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Eine Machtdemonstration

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Wie immer gilt: Wem Rechtschreib-, Zeichensetzungs- oder Grammatikfehler auffallen, darf mir das gerne mitteilen :) Komplett anzeigen

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Eine Machtdemonstration

Rein äußerlich betrachtet unterscheidet sich nichts in Mycroft Holmes' derzeitigem Auftreten von seiner sonst üblichen Erscheinung. Er wirkt genau so, wie er immer wirkt.

Kontrolliert. Gelassen. Die Ruhe in Person. Ganz der britische Gentleman, der wie immer nur mit seinem Regenschirm anzutreffen ist.

Innerlich sieht es jedoch etwas anders aus. Er ist ungeduldig. Wäre er ein gewöhnlicher Mensch, würde er diese Ungeduld sicherlich mit einem nervösen Trommeln seiner Finger oder dem Auftippen seines Regenschirms auf dem Boden zum Ausdruck bringen.

Wenn er ein gewöhnlicher Mensch wäre. Aber er ist Mycroft Holmes. Das allein sagt alles.

 

Ein helles Piepsen reißt ihn aus seiner momentanen Reglosigkeit. Der kurze Blick auf das Display seines Handys verrät ihm, dass Anthea sich gemeldet hat. Sein Gast wird in zwei Minuten eintreffen.

Vortrefflich.

Es wird Zeit diesem seine ganze Aufmerksamkeit zu widmen. Ablenkungen sind ab jetzt unerwünscht. Mycroft schaltet den Ton seines Handys kurzerhand aus und positioniert sich in der Nähe eines Stuhls, der in dieser alten Fabrikhalle seltsam deplatziert wirkt. Da er extra für dieses Gespräch hierher transportiert wurde, ist dies auch nicht weiter verwunderlich. Er rechnet nicht wirklich damit, dass der Stuhl heute Abend benötigt wird, aber nur für den Fall...

 

In diesem Moment fährt das Auto mit seinem Gast vor und als John Watson aussteigt und, vom rhythmischen Klicken seines Gehstocks begleitet, auf ihn zuschreitet, stellt Mycroft fest, dass der ehemalige Soldat ein Stückchen kleiner ist, als er erwartet hat. Der Arzt überbrückt die Distanz zwischen ihnen ohne jedes Zögern und mit hoch erhobenem Kopf, ein klares Indiz dafür, dass er momentan weniger von Furcht, als von Irritation gepaart mit einem gewissen Unwillen angetrieben wird. Mycroft hat von einem ehemaligen Soldaten kaum etwas anderes erwartet. Nun, es liegt nicht in seiner Absicht den Doktor zu erzürnen, vielmehr will er sich persönlich ein Bild von dem Mann machen, der so überraschend bei seinem Bruder eingezogen ist. In der Kürze der Zeit ist es ihm zwar gelungen den Hintergrund des Mediziners in Erfahrung zu bringen (Schwierige Familienverhältnisse. Eine Schwester, zu der kaum Kontakt besteht. Die Eltern bereits früh verstorben. Ansonsten nur wenige, entfernte Verwandte. Kaum Freunde. Ein medizinisches Studium in London. Danach eine makellose Karriere im britischen Militär. Ein längerer Auslandseinsatz in Afghanistan, der vor kurzem durch eine Verletzung abrupt beendet wurde. Anschließend die Rückkehr an seinen früheren Studienort. Momentan keine Anstellung. Daraus resultierend eine angespannte finanzielle Situation. Und nun der plötzliche Einzug bei Sherlock), was ihm einiges über den Mann vor ihm verrät, aber nicht genug, um guten Gewissens zulassen zu können, dass er und sein kleiner Bruder zusammenziehen, ohne dass er Sherlocks neuen Mitbewohner persönlich unter die Lupe nimmt. Womöglich ist es nur eine praktische Möglichkeit für beide, um einen Teil der Mietkosten zu sparen, vielleicht stecken aber auch gänzlich andere Motive dahinter. Seine erste Befürchtung war, dass John Watson eine Verbindung ins Drogenmilieu hat oder zumindest mit verschreibungspflichtigen Medikamente handelt. Glücklicherweise hat seine Recherche dies nicht bestätigt, aber Mycroft hat dennoch gelernt bei Dingen, die seinen kleinen Bruder und dessen Drogenvergangenheit betreffen, lieber nichts dem Zufall zu überlassen.

