Max gähnte verhalten. Letzte Nacht war extrem kurz gewesen. Nicht nur, dass er lange mit seiner Mutter geskyped hatte, nein, er hatte auch noch die halbe Nacht mit Quatschen verbracht. Tyson hatte bei ihm übernachtet und nun waren sie in aller Frühe unterwegs, um fürs Frühstück einzukaufen.
"Und dann hat die Frau mich doch tatsächlich gefragt, ob ich auf ihrem Busen unterschreiben könnte!", meinte Tyson da gerade und machte hektische Bewegungen mit den Armen. Max prustete kurz, bevor er sein Lachen unter Kontrolle bekam. "Aber war die nicht, ich meine, schon älter?", meinte er. Tyson nickte leidend. "Und als ich ihr ein Autogram gegeben habe, hat sie mir einen Knutscher auf die Wange gedrückt. Direkt vor Kais Augen! Kannst du dir das vorstellen?" Nun musste Max doch laut lachen.
Er hätte gerne gesehen, wie Kais Gesichtsausdruck ausgesehen haben musste. Und vor allem, was er daraufhin getan hatte.
"Du bist aber auch selber Schuld, Ty. Was haben deine Finger auch da zu suchen? Du hättest sie einfach um ein Blatt Papier bitten sollen!" Tyson nickte, sein Gesicht theatralisch verzogen. Seine Darstellung des Leidenden war so übertrieben, dass Max sich keine sorgen machte. auch, wenn Kai hier und da ein wenig eifersüchtig und misstrauisch sein konnte, so vertraute er Tyson doch viel zu sehr. Richtigen streit würde es wegen einer völlig Unbekannten niemals geben.
"Hat Kai mir auch gesagt", nuschelte der Weltmeister leise, "Er meinte, ich müsste meine Grenzen deutlicher ziehen. Und ich wäre zu freundlich mit den Leuten, die mir zu nahe kämen" Max nickte zustimmend. Tyson war zwar laut und manchmal sehr direkt, aber er war als Japaner immer noch gewohnt, sich höflich zu verhalten. Was Max von seinem Vater kannte. Meistens lächelte sein Vater auch einfach tapfer weiter, obwohl ihm etwas eigentlich nicht passte. Max konnte das zwar verstehen, selbst aber nicht umsetzen. Sein Vater meinte dann immer, er sei eben seiner Mutter zu ähnlich, um ganz in Japans kompliziertem Verhalten ankommen zu können.
Merkwürdig war dabei nur, dass er Max' angestrengtes Lächeln dabei gar nicht richtig bemerkt hatte.
Sein Handy klingelte, was ihn aus dem Gedankengang riss. Er holte es aus seiner Gesäßtasche und sah auf die Anzeige. "Oh!", meinte er leise, "Meine Mum" Tyson nickte, dann sah er die schlange vor sich an. "Geh ruhig ran, das braucht hier eh noch ewig" Max lächelte dankbar, nickte und nahm das Gespräch an.
Es dauerte tatsächlich relativ lange, bis alles geklärt war. Seine Mutter hatte angerufen, weil so langsam Ernst gemacht wurde in Amerika mit den Einreisestopps. Noch war nichts in trockenen Tüchern, aber sie machte sich Sorgen. Immerhin wäre ihre Familie dann über ziemlich Zeit lange voneinander getrennt. Und so diskutierten sie, welche Möglichkeit am besten war. Schlussendlich entschieden sie sich dazu, dass Judy Tate diejenige sein würde, die nun öfter aus den USA nach Japan kommen würde. Sie konnte schließlich jederzeit zurück, immerhin war sie eine Amerikanerin ohne Einwanderungshintergrund. Nun, wenn man es denn so nennen konnte. Max ärgerte sich, dass dieser Kerl an der Spitze scheinbar keinerlei Probleme damit hatte, Amerika wieder in die Steinzeit zurück zu versetzen - jedenfalls fühlte es sich so an.
Sie waren mittlerweile ganz vorne angekommen und Max grinste die Frau hinter der Theke freundlich an. "Hello", grüßte er gutgelaunt.
Sie sah ihn nur wortlos an. Max blinzelte, dann sah er zu Tyson rüber, der allerdings völlig in die Auswahl an Gebäck vertieft war und ihn gar nicht richtig wahrnahm. Max sah wieder zur Verkäuferin. Er legte den Kopf schief, während ihm klar wurde, dass sie wohl auf seine Bestellung wartete. Er fühlte, wie er leicht rosa anlief. "Oh, sorry!", meinte er hastig, "Ich hätte gerne zehn hiervon" Er deutete auf einige Brötchen, die er eigentlich immer gern aß.
Die junge Frau blinzelte, dann schien sie aus ihrer Starre zu erwachen. Sie trat einen Schritt zurück. "Eeeh...", machte sie und verschwand wortlos in einen Bereich, der wohl für Mitarbeiter war. Tyson hob nun auch den Kopf und sah verdattert der Frau hinterher. "Was'n jetzt los?", fragte er. Max zuckte mit den Schultern und wartete geduldig.
