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Between the Lines - Chapter 2

It's more than just words
von

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Analoge Analogien beim axiomatischen Stresswichteln

Kapitel 7 Analoge Analogien beim axiomatischen Stresswichteln
 

Kain. Mann meiner anhaltenden und kühnsten Gefühlsirritation. Mit ihm habe ich nicht gerechnet und genau das macht mir auch das anschwellende Pochen in meiner Brust deutlich. Der Überraschung folgt Wärme, die tief aus meinem Inneren dringt und meine Fingerspitzen zum Glühen bringt. Doch sie wechselt ebenso schnell hin zu einem leichten Unbehagen, welches feinzwiebelnd durch meine Nervenbahnen rinnt und meine Hirnwindungen in eine Achterbahn voller Fragewörter mutieren lässt. Der große dunkelhaarige Mann hängt seinen Mantel an der Garderobe auf, während meine Schwester zwischen mir und ihm hin und her sieht. Jedes Mal ändert sich spielerisch ihr Gesichtsausdruck, so als würde sie versuchen zu ergründen, welcher davon meine aktuelle Gefühlslage widerspiegelt. Oder seine. Beim letzten Schwenk streckt sie mir die Zunge heraus, weil es ihr nicht gelingt. Doch meine wirkliche Aufmerksamkeit liegt bei Kain.

„Frohe Weihnachten!“, grüßt er lächelnd und bemüht ruhig. Er greift nach einem rot-beige gesprenkelten Weihnachtsstern, der auf der Kommode abgestellt ist oder der bereits dagestanden haben könnte, ohne dass ich es die letzten Tage bemerkt habe. Kain wirkt trotz des Weihnachtsbeiwerks seltsam deplatziert in dem kunterbunten Wahnsinn, der sich unser Flur schimpft und den ich nur mit geschlossenen Augen durchschreiten kann. An Lenas Finger baumelt eine Präsenttüte, die die perfekte Form für Weinflaschen hat. Er ist bestens vorbereitet. Meine Schwester schürzt die Lippen, ehe sie sie zu einem Grinsen verzieht und sich zu mir rüber lehnt. Sie wackelt mit den Augenbrauen und deutet Kains offensichtlichen Bart an. Sie hat ihre Freude an der ganzen Situation. Ich überbrücke die Distanz zwischen uns mit gezwungener Ruhe und bleibe neben ihm stehen. Selbst meine Hand streckt nach ihm aus, doch dann setzt das Zögern ein. Und es ist gut so, denn direkt hinter mir taucht meine Mutter im Flur auf. Auch sie empfängt Kain mit einem überraschten Weihnachtsgruß.

„Hi. Bitte entschuldigt mein unerwartetes Auftauchen, aber ich…ich musste... ähm...“

„Plötzlich fliehen? Die Welt retten? Dem Weihnachtsmann beim Verteilen der Geschenke helfen? Kein Problem, wir sind verschwiegen“, witzelt Lena. Der Schwarzhaarige lacht und ich werfe meiner Schwester einen zugegebenermaßen leicht verstörten Blick zu. Dennoch ringt Kain weiter mit den Erklärungen und streckt, statt weiter zu stammeln, den Weihnachtsstern in Mamas Richtung. Sie lacht fröhlich auf, nimmt das kleine Geschenk dankend entgegen, was daraufhin deutet, dass die schamlose Bestechung funktioniert. Sie schaut zufrieden zu mir. Ich zucke unwissend mit den Schultern und suche Kains Blick. Er lächelt, ohne, dass es sein gesamtes Gesicht erreicht. Etwas stimmt nicht, das sagt mir auch die Unruhe in seinen Bewegungen. Es ist unscheinbar, aber da, wie die Fingerspitzen der freien Hand, die gegen seinen Oberschenkel klopfen. Die Tatsache, dass er mehrere Male in einem unbestimmten Rhythmus zurück und wieder vortritt. Die bunten Lichter im Türrahmen verstärken den Eindruck, während sie wirr wie bunte Comicpanel über sein Gesicht flackern.

„Wie aufmerksam von dir, danke sehr. Komm rein, komm rein. Hast du schon etwas gegessen? Wir haben Würstchen und Kartoffelsalat. Du bist sicher durchgefroren. Lena, setz bitte Wasser auf“, plaudert meine Mutter drauflos, noch bevor ich einschreiten kann und tätschelt ihm willkommen heißend den Oberarm. Kains angespannte Schultern senken sich. Als hätte er geglaubt, dass wir ihn rausschmeißen. Lächerlich. Das würden Lena und Mama niemals zu lassen. Eher verbannen sie mich wegen Lächerlichkeiten in den Schuppen.

„Klingt fantastisch. Vielen Dank, ich…“, setzt er an.

„Ja, absolut fantastisch, entschuldigt uns kurz“, schneide ich ihm das Wort ab, greife mir Kains Rucksack, der an der Kommode lehnt, packe den Schwarzhaarigen gleichzeitig am Ärmel seines Pullovers und ziehe ihn mit mir mit. Bereits auf dem halben Weg nach oben löse ich meinen festen Griff und halte den Zipfel des Stoffs nur noch locker. Kain trottet mir anstandslos hinterher. Vor meinem Zimmer überholt er mich, nimmt mir dabei den Rucksack aus der Hand und läuft als Erster in den Raum.
 

„Wieso bist du nicht bei deiner Schwester?“, frage ich hastig und schonungslos, als ich die Tür schließe und folge Kain, der vor meinem Bett stoppt. Mit der Erwähnung seiner Schwester sackt er förmlich in sich zusammen und lässt den Rucksack fallen, der mit einem rasselnden Wumms zu Boden geht. Trotz der Breite seines Rückens wirkt er seltsam schmal in diesem Moment.

„Wegen eines Vorfalls, - den man mir nicht genauer definiert hat-, ist es ihr nicht erlaubt, Besuch zu empfangen“, erklärt Kain in einem gestelzten Ton.

„Wie bitte? Ein Vorfall?“, hake ich entgeistert nach. Kains Schultern zucken aufgeregt nach oben und seine Hände heben sich passend dazu wackelnd in die Luft, während er sich zu mir umdreht. Er sieht aus, wie eines dieser wabbelnden Werbedinger, die man mit Luft in Bewegung versetzt. Ich habe keine Ahnung, wie man die nennt.

„Ja, ein Vorfall. Kurz gesagt, ich darf sie nicht sehen. Jedenfalls nicht in den nächsten zwei Wochen. Nicht zu Weihnachten. Nicht zu Silvester. Meine Eltern natürlich auch nicht, aber heyyy, was solls. Da sie nicht zu Sahara müssen, haben sie jetzt endlich Zeit für eine Cocktailparty. Eine Cocktailparty!“ Den letzten Teil betont er ausdrücklich. „Kannst du dir das vorstellen?", spuckt er hinterher. Aus seinen Worten vernehme ich reine Wut und Empörung. Doch sein Blick spricht von einem tiefen Schmerz. Ich verstehe noch immer nicht vollkommen, was geschehen ist.

„Okay, Moment, was genau ist gestern passiert?“, erkundige ich mich ruhig und hoffe, dass es sich auf Kain überträgt.

„Nicht gestern! Schon vor ein paar Tagen. Meinen Eltern wurden umgehend durch die Betreuer informiert. Nur hielten sie es nicht für nötig, mir das mitzuteilen. Nein! Stattdessen ließen sie mich wie ein dummes Äffchen bei sich antanzen. Denn sie wussten ganz genau, dass ich mich sonst geweigert hätte, zu kommen“, wettert er zerknirscht. Ich habe ihn noch nie so gesehen. Unwirsch macht er ein paar Schritte zur Seite, dreht sich weg und wieder zu mir. Kain ist das pure Abbild seiner Gefühlsregungen.

„Die Einrichtung macht keine Ausnahme? Nicht mal für dich?“

„Nein, die Patientinnen sollen und müssen lernen und verstehen, dass ihr Handeln Konsequenzen hat und dass es auch bei Feiertagen keine Ausnahmen gibt“, erklärt er mit verbitterter Stimme und beißt die Zähne zusammen. „Tut mir leid, ich wusste einfach nicht, wo ich hinsoll. Ich war so sauer auf meine Erzeuger und auch auf Sahara… und habe mich einfach ins Auto gesetzt. Als ich wieder klarer denken konnte, da war ich schon… hier.“ Wütend Autofahren. Grandios. Nun ist es an mir, die Selbstzerstörung meiner Zähne zu beschleunigen.

„Hoffen wir mal, dass du niemanden umgefahren hast“, entgegne ich mild angesäuert und werde durch Kains entrüsteten Blick sofort in meinem fies anmutenden Enthusiasmus gestoppt. Ich meine es nicht einmal sarkastisch, sondern durchaus ernst. Emotional Autofahren ist eine äußerst schlechte Angewohnheit und nichts, was man auf die leichte Schulter nehmen sollte. Ich weiß es aus erster Hand. Das scheint auch Kain zu begreifen und macht einen Schritt auf mich zu. Er tastet nach meinen Fingern. Ich lasse es geschehen, als seine Fingerbeeren meine berühren.

„Entschuldige. Ich weiß, dass es unverantwortlich ist und ich hätte mich vorher beruhigen müssen.“ Kains Fingerspitzen sind kalt, als sich unsere Hände vollständig treffen und er sie miteinander verschränkt. „Ist es okay, dass ich hier bin?“

„Nach dem Kartoffelsalat schicke ich dich zu Jeff“, äußere ich schlicht.

„Dann möchte ich keinen Kartoffelsalat mehr“, antwortet Kain mit weicher, tiefer Stimme. Sie vibriert auf meiner Haut, wie der Bass eines zu heftigen Songs.

„Das macht meine Mutter sicher traurig.“

„Spatz.“ Wieder ein Schauer, so heftig, dass nicht verhindern kann, dass ich abrupt ausatme. Ich schaue auf und vertiefe mich in den braunen Augen, die mir jedes Mal mehr zu verstehen geben, als mir lieb ist. Sie zeigen mir Sehnsucht und offenbaren mir einen Hunger, mit dem ich nicht umzugehen weiß, dem ich nicht gewachsen bin, denn er ist nicht körperlich. Kains Blick flimmert über mein Gesicht wie ein geisterhaftes Streicheln. Von den Augen, über die Nase, zu meinen Lippen. Dort verweilt er und ich merke, wie mich jede vergehende Sekunde näher zu ihm zieht. Direkt an seine Lippen. Dichter an den Strudel seiner berauschenden Nähe.

„Wir sollten wieder runtergehen oder… du bleibst oben und boxt eine Weile das Kissen dort. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es darauf steht, aber... hin und wieder ziert es sich“, witzele ich abrupt und weiche von ihm zurück, während ich umständlich auf die angepriesene stoffige Kopfstütze deute. All das viel mehr, weil ich es nicht besser weiß und mich die intensiven Momente überfordern. Kain schüttelt grinsend sein Haupt.

„Danke für das durchaus neckische Angebot, aber ich schulde deinen Eltern eine Erklärung, wieso ich wie ein Hunne hier einfalle. Aber vorher…“, murmelt er und zieht mich zurück, sodass ich gegen seine Brust pralle. Sein Gesicht legt sich direkt in mein Halsbeuge und ich halte den Atem an, weil es unvorstellbare Dinge in meinem Körper anrichtet. Hätte ich einen roten Alarmknöpf, würde er aus voller Kraft leuchten.

Er streift mit der Nase die empfindsame Haut am meinem Hals. Es ist die linke Seite und dort reagiere ich ganz besonders heftig darauf. Ich fühle, wie der warme Atem bei jedem Ausstoß eine Welle anschlägt, die mich aus dem Inneren heraus erschüttert. Ich schließe meine Augen und spüre damit seine Wärme weitaus mehr.

„Wir müssen jetzt ...“, setze ich an, während Kain im selben Moment ebenfalls zu sprechen beginnt.

„Wieso riechst du wie ein Spekulatius?" Ich blinzele verwirrt. Oh. Das.

„Willst du darüber spekulieren?“

„Lena?“ Treffer.

„Lena“, bestätige ich zunächst ruhig, “Sie hat eine Handcreme gekriegt, die danach riecht. Mir ist unerklärlich, wieso man freiwillig nach Gewürzkeks riechen will. Echt widerlich. Und vorhin beim Spielen hat sie mich dauernd mit ihren beschmierten Händen angetatscht!“, motze ich instinktiv los. Ich hasse es, weil ich langsam von innen und außen zum Weihnachtsgebäck mutiere.

„Die Geschmacksrichtung gibt es auch für Lippenpflegestifte“, gibt Kain zum Besten.

„Was soll ich mit dieser Information?“, ersuche ich zweifelnd. Kain gluckst, behält den Grund dieser Äußerung für sich und drückt dabei seine Nase fester gegen meinen Hals, was nur halb so sehr kitzelt, wie diese sanften, feinen Berührungen davor. Ich drücke ihn dennoch sachte von mir weg.

„Genug“, raune ich kaum hörbar. Ich bin mir erst nicht sicher, ob Kain es gehört hat, doch er lässt wirklich von mir ab.

„Habt ihr auch noch echte Plätzchen zum Essen?“

„Es sind derartig viele, du könntest darin baden.“

„Sicher? Ich bin ziemlich groß.“

„Ist mir nicht aufgefallen“, entgegne ich gelassen und recke meinen Hals, um ihn ansehen zu können. Kain schmunzelt und stellt sich absichtlich auf die Zehenspitzen.

„Darf ich ein paar Kekse haben?“

„Klar. Ich hoffe, du stehst auf Weihnachtswaschbären und Bauarbeiterfeen.“

„Die sind mir die liebsten“, äußert er und streckt sich nach mir aus. Ich weiche aus.

„Na los, geh Kekse essen!“, murre ich und schiebe Kain zur Tür, bevor ich mir die Hand gegen den Bauch lege. Direkt über der Aorta abdominalis, die meinen Puls schallend in die Handfläche überträgt und tiefer in meinen Körper hinein. Ich atme kurz durch und folge dem anderen Mann nach unten.
 

In der Küche angekommen treffen wir auf Hendrik, der zuvor im Keller rumgestreunt ist. Er beginnt mit den Vorbereitungen für das morgige Weihnachtsessen und hat etliche Zutaten nach oben geholt. Er ist im Bilde, denn er wirkt wenig überrascht, den großen Schwarzhaarigen zu sehen. Kains Erklärung für sein plötzliches Auftauchen ist ehrlich, aber lückenhaft. Im Grunde läuft es auf Ärger zu Hause wegen seiner kranken Schwester hinaus. Kein böses Wort über seine Eltern. Kein Detail zum Zustand seiner Schwester. Natürlich lässt sich auch Hendrik von Kains Charme einfangen, auch wenn er sich zuvor bei Lenas Kommentar aufplusterte wie ein wütender Wellensittich. Einer dieser kleinen blauen, die man so wenig ernst nimmt wie quiekende Meerschweinchen. Wahrscheinlich liegt es an der guten Flasche Rotwein, die Kain mitbrachte und die auf der Arbeitsplatte neben dem Obsthaufen steht. Kain wird vermutlich niemals Geschenke von seinen Schwiegereltern bekommen, die er nicht möchte. Ich setze mich zu ihm und Lena auf die Couch, lümmele mich mit angezogenen Beinen gegen die Seitenlehne und halte den größtmöglichen Abstand zu Kain. Lena zwischen uns ist ein vortrefflicher Puffer. Es ist Hendrik, der das Gespräch mit Kain aufnimmt und ihn regelrecht ausfragt, denn er hat erstaunlicherweise Kains Ausführungen im Kopf, mit denen er mich damals überraschte, als er erklärte, was seine weiteren Studienpläne sind. Kain lässt sich von den tiefschürfenden Fragen nicht beeindrucken und schafft es, Verhör und Kartoffelsalatkomplimente miteinander zu kombinieren, wie beim Plädoyer eines Meisterkoch beim Staatsexamen. Mama stellt kurz darauf jedem von uns eine Tasse mit Glühwein hin und die von Kain gewünschten Plätzchen. Er ist selig und bekennt sich mit euphorischen Bekundungen, bevor er mit seinen jetzigen Bachelorwahnsinn fortfährt.

„Es ist ein gutes Arrangement. Die praktische Arbeit macht echt Spaß und ist vielschichtig. Die Kollegen sind sehr hilfsbereit. Ich kann jeder Zeit die Labore nutzen und wir bereiten gerade eine Studie vor, die ich bis zum Ende begleiten kann. Ich habe sogar eine Unterkunft bekommen. Eine kleine, möblierte Wohnung mitten in der Innenstadt“, erklärt er. Ich höre nur beiläufig zu, süffele meinen Glühwein, der auffällig viel Orangensaft beinhaltet und damit mehr als mundend. Genaugenommen ist er zu lieblich, aber was solls. Ich schlürfe schnell Leere und Gewürzkrümel. Ich zerteile einen lilafarbenen Waschbären-Keks in zwei Hälften und kann nicht mehr erkennen, was vorn und hinten war. Also schiebe ich die Stücke wieder zusammen und es ergibt immer noch keinen Sinn. Die Unterhaltung der anderen ist lediglich Geräuschuntermalung für mich. „Die meisten meine Kurse sind Donnerstag und Freitag, also kann ich von Montag bis Mittwoch dortbleiben, arbeiten und fahre Mittwochabend zurück zum Campus. Das ist optimal.“ Alle raunen zustimmend.

„Pff, nur wenn die Züge mitmachen. Optimal am Arsch“, murre ich in die leere Tasse, stecke mir das Wasch ohne Bär in den Mund und kriege erst nicht mit, dass mich alle beäugen wie ein buntes Zootier. Lena beginnt zu kichern. Ich sehe kauend auf. Kains Mund hat vergessen, was Synchronisation heißt, öffnet und schließt sich ein paar Mal und meine Mutter und Hendrik tragen einen Ausdruck in ihrem Gesicht, der eine Bandbreite von A bis Z aufweist. Ich entscheide mich für I wie ignorieren.

„Noch jemand Glühwein?“, frage ich mit einem unechten Lächeln und springe auf, ohne eine Antwort abzuwarten. In der Küche seufze ich schwermütig, greife mir die angefangene Flasche Glühwein und leere die letzten Reste in den vorbereiteten Topf hinein. Die Zimtstange und die Orangen sind mittlerweile dunkel gefärbt und ich lehne mich auf die Arbeitsplatte, während ich dabei zusehe, wie sie im Wein rumschwimmen. Lena hat gekichert. War es so offensichtlich? Es echot quasi durch meinen Kopf wie blanker Hohn. Es gefällt mir nicht und das sagt mir nicht nur das unterschwellige Simmern im Abdomen.

„Hey…“ Kain betritt die Küche. Er hält seinen leergefegten Teller und die Tassen der anderen in den Händen. Beides stellt er neben dem Herd ab. Ich behalte den Alkohol im Blick, um zu verhindern, dass er kocht und somit der nützliche Rauscheffekt flöten geht. Vielleicht könnte ich den Alkohol einfach inhalieren? Ich beuge mich weiter über den Topf, doch gerade als ich einen tiefen Zug nehmen will, schiebt Kain meinen Kopf mit zwei Fingern an der Stirn zurück. Ich schenke ihm einen mörderischen Blick und fühle Resignation als er einfach nur lächelt.

„Optimal am Arsch, ja?“, wiederholt er den Ausfall meinerseits und grinst. Ich wusste, dass er mich damit aufziehen wird. Früher oder später. In meinem Fall gleich. Ich rolle mit den Augen und rühre die rote Flüssigkeit um. „Und apropos Züge…“, fährt er fort und lehnt sich gegen den Küchentresen. Ich sehe ihn entgeistert an. Was kommt nun?

„Guck nicht so, du weißt gar nicht, was ich sagen will“, tadelt er meinen Blick. Ich ziehe einen Flunsch und schaue ihn danach regungslos an.

„Nicht unbedingt besser, aber was will man machen, das ist nun mal dein Gesicht, nicht wahr?“

„Du weißt Küchen haben Messer?“

„Werd kreativer“, schmettert er problemlos ab. Der Apfelgehäuseentkerner wäre auch gut. Beim nächsten Mal. „Also, was die Problematik mit den Zügen angeht, da hat dein lieber Mitbewohner ein kleines Weihnachtsgeschenk für uns… Er überschreibt mir das Auto.“ Während der effekthascherischen Pause im Mittelteil habe ich zwei Tassen mit Glühwein gefüllt und sehe nun überrascht auf.

„Im Ernst?“

„Im Ernst“, versichert er.

„Aber Jeff liebt sein Auto.“ Warum ist mir bis heute ein Rätsel. Es ist alt, laut und müffelt. Im Grunde ist Jeffs Auto wie der Onkel dritten Grades, den jede Familie hat und den man auf jeder Feier fürchtet.

„Tja, dich liebt er scheinbar mehr“, flüstert Kain mit einem Schulterzucken und beugt sich dafür dichter an mich heran. Ich kann Mayonnaise und Gurke an ihm riechen. So wie die vanillige Süße der Kekse. Es ist sonderbar und interessant.

„Hey, wo bleibt der Glühwein“, grölt Lena und rauscht in die Küche. Ich richte mich auf und drehe mich zum Herd.

„Reicht nur noch für zwei Tassen… du hattest schon genug“, fasele ich, drücke Kain eine der Tassen in die Hand und leere die andere in einem Zug. Zum Glück war der Inhalt dank meiner Ungeduld nie richtig heiß. Er ist dennoch so warm, dass ich merke, wie sich die warme Flüssigkeit zu meinem Magen arbeitet. Noch dazu spüre ich, wie mir der Alkohol trotz allerhand abmildernder Zusätze direkt in den Kopf steigt.

„Wohl bekommt´s. Ich beziehe jetzt das Gästebett. Sayonnara." Ich hebe die Hand lose zum Gruß und ignoriere die verständnislosen Blicke der Anwesenden.
 

Als ich am oberen Treppenabsatz ankomme, greift Kain nach meiner Hand. Natürlich hat er mich eingeholt. Ich bleibe nicht stehen, sondern ziehe den anderen Mann direkt in mein Zimmer.

„Du schickst mich also nicht zu Jeff…“, bemerkt er und läuft an mir vorbei zu seinem Rucksack. Statt nach ihm zu greifen, sieht er sich lediglich um, so, wie er es schon im Sommer getan hat. „…dafür aber ins Gästezimmer.“ Obwohl seine Stimme einen kuriosen Schwung vollführt, ist es eine blanke Feststellung und resultiert mehr oder weniger daraus, dass ich ihm nicht gleich antworte. Auch ich bleibe am Bett stehen. Doch obwohl uns nur eine Armlänge trennt, fühlt es sich an, als würde ich mich aus der Gewohnheit heraus weiter von ihm entfernen.

„Spatz. Was ist los?“, fragt er weiter, weil ich keine Anstalten mache zu reagieren. Ich zucke nur mit den Schultern und ziehe meine Schlafklamotten unter der Decke des Bettes hervor. Die Socken, die ich in der Nacht zuvor getragen habe, purzeln auf den Boden. Der grüne rollt zum Nachtschrank, der gestreifte landet bei Kain. Er hebt ihn auf und wirft ihn zurück.

„Ist spät. Lass... einfach schlafen“, schlurre ich abgelenkt und unvollständig. Irgendwas lässt mein Gemüt straucheln und ich weiß nicht, was es ist. Ich klemme mir die Schlafsachen zwischen die Beine und ziehe mir demonstrativ den Pullover über den Kopf, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen. Ich schmeiße das ausgezogene Kleidungsstück auf einen Stuhl neben dem Kleiderschrank, der bereits mit einem Stapel frischer Klamotten belegt ist. Er wankt, fällt aber nicht. Irgendwas sagt mir, dass ich diesem Stapel gerade ganz ähnlich bin. Ich bleibe unschlüssig neben dem Bücherregal stehen, die Hände an meinem Gürtel, ohne ihn zu öffnen. Kain beobachtet mich aufmerksam, erkennt jedes Zögern, jeden winzigen Taumel meines Innenlebens, auch wenn er sie nicht immer korrekt deuten kann.

„Bist du doch sauer?“, pickt er letztendlich die Regung heraus, die bei mir am naheliegendsten ist.

„Nein“, sage ich, wende mich ab und schiebe ein paar Bücher in meinem Regal zurecht. Es sind diese kleinen flachen Hefte, gefüllt mit epischen Dramen, weisen Parabeln und herzschmerzender Liebesballaden, die ich im Laufe meiner Schulzeit lesen musste. Ich hatte sie nach Genre sortiert und Jeff irgendwann zu dem Farbverlauf eines Regenbogens. Eines steht falsch. Eines der Dramen, welche ich stets gehasst habe, welches mich Nerven gekostet hat ohne Ende und sich vermutlich bis zu meinem Ableben in meinem Kopf festsetzt.

„Du siehst aber verstimmt aus. Das aggressives Backfire, dass du sonst lieferst, wäre mir fast lieber... also bitte, rede mit mir“, entgegnet Kain und reißt mich aus den Gedanken. Aggressives Backfire also. Ich drehe mich langsam zu ihm um, nach dem Maria Stuart wieder an ihrem Platz ist.

„Ich bin nicht sauer.“, gebe ich zurück mit der maximalen Aggression eines Faultiers. Vielleicht bin ich minimal verstimmt. Doch das bin ich immer und in den seltensten Fällen weiß ich warum. In der letzten Zeit verstehe ich oft nicht, wieso ich fühle, wie ich fühle. Wieso muss man überhaupt fühlen? Es ist anstrengend. Ermüdend und lästig.

„Was ist es dann? Direkt und ohne Weglaufen, das war der Deal“, drängt der Schwarzhaarige weiter, verschränkt locker die Arme vor der Brust und lehnt sich gegen die Kommode hinter ihm. Immerhin lässt er mir Raum. Ich würde gern zurückfeuern, doch ich weiß nicht womit. Ich kopiere die Position und spüre, wie sich ein Brett des Bücherregals gegen einen der Wirbel in meinem Rücken drückt. Fast automatisch spanne ich meine Schultern an, sodass ich noch verkrampfter wirke. Das entgeht auch Kain nicht, der mich kritisch mustert. Wie heißt es so schön, man kann nicht nicht kommunizieren? Egal, wie sehr man es auch versucht. „Du willst mich nicht hier haben.“ Diesmal ist es keine Frage.

„Nein…“, erwidere ich angestrengt. Kain lässt die Arme sinken und sein Mund öffnet sich, ohne dass ein Laut seinen Weg hinausfindet. Sein Anblick in diesem Moment ist Wort genug. Oh. Es dauert etwas, bis ich begreife, dass er nicht das Schlafarrangement meinte. Oh! „Moment, so war das Nein nicht gemeint. Sondern mehr wie… Nein, das ist es nicht“, setze ich erklärend und leicht gequält nach, in der Hoffnung, dass ich nicht schon wieder einen Supergau produziere, weil ich unfähig bin, meine schriftlichen Fähigkeiten adäquat ins Mündliche zu übertragen. Ursache und Wirkung, die einen ständigen Kreislauf des Missverstehens verursachen. Es ist wie bei diesen Fragen, bei denen man nicht sicher sein kann, ob Ja oder Nein sie ablehnt. Kain atmet aus, nimmt sein Ausgangsposition wieder ein, doch seine Haltung ist weniger offen als zuvor. Auf Beziehungsebene versage ich wie immer auf voller Linie.

„Wie ist es dann? Es ist unübersehbar, dass du angespannt bist. Okay, wahrscheinlich weiß ich wieso, weil ich einfach hier aufgetaucht bin, ohne dir Bescheid zusagen…Ich habe mich reingedrängt und das passt dir nicht. Verstehe ich und das tut mir leid, aber...“

„Nein, Kain. Ich…“, setze ich an und breche wieder ab, weil es doch ein Grund ist. Aber nicht allein und nicht in der Intension, die er mir andenkt. Ich atme stark ein. „Ganz ehrlich?“ Ich stoße die Luft aus.

„Ich bitte darum. Ich kann deine Gedanken nämlich leider nicht lesen.“ Es würde ihm nicht mal etwas nützen.

„Ja, du bist hier und es verwirrt mich“, presse ich hervor.

„Was genau verwirrt dich?“, hakt er stirnrunzelt nach. Wieder spannt sich sein gesamter Körper, so, dass ich sehen kann, wie sich die Muskeln unter dem Stoff seiner Hose bewegen. Es ist nicht hilfreich. Meiner Konzentration nicht zuträglich. Ich überlege fieberhaft, wie ich es ihm erkläre, ohne dass ich wie ein absoluter Vollhonk rüberkomme und da ist jede Ablenkung kontraproduktiv. Vor allem weil ich gar nicht genau verstehe, was es ist.

„Kannst du noch eine Stunde warten, dann schreibe ich es auf…“, witzele ich und presse die Lippen aufeinander.

„Du verarscht mich doch, spuck es einfach aus, Robin“, blufft er. Einfach ausspucken. Diese Verhaltensweise sorgt bei mir selten für qualitative Beiträge. Kain seufzt, stößt sich von der Kommode ab, die zum Glück an der Wand befestigt ist und kommt geschmeidig auf mich zu. Ich rühre mich nicht, sondern sehe dabei zu, wie er direkt vor mir stehenbleibt. Ich starre direkt auf die u-förmige Kerbe, die durch den Musculus sternohyoideus an seinem Hals gebildet wird. Sein Adamsapfel hüpft als er schluckt. Mein Blick wandert zwischen beidem hin und her, aber nicht höher. Ich schaffe es nicht.

„Was genau empfindest du?“, flüstert Kain, „Was passiert da in deinem Kopf?“ Er tippt mir mit dem Finger gegen die Stirn, als würde es das Wirrwarr darin in Reih und Glied bringen können. Ist Chaos ein Gefühlszustand? Wie kann es sein, dass die Unsicherheit schreit, während die Gewissheit keinen Zweifel zulässt? Ist es schlicht Verunsicherung, die mich einzig daran hindert, das angeregte Kribbeln in meinem Inneren zu genießen? Kains Adamsapfel bobbt auf und ab und nicht mal die vielen Bartstoppel mindern das hypnotische Spiel, an dem ich mich festklammere, um nicht den Fokus zu verlieren. Dem konfusen Dunst in meinem Kopf hilft es wenig. Mit Daumen und Zeigefinger hebt Kain mein Kinn an, sodass ich wohl oder übel aufsehen muss. „Soll ich gehen?“ Da. Es geschieht wieder. Die Intensität seines Blickes macht mich für das metaphorische Meer, in das ich schaue, farbenblind. Denn wenn man ertrinkt, dann spielt die Farbe des Wassers keine Rolle mehr. Ich war ja noch nie ein Freund dieser massentauglichen Stilmittel, die durch ihre Omnipräsenz zur laienhaften Rhetorik verkommen. Doch auch ich falle ihrer mystischen Kraft anheim. Und Schuld sind diese lächerlichen, schönen braunen Augen, die mir zur gleichen Zeit eine sanfte Woge schenken und mich in einen reißenden Strudel zerren. Als würde man durch das alleinige Hineinstarren nichts anderes tun können, als sanft zu entschlafen und dabei einfältig lächeln.

Ist es das, worüber die großen Meister in den alten Dramen stritten? Ist es das, was die Philosophen der Weltgeschichte das Singen der Sirenen nannten? Ist das der Zauber, der selbst Gelehrte Vernunft und Intellekt vergessen ließ?

Egal, was es ist, es ängstigt mich. Und dennoch es ist unausweichlich und es ist beständig. Es nistet sich tief ein und verharrt. So sehr ich auch dagegen zu kämpfen vermag. Kain ist da und nichts in mir, kein Funken, kein My, will zu lassen, dass er geht.

„Nein.“

„Nein?“ Es klingt mehr wie das Flehen nach Sicherheit als das Necken, hinter dem es sich versteckt. In diesen Moment bin ich mir sicher, dass es auch für ihn nicht leicht ist. Ich bin daran schuld. Ich bin launenhaft und abweisend, wenn ich über meine Gefühle stolpere, wie ein tapsendes Kind über Spielzeug beim Entdecken des Kinderzimmers. Was diese Beziehungskiste angeht, stecke ich in Kinderschuhen fest, während Kain im Hinterhof seine erste Zigarette raucht. Eine, die ich nur zu gern in die Finger kriegen würde. Sei es nur für einen einzigen Zug, für einen einzigen klaren Gedanken. Damit wäre ich zufrieden. Er vermutlich auch. Auch, wenn er es verbirgt, ich sehe die Frustrationen, die jede meiner Unzulänglichkeiten schüren.

„Spatz.“ Ein flatterndes Flüstern. Ich schließe meine Augen, während es über meine Wange streift und mich erahnen lässt, was folgt. Der erste Kuss ist einfach, aber bedeutend. Der zweite intensiv und genießend. Diesen löst er nicht so schnell. Unsere Lippen bewegen sich übereinander. Kostend. Liebkosend. Kains Zunge beginnt meine zu locken, als ich mehr und mehr meinen Mund für ihn öffne, mich ihm weiter entgegen lehne. Er muss nicht lange darum bitten. Er muss kaum Mühen dafür aufbringen, denn ich schmelze in die Verbindung wie Eis in der prallen Sonne. Ich erwidere jede seiner Berührungen genüsslich, spüre, wie wir unbeweglich miteinander tanzen und ich langsam das vergesse, woran ich eben noch strandete.

Doch es ist nicht der richtige Zeitpunkt, nicht der richtige Ort. Vielleicht ist es nicht mal das richtige Leben, um mich zu verlieren, aber als wäre ich längst in dem anschwellenden Sog gefangen, schlägt mein Herz in einem stetigen Rhythmus einzig nach mehr, mehr, mehr. Es fleht. Ich gehorche. Es will. Ich scheitere. Ich schiebe Kain sachte von mir, sodass sich auch unser Kuss löst. Er hält seine Augen geschlossen, während sich meine zur Hälfte öffnen. Statt sich zu beschweren, streicht er mit seiner Hand in meinen Nacken. Hält mich und erdet mich, als hätte er selbst Angst davor, dass ich jeder Zeit ausbreche und fliehe. Es ist nicht unbegründet. Die plötzliche Wärme, die Sanftheit dieses schlichten Kontakts schlagen mir den letzten Atem aus den Lungen. Ich spüre seine Fingerspitzen tiefer in meine Haare gleiten, wie sie ein winziges Gewitter auf meiner Haut auslösen und die Spannung mit weiterem Verlangen belegen. Ich kippe meinen Kopf gegen seine Schulter, versuche mich auf etwas zu konzentrieren, was mir ermöglicht, klar zu denken. Doch da ist nichts. Nur Kain, in diesem Augenblick. Sein Geruch gemischt mit der Vertrautheit meines Elternhauses. Sein Geschmack auf meinen Lippen gewürzt mit Weihnachten und dem Bewusstsein, dass er vielleicht bleiben wird. Ich muss es nur richtig machen. Irgendwie.
 

Das Alles, seit dem Moment, ab dem Kain unerwartet bei uns in der Haustür stand, wäre ein perfekter Plot für eines meiner Bücher. Verrückt. Wenn ich darüber nachdenke, fallen einige Dinge, die ich mit Kain erlebe, in diese Kategorie. Dabei hätte ich schwören können, dass es sowas im echten Leben nicht gibt. Dass vielleicht ein Prozent aller Beziehungen eines schnulzigen, fluffigen Buches entsprechen und Szenen malen, die so vollumfänglich sind, dass sie vor Romantik triefen und jedem aufzeigen, dass Liebe möglich ist. Selbst dem begriffsstutzigen Protagonisten, der sich längst des Liebesschmerzvergessens verschrieben hat. Wahrscheinlich hätte ich es selbst noch kitschiger geschrieben und das schwebende Gefühl in meiner Brust besser verstanden. Doch dem ist nicht so. Das hier ist die Realität und für mich ist es nicht einfach, nicht fließend. Nicht mal hundertprozentig klar. Egal, welche Auflösung die Bilder haben. Denn der Zweifel ist stark. Die Angst ist präsent. Sie ist immer da und hier, in meinem Elternhaus, ist sie wesentlich stärker. René umgibt mich überall, obwohl er schon lange nicht mehr da ist und zu wissen, wie schnell es geht, etwas zu verlieren, was einem die Welt bedeutet, macht es so viel schwerer, es zu akzeptieren. Dennoch fühlt es sich anders an, schöner, hier und jetzt mit Kain zu stehen. Also mache ich das, wonach sich ein Teil von mir sehnt und drücke ein wenig mehr gegen die Mauern, die mich umgeben. Ich hülle das Gefühl ein, um es nicht zu vergessen, um es zu bewahren. Dann löse mich aus der Umarmung. Kains Augen sind mittlerweile geöffnet und blicken mir sanft entgegen. Er sagt nichts und ich danke es ihm. Ich greife endlich nach meinen Schlafklamotten, die zwischen meinen Beinen klemmen und lege sie auf dem Bett ab. Ich greife nach Kains Rucksack und stelle ihn auf meinem Nachtisch ab. Ich krame das Ladekabel seines Handys hervor und lege es auf dem Schränkchen ab. Ich nehme seine Waschtasche und ein paar Socken. Ein Paar gleichfarbige. Dilettant. Beides werfe ich dem Schwarzhaarigen zu, nicke und trabe ins Badezimmer. Gedankenlesen hin oder her, er versteht meine Einladung. Als ich mir am Waschbecken die Zähne putze, stößt er zu mir. Ich stoppe mit den kreisenden Bewegungen, als er mir einen Kuss gegen die Schläfe drückt und danach nach der Zahnpastatube angelt.
 

Am nächsten Morgen erwache ich, weil ich davon träume, nackt auf dem Himalaya festzusitzen und Eis zu essen. Mit all der schlafgescholtenen Kraft, die ich aufbringen kann, fuchtele ich mit der Hand in der Luft herum, um einzig festzustellen, dass meine Finger derartig steif gefroren sind, dass plötzlich alles schmerzt. Als ich das gleiche unerklärlicherweise auch mit den Füßen versuche, scheitere ich kläglich. Ich kriege sie nicht mal angehoben. Der Glühwein gestern hat ganze Arbeit geleistet, denn scheinbar war ich so betrunken, dass ich nicht mehr merkte, dass ich kurz davor bin, zu erfrieren und sich bereits Teile meines Körpers verabschiedet haben. Es folgt Phantomschmerz und einfach alles tut weh. Mein Kopf. Mein Rücken. Meine Arme und Beine. Sogar mein Ohrläppchen. Allerdings nur das Linke, jenes, welches nicht ins Kissen gedrückt war. Dabei war ich gar nicht wirklich betrunken gewesen. Sex hatten wir auch keinen und dennoch fühlt sich mein Körper schwer und unbeweglich an. Was vermutlich eine externe Komponente hat, denn so langsam wird mir klar, dass der Kerl, mit dem ich gestern keinen Sex hatte, die Decke okkupiert und seine Gliedmaßen als Anker benutzt. Ich greife hinter mich und ertaste etwas Stoff. Ohne Scheu und jeglichem Mitgefühl zerre ich daran und gewinne die Oberhand. Einfach bei einem schlafenden Gegner. Der Stoff, der nun mich bedeckt, ist angenehm körperwarm. Ich sammele jeden Fitzel zusammen und rolle mich darin ein, sodass nur noch ein paar Haare auf dem Kissen zu sehen sind. Selbst die frieren. Nun ist es an Kain, die Eiszeit zu erleben und er meldet sich erstaunlich schnell mit einem deutlichen Murren. Auch seine Füße bewegen sich, jedoch nicht von mir weg.

„Hey, … kalt.“ Auch er tastet rücklings, tätschelt dabei meine Hüfte und hat keine Chance. Ich gebe die Decke nie wieder her. Erst, wenn meine Körpertemperatur um mindestens drei Grad gestiegen ist. Meine brummende Antwort wird von der Bettdecke geschluckt. Ich höre, wie sich Kain neben mir regt, wie die Matratze auf und ab wippt und nun auch die Füße von meinen unteren Gliedmaßen verschwinden. Ich ziehe meine ein und schrumpfe auf die kompakte Größe eines Hamsters zusammen. Die suchende Hand tippt mir mehrfach gegen die Schulter und irgendwann bleibt sie auf meinem Kopf liegen. Ich lasse meine Augen geschlossen und stelle mir vor, wie Kains Daumen über den Stoff der Decke streicht. Das würde das kratzende Geräusch erklären. Langsam und beständig, da sein Körper selbst noch schlaftrunken reagiert. Es dauert weitere Minuten, bis ich einen deutlichen Zug an der Decke spüre und wie sich langsam immer mehr Luftlöcher bilden. Das erste an meinem Hintern. Das nächste an meinem Schulterblatt. Ich brumme ablehnend, kann aber nicht verhindern, dass sich die luftigen Lücken mit einem Festkörper füllen. Ich reagiere erst, als sich Kains stoppeliges Kinn in meinen Nacken presst.

„Fuck, ernsthaft?“

„Was?“, ertönt es unschuldig und er besitzt die Frechheit, sein Kinn demonstrativ über meinen Nacken zu reiben. Ich bestehe für einen Moment nur noch aus Gänsehaut, selbst meine Organe erpeln munter drauflos. Da ich nur in eine Richtung fliehen kann, falle ich aus dem Bett und schaue mit zusammengebissenen Zähnen zu dem Schwarzhaarigen.

„Hast du echt so viel zu tun, dass du nicht mehr dazu kommst, dich zu rasieren?“, erkundige ich nach einem Moment der Stille bei dem mehr und mehr nach Piratenhäuptling aussehenden Riesen hinter mir und frage mich, ob er ihn extra dran gelassen hat, um seine Eltern zu ärgern. Zuzutrauen wäre es ihm.

„Ich wollte mir einen Weihnachtsmannbart wachsen lassen, meinst du nicht, dass mir das steht?“, erklärt Kain mit ernster Miene.

„Du als Weihnachtsmann?“, wiederhole ich belustigt und komme nicht umher, mir zweierlei Dinge vorzustellen. Harmlos und Schamlos. „Halbnackt in einem Pin-up-Kalender für Frauen vielleicht. Ansonsten fehlen dir die Maße.“

„Pff, von wegen! Der Weihnachtsmann kann so aussehen, wie jeder ihn sich vorstellen will. Das ist die Macht der Fantasie. Moment! Stört dich mein Wuschelbart etwa?“, fragt er, kratzt sich über das feste Haar und bevor ich darauf antworten kann, schmatzt er mir gegen die Wange. Wuschel am Arsch. Es piekt deutlicher als gestern, also verziehe ich den Mund und rutsche eilig aus seiner Reichweite ans Fußende des Bettes. Darüber, ob er mich stört oder nicht, habe ich bisher nicht nachgedacht. Stören ist auch das falsche Wort. Es ist nur anders.

„Ich habe eigentlich nur keine Rasierklingen mehr, jedoch ist der Nebeneffekt so nutzbringend, dass ich es nur etwas hinauszögere.“

„Nebeneffekt?“, frage ich skeptisch. Ich weiß nicht, was daran, abgesehen von den thermischen Effekten hinsichtlich der niedrigen Temperaturen der Wintermonate, nützlich sein soll.

„Japp, er bringt meine Mutter zu Weißglut und das heißt, ich mag ihn“, klärt er mich auf. Meine Vermutung war also richtig. Ich erhasche noch einen kurzen Blick auf sein gehässiges Grinsen, als ich mich zu ihm umdrehe und ebenso sehe, wie er auf allen Vieren auf mich zu kommt.
 

Ehe Kain auch nur ansetzen kann, wird die Stimmung im Raum durch den Einmarsch des Todessterns zerrissen, der in Form des Star Wars Soundtracks aus seinem Handy ertönt. Demonstrativ lässt er seinen Kopf nach vorn kippen und als wäre das nicht genug, gibt er seiner Frustration auch geräuschvoll Ausdruck. Erst knurrend, dann ausformuliert. Ich habe ihn noch nie so viel am Stück fluchen gehören. Dennoch macht er keine Anstalten, nach dem Telefon zu greifen, daher nehme ich ihm den Weg ab und gehe um das Bett herum zum Nachtisch. Kain fällt seufzend zur Seite und ich werfe ihm das Handy in den Schoss, jedoch nicht, ohne vorher einen kurzen Blick auf den eingeblendeten Namen auf dem Display zu erhaschen. 'Erzeuger'. Kain schaut gequält auf. Das Klingeln hört nicht auf, also rutscht er zum Rand des Bettes. Es wirkt als wolle er sich erden, indem er die Füße auf den Boden stellt.

„Geh schon ran", fordere ich ihn auf und ziehe mir ein Shirt aus dem Schrank. Kain seufzt hinter mir und nimmt den Anruf entgegen. Keine Begrüßung und scheinbar ist sie auch nicht nötig, damit der Anrufer losgeht.

"Ja.... Nein... Nein... Ja. Nein." Klingt aufregend. Kain derartig kurzangebunden zu hören, lässt mich aufblicken. Er hat seinen Arm über dem Bauch gelegt und starrt auf seine wippenden Knie. "Nein. Warum? … Bei meinem Freund... Was spielt das für eine Rolle?" Ich schnüffle gerade an dem Shirt, als er das sagt. Statt es anzuziehen, stecke ich es zerknüllt wieder zurück und nehme mir stattdessen einen Pullover, den ich beim Verlassen des Zimmers überstreife.

Als ich unten ankomme, frage ich mich, wie ich es geschafft habe, die Treppe zu bewältigen ohne zu stürzen, denn ich kann mit Gewissheit sagen, dass sich mein Gehirn für die letzte Minute vollkommen abgeschaltet hat. Schuld ist Kain. Hat er ein Freund oder mein Freund gesagt? In meinem Kopf entsteht ein monotones Summen. Blackout. Schon wieder. Diesmal bin ich zum Glück nicht auf die Idee gekommen, die Treppe hoch oder runter zulaufen. Mein Erinnerungsvermögen straft mich sicher Lügen und im Grunde hat es auch nichts zu bedeuten. Ein Freund. Mein Freund. Daraus kann man nichts Konkretes ablesen. Wieso verursacht es mir dennoch Herzrasen? Es macht mich fertig und ganz ehrlich, es kann nicht gesund sein. Ich schüttele nach einem Moment den Kopf. Zähne putzen war ich auch noch nicht. Eigentlich habe ich ins Bad gehen wollen. Jetzt stehe ich im Flur. Wow, was ist nur los mit mir?
 

Schon im Flur kann ich meine Mutter leise zum eingeschalteten Radio summen hören. Obwohl ich leichtfüßig unterwegs bin, dreht sie sich zu mir um, als ich im Türrahmen auftauche und lächelt. Sie trägt eine dunkelblaue Jeans, dicke Wollsocken und eine Bluse mit lauter kleinen Mistelzweigen darauf. Lena hat ein passendes Kleid dazu, wobei ich mir sicher bin, dass sie nicht mehr reinpasst. Hendrik und ich bekamen damals Krawatten. Mein Pendant habe ich nie getragen, denn mir erschließt sich der Nutzen von Schlipsen nicht.

„Guten Morgen, mein Schatz, wie hast du geschlafen?“

„Wie ein Kiesel in einem Feld voller größerer Steine“ Schwer und kalt. Kains lange, muskulösen Beine lagen auf mir und er hatte die Decke. Mehr muss ich nicht sagen.

„Ich würde ja nach einer Erklärung fragen, aber vermutlich würde ich sie nicht verstehen.“ In diesem Fall würde sie es, doch ich bin nicht gewillt, sie Preis zu geben. Ich lächele lediglich verschwörerisch, stupse sie mit der Schulter an und wandere zum Wasserkocher. Ich fülle ihn mit Wasser, schalte ihn an und widme mich den vorbereiteten Tellern für den Frühstückstisch. Ich begutachte die viele frischen Zutaten. Gurke. Tomate. Verschiedenes Obst. Aufschnitt und Käse. Ein Glas selbstgemachter Himbeermarmelade. Das Einzige, was meine Mutter freiwillig von Hendriks Mutter annimmt.

„Ist alles okay mit Kain?", fragt sie beiläufig und wendet die Brötchen im Herd, „Er wirkte gestern zu Beginn ein wenig durcheinander.“

„Wirklich?“

„Ja, also, alles okay bei ihm?“

„Glaub nicht“, erwidere ich schlicht und liebäugle mit einer der roten Früchte des Nachtschattengewächses.

„Geht das nicht etwas mitfühlender?", tadelt sie mich und schlägt mir sachte das Handtuch gegen den Oberschenkel, als ich mir gerade eine Tomate in den Mund stecken will. Ich lasse sie prompt fallen.

„Was denn?", frage ich empört und erlege mit einem neuen Versuch gleich zwei der roten Früchte.

„Geht es ihm gut? Wie fühlt er sich? Was geht in ihm vor?" Sowas kann auch nur meine Mutter fragen. Wie kommt sie auf die Idee, dass ich darauf Antworten habe?

„Woher soll ich das wissen? Ich kann doch nicht in seinen Kopf gucken! Gedankenlesen kann ich auch nicht und will ich gar nicht." Und wie mitfühlend ich gestern Abend gewesen bin, will sie mit Sicherheit nicht wissen.

„Aber du könntest ihn fragen und Interesse zeigen. Sowas macht man bei Freunden“, schlägt sie vor und macht mit ihren Händen eine anmutige kreisende Bewegung, die mir gar nichts sagt und die ich nur skeptisch beäuge, während ich eine Seite meiner Oberlippe hochziehe. Sie kann ihn doch selbst fragen. Mama schüttelt ihren Kopf. Ich stecke mir die Tomaten diesmal wirklich in den Mund und hoffe, dass sie es als Signal dafür versteht, dass ich nicht gewillt bin, weiter darüber zu reden. Freunde! In meinem Kopf beginnt es erneut, sich zu drehen. Ich inspiziere den Teller mit dem Obst, klaube etwas Pflaume und Mandarine vom Teller.
 

„Sag mal, willst du nicht mal einen neuen kaufen?", fährt meine Mutter ihren Klagemarathon fort und zupft an meinen Pullover rum. Was habe ich ihr heute getan? Ich bin doch bisher nur aufgewacht.

„Warum?", frage ich und stecke mir das Obst in den Mund. Die Mandarine ist säuerlich und ich mag es.

„Den Pullover hast du jetzt sicher seit zehn Jahren."

„Und?" Er passt noch und erfüllt seine Funktion. Ich schaue an mir herab und wieder auf. Er ist nicht mehr flauschig, aber kuscheln war sowieso noch nie mein Ding. Egal womit. „Hast du was gegen meinen Pullover?"

„Nein, er ist nur alt und er hat da ein Loch. Der Weihnachtsmann sollte dir einen neuen schenken", erklärt sie und piekst mir durch die Öffnung hindurch in die Seite. Er soll es ruhig versuchen. „Mit dem da gehst du nicht vor die Tür, verstanden?“ Ich würde damit zu einer Hochzeit gehen, ohne darüber nachzudenken. „Deine Schwester hat sich übrigens seit neusten in den Kopf gesetzt, Koreanisch zu lernen.“

„Ich dachte, sie will boxen?“, frage ich verblüfft oder war es Rugby? Nein. Das war davor. Zwischendurch gab es noch Fechten. Ich bin mir sicher, dass Lena während der Hochzeit unserer Onkels darüber gesprochen hat, dass sie gern einen schwarzen Fechtanzug hätte, wie Wednesday Addams. Meine kleine Schwester ist sprunghafter als ein Grashüpfer. „Warum ausgerechnet Koreanisch?“

„Das kann ich dir nicht beantworten. Gibt es da eine koreanische Boxtechnik? So ein koreanisches Taekwondo?“, erkundigt sich meine Mutter voller Unwissenheit und schenkt mir einen arglosen Blick, während sie ein paar Scheiben Schinken auf einer Platte drapiert. Ich kann nicht anders und lache lauthals los.

„Mama, das kommt sowieso Korea“, erkläre ich erheitert und ernte einen leicht beschämten Stupser. Wahrscheinlich dachte sie an Karate.

„Redet ihr vom Essen?“, ertönt es hinter uns und Kain betritt die Küche. Er trägt einen hellen, wolligen Pullover über einer dunkelgrauen Jeans und mein eigentlich schweifender Blick wird verweilend. Er hat sich rasiert und sieht wieder aus wie ein griechischer Gott. Verdammt, dieser gutaussehende Mistkerl. „Guten Morgen.“ Kain lächelt einnehmend und wirkt nicht mehr ganz so mitgenommen wie gestern Abend, was vermutlich auch an den stoppelfreien Wangen liegt.

„Guten Morgen, Kain. Nein, es geht um Sport, nicht wahr?“ Die Frage richtet meine Mutter an mich.

„Nicht Linguistik?“, entgegne ich absichtlich Verwirrung stiftend. Es folgt Schweigen, dann lachen wir beide und Kain schaut stattdessen verdutzt aus der Wäsche.

„Einigen wir uns darauf, dass wir uns uneinig sind, okay? Was möchtest du trinken, Kain?“, fragt Mama den Schwarzhaarigen, während ich bereits zwei Espressopads aus der Schublade nehme und einen in der Maschine platziere, ohne aufzuschauen oder abzuwarten.

„Einen richtig starken Kaffee, bitte“, sagt er, während ich längst die Kaffeemaschine starte und durch das laute Brausen die Hälfte seiner Antwort schlucke.

„Ich kenne ein gutes koreanisches BBQ-Restaurant in der Nähe des Campus. Das Kimchi ist göttlich. Wir sollten mal dorthin gehen.“, schlagt Kain vor, beugt sich ebenso wie ich auf die Arbeitsplatte und schaut dabei zu, wie der braune Lebenssaft in das Glas tröpfelt. Er ist so stark, dass es mir in der Nase zwiebelt. Unsere Ellenbogen berühren sich und ich starre auf eine besonders weich wirkende Stelle an Kains Hals.

„In der Innenstadt gibt es seit kurzem ein Sushi- Restaurant“, teilt uns Mama mit und verhindert damit, dass ich meinen Finger nach der beobachteten Stelle austrecke. Stattdessen weiche ich zur Kaffeemaschine aus und lege das zweite Kaffeepad in die Maschine.

„Das ist aber japanisch“, merke ich an, schaue zu Kain, der schlicht lächelt und dabei umwerfend aussieht. Ich hasse ihn.

„Das weiß ich, du Besserwisser. Ich wollte auch nur erzählen, dass mein Goldschatz von Mann und ich dort bereits essen waren und es war sehr gut.“

„Hendrik hat freiwillig rohen Fisch gegessen?“, erkundige ich mich argwöhnisch, wende mich in den Raum hinein und sehe, wie der besagte Ehemann gerade die Küche betritt.

„Natürlich nicht. Es gab dort auch richtiges Essen und wirklich tolles grünes Eis zum Nachtisch, welches deine Mutter hatte. Das solltest du mal probieren.“

„Matcha-Eis“, erklärt meine Mutter uns, „Hendrik hatte einen Cocktail mit Sojasoße.“ Sie kichert wie ein Schulmädchen. Sojasoße im Getränk? Hendrik haucht ihr einen Kuss auf und stibitzt eine der Cocktailtomaten.

„Klingt nach einem sehr romantischen Date“, gibt Kain hinter mir zum Besten. Meine Mutter nickt eifrig und lächelt Hendrik entgegen. Ich ertappe mich dabei, dass ich unter keinen Umständen länger darüber nachdenken möchte, dass die beiden ein Rendezvous hatten. Noch weniger will ich daran denken, dass der große Kerl gerade seinen Finger in meine Hüfte piekst. Ich quieke langgezogen und hüpfe von ihm weg, strecke ihm stattdessen tadelnd meinen Finger entgegen. Kains unschuldige Miene überzeugt niemanden. Er rutscht wieder zu mir auf und zieht die fertige Tasse Kaffee zu sich heran. Er schnuppert, pustet in den Rauch und sieht mich danach verschmitzt lächelnd an. Gefährlich. Meine Ahnung kommt nicht von ungefähr.

„Wann holen wir eigentlich unseres nach?“, flüstert er. Ich starre ihm dabei auf die Lippen und merke, wie sich ein brizzelndes Gefühl in meinem Unterbauch bildet. Das erste Date, was niemals stattgefunden hat und welches Dank alltäglicher Umstände bisher nicht zur Sprache kam. Bislang. Ich schlucke unwillkürlich, sehe dabei zu, wie Hendrik und Mama mit den restlichen Speisen in den Nebenraum verschwinden und sehe danach erst zu dem Verursacher meines anstehenden kardiologischen Akutereignisses.

„Wann hast du denn mal keins mit deinem Muskelbuddy?“, entgegne ich schnippisch, schnappe mir meinen Tee und husche an ihm vorbei ins Esszimmer. Die Tatsache, dass ich im Grunde nicht Nein zu diesen antiquierten Balzgebären sage, lässt meine Fingerspitzen aufgeregt kribbeln und mich an meinem Verstand zweifeln. Verdammt. Wo bleiben die allesverschlingenden Erdlöcher, wenn man sie braucht? Oder die Meteoriten? Die Supernova, die das Leben unter Menschen um ein Vielfaches vereinfachen würde? In Gedanken versunken falle ich auf meinen gewohnten Sitzplatz und krieche erst wieder in die Realität, als Kain mir einen Toast vor die Nase hält.
 

Er bedenkt mich mit einem mehr als deutlichen Blick. Er wird es nicht vergessen und ich werde weiterhin alles dafür tun, ihm auszuweichen. Irgendwann beginnt Hendrik über das Mittagessen zu sprechen und die Aufgaben zu verteilen. Meine Mutter ordert Kain zum Rotkohl schneiden. Lena trifft mit einem Kissenabdruck auf der Wange ein, als wir über Kartoffeln oder Klöße debattieren. Sie will Knödel. Mir ist es egal. Ich favorisiere weder das eine noch das andere. Ich esse einfach. Auch Kain ist keine Hilfe, also erinnere ich daran, dass es im letzten Jahr bereits Knödel gab. Der Nachtisch obliegt wie immer mir und ich habe mich schon im Vorfeld für Maronen-Tiramisu entschieden. Niemand wagt es, sich einzumischen.

„Oh, vielleicht können wir nachmittags eine Runde Siedler von Catan spielen. Zu fünft macht es so viel mehr Spaß.“, wirft Lena zwischen zwei Happen in den Raum. Den letzten Bissen ihres Toasts belädt sie mit einem zusätzlichen Löffel Himbeermarmelade.

„Du willst ja nur jemanden haben, mit dem du schummeln kannst“, watsche ich sie direkt ab. Ich weiß ganz genau, was sie plant. Der Tisch lacht, nur Kain nicht. Er wirkt mit einem Mal abgelenkt und ich denke wieder an das Telefonat, welches er vorhin mit seiner Mutter hatte.

„Ich erkenne nicht, was daran falsch sein soll.“

„Und das ist das Problem“, gebe ich zu bedenken. Sie meckert mimisch. Lena kriegt die Aufgabe, den Tisch abzuräumen und ich schaffe es, Kain davon abzuhalten, ihr zu helfen. Ich ziehe ihn in die Bibliothek oder eher den abgegrenzten Teil des Wohnzimmers, in dem Mama Krimis stehen.

„Worum gings vorhin in dem Telefonat mit deinen Eltern?“ Kain presst die Lippen aufeinander, gibt ein paar unstete Geräusche von sich und sieht von links nach rechts. Geschmeidig an mir vorbei. Er schnalzt und ich weiß auch ohne diese Geräuschkulisse, dass er am liebsten nicht darüber reden möchte.

„Sie verlangen, dass ich morgen bei dem Familienessen anwesend bin. Sie meinen, ich würde mich zu sehr ausgrenzen und nicht mal versuchen, mit ihnen auszukommen.“

„Enterben sie dich, wenn du es nicht tust?“, erkundige ich mich, statt auf seine implizierten Anschuldigungen einzugehen. Kain schenkt mir einen mokierten Blick.

„Schön wäre es. Nein, sie drohen nur und erweitern die Palette an Vorwürfen.“

„Finanzieren sie dir nicht auch das Studium?“

„Tun sie.“

„Denkst du nicht, dass das Essen die Wogen vorerst glättet und sie dich danach wieder in Ruhe lassen würden?“

„Nein! Denn egal, was ich mache oder nicht, sie geben mir eh die Schuld an allem und finden neue Vorhalte. Ich könnte der beste Sohn der Welt sein und sie wären nicht zufrieden, also lasse ich das mit dem Hofieren.“

„Strategisch mangelhaft und dämlich. Meinst du nicht, dass sie sich in allem bestätigt fühlen, wenn du nicht zu dem Essen erscheinst?“, gebe ich zu bedenken. Kain verstummt lange. Sein Kiefer ist angespannt und seine Augenbrauen bilden eine deutliche Furche zwischen seinen Augen, die ich schon ein paar Mal bei ihm erleben durfte. Ich bin fast erleichtert, dass ich diesmal keine Schuld daran trage, dass er irgendwann dort permanente Falten entwickelt.

„Begleite mich“, äußert er ruhig nach der scheinbar für ihn aufschlussreichen Grübelei.

„Was?“, entflieht es mit stumpfsinnig und von dieser Wendung überrumpelt.

„Lass mich mit den Verrückten nicht allein, weil ich im schlechtesten Fall für den Rest meiner Lebenszeit in den Knast wandere und dort als Lustknabe für einen noch größeren Kerl als mich selbst Ende.“ Wie dramatisch.

„Das ist kaum möglich.“

„Wenn ich es dir doch sage“, versichert er so, als wäre es irgendwo festgeschrieben.

„Höchstwahrscheinlich würdest du zum Lustknaben von jemand werden, der viel, viel kleiner ist“, spekuliere ich unaufgeregt. Es projiziert interessante Bilder in meinen Kopf, bei denen ich die Lust verspüre, sie aufzuschreiben.

„Du bist nicht hilfreich.“

„Natürlich nicht. Du bist der, der absurde Vorschläge macht. Du kannst mich nicht einfach zu eurem Familienessen mitnehmen.“

„Wieso nicht? Ich nehme doch auch an eurem Teil. Außerdem, Familienessen, dass ich nicht lache", entgegnet er spöttisch und senkt seinen Blick, „In meiner Familie ist es wohl eher ein letztes Abendmahl am Weihnachtsfeiertag, mit anschließender Kreuzigung. Ich bin es so leid, allein gegen sie anzureden."

„Und du denkst meine Anwesenheit würde irgendwas daran ändern? Glaub mir, mit mir folgt die Sintflut.“ Und ich glaube kaum, dass Noah sein U-Boot schon fertig hat.

„Ich kann schwimmen.“ Ist Kains einziger Kommentar dazu. Ich sehe ihn mit kräuselnden Augenbrauen an.

„Dein Ernst?“, frage ich nach etlichen Minuten, die ich damit verbringe, sein Gesichtsausdruck zu interpretieren. Ich sehe keinerlei Zweifel. Ein wenig schadenfrohe Heiterkeit und einen Hauch von spitzbübischem Funkeln. Beides gut beschattet mit der augenscheinlichen Seriosität, die Kain aufsetzt, wenn er mit Professoren spricht. Irgendwas ist faul.

„Mein voller Ernst“, bekräftigt er daraufhin.

„Deine Eltern kennen mich nicht.“

„Dann lernen sie dich kennen.“ Es klingt fast wie eine Drohung.

„Es ist Weihnachten.“

„Makulatur.“ Wahrlich gäbe es keinen Anlass, der meine Abneigung schmälern würde, irgendjemandes Verwandten kennenzulernen.

„Ich bin nicht gesellschaftsfähig“, gebe ich zu bedenken und deute auf das von meiner Mutter entdeckte Loch in meinem Gammelpullover, welches stellvertretend für das Schwarze Loch steht, mit dem ich jegliche Sympathien verpuffen lasse. Der Schwarzhaarige begutachtet das Loch skeptisch und seufzt.

„Spatz…“, setzt er an und ich stoppe ihn schnell, indem ich ihm die komplette Hand über den Mund lege. Wir starren uns an. Ich schaue erschrocken und warnend. Kain zunächst irritiert, dann entschuldigend. Erst danach blicke ich zu den jeweiligen Ausgängen des Raums und unterdrücke das mulmige Gefühl in meiner Magengegend, während ich still hoffe, dass das niemand gehört hat. Lena würde diese Spatzen-Geschichte mit Freude aufnehmen und dann hätte ich nie wieder Ruhe.

„Das ist keine gute Idee“, führe ich uns zurück zum Punkt.

„Bitte.“ Schlicht und einfach. Es ist kein betteln, eher ein Er-geht-mir-solange-auf-die-Nerven-bis-ich-nachgebe.

„Warum?“

„Support?“

„Beim Weltuntergang?“

„Für mich, du Blödmann. Du kannst eine vortreffliche Ablenkung sein.“

„Oh ho“, begleite ich seine Erklärungsversuche.

„Beim Stressreduzieren oder zur Entspannung zum Beispiel.“

„Klar, Sex ist ein willkommener Aggressionsabbau“, erwidere ich spitz, aber flüsternd. Kain streckt seine Hand nach mir aus und packt mich am Kragen, jedoch ohne mich näher zu ziehen. Er schürzt die Lippen und zieht scharf die Luft ein.

„Wieso erstaunt es mich eigentlich immer noch, wie unsensibel du sein kannst…“

„Das muss die naive Weihnachtsstimmung sein. Wichteliwooh."

„Oder die Tatsache, dass du manchmal ein echter Idiot bist.“ Ebenso zutreffend. „Ich dachte ernsthaft, dass wir über dieses Es-ist-nur-Sex-Ding hinaus sind. Das kostet dich eine Karte..."

„Was? Nein, das ist gegen die Regeln“, wehre ich mich ad hoc.

„Wieso? Du darfst sie einsetzen, damit ich dich in Ruhe lasse und ich verlange eine, wenn du mir mit deiner uncharmanten Art auf die Füße trittst. Finde ich fair."

„Das ist nur in deiner Welt fair. Außerdem bin ich nach der Prämisse alle Karten nach zwei Tagen los."

„Gib doch einfach zu, dass du keine mehr hast“, kommentiert Kain keck und lässt meinen Pullover los, aber nicht, ohne mir danach mit dem Zeigefinger vom Adamsapfel zum Kinn zu streichen. Seine Augenbrauen tanzen neckisch auf und ab.

„Okay."

„Okay? Wow, das war einfach. Viel zu einfach!"

„Ich meine nicht die Time-out-Karten, sondern die Beihilfe zu der Apokalypse."

„Wirklich?", erwidert er perplex und lässt seine Hände sinken. Seine vormalige Begeisterung weicht einer paranoiden Skepsis. Ich kann es ihm nicht verübeln. “Einfach so?“

„Nein“, entgegne ich erwarteterweise, „Dafür bekomme ich alle Karten zurück und zwei Neue. Und…" Ich stoppe erneut, baue Spannung auf, so wie Kain es gern macht, wenn er mich foppt. Sein Blick schwankt zwischen meinen Lippen und Augen hin und her. „Du erklärst es meiner Mutter.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Kayara
2023-06-03T17:05:11+00:00 03.06.2023 19:05
Mit viiiel Verspätung hab ich das Kapitel endlich gelesen. :D Es ist großartig. Der letzte Satz kam unerwartet. Hihi 😍
Von:  Loal
2023-01-23T19:09:39+00:00 23.01.2023 20:09
Ich liebe deine Story einfach egal welche von ihnen. Hab jetzt erst wieder Between the Line von vorne begonnen zu lesen da es schon ne Weile her war und voll druchgesuchtet. Mein Freund hat sich schon beschwert das ich so viel lese und immer wenn er auf den Schrirm guckte stand da wohl Robin. Robin. XD

Kanns kaum erwarten das es weiter geht. Aber mal ne andere Frage gibt es deine Storys auch in Buchform? Ich würde sie glatt kaufen, schön als taschenbuch zum mitnehmen, genug Wörter sollten sie ja haben.
Antwort von:  Karo_del_Green
24.01.2023 07:29
Awww, das war jetzt gerade der süßeste Zucker für meinen imaginären Morgenkaffee (bin Teetrinker ^^) und vielen lieben Dank für das Lächeln, welches du mir gerade ins Gesicht gezaubert hast! Ich freue mich, wenn ich dir mit meinen Chaoten eine gute Zeit bescheren kann und nein, ich habe gar kein schlechtes Gewissen gegenüber deines Freundes XD

Meine Chaosgeschichten als echtes Buch wären ein echter Traum, aber bis lang habe ich mich nicht getraut 🙈 aber ich arbeite an meinem Mut.

Ich danke dir sehr für deine Worte,- sie machen mir Mut-, und dafür, dass du auch mehrfach liest ❤❤ Das macht mich sehr glücklich.


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