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Macht

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Wie immer gilt: Wem Rechtschreib-, Zeichensetzungs- oder Grammatikfehler auffallen, darf mir das gerne mitteilen :) Komplett anzeigen

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Macht

Die Macht war ein zweischneidiges Schwert. Gewöhnliche Menschen sehnten sich zwar häufig nach ihr, doch gleichzeitig begegneten sie jenen, die sie besaßen, oftmals mit Spott und Ablehnung. Eine Mischung aus Neid, Furcht und Frustration schlich sich bei diesen Leuten ein. Das Gefühl, dass es zutiefst ungerecht war, dass Menschen mit Macht über so viele Dinge bestimmen konnten, während sie selbst nur untätig daneben standen und den Entscheidungen anderer ausgeliefert waren, nagte beständig an ihnen. Es sorgte dafür, dass sie sich ohnmächtig fühlten.

 

Menschen, die über Macht verfügten, vergaßen hingegen häufig, wie es war, machtlos zu sein. Der permanente Dauerzustand trübte ihre Sinne. Macht der Gewohnheit nannte man das dann. Wer sich sicher sein konnte, alles, was er wollte, auch zu bekommen, dachte nicht mehr allzu oft darüber nach, wie sein Leben ausgesehen hatte, bevor er sich dieses Mittels bedienen konnte.

 

Und doch gab es sie: Die seltenen Momente, wenn selbst machtvollen Menschen auf einmal wieder schmerzlich bewusst wurde, wie es war, sich absolut hilflos zu fühlen. Wenn man erkannte, dass einem nicht einmal die Macht, über die man gebot, weiterhelfen konnte.

 

Nachdenklich schwenkte Mycroft Holmes sein Whiskyglas und beobachtete wie die dunkel gefärbte Flüssigkeit darin munter umherwirbelte, selbst dann noch, als er das Trinkgefäß schon längst wieder still hielt. Er nahm einen Schluck und stellte das Glas anschließend abrupt zurück auf den Glastisch. Ein wenig zu abrupt vielleicht, denn der Alkohol spritzte empor und einige Tropfen verteilten sich auf dem Tisch, wo sie Mycroft im gedimmten Licht der Lampen höhnisch anzuglitzern schienen.

 

Auch mit der Macht war das so. Man zupfte an einem Faden oder drehte an einem bestimmten Rädchen und setzte somit unweigerlich eine Kettenreaktion in Gang. Meistens vorhersehbar und damit einkalkulierbar, aber manchmal trat ein unvorhergesehenes Hindernis auf und ließ plötzlich alles aus dem Ruder laufen.

 

Müde fuhr sich der älteste Sprössling der Familie Holmes mit beiden Händen durch das Gesicht und lehnte sich langsam in seinen weichen Sessel zurück, ehe er seinen Blick gedankenversunken zur Decke gleiten ließ.

 

Machtvolle Menschen waren es auch gewohnt, unbequeme Entscheidungen zu treffen. Schwierige Entschlüsse, die aber unumgänglich waren. Das Für und Wider der einzelnen Optionen wurde abgewogen, ehe rational entschieden wurde. Mycroft Holmes beschäftigte sich nur selten mit den negativen Konsequenzen, die seine getroffenen Entscheidungen zur Folge gehabt hatten, weil es in den meisten Fällen ein bewusst in Kauf genommenes Risiko gewesen war. Die Auswirkungen betrafen Leute, die er zumeist nicht persönlich kannte oder zu denen er kaum einen Bezug hatte. Das machte es einfacher.

Problematisch wurde es oft erst dann, wenn Menschen betroffen waren, die einem nahe standen. Wenn man selbst sehen konnte, welche fatalen Auswirkungen eine Entscheidung, die zwar rational gesehen mit den besten Absichten getroffen worden war, mitunter haben konnte.

Dieses persönliche Versagen war das Schlimmste. Man fühlte sich dann nur noch hilflos. Hilflos und so durchschnittlich. So gewöhnlich. Man war gezwungen, tatenlos zusehen zu müssen, wie alles seinen Lauf nahm. Das Einzige, um das man sich dann noch bemühen konnte, war der Versuch der Schadensbegrenzung. Das verzweifelte Bestreben, das Durcheinander wenigstens etwas einzudämmen.