Sie kam nicht wieder, stattdessen war da plötzlich ein etwas älterer Mann, der sich hinter der Theke platzierte. "Hello, boy", meinte er in relativ gutem Englisch, "What can I do for you?"
Max hielt mit Mühe sein Lächeln aufrecht und wiederholte seine Bestellung. Der Mann hörte ihm zu, drehte sich halb um und warf der Mitarbeitertür einen prüfenden Blick zu. Als er die Brötchen abpackte und Tyson auch endlich mal sich entschieden hatte, räusperte er sich leise.
"Verzeihen Sie bitte", sagte er jetzt auf Japanisch und verneigte sich leicht, "Meine Kollegin hielt Sie für einen Touristen. Sie hat kann nicht so gut Englisch und hatte Angst, Sie nicht verstehen zu können"
Tyson legte auf komische Art und Weise den Kopf schief. "Uh-hu", machte er. Max grinste und bezahlte einfach. "Ist okay", meinte er. Und dann lehnte er sich doch ein wenig weiter vor, als er die Tüte mit ihrem Einkauf annahm. "Aber sagen Sie ihr ruhig, dass ich kein Yakuza oder so bin. Ich bin lediglich Halb-japaner"
Und auch, wenn man es ihm nicht ansah, so konnte Max nicht anders, als ein wenig Genugtuung zu empfinden, als der Mann zuckte. Es verriet, was sie wirklich gedacht hatte. Er zog Tyson am Hemdsärmel mit sich aus dem Laden.
"Was war das denn?", platzte Tyson heraus, als sie auf der Straße waren. Max zuckte mit den Schultern und setzte sich in Bewegung. Er wühlte in der Tüte und holte eines der Brötchen heraus. Erst nach einem herzhaften Biss hinein sagte er etwas. "Das passiert mir öfter", mampfte er um den Bissen Gebäck herum. Er klang nicht wütend, eher ein wenig müde. Tyson fuchtelte mit einem Arm herum und deutete nachlässig auf die Bäckerei, die sich hinter sich ließen. "Nein, ich meine, warum solltest du ein Verbrecher sein?"
Max schluckte runter und deutete auf seine Haare. "Weil ich blond bin", meinte er trocken. Tyson warf die Arme in die Luft und lies sie wieder fallen. Seine Art, völlige Verwirrung auszudrücken. Max seufzte. "Weißt du, Ty, nicht jeder ist so wie unser Team. In der letzten Zeit hört man in den Nachrichten nur noch davon, wie gewalttätig die Amerikaner eigentlich sind. Und manche Leute denken, alle von da wären so. Ich glaub, die Frau hat mein Englisch gehört, meine blonden Haare gesehen und einfach gedacht: Entweder zwielichtiger Typ von hier oder Ami. Aber wahrscheinlich will ich den nicht auf der Straße nachts treffen wollen. Tja, und dann hat sie halt ihren Kollegen geholt. Damit ich sehe, dass sie männliche Beschützer hat"
Tyson verzog das Gesicht angestrengt. Er sah Max mit vor der Brust verschränkten Armen von oben bis unten an. "Du siehst mir jetzt nicht gerade wie 'n Schläger aus", meinte er. Max grinste und schüttelte den Kopf. Typisch Tyson. "Und selbst, wenn man mich nicht dafür hält, dann denken die Leute eigentlich fast immer, ich würde nicht hier leben. Sie meinen dann immer, für einen Ausländer könnte ich die Sprache aber gut. Wenn ich ihnen sage, dass ich hier lebe und mein Vater Japaner ist, sind sie still. Aber ich sehe ihnen an, dass ihnen ihr vorheriger Kommentar peinlich ist" Er dachte kurz an den einen Jungen, der ihm mit primitiven Sätzen kam und gemeint hat, er müsse so langsam reden, als befinde man sich in einer Slowmotion Szene in einem Film. Max hatte ihn nicht korrigiert, es hätte nichts gebracht.
Tyson schnaubte leise. "Kapier ich nicht. Du siehst doch sehr japanisch aus" Max bot ihm ein Stück des Brötchens an. "Wenn ich auf der Straße Mädchen entgegen komme, wechseln sie manchmal die Straßenseite", murmelte er. Er wollte eigentlich gar nicht so viel davon reden, aber es tat so gut, sich mal Luft zu machen. er nickte in Richtung einer Gruppe Mädchen ein wenig vor ihnen. "Wenn du nicht neben mir hergehen würdest und ich allein wäre, so gegen zehn, elf Uhr abends, würden sie zuerst meine Haare sehen. Und dann ist es entweder Bewunderung, weil ich ja Ausländer bin - oder sie kriegen Angst. Weil ich Ausländer bin" Was ihm erst so richtig klar geworden war, als er nach Japan gekommen war. Seine asiatische Seite war so wenig sichtbar, dass er in Amerika bisher noch nie Probleme gehabt hatte.