 

„Nehmen Sie Platz, John.“ Auffordernd deutet er mit seiner Regenschirmsitze auf den Stuhl, während Doktor Watson mit klackerndem Gehstock näher kommt. Durch nichts lässt sich erkennen, ob diesen die Verwendung seines Vornamens durch einen Fremden stört, stattdessen hinkt er unbeirrt auf Mycroft zu.

„Wissen Sie, ich hab ein Handy“, sagt er statt einer Begrüßung. „Das war sehr raffiniert und so, ja“, gibt er unumwunden zu, „aber Sie hätten mich auch auf meinem Handy anrufen können.“ Resolut ignoriert er den angebotenen Stuhl und kommt stattdessen wenige Schritte vor Mycroft entfernt zum Stehen. Der entschieden nach vorn gestreckte Kopf und die gerade Haltung offenbaren Mycroft, dass der Mann vor ihm noch immer kein bisschen eingeschüchtert ist, sondern es vielmehr gewohnt ist, sich schnell auf ungewohnte Situationen einzustellen, um auch bei überraschenden Wendungen einen kühlen Kopf zu bewahren.

„Wenn man der Aufmerksamkeit von Sherlock Holmes entgehen will, lernt man diskret vorzugehen, daher dieser Ort“, erklärt Mycroft gelassen, während er mit seinem Regenschirm eine erklärende Bewegung macht, die die triste Umgebung einschließt. „Ihr Bein schmerzt Sie sicherlich, setzen Sie sich doch“, wiederholt er in einem Tonfall, der weniger eine höfliche Bitte, als vielmehr eine nachdrückliche Aufforderung ist.

Wie erwartet, spricht der ehemalige Soldat weder auf diesen autoritären Tonfall noch auf die Erwähnung seines Handicaps besonders gut an.

„Ich will mich nicht setzen“, erklärt er kurz angebunden und mit einer solchen Entschiedenheit in der Stimme, dass er sich für Mycrofts Geschmack schon gefährlich nah an der Grenze zur Unhöflichkeit bewegt.

„Sie scheinen nicht sehr verängstigt zu sein“, stellt der Sprössling der Familie Holmes fest, während er aufmerksam im Gesicht seines Gegenübers nach einer Regung sucht.

„Sie sehen nicht sehr beängstigend aus“, entgegnet John Watson jedoch nur, was Mycroft dazu bewegt spöttisch aufzulachen. Es mag sein, dass er optisch nicht dem Prototyp eines gefährlichen Mannes entspricht, aber er verfügt dennoch über einen beträchtlichen Einfluss. Und wer über Macht verfügt, ist nicht weniger gefährlich als ein Kleinkrimineller, der einen jederzeit mit einer Kugel durchbohren könnte. Menschen mit Macht verfügen über subtilere Möglichkeiten ihre Interessen durchzusetzen. Selbst jemandem wie dem Mann vor ihm, sollte bewusst sein, dass es einiges an Einfluss bedarf, um Überwachungskameras zu manipulieren und dass man denjenigen, der dieses Treffen arrangiert hat, daher lieber nicht unterschätzen sollte.

„Ja... Die Tapferkeit des Soldaten, nicht wahr?“, meint Mycroft amüsiert, ehe er urplötzlich wieder ernst wird. „Tapferkeit ist bei Weitem die netteste Umschreibung für Dummheit, finden Sie nicht?“, fragt Mycroft herausfordernd. „In welcher Beziehung stehen Sie zu Sherlock Holmes?“, verlangt er zu wissen und der Mann vor ihm scheint von diesem plötzlichen Themenwechsel kalt erwischt zu werden.