Diese persönlichen Verwicklungen galt es daher unter allen Umständen zu vermeiden. Aber das war nicht immer möglich. Jeder hatte seine Schwachpunkte. Seine ganz persönliche Achillesferse, die einen zu Fall bringen konnte.

 

Sherlock war seine Achillesferse. Hilflos mitansehen zu müssen, wie sich sein kleiner Bruder wieder einmal in einem weiteren Drogenrausch verlor... Mycroft schloss gequält die Augen und nahm mit zitternden Händen einen weiteren Schluck. Dieses Mal setzte er das Glas sehr bedächtig wieder ab und ballte seine Finger zu einer Faust, um das verräterische Beben zu unterdrücken.

 

Und es war seine Schuld. Ganz gleich, was sein jüngerer Bruder dazu sagen mochte. Er hatte gewusst, dass Sherlock seit der Sache mit Magnussen gefährlich nahe daran gewesen war, die Kontrolle zu verlieren. So dicht am Abgrund, aber er war davon überzeugt gewesen, dass Sherlock rechtzeitig stehen bleiben würde und seiner Hilfe nicht bedurfte. Stattdessen war sein kleiner Bruder begierig einen Schritt nach vorne getreten und er hatte es erst bemerkt, als es schon zu spät war. Somit eindeutig eine seiner seltenen Fehleinschätzungen. Das Einzige, was nun blieb, war zu versuchen, alles wieder in den Griff zu bekommen. Das Chaos zu kontrollieren, ehe es noch weiter um sich greifen konnte.

 

Nur wie er das anstellen sollte, war ihm nicht ganz klar. Er fühlte sich verantwortlich und zugleich seltsam machtlos. Er war Sherlocks großer Bruder, der stets im Hintergrund die Fäden zog. Wenn irgendetwas schief ging, verließ sich jeder darauf, dass er Sherlock aus seinen Problemen heraushelfen würde. Sogar Sherlock vertraute darauf.

Solltest du dich nicht um meine Begnadigung kümmern, wie sich das für einen großen Bruder gehört?

Es war lediglich dem Zusammentreffen gemeinsamer Interessen verschiedener höherer Stellen zu verdanken gewesen, dass es letzten Endes nicht auf seine alleinige Intervention in dieser Sache angekommen war. Dennoch: Eine Begnadigung hätte keine große Herausforderung dargestellt. Diese Macht besaß er zweifelsohne. Was jedoch die sowieso schon komplizierten Beziehung zwischen ihm und Sherlock anging... Zögerlich tastete Mycroft nach dem kleinen Notizbuch, in dem er sorgsam die einzelnen Bestandteile von Sherlocks Liste aufbewahrt hatte. Behutsam setzte er die Papierschnipsel wieder zusammen, ehe seine Augen prüfend über die fahrig dahingekrakelten Worte glitten. Immerhin hatte sein Bruder sich an diese Vereinbarung gehalten. Dennoch war er schon lange nicht mehr in der Position, dass Sherlock sich ohne Gegenwehr von ihm helfen ließ, sich seine Bitten wirklich zu Herzen nahm oder von sich aus seine Hilfe suchte. Alles, was er im Moment tun konnte, war, so gut es ging, seine schützende Hand über ihn zu halten und aus dem Hintergrund heraus ein Sicherungsnetz um ihn herum zu ziehen, dass das nächste Mal hoffentlich nicht versagen würde. Und wenn das bedeutete, dass er sich dabei auf John Watson verlassen musste, weil Sherlock dem Arzt mehr vertraute als seinem eigenen Bruder, dann würde er das tun.

Für alles andere würde er sich wie gewöhnlich auf sich selbst verlassen müssen. Auch das war etwas, was Menschen in Machtpositionen gelernt hatten: Im Endeffekt war man doch immer auf sich allein gestellt.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Glennstar
2020-10-16T20:15:35+00:00 16.10.2020 22:15
Hallo nochmal :)

Der Einstieg gefällt mir bereits richtig gut!
Diese allgemein wirkenden Überlegungen, die dann im Laufe der Zeit immer spezifischer und am Ende persönlich werden.

