abgeholt und zur Basis gebracht, dass wir ganz vergessen haben, dir deine Sachen zu geben.«

Stimmt, als ich aufwachte war meine Kleidung bereits Eigentum von Fenrir gewesen; erst der Pyjama der Klinik, dann die Uniform der God Eater. Mir war dabei nie in den Sinn gekommen, dass ich davor auch schon etwas getragen haben musste.

»Wir wollten dich dann in deinem neuen Leben nicht mit alten Dingen belasten, solange sie dich nicht zu interessieren scheinen. Aber wenn du jetzt schon wieder da bist …«

Endlich fand sie das Gesuchte, zog es aus dem Schrank und legte es vorsichtig auf dem Tisch ab. Ich beugte mich vor. Die sorgsam zusammengefaltete Kleidung bestand aus einem einfachen schwarzen Oberteil und den dazu passenden Hosen, offensichtlich waren sie mindestens einmal geflickt worden, dennoch: nichts daran gab mir einen Hinweis. Anders sah es da mit etwas anderem aus, das dabei lag: an einer einfachen Kette hing ein kleiner runder Anhänger. Darauf war ein Wappen geprägt, das Wurzeln zeigte, die etwas in sich einschlossen. Jedenfalls sah es für mich auf den ersten Blick so aus. Die Rückseite zeigte eine Karte von Japan, zwei Zahlenfolgen bildeten eine kreisförmige Inschrift.

»Hilft dir das weiter?«, fragte Soma. Er hatte sich ein wenig zu mir gebeugt, um sich den Anhänger ebenfalls anzusehen.

»Gerade noch nicht. Aber vielleicht trägt es dazu bei, wenn ich es eine Weile behalte.«

Das schien nun erst einmal meine einzige Hoffnung zu sein. Vielleicht fiel mir sogar wieder ein, was die Zahlen zu bedeuten hatten.

»Das sind alles deine Sachen«, sagte Kaori, »also nimm sie ruhig alle mit dir. Ich hoffe, sie werden dir helfen, besonders nachdem du so viel für Fenrir und die Menschheit getan hast.«

»Ich habe nur meinen Job gemacht«, erwiderte ich.

Eigentlich war es der kleinen Shio zu verdanken, dass wir überhaupt noch lebten. Ich hatte nur ein wenig nachgeholfen, und das auch nur mit Hilfe der anderen God Eater, insbesondere Soma.

»Nun, in den Nachrichten sah das ganz anders aus.«

Ich schüttelte lächelnd mit dem Kopf. »Ohne die anderen wäre ich wahrscheinlich nicht einmal mehr hier, das Hauptquartier übertreibt nur.«

Was nicht das erste Mal war, wie Lindow mir versichert hatte. Ihn hatten sie in der Vergangenheit auch mit Lobhudeleien überschüttet, da half nur, das zu ignorieren und sich auf den Job zu konzentrieren.

Soma stieß ein fast lautloses spöttisches Lachen aus, das ich nur bemerkte, weil seine Schultern zuckten. Er warf mir ein halbes Lächeln zu, das ich genauso erwiderte. Dann sah er sofort wieder auf den Boden und kehrte in seine passive Rolle zurück.

Ich sah wieder Kaori an. »Jetzt habe ich so viel von mir erzählt, da bist du mal dran. Was hat sich bislang so ereignet, während ich nicht mehr hier war?«

Sie lächelte mir sanft entgegen, genau wie damals, als ich sie nach dem Aufwachen das erste Mal gesehen hatte. »Oh, weißt du, hier passiert nicht mehr sehr viel. Aber vor einer Weile haben wir hier tatsächlich das erste Mal seit Monaten mal wieder eine Entbindung miterlebt. Und das war eine ziemlich lustige Sache, denn zu unserer Überraschung kamen zwei Männer als potentielle Väter dazu, und die erfuhren hier das erste Mal voneinander. Daraufhin hat die werdende Mutter …«

 

Fast eine Stunde (und eine Geschichte über eine neue Männerfreundschaft) später waren Soma und ich bereits auf dem Weg zurück zur Basis. Kaori hatte mir eine Tasche für die Sachen gegeben, die ich nun locker an meiner Seite trug, während wir zur Bushaltestelle liefen.

