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Die drei Sonnen von Arlon

von

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Kapitel 1

In einem Spiel ist es erschreckend einfach eine Waffe zu erheben und damit auf Lebewesen, sei es Tier oder Mensch, zu zielen und sie damit zu verletzen, gar zu töten. Im richtigen Leben sähe das anders aus, doch online hinterfragt niemand die Moral solcher Kämpfe. Dort fällt es mir um einiges leichter, denn es benötigt nur das Drücken von ein paar Tasten und der Pfeil saust über den Bildschirm. Das Leben einem nicht realen Charakter zu nehmen ist etwas anderes, als es im Hier und Jetzt zu tun.

Ich bin nicht so mutig, wie ich mich im Spiel und im Sprachchat gebe. Ich werde zu einer vollkommen anderen Person, wenn ich in die Welt von Arlon eintauche.

Viele Freunde habe ich nicht, nur Sara, die keine richtige Freundin für mich ist. Hin und wieder verbringen wir die Pause zusammen und reden ein bisschen miteinander, aber außerhalb der Schule haben wir uns nie getroffen.

Die Tage laufen alle fast gleich ab. Kaum bin ich nach der Schule zu Hause, landet meine Schultasche in der Ecke, ich fahre den Rechner hoch und lasse die Realität hinter mir. Sobald ich die Arlon betrete, fällt der ganze Kummer des Tages von mir ab und ich vergesse alles um mich herum.

Ich leite eine Gilde, eine Gruppe die sich online zum gemeinsamen spielen trifft und über Chats im Onlinespiel miteinander kommuniziert, mit dreiundzwanzig Mitgliedern und wir alle verstehen uns ziemlich gut. Das liegt mit großer Sicherheit daran, dass wir uns nie außerhalb des World Wide Web begegnet sind und an unserer gemeinsamen Liebe zu Rollenspielen. Und so soll es bleiben.

Ich starte das Spiel und logge mich mit meinem Charakter, eine Bogenschützin, ein. In Arlon hat man die Möglichkeit eine von vier Klassen zu wählen. Magier, die eine von den vier Elementen beherrschen und am besten für Distanzkämpfe geeignet sind, Heiler, die sich um die Wunden der anderen Charaktere kümmern, deren Angriff aber ziemlich gering ist, Zwerge, deren Aufgabe es ist zuerst in einen Kampf zu rennen, denn ihre Verteidigung ist die Größte. Mein Charakter gehört zu der vierten Klasse, den Dieben. Sie haben weder magische Fähigkeiten, noch können sie viele Angriffe aushalten, doch ihre Stärken liegen in der Tarnung und dem Umgang mit spitzen Waffen.

Meine Figur erscheint an derselben Stelle, an der ich heute Morgen gespeichert und mich danach ausgeloggt habe. Zur Erinnerung klicke ich auf meine aktuelle Quest, eine dieser typischen und vor allem langweiligen Sammelaufgaben, die es in jedem Rollenspiel geben muss.

Arlon erinnert stark an das Mittelalter, wie wir es aus Filmen kennen. Ich würde es mit Irland und Schottland vergleichen. Zwischen den Städten und Dörfern liegen manchmal große Weiten die nichts als weite Felder, Wiesen und Wälder offenbaren und manchmal ist es nur ein kurzer Weg durch ein kleines Waldgebiet oder an einer Klippe entlang.

Ich schwenke mit der Maus nach links und mein Charakter passiert eine kleine, Steinbrücke, die über einen schmalen Fluss führt. Wie die Häuser des Dorfes, das ganz in der Nähe liegt, ist die Brücke ebenfalls aus rotem Stein gebaut. In einigen Fugen wächst Moos und ein paar gelbe und weiße Blüten drängen ihre kleinen Köpfe Richtung Wasser. In Arlon hat das Licht am Horizont einen leichten Schimmer von Lila. Nur ganz dezent, doch wenn die Sonne hoch am Himmel steht, ist es sehr gut zu sehen.

Plötzlich glaube ich einen Schatten aus meinem Augenwinkel zu sehen, der mich vom Spielfluss ablenkt. Ruckartig schaue ich über die Schulter, reiße dadurch meine Hand nach rechts und meine Figur läuft in die komplett falsche Richtung, was mir nicht auffällt, denn mein Blick wandert durch mein Zimmer. Von der linken Ecke zur rechten und wieder zurück.