Die Unterscheidung zwischen gewöhnlichen Menschen und Menschen mit Macht und ihrem Wunsch nach bzw. Umgang mit Macht passen sehr gut zu Mycroft. Die Absätze, trennen die Menschen mit und ohne Macht zusätzlich, so dass auch optisch eine Distanz zwischen den Gruppen entsteht.

Die Szene mit dem Wiskeyglas wirkt zunächst als Bruch, verleit dem ganzen aber auch eine gewisse Stimmung. Ich will nicht sagen, dass man sich nur mit Whiskey in seinen Gedanken verlieren kann, aber das Bild wie jemand in seinem gemütlichen Sessel (am besten noch vor dem Kamin) sitzt und Whiskey trinkt, hat sich doch irgendwie festgesetzt.
Durch den Vergleich der Macht mit den Tropfen, die unvorhergesehen auf dem Tisch langen, holt einen in die Gedankenwelt zurück und schafft einen weichen Übergang. (Und dann wird auch der Sessel erwähnt, den ich mir vorher schon erdacht habe!)

Der Teil mit den Konsequenzen von schwierigen Entscheidungen trifft im Moment härter als noch vor einem Jahr. Natürlich gibt es diese Entscheidungen immer, aber gerade die letzte Zeit habe ich das Gefühl, dass viel über Entscheidungen gesprochen wird, unter denen die einen leiden, die anderen nicht. Zum Beispiel, dass die Lufthansa finanzielle Unterstützung bekommen hat, viele Selbstständige, aber erstmal an ihre Altersvorsorge gehen müssen, um über die Runden zu kommen. Ich schweife hier ab, verzeih mir das bitte, aber ich wollte sicher gehen, dass du nicht denkst, dass ich z.B. gegen das Tragen von Masken bin.

Nun aber zurück zu deinem Werk.
Du schaffst es vom Allgemeinen (Macht und Menschen), zu schwierigen Entscheidungen zum Persönlichen zu kommen, ohne dass es holprig wirkt.
Schon fast ironisch ist, dass Mycroft damit kämpft, dass Sherlock wieder einem Drogenrausch verfallen ist und er diesne nicht verhindern konnte, in dem er selbst zu einer Droge greift und Whiskey trinkt. Ich weiß nicht, ob das von dir beabsichtigt ist und es wirkt in dem Ausschnitt, den du uns hier zeigst, definitiv nicht wie besorgniserregender Konsum, aber der Alkohol wird hier ja unter anderem dazu genutzt, um das Zittern zu unterdrücken.

Die Beziehung der beiden aus Mycrofts Sicht fasst du durch das Zusammenspiel von Verantwortung und Machtlosigkeit super zusammen. Selbst wenn Mycroft helfen möchte und versucht dies im Hintergrund zu tun, so kann er nicht alles kontrollieren und es nimmt das Vertrauen, wenn alles im Schatten passiert. Dass Sherlock sich dennoch am Ende auf ihn verlässt, scheint Mycroft neben der zusätzlichen Verantwortung aber auch Bestätigung darin zu geben, dass das Band der Brüder noch nicht komplett zerrissen ist. Die Einsamkeit überwiegt am Ende dennoch, was der Macht einen bitteren Nachgeschmack verleiht.

Liebe Grüße
Glennstar
Antwort von:  Kerstin-san
17.10.2020 11:22
Hallo Glennstar,

Mensch und gleich noch so ein ausführliches Kommi, danke :)

Für diese Idee mit der Zweiteilung (einmal zu der Macht im Allgemeinen und einmal auf Mycroft gemünzt) muss ich mich bei meinem jüngeren Ich von vor vier Jahren bedanken, weil ich den OS damals zwar angefangen hatte, aber nie fertig geschrieben habe. Als mir der OS vor ein paar Wochen dann wieder in die Hände gefallen ist, war ich selber ganz überrascht davon, was ich damals schon geschrieben hatte und konnte in dem Stil dann einfach noch ein bisschen was ergänzen und abschleifen.

Interessanter Gedankengang, das Mycroft ja selbst zu einer legalen Droge greift, während er über Sherlocks Drogeneskapaden brütet. Ich gebe zu, dass ich das sicherlich nicht beabsichtigt hatte, aber jetzt wo du es ansprichst, ist das wirklich eine (ungewollt) ironische Parallele.

Ich würde nicht mal sagen, dass Mycroft einsam ist, weil das für mich immer bedeutet, dass man unter seinem allein sein leidet, aber es lässt sich nicht abstreiten, dass er kein großes Interesse an anderen Menschen und/oder Freunden hat und immer alleine unterwegs ist. Auf jeden Fall toll, dass diese hochkomplizierte Brüderbeziehung genauso rüber kam, wie ich das beabsichtigt hatte.
Von: Morgi
2020-10-06T06:13:47+00:00 06.10.2020 08:13
Hallo!

In Mycrofts Gedanken hätte ich gern noch länger geschwelgt. Auf der einen Seite sind allgemeingültige Weis- und Wahrheiten im Raum stehend, auf der anderen seine Interpretation der Umstände und Hürden. Er wähnt sich als mächtiger Einzelkämpfer, der seinem Bruder das Schild leiht und in die saure Zitrone beißen muss, Watson zum Träger zu küren - wie großartig der bittere Nachgeschmack beschrieben wurde! So hat man den Arzt selten empfunden. Sehr originell und passend. Was eine Perspektivänderung alles bewirkt...
Die Spielerei mit dem Weinglas, das mal herb und mal sacht aufsetzt, empfand ich als feine Metapher: Wer keine Emotionen in seine rationale Analysen einfließen lässt, der hat hierüber ein Darstellungsventil und ist - bei aller Macht - doch nicht darüber erhaben, sich zu ärgern und selbst in neue Bahnen zu lenken. Das war auch der Pferdefuß der Hilflosigkeit: Sie erkennen, aber sich rasant wieder aus ihr herausbefördern. Da passte das "Zurückgewinnen der Kontrolle im Chaos" hervorragend.
Ich bin bei Sherlock leider nicht fit genug, um mich an die Bedeutung des Zettels und der Papierschnippsel zu erinnern, doch sie aufbewahrt und akkurat zusammengepuzzelt zu sehen, gab Mycroft fast etwas Sentimentales, gewiss jedoch eine sichtbare Vorliebe für Details und die Eigenheiten des Bruders. Das rundete die Aussage vom Beginn ab, Sherlock sei seine Achillesferse! Warum sollte er sich sonst mit derlei Kinkerlitzchen aufhalten? :)
Ein überflüssiges Wort ist im zweiten Satz ("sie") und im Fließtext kam mehrmals "lies (lesen)" statt "ließ (lassen)" vor, ansonsten kann ich nur mein Bedauern darüber äußern, dass der Ausflug in seine Gedanken schon wieder vorbei ist.

Viele Grüße, Morgi
Antwort von:  Kerstin-san
06.10.2020 17:02
Hallo Morgi,

ich habe gerade ein bisschen gequietscht, als mich dein ausführliches Kommi angelacht hat, danke! Ich hab ja eh eine Vorliebe dafür die Innenansicht von Charakteren zu beschreiben und Mycrofts Perspektive ist ja immer ein bisschen tricky, weil er schnell zu emotional wirkt, von daher bin ich froh, dass du seine Gedankenwelt magst. Er ist ja immer sehr beherrscht und wirkt etwas undurchschaubar und zeigt eigentlich nur gegenüber Sherlock größere Emotionen. Ich glaube schon, dass es ihn irgendwo trifft, dass sein kleiner Bruder in John so einen guten Freund gefunden hat - nicht, dass er ihm das neidet, aber weil es zwar eine zuweilen schwierige, aber doch gänzlich andere (in gewisser Weise sicherlich unbelastetere) Beziehung als zu Mycroft ist.

Zu der Bedeutung der Liste: Mycroft und Sherlock haben eine Vereinbarung, dass Sherlock - wenn er mal wieder zu Drogen greift - akribisch aufschreibt, was er alles genommen hat.

Danke für den Hinweis mit dem lies/ließ - das ist mir ja wirklich komplett durchgerutscht. Hab ich gleich mal ausgebessert :)


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