„In keiner“, erklärt der Doktor überrascht. „Ich kenne ihn praktisch erst seit... seit gestern.“ Er wirkt angesichts dieser Tatsache erstaunt, als könne er selbst nur schwer glauben, wie drastisch sich sein Leben in dieser kurzen Zeitspanne verändert hat.

Mycroft gibt ein zustimmendes Geräusch von sich.

„Und seit gestern wohnen Sie bei ihm und jetzt klären sie schon gemeinsam Verbrechen auf“, stellt er fest. „Ob wir vielleicht bis Ende der Woche mit froher Kunde rechnen dürfen?“, fragt er provozierend.

Wie erwartet bringt diese Unterstellung John Watson dazu, seine Fassade etwas fallen zu lassen. Unzweifelhaft wird er sich jetzt an seine Schwester erinnern und unter welchen Reaktionen sie angesichts ihres... Lebensstils zu leiden hatte. Das wird ihn reizen, seinen Widerspruchsgeist wecken und nach einigen weiteren, gezielt gesetzten Bemerkungen, darin gipfeln, dass er weniger beherrscht, sondern emotionaler und damit auch ehrlicher auftreten wird. Menschen sind so berechenbar.

„Wer sind Sie?“, fragt der Arzt fast schon lauernd.

„Eine interessierte Partei.“

„Interessiert an Sherlock? Wieso?“, fragt er verdutzt. „Ich nehme an, Sie sind nicht befreundet.“

Tsss, Freunde.

„Sie haben ihn erlebt“, entgegnet Mycroft knapp. „Was glauben Sie, wie viele Freunde er hat?“ Ein minimales Senken im Gesichts des ehemaligen Soldaten und das unschlüssige Zusammenpressen seiner Lippen verraten Mycroft überdeutlich, dass der Mann vor ihm ihm insgeheim zustimmt.

Höchst interessant. Der Mediziner hat also bereits eine genaue Ahnung davon, wie exzentrisch Sherlock ist und dennoch hält ihn das offenbar nicht davon ab, mit diesem zusammenzuziehen. Entweder verfügt John Watson über ein sehr gelassenes Naturell, das es ihm ermöglicht, mit den Kapriolen des beratenden Detektivs außergewöhnlich gut zurechtzukommen oder die Zustimmung zu dem Einzug war eine sehr spontane und möglicherweise verzweifelte Entscheidung. Was auch immer seine Motive waren, der Mann mit dem Regenschirm ist fest entschlossen, diese zu ergründen.

„Ich bin das, was bei Sherlock Holmes einem Freund noch am ehesten entspricht“, meint er, während er angelegentlich den nassen Steinboden zu seinen Füßen in Augenschein nimmt.

„Und was ist das?“, will der ehemalige Soldat wie aus der Pistole geschossen wissen.

„Ein Feind“, erklärt er völlig ernsthaft, während er wieder Augenkontakt zu dem Mediziner herstellt, um dessen Reaktion zu studieren.

„Ein Feind?“, fragt dieser perplex, als wäre die Vorstellung, dass jemand einen Feind hat, völlig abstrus.

„In seinen Augen gewiss“, bestätigt Mycroft. Und wenn er daran denkt, wie ausgiebig und mit welcher Intensität Sherlock ihn während seiner Drogenentzüge immer wieder beschimpft, verflucht und für seinen Zustand verantwortlich gemacht hat, ist der Ausdruck „Feind“ wahrscheinlich noch eine sehr schmeichelhafte Beschreibung. „Er würde mich vermutlich sogar seinen Erzfeind nennen“, sinniert er. „Er liebt nun mal das Dramatische.“ Erzfeind. Ja, genau so würde Sherlock es ausdrücken. Sein kleiner Bruder hat schon immer eine Schwäche für solche Übertreibungen besessen.

„Ihnen ist sowas ja fremd, Gott sei Dank“, entgegnet John Watson trocken, ehe ein Piepsen aus seiner Jackentasche ankündigt, dass er soeben eine Nachricht erhalten hat. Angesichts dieser vorwitzigen Unterstellung geringfügig aus dem Konzept gebracht, presst Mycroft seinen Kiefer zusammen, um sich von einer spitzen Antwort abzuhalten. Sarkasmus? Interessant.

Ungerührt zückt der Arzt sein Handy und studiert die Nachricht, die er erhalten hat.

„Ich hoffe, ich halte Sie nicht von etwas ab?“, fragt Mycroft höflich, wenngleich auch zunehmend irritiert. Für gewöhnlich wagt es kaum jemand, während einer Unterredung mit ihm, einfach auf sein Handy zu schauen.

„Nein, ganz und gar nicht“, meint der ehemalige Soldat kurz angebunden und Mycroft beschließt langsam zum entscheidenden Punkt dieses Gesprächs zu kommen.

„Gedenken Sie Ihre Zusammenarbeit mit Sherlock Holmes fortzusetzen?“, erkundigt er sich, doch John Watson tut ihm nicht den Gefallen, ihm darauf eine klare Antwort zu geben.

„Ich könnte mich irren, aber das geht Sie nichts an, glaube ich“, entgegnet er höflich, aber auch entschieden. Einen gewissen Starrsinn kann Mycroft ihm nicht absprechen.

„Und wenn doch?“, fragt er herausfordernd, um zu sehen, wie der Mediziner darauf reagieren wird.

„Mit Sicherheit nicht.“ Kein Zittern, kein Zögern, kein Zweifel, ist in seiner Stimme auszumachen. Der Mann vor ihm scheint wild entschlossen zu sein, keinen Zentimeter zurückzuweichen und Mycroft ist gegen seinen Willen beeindruckt. Es gibt nicht viele Menschen, die ihm gegenüber so hartnäckig ihren Standpunkt vertreten. Er kann nur hoffen, dass John Watson auch im Umgang mit Sherlock so bestimmt auftritt. Das wäre wahrlich nicht das Schlechteste, was seinem kleinen Bruder passieren könnte.

„Wenn Sie wirklich da einziehen“, wechselt er abrupt das Thema und bemüht sein Notizbuch, so, als wüsste er nicht ganz genau unter welcher Adresse sein Bruder seit gestern residiert, „in die 221B Baker Street, wäre ich gerne bereit Ihnen regelmäßig eine stattliche Summe zu zahlen, um Ihnen den Alltag zu erleichtern.“

„Wieso?“, erkundigt sich John Watson misstrauisch, dem gerade unzweifelhaft mehrere Szenarien, die dieses Angebot rechtfertigen könnten, durch den Kopf schießen.

„Weil Sie nicht wohlhabend sind“, entgegnet Mycroft schlicht. Eine Tatsache, die dennoch dem unabhängigem und stolzen Naturell des Arztes zuwiderlaufen dürfte und ihn daher vor einen Interessenskonflikt stellt. Finanzielle Freiheit im Gegensatz zu der konstanten Erinnerung daran, dass er dieses Geld nicht selbst erwirtschaftet hat und nicht darauf bauen kann, dass der Geldfluss nicht ebenso plötzlich wieder versiegt, wie er unerwartet zu fließen begonnen hat.

„Und die Gegenleistung wäre was?“, hakt Doktor Watson nach, der durch nichts erkennen lässt, was er von diesem Angebot hält.

„Informationen. Nichts indiskretes“, beeilt er sich hinterherzusetzen. „Nichts, wobei Sie sich irgendwie unwohl fühlen müssten. Sagen Sie mir nur, was er so treibt.“

„Wieso?“

„Ich mache mir Sorgen um ihn. Ständig.“ Und das ist nicht einmal gelogen. Sich um Sherlock zu sorgen, ist ihm quasi seit seiner Kindheit in Fleisch und Blut übergegangen. So wenig er sich auch für andere Menschen interessiert, so sehr bildet Sherlock die Ausnahme von dieser Regel. Mycroft geht davon aus, dass ihm der Mediziner das Motiv der ehrlichen Sorge nicht abnehmen wird - was umso ironischer ist, wenn man genauer darüber nachdenkt. Dennoch... Sollte der Mann vor ihm wieder Erwarten doch glauben, dass er aus aufrichtiger Sorge handelt, könnte das sein Verständnis wecken und ihn nachgiebiger für Mycrofts Angebot machen. Insgeheim glaubt er aber nicht, dass John Watson auf sein Angebot anspringen wird. Dafür erscheint ihm der Mediziner vor ihm zu integer zu sein.