Nichts. Nur mein dunkelgrüner Kleiderschrank, an dem ein Poster von Ezio aus Assasins Creed und das Filmposter zu World of Warcraft hängen. Sicher ist es nur eine Fliege oder eine Motte. Bei dem Wetter kommen diese kleinen Tiere gerne einmal ins Zimmer, um dann nie wieder nach draußen zu finden.

Meine Bogenschützin läuft immer noch in die falsche Richtung. Es dauert ein wenig, bis ich sie wieder auf den richtigen Weg gebracht habe.

Die kleine Brücke hat meine Bogenschützin bald darauf hinter sich gelassen und läuft jetzt auf einen Wald zu. Dieser Wald ist einer meiner liebsten Orte in dem Rollenspiel. Tagsüber ähnelt er unseren Wäldern. Laub- und Nadelbäume, Pilze und Moos am Boden und kleine Pfade die sich durch das Dickicht schlängeln. Doch in der Nacht zeigt der Ort seine wahre Schönheit, dann beginnt es magisch zu werden. Sobald der Mond am Himmel steht beginnen die Stämme in bunten Farben zu fluoreszieren und die Blätter umgibt ein goldenes Glitzern.

Aktuell sieht er aber nur aus, wie ein gewöhnlicher Wald. In diesem Wald beginnt meine Sammelquest. Egal welches Rollenspiel man spielt, überall gibt es solche Quests. Manchmal sind es Felle oder Leder, die man von Tieren und Monster sammeln muss. Manchmal Edelsteine, Perlen und wertvolle Artefakte, die man mit einer Hacke in Steinen finden soll. Die Hacke muss man sich natürlich vorher schmieden lassen.

Meine Aufgabe besteht darin, dass ich Geäst und Laub durchwühlen soll. Erst wenn ich fünfzig Zedernholzzweige und siebenundzwanzig Baumwollfäden gesammelt habe, kann ich meinen Bogen aufwerten.

Dann steigt nicht nur der Angriffswert meines Bogens, sondern auch die Verteidigung. Meine Waffe kann dann viel mehr einstecken und noch mehr Kraft in die Pfeile legen. In Arlon können Waffen kaputtgehen und diese muss man dann für viel Gold bei einem Schmied wieder herstellen lassen. Je besser die Waffe also ist, desto seltener zerbricht sie.

Zwei Stunden hat mich die Sammelquest am Ende gekostet. Zwei Stunden, in denen ich gerne etwas anderes im Rollenspiel gemacht hätte. Zum Beispiel einen oder zwei Bosskämpfe mit meiner Gilde. Oder ich hätte eine der schweren Quests erledigen können, bei der die Belohnungen noch besser gewesen wären. Eine davon steht sogar in der Liste der Quests, die ich noch erledigen muss. Die Aufgabe der Quest besteht darin, das Kind eines Soldaten aus den Fängen von Kobolden zu befreien. Dazu kommt, dass ich nicht weiß, wo die Kobolde sich aufhalten. Sie sind ein Wandervolk und jeden Tag woanders anzutreffen. Ich kann mir tausend andere Dinge vorstellen, anstatt Laubhaufen zu durchwühlen, sogar mein Zimmer würde ich in dieser Zeit freiwillig aufräumen.

Trotzdem gibt es noch andere Aufgaben, denen ich nachkommen muss und die in der wirklichen Welt stattfindet. Aus diesem Grund fahre ich den PC runter, warte bis er sich vollkommen abgeschaltet hat und das blaue, Lämpchen nicht mehr leuchtet. Mit einem leichten Schwung mache ich mit meinem Bürostuhl, aus rotem Leder, eine einhundertachtzig Grad Drehung und lasse meinen Blick durch mein Zimmer schweifen.

Betritt man mein Zimmer zum ersten Mal, hält man mich mit großer Wahrscheinlichkeit für einen Nerd. Nicht die Art von Nerd, die überall beliebt ist und Bücher, Filme und Games schmücken. Wir sind nicht sexy, gut gebaut und wohlgeformt, die meisten sind es zumindest nicht. Wir sind nicht kontaktfreudig und gehen nicht zuerst auf andere zu. Aber wir stinken auch nicht und sperren uns in dunkle Keller, wo wir jegliches Sonnenlicht meiden. Wir sind meistens introvertierte Menschen, die gerne ihre Ruhe haben. Ausnahmen bestätigen natürlich, wie immer, die Regel.