Erst, als Ray ihn besucht hatte und offen auf der Straße mit dem Begriff "Pikinese-Chinese" benannt wurde, war ihm aufgegangen, was er für Glück gehabt hatte. Ray konnte eine Herkunft nicht verleugnen, Max schon, zumindest zum Teil.
"Dann sag mir Bescheid!", forderte Tyson energisch, "Ich komm dann zu dir und werd denen Bescheid geben! Echt, kann doch nicht sein, dass die so blöd sind!" Max lachte und hob abwehrend eine Hand. "Na, lass mal. So schlimm ist es nicht" Obwohl das nicht stimmte. Es hatte lange gedauert, bis seine Klassenkameraden in seiner jetzigen Schule ihn überhaupt angesprochen hatten. Manche hielten ihn immer noch für blöder als sich selbst, weil sie mal irgendwo gehört hatte, Blondinen seien dämlich. Noch so ein Klischee, welches ihn nervte. "Also", korrigierte er sich, "Ich meine, es ist hundertmal besser als in Amerika. Ich kann das ab"
Tyson sah ihn an, dann rollte er mit den Augen. Er war für so lange Zeit still, dass sie am Haus ankamen und Max die Tür auschloss. Erst, als sie ihre Schuhe weg stellten und in Hausschuhe schlüpften, regte er sich wieder.
"Ich kann's schon irgendwie verstehen", meinte er leise. Max sah ihn an. Tyson erwiderte seinen Blick ein wenig hilflos und auch verärgert. "Kai und ich müssen so unheimlich aufpassen. Ich mein, wir können uns nicht auf der Straße einfach küssen, oder so. Würde nicht so gut kommen" Er senkte bekümmert den Kopf. "Ist nicht mit dir zu vergleichen, ich weiß, aber es nervt mich so"
Max gab ein geräusch von sich, das irgendwo zwischen Mitgefühl und Verblüffung lag. Er hatte gar nicht mehr daran gedacht, dass homosexuelle Beziehungen in Japan immer noch ein großes Tabu waren. Er schluckte. "Und was sagt deine Familie dazu?" Tyson zuckte mit einer Schulter und schob die Unterlippe vor. Er war traurig, sehr sogar. "Mein Großvater hat gesagt, ich soll glücklich sein und mich nicht um die Meinung anderer Menschen kümmern"
Max lächelte. "Siehst du!" Tyson sah auf und wirkte trotzdem unglücklich. "Hiro ist am Morgen des nächsten Tages kommentarlos abgereist. Und ich kann ihn auch auf dem handy nicht mehr erreichen"
Max blieb stehen. Erschrocken starrte er seinen besten Freund an. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Aber Tyson wank eh ab und setzte sich an den Tisch im Wonzimmer.
"Als meine Eltern geheiratet haben, hat meine Oma - also die Mutter meines Vaters - ihn gefragt, ob es keine japanische Frau gäbe, die er heiraten könnte. Ob er unbedingt bei denen suchen müsste, die Bomben auf uns geschmissen haben" Max rollte mit den augen und setzte sich Tyson gegenüber.
Sein Vater kam soeben in das Zimmer und stellte eine Kanne mit Tee auf den Tisch. "Ja, stimmt", sagte er leise, aber dennoch freundlich, "Aber deine Oma kommt auch aus Hiroshima und hat nur durch Zufall damals überlebt. Das hat sie sehr geprägt"
Natürlich wusste Max das. Aber es hatte sie auch blind gemacht gegenüber der Tatsache, dass nicht alle amerikaner schlecht waren. so nickte er nur und lies das Thema auf sich beruhen.
"Deine Oma hat 'nen Knall", kommentierte Tyson das. er sah leicht verlegen zu Max' Vater auf. "'tschuldigung", meinte er, "Aber Judy ist doch 'ne Bombe von Frau!" Und Max Vater lachte und zwinkerte ihm zu. "Na, da sagst du was! Aber genug von dem ganzen Unsinn, lasst uns essen!"
"Dad?", fragte Max nach einer langen Stille. Sein Vater hob den Kopf und schluckte den Rest des Brötchens runter. "Hm?" Max sah ihm direkt in die Augen. "Glaubst du, es wird sich je ändern?"
Sein Vater war lange still, bis er schließlich nickte. "Doch, schon. Aber nur, wenn ihr Kinder euch nicht vorschreiben lasst, was ihr zu denken habt. Ihr solltet einfach mit eurem verhalten zeigen, wie es richtig geht" Er sah beide Jungs streng an. "Kommt ja nicht auf die Idee, mit Gewalt oder lautem brüllen vorzugehen. Dann hört euch keiner zu. Geht stattdessen offen auf die Leute zu und setzt euch ein, wenn jemand Hilfe braucht. Und ignoriert die Dummköpfe, die es besser wissen müssten, es aber nicht wahrhaben wollen"
Max nickte, Tyson ebenso. Bei beiden war die Botschaft angekommen. "Danke, Dad" Sein Vater nickte und lehnte sich zurück. "Aber immer doch, Max. Immer doch"