„Nett von Ihnen“, antwortet der Arzt nur knapp. Ein Hauch von mühsam unterdrückter Gereiztheit hat sich in seine Stimme geschlichen. Er scheint mit seiner Geduld langsam am Ende zu sein.

„Aber ich würde es aus vielerlei Gründen vorziehen, wenn meine Besorgnis unerwähnt bliebe. Wir pflegen etwas, dass man ein schwieriges Verhältnis nennen könnte“, startet Mycroft dennoch einen weiteren Versuch, den Mediziner auf seine Seite zu ziehen. Doktor Watson starrt ihn jedoch nur grimmig an, ehe er erneut eine SMS empfängt. Als er auf das Handydisplay blickt und die Nachricht liest, scheint allerdings jeglicher, etwaig vorhandener, Restzweifel verschwunden zu sein.

„Nein“, sag er entschieden. Es ist offensichtlich, dass er nicht auf Mycrofts Vorschlag eingehen wird, genauso wie es für Mycroft offensichtlich ist, dass die soeben empfangene Textnachricht des Doktors zweifelsohne auf das Konto seines kleinen Bruders geht.

„Ich hab die Summe noch nicht erwähnt“, entgegnet er dennoch pro forma, obwohl er insgeheim sehr zufrieden mit der rigorosen Ablehnung seines Angebots ist. Er hat in seinem Leben genug Leute gesehen, die für Geld spionieren und ihre Loyalität demjenigen zur Verfügung stellen, der am meisten bezahlt. Loyalität gegenüber einer anderen Person aus ehrlicher Überzeugung und womöglich sogar Zuneigung heraus, ist allerdings etwas, das mit Geld kaum aufzuwiegen ist. Es sieht ganz so aus, als könnte dieser unscheinbare Mann vor ihm ein Glücksfall für Sherlock sein. Dennoch passt dieses Verhalten nicht in das Bild hinein, das ihm durch die Aufzeichnungen von John Watsons Therapeutin über diesen vermittelt wurde.

„Unwichtig“, sagt der ehemalige Soldat so kurz und knapp, dass Mycroft überrascht auflacht.

„Sie sind sehr schnell, sehr loyal“, stellt er nun aufrichtig neugierig fest. Kann es sein, dass John Watsons Therapeutin auch in diesem Punkt absolut falsch gelegen hat? Nichts in Ella Thompsons Notizen hat Mycroft darauf vorbereitet, dass er auf einen Mann treffen würde, der schnell Freundschaften schließt und sein Vertrauen leichtfertig verschenkt. Andererseits hat auch keine seiner eigenen, zugegebenermaßen recht hastigen und damit womöglich nicht tief genug gehenden Recherchen ein Ergebnis erbracht, das ihn im Vorfeld an der Einschätzung von Dr. Thompson hat zweifeln lassen.

„Nein, bin ich nicht. Ich bin nur nicht interessiert.“ Erstaunlich. Der Arzt vor ihm scheint seine Worte absolut ernst zu meinen. Ist es möglich, dass auch bei ihm Sherlock die berühmte Ausnahme von der Regel ist?

Nachdenklich und etwas unschlüssig zückt Mycroft erneut sein Notizbuch.

„Kein Vertrauen, heißt es hier“, beginnt er, während er John Watson mit Argusaugen beobachtet. So entgeht ihm nicht, dass der Mann vor ihm sichtlich nervös schluckt und mehrmals irritiert blinzelt, während er Mycrofts Notizbuch mustert.

„Was ist das?“, fragt er mit seltsam schwacher Stimme und sichtlich aus dem Konzept gebracht, als er die Worte seiner Therapeutin erkennt. Nonchalant blättert Mycroft zu der betreffenden Seite. Es war leicht diese Information zu erhalten. Heutzutage wird quasi alles digital abgespeichert. Selbst handschriftliche Notizen, die sich Therapeuten machen, landen unweigerlich auf einem Computer. Und ist etwas erst einmal in digitaler Form vorhanden, kann jeder, der über die richtigen Kenntnissen und Fähigkeiten verfügt, darauf zugreifen. Es gibt einen Grund, warum Mycroft die wirklich wichtigen Dinge nur seinem Notizbuch anvertraut. Er weiß schließlich nur zu gut, wie leicht Computer gehackt werden können. Es hat ihm daher keinerlei Probleme bereitet, an die vertraulichen Unterlagen von John Watsons Therapiesitzungen heranzukommen. Nicht, dass es sonderlich viel aufschlussreiches in seiner Akte gegeben hätte.

„Haben Sie etwa beschlossen ausgerechnet Sherlock Holmes zu vertrauen?“, erkundigt er sich, während er vorgibt seine Notizen zu studieren, obwohl er ganz genau weiß, was er aufgeschrieben hat.

„Wer sagt, dass ich das tue?“, entgegnet der Arzt vor ihm dickköpfig und Mycroft unterdrückt angesichts dieser Gegenfrage nur mühsam ein Seufzen.

„Sie scheinen nicht so leicht Freundschaften zu schließen“, stellt er unbeeindruckt fest und vielleicht ist es die Selbstverständlichkeit mit der er diese Aussage trifft, aber irgendetwas in seinen Worten, scheint John Watson plötzlich bis aufs Blut zu reizen.

„War's das?“, faucht er ihm förmlich entgegen und angesichts dieser plötzlichen Aggressivität zucken Mycrofts Augenbrauen verblüfft nach oben.

„Sagen Sie es mir“, entgegnet er drohend und merklich kühler als zuvor, während er Doktor Watson unbeeindruckt fixiert. Dieser legt abwägend seinen Kopf schief, ehe er zu einer Entscheidung zu kommen scheint und sich kurzerhand abwendet und beginnt davonzuhinken. Aber noch ist Mycroft nicht bereit, ihn aus dieser Unterhaltung zu entlassen.

„Ich kann mir vorstellen, dass man Ihnen bereits geraten hat, sich von ihm fernzuhalten, aber Ihre linke Hand verrät mir, dass es nicht dazu kommen wird“, ruft er ihm hinterher.

„Wie bitte?“, fragt John Watson, nachdem er abrupt stehen geblieben ist und Mycroft weiß, dass sein Köder, ganz wie von ihm beabsichtigt, seine Wirkung gezeigt hat. Alleine diese unvermeidliche Parallele zu Sherlocks Deduktionen dürfte genug sein, um den Doktor am Gehen zu hindern. Gleichzeitig zeigt ihm das frustrierte Kopfschütteln, das sich der Arzt erlaubt hat, dass dieser von der ganzen Geheimniskrämerei zunehmend entnervt ist, aber trotz allem bereit ist, sich anzuhören, was Mycroft zu sagen hat.

„Lassen Sie mal sehen“, fordert Mycroft ihn auf, aber wieder einmal schafft es der Mediziner, ihn zu überraschen. Anstatt auf ihn zu zutreten, wie Mycroft es erwartet hat, bleibt der ehemalige Soldat trotzig an Ort und Stelle stehen und hält auffordernd seine Hand in die Höhe, sodass Mycroft sich tatsächlich dazu bemüßigt fühlt, auf ihn zuzugehen und nach der linken Hand des Doktors zu greifen. Im letzten Moment zieht dieser seine Hand jedoch wieder zurück.

„Nicht“, murmelt er und weicht Mycrofts Blick vehement aus. Dieser schenkt ihm jedoch nur einen auffordernden Blick und nach einem kurzen Moment des Zögerns, nimmt Doktor Watson die unausgesprochene Herausforderung an und streckt Mycroft seine Hand wieder entgegen, der kurz danach greift und sie etwas zur Seite neigt, ehe er John Watson wieder aus seinem Griff entlässt.

„Bemerkenswert“, sagt Mycroft leise, aber zufrieden.

„Was?!“, will der ehemalige Soldat aggressiv wissen und Mycroft bemüht sich, ein selbstgefälliges Lächeln zurückzuhalten.

„Die meisten Menschen trotten durch diese Stadt und alles, was sie sehen, sind Straßen, Läden und Autos. Geht man an der Seite von Sherlock Holmes, sieht man das Schlachtfeld. Sie haben es schon gesehen, nicht wahr?“, erkundigt er sich, obwohl er die Antwort auf diese Frage bereits kennt. John Watson verweigert ihm allerdings erneut eine klare Auskunft.

„Was ist mit meiner Hand?“, will er stattdessen wissen, widerwillig neugierig.

„Sie haben einen zeitweilig auftretenden Tremor in Ihrer linken Hand“, beginnt Mycroft seine Ausführungen und wartet ein knappes Nicken des Doktors ab, eher er fortfährt. „Ihre Therapeutin hält es für eine posttraumatische Belastungsstörung. Sie denkt, Sie werden von Erinnerungen an Ihren Kriegseinsatz verfolgt.“ Es entgeht ihm nicht, dass John Watson mittlerweile angelegentlich seinem Blick ausweicht, so als würde es ihm körperliche Schmerzen bereiten, wenn Mycroft über seinen zurückliegenden Afghanistaneinsatz doziert. Die letzte Bemerkung führt jedoch dazu, dass der Mediziner ihn wieder direkt ansieht.

„Wer zum Teufel sind Sie?“, fragt er, aber seinem Tonfall fehlt die nötige Schärfe, Doktor Watson klingt vielmehr ängstlich, als würde er sich insgeheim vor der Antwort fürchten. „Woher wissen Sie das?“, will er wissen, aber Mycroft erspart es ihm, seine Deduktionen in aller Ausführlichkeit vor ihm auszubreiten, das mag Sherlocks Stil sein, seiner ist es ganz gewiss nicht.

„Feuern Sie sie“, empfiehlt er dem Arzt ruhig. „Es ist nämlich genau umgekehrt. Sie stehen im Augenblick unter Stress und Ihre Hand ist absolut ruhig“ Unwillkürlich schielt John Watson auf seine linke Hand, als müsse er sich selbst vergewissern, dass Mycrofts Aussage der Wahrheit entspricht. „Der Krieg verfolgt Sie nicht, Doktor Watson“, präsentiert Mycroft den ersten Teil seiner Schlussfolgerung. „Er fehlt Ihnen“, schließt er genüsslich seine Beobachtung ab. „Willkommen zu Hause“, raunt er dem Mediziner zu, ehe mit einem eleganten Umherwirbeln seines Regenschirms davon geht. Er dreht sich auch nicht um, als der Arzt eine dritte SMS erhält. Unzweifelhaft ist auch dies das Werk seines ungeduldigen Bruders.

„Zeit sich für eine Seite zu entscheiden, Doktor Watson“, empfiehlt er ihm, auch wenn für ihn schon jetzt unzweifelhaft feststeht, dass Sherlocks neuer Mitbewohner nicht für ein ruhiges Zivilleben gemacht ist.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Chai-Cherry-Tea
2020-10-31T18:41:44+00:00 31.10.2020 19:41
Hach, schön. Ich hatte ganz vergessenwie gut und such lustig die Szene war xD
Antwort von:  Kerstin-san
01.11.2020 09:32
Hallo Chai-Cherry-Tea,

ich finde die Szene auch sehr unterhaltsam, alleine weil John 90% der Zeit völlig unbeeindruckt von Mycroft zu sein scheint xD

Danke für dein Kommi :)


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