Trotz dieses falschen Weltbildes, welches die Medien auf die Menschheit werfen, sehe ich das Wort nicht als Beleidigung.

Ich bin eben ein Nerd. Ich sitze mit halb heruntergelassenen Rollladen vor meinem Computer, esse Chips und trinke Energydrinks, damit ich die Nacht durchmachen und meine Gilde in Kämpfen unterstützen kann. Dass ich dabei mein Oberteil vollkrümel, interessiert mich dabei herzlich wenig. Die meisten Nerds in Büchern oder Filmen sind also einfach nur Fantasien des Verfassers und in fast keiner Weise real, so wie die Art, die in den öffentlichen Fernsehsendern gezeigt werden.

Mir gehen andere Beleidigungen ans Herz. Die, die sich unter die Haut brennen, oder in einem vergangenen Fall sogar in die Haut. Ich schaue auf eine kleine Narbe, in Form eines Punktes, zwischen meinem Daumen und dem Zeigefinger der linken Hand. Der Vorfall ist bereits über ein Jahr her, aber ich kann mich noch sehr gut daran erinnern.

Es war an einem Donnerstag, kurz vor einer Matheklausur. Ich saß an einem Tisch, der ganz hinten im Raum stand. Meine Utensilien lagen nebeneinander auf diesem, darunter auch der Zirkel, der für die Narbe verantwortlich war. Dass sich Kirsten und ihre beiden Chihuahuas, Anne und Chantal, vor meinen Tisch gestellt hatten, versuchte ich einfach zu ignorieren, was aufgrund der hohen und schrillen Stimmen und des Kicherns fast gar nicht möglich war. An das, was sie zu mir sagten, kann ich mich nicht mehr erinnern, doch an das Gefühl des spitzen Endes des Zirkels umso besser.

Ich erinnere mich noch an den Schmerz, als sich die Spitze des Zirkels in meine Haut drückt und das Blut aus der Wunde läuft. Ich weiß nicht, ob ich geschrien habe. Anscheinend kann ich mich doch nicht mehr so gut, an den Vorfall erinnern, wie ich zu Beginn angenommen habe.

Ich darf mich nicht an die Vergangenheit klammern. Sie ist, wie der Name sagt, vergangen.

Ich bleibe mit meinem Blick an dem kleinen, ovalen Spiegel hängen, den ich an die Wand gehängt habe. Mein Zimmer ist mit Postern aus verschiedenen Filmen und Computerspielen gepflastert. Meine Möbel wirr zusammengewürfelt. Ein grüner Kleiderschrank, davor ein orangefarbaner, runder Flusenteppich. Links neben meiner Tür steht ein breites Regal aus dunkler Eiche, in dem meine ganzen Filme und Konsolenspiele nach Genre und Alphabet aufgestellt sind, dazu kommen eine violette Schlafcouch mit Smileykissen und eine kleine Vitrine, in der Figuren ihren Platz finden. Farblich mochte das alles nicht zusammen passen, aber es passt zu mir und genau so soll es sein. Ich muss mich hier wohlfühlen.

Jetzt werde ich mich erst einmal stärken, dann werde ich mich an die Hausaufgaben setzen.

Käme es zu dem Vorfall, dass mich jemand fragt, was ich an meinem Körper mag, dann ist meine Antwort höchstwahrscheinlich alles. So komisch dass klingen mag und so eitel ich sicher auf einige wirke, ist das die Antwort, die mir über die Lippen kommen wird.

Ich mag mich so, wie ich bin, meine grau-grünen Augen, die dunkelblonden Korkenzieherlocken, die mir bis über die Schultern reichen, meine Sommersprossen auf den Wangen und den Schultern, meinen Körper, der keine Preise auf dem Laufsteg gewinnen wird, denn ich habe etwas mehr Fleisch auf den Rippen. Ich bin bei Weitem keine laufende Sanduhr, was meine Körperform betrifft, doch bei meiner Vorliebe zu Pizza und Chips kann ich nicht erwarten wie ein Bademodenmodel auszusehen und darf mich auch über meine 60 Kilogramm nicht wundern. Das meiste davon auf meinen Hüften und meinen Oberschenkeln, doch welche Frau kennt diese Probleme nicht?