Noch immer war ich mir nicht sicher, was mir dieser Besuch genutzt hatte. Die Kleidung war nichtssagend, der Anhänger vielleicht nur einfacher Schmuck. Die Umstände meines Auffindens waren fragwürdig und vage. Ich verstand nichts davon. Und anscheinend ging es nicht nur mir so.

Seit seiner einsilbigen Verabschiedung hatte Soma kein Wort mehr gesagt. Bei einem Seitenblick stellte ich fest, dass seine Stirn gerunzelt war. Ich schmunzelte. »Einen Fenrir-Credit für deine Gedanken~.«

»Du würdest dich nur ärgern, dass du dein Geld verschwendet hast.«

»Das beurteile ich selbst.« Ich lächelte ihn an. »Immerhin hast du aber wieder etwas gesagt. Also, was beschäftigt dich?«

Er deutete ein Kopfschütteln an. »Es ist nicht weiter wichtig. Aber du lässt sowieso nicht locker, bis ich dir antworte, oder?«

»Du kennst mich zu gut~.« Außerdem würde ich es ja nicht tun, wenn ich nicht wüsste, dass er sich danach stets besser fühlte.

»Ich denke nur immer noch darüber nach, wie du zwischen toten Aragami gefunden werden konntest. Und ob es mit den Explosionen zusammenhängt.«

Mir erschloss sich das auch noch nicht so wirklich. Aber ich wollte Soma ein wenig von den schweren Gedanken ablenken, weswegen ich grinsend eine Vermutung äußerte: »Vielleicht bin ich Kanon begegnet, sie hat die Aragami und mich ausgeknockt und ist dann panisch abgehauen.«

Er dankte mir diesen Scherz mit einem Lächeln. »Das ergibt erschreckend viel Sinn.«

Nachdem ich ihn derart beruhigt hatte, versuchte ich es mit einer weiteren vernünftigen Aussage: »Ich werde Hibari darum bitten, zu recherchieren, was in Fenrirs Akten zu meinem Auffinden steht. Vielleicht wissen wir ein wenig mehr, wenn die Details klarer sind.«

Nachdem er sich das hatte durch den Kopf gehen lassen, nickte er. »Ja, vielleicht.«

Damit schwieg er wieder, genau wie ich.

Selbst wenn der Tag für Informationen über meine Vergangenheit nicht gut verlaufen war, hatte es sich dennoch gelohnt, Zeit mit Soma zu verbringen.

Als die Haltestelle in Sicht kam, fiel mir auch noch etwas ein: »Ach ja, Soma, hast du vielleicht Lust, heute Abend mit Lindow, Sakuya und mir zu feiern?«

Er runzelte die Stirn. »Sehe ich aus als wäre ich wahnsinnig?«

»Ein bisschen?«

Dafür antwortete er mir mit einem Schnauben. Ich lächelte entschuldigend. Er schüttelte darauf mit dem Kopf. »Ich hab jedenfalls kein Interesse daran – und ich denke, ich kann es den beiden überlassen, auf dich aufzupassen.«

»Darf ich ihnen das sagen?«

»Sie wissen schon, dass ich viel von ihren Fähigkeiten halte.«

Ich lachte. »Nein, ich meinte, dass du auf mich aufpassen willst.«

Mit einem genervten Stöhnen zog er die Kapuze tiefer in sein Gesicht, so dass ich es nicht mehr sehen konnte. »Manchmal frage ich mich, warum ich mir überhaupt eine solche Mühe mache.«

»Weil du mich magst~«, erwiderte ich. »Oder weil ich dein Captain bin.«

»Ja«, sagte er nach kurzem Zögern, »das wird es wohl sein.«

Danach schwieg er wirklich für den restlichen Weg zur Basis – und ich war kein bisschen schlauer als vorher, was seine Beweggründe anging.
 



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück