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Zu den Strömen von Babylon

eine schier endlose Wandung
von

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Tage 4 bis 20

Tag 4

Ich habe das Tagebuch begonnen und schon schweige ich mich aus, aber ich konnte nicht schreiben.

 

Heute habe ich Secharjahu von weitem gesehen. Seine Augen sind noch immer blutverkrustet …

 

 

Tag 5

Wieder befinden wir uns auf dem Weg. Den Jordan, dem wir bis zum Kinneret gefolgt sind, haben wir längst hinter uns gelassen. Vor uns liegt nun der Aufstieg zum Lewanongebirge. Übermorgen, so haben uns die Kasdim gesagt, werden wir das Orontestal erreichen, vorausgesetzt, wir sind schnell. Aber was heißt schnell? Heißt es, dass wir in unserem jetzigen Tempo noch einen Tag mehr benötigen würden? Oder zwei? Niemand traut sich zu fragen. Wir gehen einfach weiter. Der Weg steigt rasch steil an und die ersten bleiben zurück …

 

Der Fluss!, seufzen einige aus der Gruppe. Endlich wieder frisches Wasser! Aber ob uns die Kasdim wirklich ans Wasser lassen, das weiß niemand mit Sicherheit. Vielleicht werden sie uns auch verschmachten lassen. Der Weg ist steinig, so wie gestern auch. Ich habe Kopfschmerzen und Durst und fühle mich schmutzig. Umso mehr sehne ich mich nach frischem Wasser.

 

 

Tag 8

Wir sehen auf das breite Tal des Orontes hinab, das von bewaldeten Bergen gesäumt ist. Unter anderen Bedingungen fände ich den Anblick der bunt blühenden Sommerwiesen schön, so aber gehe ich einfach nur weiter. Der Abstieg ist ebenso anstrengend wie der Aufstieg. Immer kommen kleine Steine ins Rollen und schlagen uns an die Hacken und die Waden oder sie durchbohren die dünnen Sohlen der Schuhe. Ich versuche nicht darauf zu achten, sondern konzentriere mich auf den vor mir liegenden Fluss, der am Morgen noch wie ein dünnes Rinnsal tief in der Ebene wirkte und sich jetzt, gegen Mittag, schon wie der dicke Körper eine blauen Schlange ausnimmt.

 

Am Abend haben wir die Quelle des Orontes erreicht. Die Kasdim teilen uns in Gruppen auf. Kleine Gruppen und noch einmal getrennt nach Männern und Frauen. Dann gibt man uns den Befehl, uns auszuziehen und in einer Reihe anzutreten. Eine ältere Frau weigert sich, weil sie sich nicht nackt zeigen möchte. Unser Aufseher kommt auf sie zu, packt sie am Haar und zieht sie mit sich fort. Aus der Ferne hören wir alle ihre Schreie gellen. Niemand wagt es, sich nach ihr umzudrehen. Dann kommt für uns der Befehl, ans Wasser zu treten, so nackt wie wir sind. Ich weiß, dass uns die Kasdim beobachten. Ich weiß es, aber die Angst, dass auch mir etwas Schlimmes geschehen könnte, wenn ich mich zu bedecken versuchte, lassen mich einfach nur auf die glitzernde Oberfläche des Wassers starren, ehe man uns den Befehl gibt, in den Orontes zu steigen. „Ihr stinkt wie Köter, wascht euch!“, heißt es.

 

 

Tag 9

Heute ist im Grunde nicht Tag 9, sondern Tag 12 oder 13. Ich habe seit Tagen schon nicht mehr geschrieben, weil ich zu müde war. Und ich weiß, dass ich auch weiterhin nicht jeden Tag werde schreiben können …

 

Die Menschen um mich her sind mir wie Fremde, obgleich ich doch all ihre Gesichter und Stimmen kenne. In Jeruschalijim noch kannten wir uns alle, hier nun schauen wir uns wohl in die Augen, wagen aber nicht, mehr als ein paar Worte miteinander zu wechseln. Wir sind ein schweigender Tross, weil es die Kasdim so wollen. Sie sagen, dass wir still zu sein hätten, also sind wir es. Nur unsere Schritte sind auf dem steinigen Boden zu hören. Manchmal hebe ich den Kopf und schaue mich in diesem Tal um. Von oben wirkte es so breit, hier in der Ebene sehe ich nur die von Pinien, Zedern und Eichen bewaldeten Berge, die hoch aufragen und den Blick einengen.

 

 

Tag 10 (nach meiner neuerlichen Zählung)

Wieder wurde uns der Befehl gegeben, uns zu entkleiden, diesmal auf dem Weg; gerade da, wo wir standen, sollten wir unsere Sachen niederlegen. Ich spürte, dass sich viele am liebsten geweigert hätten, doch sie taten es, zogen sich aus, weil sie alle wussten, was sonst geschehen würde. Vater, Mutter, Geschwister, sie alle nackt. Und nackt auch ich. So standen wir da und warteten auf weitere Befehle. Die aber kamen nicht. Man ließ uns einfach auf dem Weg stehen. Eine Stunde, zwei. Die Kasdim wanderten durch unsere Reihen und blieben vor einigen jungen Mädchen stehen. Dann gaben sie den Befehl: „Du und du und du – mitkommen!“

 

Man packte sie am Arm und führte sie weg. Als ich mich nach meiner Mutter umsah, bemerkte ich, dass ihre Lippen bebten und mein Vater hielt seine Hände zu Fäusten geballt.

 

Die Sonne wanderte bereits gen Abend, als man uns endlich den Befehl gab, weiterzugehen. Einige von uns rafften daraufhin ihre Kleider zusammen und wollten sie anziehen, doch die Kasdim lachten uns nur aus. „Nackt“, riefen sie.

 

 

Tag 11

Heute war ein seltsamer Tag. Seltsam, weil wir uns wieder auf dem Weg entkleiden sollten, doch diesmal wurden wir zum Fluss geschickt, um zu baden, ohne dass die Kasdim gekommen wären. Seltsam aber auch, weil ich heute einen Mann gesehen habe, der mir zuvor in unserer Gruppe noch nicht aufgefallen war. Im ersten Moment dachte ich, es wäre einer der Kasdim, der ebenfalls ein Bad nehmen wollte, doch das konnte nicht sein. So nah bei uns badeten sie nicht! Der Mann stand etwas abseits und mit dem Rücken zu uns und ließ seine Hände über das Wasser gleiten. Diesen Anblick werde ich meinen Lebtag nicht vergessen. Wir anderen standen da wie zu Stein erstarrt, weil wir fürchteten, dass die Kasdim etwas mit uns anstellen könnten, ihn aber schien all das nicht zu stören, denn wieder glitten seine Hände übers Wasser, so als streichelten sie es. Ich stand nah bei meiner Mutter und meinen Geschwistern und hatte ihn gut im Blick. Im ersten Moment überlegte ich, ob ich meine Mutter auf ihn aufmerksam machen sollte, unterließ es dann aber, weil das zu viel Aufsehen erregt hätte. Und jede Unruhe in der Gruppe ist gefährlich. So beobachtete ich ihn nur weiter, während ich mich wusch und ich wunderte mich, wie er bei all dem so ruhig, so entspannt sein konnte.

 

 

Tag 12

Ich hielt heute Ausschau nach diesem Mann, aber ich sah ihn nicht. Wie kann das sein? Wo ist er hin? Gehört er doch zu den Kasdim?

 

 

Tag 14

Wer bin ich eigentlich? Was will ich? Es ist seltsam, aber je weiter ich an diesem Fluss entlanggehe, desto weniger weiß ich, wer ich eigentlich bin. Was mich ausmacht? Früher, als ich klein war, habe ich meine Mutter immer gefragt, ob sie mich hübsch fände. Sie bejahte es, doch welche Mutter würde das nicht tun? Früher fragte ich meinen Vater, ob ich auch Handwerker werden könne, so wie er. Und er grinste mich nur an und ich wusste, was er mir damit sage wollte. Ich kenne meinen Vater. Wenn er grinst, heißt das Nein. „Aber ich will es!“, beharrte ich. „Ich will, will, will.“ Wieder grinste er nur.

 

Ich wollte also hübsch sein und Handwerker werden. Stattdessen ging ich – als Kind der Oberschicht – in eine Art Schule und lernte lesen und schreiben. Dafür bin ich dankbar, sonst könnte ich meine Gedanken jetzt nicht festhalten. Das Leder, auf dem ich schreibe, und die Tinte habe ich unter meinen Sachen fortgeschmuggelt.

 

Wenn ich das jetzt so niederschreibe, dann erscheint es mir so weit weg zu sein, ebenso wie die abendlichen Spaziergänge durch die engen Gassen Jeruschalajims, die sich erst zu einer bestimmten Zeit mit Leben fühlten. Ging man davor hinaus, war man allein, aber nie wirklich einsam, weil man von irgendwoher immer Stimmen hörte. Sei es aus einem Fenster, sei es aus einem Hauseingang. Ich vermisse die kühlen Mauern der Häuser, die schattenspendenden Bäume, das Meckern der Ziegen und Schafe in den Tälern rings um die Stadt. Ich vermisse die Oliven, die wir frisch vom Baum aßen. Ich vermisse meine Freunde, mit denen ich Murmeln spielte …

 

„Komm schon Michal, komm schon.“

 

„Ja, ja.“

 

„Mach schnell, wir wollen doch zum Ölberg.“

 

„Jaha.“

 

„Wenn du noch langsamer wirst, müssen wir dich schieben.“

 

„Nein, ich komm ja schon.“

 

Wir konnten es, wir durften es – allein durch die Stadt ziehen. Wer sollte uns auch etwas tun? Wer? Selbst die Unterstadt, die wir eigentlich mieden, war uns nicht Feind. Die Stadt gehörte uns – uns Kindern. Wir kannten jeden Händler, ja selbst jeden Torwächter, die uns in ihrer brummigen Art doch freundlich grüßten und uns daran erinnerten, die Stadt nicht allein zu verlassen. Aber wir taten es trotzdem, denn was sollte uns schon geschehen?

 

Wir freuten uns auf die Markttage an jedem dritten und fünften der Woche, denn dann kamen die fremden Karawanen mit Produkten aus aller Herren Länder in unsere Stadt. Kleider, gut riechende Gewürze, geheimnisvolle Öle, die sich nur die allerreichsten Frauen leisten konnten – oder deren Männer, wenn sie, wie mein Vater einmal verlauten ließ, ein schlechtes Gewissen hätten, weil sie einmal zu wenig bei ihrer eigenen und stattdessen bei einer jener Frauen gelegen hatten, die ihre Dienste für Geld anbot. Aber das störte mich nicht. Ich, ich stand mit meinen Freunden nur da und inhalierte den Duft der Fremde. Ich schloss die Augen und versuchte mir vorzustellen, woher all diese schönen Dinge kämen. Woher nur? Einmal sagte uns ein Händler, ein schon etwas älterer Mann, dass er feinste Stoffe aus Mizrajim hätte. So weich wie eine Feder und so kühl wie der schattigste Schatten im Sommer, wenn die Sonne auf die Häuser niederbrennt.

 

„Wirklich?“

 

„Ja …“, grinste er. „Wollt ihr mal fühlen?“ Er hielt uns den Stoff hin. Und es stimmt: der Stoff war so weich, er perlte beinahe wie Wasser an meinen Finger ab. Unwillkürlich fuhr ich mit der Hand über ihn.

 

„Na, na, macht ihn mir mit euren Kinderhänden nicht schmutzig. Der ist nämlich bestellt. Nachher kommt nämlich jemand aus dem Königshaus und holt ihn ab.“

 

Wir sahen den Händler an.

 

„Guckt nicht so – aus dem Stoff lässt sich das feinste Gewand machen.“

 

Augenblicklich stellte ich mir vor, wie sich der Stoff am Körper anfühlen würde.

 

„Das allerfeinste – für die Mutter des Königs.“

 

„Oder für die Prinzessin“, flüsterte Hannah, meine beste Freundin, und sah den Händler ganz versonnen an.

 

Ja, der Stoff, der fühlte sich wundervoll an und jeder, der ihn tragen durfte, konnte sich glücklich schätzen. Er war ganz und gar nicht mit dem zu vergleichen, was wir als Kinder trugen. Zwar ebenso Leinen, das uns vor der Hitze schützen sollte, doch waren unsere Kleider grau und sehr viel gröber gearbeitet. Man sah an einigen Stellen sogar noch die Halme, aus denen es gewirkt war. Und dann kratzte es auch manchmal auf der Haut – furchtbar.

 

Dieser Stoff hier allerdings besaß eine so feine Maserung, war so fein gesponnen, dass man die einzelnen Fasern mit bloßem Auge kaum voneinander unterscheiden konnte. Wie kühles Wasser an einem heißen Tag glitt er über meine Hände.

 

„Hast du noch ein wenig davon?“, fragte ich den Händler. Dieser aber schüttelte den Kopf. „Dieser Stoff ist so selten und so teuer …“

 

„Wie viel kostet ein Stück?“

 

„Mehrere 100.000 Schekel und nun macht, dass ihr Land bekommt“, grinste der Händler und wollte uns schon vertreiben, als er plötzlich in seine Tasche griff. „Na, na, nicht traurig sein. Ich hab hier etwas für euch – auch aus Mizrajim. Eine Freude für alle Kinder.“

 

Und er hielt uns Murmeln hin. Die schönsten, die wir je gesehen haben. Sie leuchteten im Sonnenschein und waren durchsichtig. Wirklich, wenn man sie sich vor die Augen hielt, konnte man hindurchsehen. Und dann waren da auch bunte, die in allen Farben leuchteten.

 

„Nehm euch ein paar und dann verschwindet.“

 

Das ließen wir uns nicht zweimal sagen. Ich nahm mir eine halbdurchsichtige. Hannah eine hellgrüne und Tovia, ihr Bruder, suchte sich eine rote aus.

 

„Los, und jetzt zur Gihon-Quelle“, rief Hannah, die den schönen Stoff schon wieder vergessen zu habe schien.

 

„Ob sie uns da rein lassen?“, hörte ich Tovia, der Mühe hatte, seiner Schwester zu folgen.

 

„Das müssen sie!“

 

Ja, Hannah war eine ganz Resolute. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann kannte sie nichts. Ich hingegen ging langsam weiter und blieb an einem Stand mit frischem Obst stehen. Da lagen Datteln und Orangen und … wieder schloss ich die Augen und sah mich in einen Gewand aus diesem feinen Stoff. Wie ich hier langging und einkaufte. Das und das – was immer ich wollte.

 

„Kommst du endlich, du Trantute?“

 

Hannah stand breitbeinig vor mir, die Hände in den Seiten. Sie wirkte manchmal wie ein Junge. Und ich, ich gab ihr einen Klaps auf die Schulter und konnte nur grinsen.

 

Wer bin ich jetzt? Wer? In grobes Sackleinen gehüllt bin ich, wie die anderen auch – egal ob Mann, Frau oder Kind, und gehe immer neben meiner Mutter. Auch bin ich immer darum bemüht, dass meine Familie niemals am Rand geht, denn dort sind die Kasdim und wenn sie Lust haben, nehmen sie sich einen von uns heraus ...

 

Ich gehe den Orontes entlang, gehorche, wie alle anderen auch, den Befehlen dieser Männer und hoffe, nicht aufzufallen, denn ich würde es nicht aushalten, wenn einer der Kasdim vor mir stehen bliebe und mich zwei Stunden – oder gar nur einen Moment – anschauen würde.

 

Wo sind die Mädchen hin, die die Kasdim vor Tagen verschleppten? Niemand hat seither etwas von ihnen gehört. Die Familien, aus denen sie gerissen wurden, verhalten sich still, so wie wir alle. Nur einmal schrie eine Mutter laut auf. Weil sie das tat, musste auch sie aus der Gruppe treten. Und wir anderen mussten an ihr und dem Kasdu, der neben ihr stand, vorbei … Seither weiß niemand, was mit ihr geschah.

 

„Der Tod ist das Gnädigste“, sagte mein Vater.

 

Bloß nicht auffallen. Auch wenn ich schreien möchte, reiße ich mich zusammen und beiße mir lieber auf die Unterlippe oder – noch besser – auf die Innenseiten meiner Wangen, als auch nur einen Ton von mir zu geben. Ich weiß, dass die Kasdim auch mich holen könnten – jeden Moment könnten sie das tun. Jeden. Ich bin nicht anders als die Mädchen, die sie bisher wegnahmen. So etwas, was der Mann vor wenigen Tagen im Wasser getan hat, würde ich mich niemals trauen. Der Befehl lautete, sich zu waschen. Nur das!

 

Aber woran mochte er gedacht haben, als er da so stand und seinen Blick gen Abend richtete? Das frage ich mich, aber ich werde es wohl nie erfahren, denn auch heute habe ich ihn nicht gesehen.

 

Aber auch ich stand oft so da und sah von der Davidsstadt hinab ins Tal, in die gebirgige Weite von Jehudah. Das machte Spaß. „Fliegen wie ein Vogel so hoch und so weit!“

 

Hätte ich jetzt nur Flügel, ich würde mich zu den Bergen des Lewanon emporschwingen, so weit, so hoch, damit ich das Meer sehen könnte.

 

Ich weiß nicht, wer ich jetzt bin. Ich höre nur auf das, was uns die Kasdim sagen und tue es, in der Hoffnung dadurch weiter leben zu können. Und wenn sie uns in der Nacht mit Hörnerschall wecken und wir uns vor unseren Zelten aufstellen müssen, damit sie uns zählen können, dann tue ich es, ebenso wie mein Vater, meine Mutter und meine Geschwister. Wir tun es. Und wir bleiben dann auch die ganze Nacht über dort stehen oder wandern weiter, wenn es die Kasdim so wollen.

 

 

Tag 20

Ich glaube, ich habe seit sechs Tagen nichts mehr geschrieben, nicht, weil nichts geschehen wäre, sondern weil ich keine Kraft fand. Wir wanderten vom frühen Morgen an bis tief in die Nacht hinein. Dann befahlen uns die Kasdim, unsere Zelte aufzuschlagen. Einige aber hatten dazu keine Kraft mehr ... Und ich kann und will nicht aufschreiben, was mit denen geschah … Warum behandeln uns die Kasdim so? Was haben wir ihnen denn bloß getan?

 

Ich habe ein kleines Mädchen brüllen sehen. Es stand einfach neben ihren toten Eltern und steckte den Finger in den Mund.

 

„Wenn du es nicht zu dir nimmst“, rief einer der Kasdim meinem Vater zu, „… dann bring es um!“

 

Das war vor fünf Tagen, glaube ich, seitdem zählt unsere Familie ein Mitglied mehr. Das Mädchen heißt Hannah, so wie meine einstige beste Freundin, und zeigt uns auf die Frage, wie alt sie sei, einmal drei, dann wieder vier Finger. In den Nächten erwacht sie und ruft nach ihrer Ima und ihrem Abba. Meine Mutter nimmt Hannah dann in den Arm und versucht sie zu beruhigen. „Ich bin doch da“, flüstert sie und streicht Hannah über den Kopf. Am anderen Morgen erkenne ich dunkle Ringe unter Mutters Augen und habe Angst, dass sie den langen Weg nicht schafft, weil Hannah sie in der Nacht wach gehalten hat. Und in der Tat wankt sie leicht, als die beiden neben mir stehen. Was, wenn auch meine Mutter vor Schwäche zusammenbricht?

 

Hannah ist am Tag ein ruhiges Mädchen. Vielleicht aber hat sie auch verstanden, dass in der Gruppe Ruhe zu herrschen hat. Ich weiß es nicht. Manchmal, wenn sie nicht mehr kann, dann nimmt sie mein Vater auf den Arm, manchmal läuft sie auch an meiner Hand weiter. Sie läuft einfach mit, den Blick geradeaus gerichtet, so als wüsste sie um ihr Schicksal. Nur in den Nächten, da weint sie eben und wir haben uns abgesprochen: Jeder nimmt sie einmal und tröstet sie. Vater, Mutter und ich. Meine drei Geschwister, Schimschon, Jochanan und Simche sind zu jung dafür. Ich mache es nicht gern, denn diese nächtlichen Wachen lassen die tägliche Wanderung zur Strapaze werden. Vor allem, wenn die Sonne im Zenit steht, wünsche ich mir, einfach zurückzubleiben. Ganz egal, was dann geschieht ... Aber ich tue es nicht, ich gehe weiter.

 

Und dann sehe ich diesen Mann am Abend wieder. Plötzlich steht er ganz in der Nähe meiner Familie, hält die Arme auf dem Rücken verschränkt und sieht zum Nachthimmel hinauf. Einen Moment lang bin ich versucht, zu ihm hinüber zu gehen und ihn zu fragen, was er da tut, denn wieder steht sein Verhalten im Gegensatz zu dem aller übrigen um ihn herum. Aber dann kommt mir wieder der Verdacht, dass er einer der Kasdim ist, der uns ausspionieren will. Wer sonst könnte es sich leisten, einfach nur da zu stehen? Und ich wende mich ab. Doch just in dem Moment, als ich meinen Eltern beim Zeltaufbau helfen will, sehe ich, wie Hannah zu ihm hinüber geht, sich neben ihn stellt und ebenso wie er in den Nachthimmel blickt. Mir bleibt fast das Herz im Leib stehen! Schon habe ich den Mund geöffnet und will Hannah nachrufen, als sie den Arm hebt und hinauf in den Himmel deutet. Ich beiße mir auf die Faust und kann meiner Mutter gerade noch andeuten, dass Hannah bei diesem Mann steht, als dieser zu uns hinüber sieht.

 

„Ist das deine Tochter?“, fragt er mich und lächelt mich an. Ich bin wie gelähmt und kann nicht reagieren.

 

Ich hasse diese Angst! Diese ständige Angst, uns könnte etwas Schreckliches geschehen!



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