Durch eine Chilli con Carne gestärkt, setze ich mich an den Schreibtisch und hole meine Bücher aus der dunkelgrünen Umhängetasche, die ich für die Schule nutze. In Mathe müssen wir heute nur kleinere Aufgaben lösen, was in nur wenigen Minuten erledigt ist. Längere Zeit benötigt die Hausaufgabe in Geschichte, denn dort ist es unsere Aufgabe einen zwei Seiten langen Text abzuschreiben, Wort für Wort. Ich frage mich immer noch, wie man dadurch lernen soll. Weil sich geschriebene Wörter besser ins Gehirn brennen, als gelesene?

Mitten im Satz schrecke ich hoch und sehe mich in meinem Zimmer um. Schon wieder habe ich einen Schatten aus meinen Augenwinkeln gesehen. Langsam glaube ich nicht, dass es ein Insekt ist, welches durch mein Zimmer schwirrt. Das muss ich doch längst gesehen haben. Meine Augen spielen mir anscheinend Streiche.

Ich muss mich also geirrt haben und in Wahrheit ist nur ein Vogel an meinem Fenster vorbeigeflogen oder etwas wurde von der Schwerkraft angezogen oder etwas hat sich bei einem Luftzug bewegt. Zweimal.

Als ich endlich fertig bin, dämmert es bereits. Ich habe noch Zeit für zwei Folgen meiner aktuellen Lieblingsserie. Danach schlüpfe ich in mein Schlafshirt und verschwende einen kurzen Gedanken darauf, dass ich morgen durch einen Zufall doch nicht zur Schule muss. Aber das wird nicht passieren.

Bevor ich unter die Decke krieche, suche ich das Zimmer nach Möglichkeiten ab, die den Schatten erzeugt haben können. Da ich nichts finden kann, lege ich mich hin, drehe mich auf die Seite und schließe die Augen.

Nach zwei Stunden liege ich immer noch wach. Einzig meine Schlafposition hat sich geändert. Anstatt auf der Seite, liege ich nun auf dem Bauch und habe meine Arme unter dem Kissen versteckt. Ich schaffe es einfach nicht einzuschlafen. Das Gefühl beobachtet zu werden wächst stetig. Langsam glaube ich nicht mehr, dass es ein Streich meiner Augen ist. Ein Insekt wird es auch nicht sein, denn ich habe mich noch nie von einer Mücke so beobachtet gefühlt.

Mein Herzschlag beschleunigt sich, ich drehe mich auf den Rücken und lege meine linke Hand auf meine Brust, versuche es zu beruhigen, versuche das ungute Gefühl zu ignorieren, dass langsam meine Glieder emporsteigt. Dass es nur mäßig klappt, muss ich kaum erwähnen. Ich werde beobachtet, da bin ich mir sicher. Und es ist keine Motte, keine Fliege, keine Spinne.

Jetzt oder nie schießt es mir durch den Kopf. Mit einer so schnellen Bewegung, dass mir etwas schwindelig setze ich mich auf, greife nach dem Schalter meiner Nachttischlampe und erstarre, als die kleine Birne einen Teil meines Zimmers erhellt. Der Aufschrei bleibt mir im Hals stecken.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Regina_Regenbogen
2020-11-03T08:41:10+00:00 03.11.2020 09:41
Sehr schöner Anfang. Flüssig und sehr angenehm geschrieben und am Schluss sehr spannend. :) Finde es toll, dass die Hauptperson sich selbst mag, auch wenn sie negative Erfahrungen gemacht hat. Das hat was Erfrischendes! Auch die Beschreibungen sind schön fließend eingearbeitet, sodass sie nicht künstlich wirken, sondern man ein atmosphärisches Bild vor Augen hat. Und nett, dass es so beschrieben ist, dass man auch versteht, worum es geht, wenn man nicht so viel Erfahrung mit Spielen hat. Auch die Ich-Perspektive und die Präsens-Form finde ich sehr gut umgesetzt. Gefällt mir sehr gut. :D


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