Zum Inhalt der Seite

Metropolentänzer

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Jooo, mein Laptop ist verreckt und ich quäle mich extrem durch dieses Kapitel. Aber! Da das Kapitel jeglichen Rahmen sprengt, den ich geplant habe, habe ich es geteilt und hier ist die erste Hälfte.

Song!
Seeed - Hale Bop (kaum rausgebracht schon in meiner playlist was geht) Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Wir sind ein wunderschönes Team

Enttäuscht stellte Yuriy fest, dass Kais Schokomüsli leer war. Nur noch ein paar Krümel klebten am Boden der Packung. Warum warf sein Freund sie nicht einfach weg? Kopfschüttelnd nahm er die Pappbox aus dem Küchenschrank und löste die Klebefälze, bevor er sie in den Papiermüll warf. Beim zweiten Blick in den Schrank fand er ein ominöses Proteinmüsli, dessen Existenz in dieser Wohnung sicher Boris zu verdanken war. Er hatte sich gerade diesem Schicksal ergeben und ein paar Löffel des Müslis mit Milch aufgegossen, als Kai aus dem Bad kam und mit ihm der Duft von Duschgel, Deo und Haarspray.

“Dein Müsli ist alle”, informierte Yuriy ihn und merkte im selben Augenblick, dass das, was er im Mund hatte, eher nach Pappmaché schmeckte als alles andere.

“Sorry”, sagte Kai etwas zerstreut. Er warf einen flüchtigen Blick in Yuriys Schüssel, öffnete eine andere Schranktür und stellte ihm ein Glas mit Schokoladenaufstrich hin. “Das macht dieses Zeug wesentlich erträglicher. Ich werde nie wieder einen von Boris’ Ernährungstipps annehmen.”

“Ich hab dich gewarnt, aber du wolltest nicht hören”, entgegnete Yuriy. Kai war schon weiter zum Kleiderschrank gelaufen und wühlte in diesem nach passenden Shirts. “Ist heute euer erster Tag bei Grypholion?”

“Jepp.” Kai hatte ein schwarzes Baumwollhemd aus dem Schrank gezogen und musterte es kurz, bevor er es überwarf. “Wird eine Weile dauern. Ich schätze, wir sehen uns dann erst heute Abend vor Ort.”

“Vermutlich.” Es war Freitag und der Take-over von Ostblocc im Octavian stand kurz bevor. Sie würden am frühen Abend alles aufbauen und einen Soundcheck machen und sich dann noch ein wenig einstimmen, bevor es richtig losging. Das Programm war straff, denn sie legten nicht nur zu viert auf, sondern hatten den Rest der Zeit für ihre Kollektivmitglieder klar gemacht. “Einlass ist ab halb elf, weißt du, ja?”

“Soll ich wirklich schon so früh da sein? Ich hab überlegt, ob ich mich davor nochmal hinlege…”

Yuriy lachte. “Was meinst du, was ich mache, sobald du aus der Tür gegangen bist? Mach, wie es für dich am besten ist. Bringst du eigentlich deinen Prakti mit? Ich hab ihm gesagt, ich organisiere ihm einen Platz auf der Gästeliste, wenn er sich traut, mich direkt anzuschreiben.”

“Untersteh dich!”, rief Kai, der inzwischen fast fertig mit seinem Styling zu sein schien. Er sah nach Business aus, wenn auch nicht ganz so schlimm wie neulich, als er Jürgens-McGregor getroffen hatte. Zu dem Hemd trug er dunkle Jeans und Chelsea-Boots, von denen Yuriy nur wusste, dass sie so hießen, weil Kai ihm irgendwann eine Einführung in Schuhkunde gegeben hatte. “Smart”, urteilte er und kassierte einen Blick, der ihn sofort daran erinnerte, dass er es heute noch nicht einmal geschafft hatte, eine Hose anzuziehen. Yuriy schob sich ungerührt noch einen Löffel Müsli in den Mund. Kai streckte die Hand aus und griff, nachdem er festgestellt hatte, dass seine eigene Kaffeetasse bereits leer war, nach Yuriys.

“Da fällt mir ein”, sagte er, “Ralf und Johnny haben mich neulich gefragt, ob ich wohl einen DJ kenne, der auf ihrer Firmenfeier in London auflegt. Je mehr Berlin und Underground, desto besser.”

“Ach Gottchen.” Yuriy seufzte. “Wie viel zahlen sie denn? Ich kenn ein paar Leute, die immer Geld brauchen.”

“Hab ihnen dreitausend aus den Rippen geleiert.”

Yuriy verschluckte sich. “Drei- dreitausend?”, fragte er, bevor er husten musste, “Aber ohne Flüge und Hotel?!”

“Mit.”

“Scheiße, Kai.” Er hatte Tränen in den Augen und war nicht sicher, wovon. “Ich nehm im Schnitt die Hälfte davon! Maximal zweitausend, wenn ich echt den ganzen Tag vor Ort bin oder so.”

Kai hob nur die Schultern. “Ich hab dir schon mal gesagt, dass du dich unter Wert verkaufst.” Er grinste ihn an. “Hast du Lust? Wir könnten zusammen einen Ausflug machen. Sie haben mich zu der Party eingeladen und für’s Networking ist es bestimmt nicht schlecht.”

“Wann ist das denn?” Antikapitalistische Ideale hin oder her, Yuriy war sich durchaus nicht zu schade dafür, ein paar reichen Schnöseln Geld aus der Tasche zu leiern. Er konnte einen Teil davon ja ans Kollektiv spenden. Als Kai ihm jedoch das Datum nannte, seufzte er enttäuscht. “Da bin ich mal wieder in Leipzig, dafür aber das letzte Mal in diesem Jahr.”

“Schade. Aber wenn die anderen Zeit haben, kann ich gerne vermitteln.” Kai kam auf ihn zu. “Ich muss los. Wann genau hast du heute dein Set?”

Yuriy legte die Arme um ihn und atmete noch einmal die geballte Ladung Stylingprodukte ein; zum Glück verflog dieser Dunst bald, und Kais Aftershave war weit weniger aggressiv. “Nicht heute, morgen. Um zwei”, sagte er schließlich.

Kai ächzte gegen seine Schulter. “Erwarte mich bitte nicht vor Mitternacht.”

“Aber bitte auch nicht später, ich will mit dir zu Matthies Remix von Baikonur tanzen!”

Statt zu antworten reckte Kai das Kinn und küsste ihn. Yuriy ahnte, sein Freund hatte herausgefunden, dass er ihn damit von so ziemlich allem ablenken konnte, aber noch war er ihm deswegen nicht böse. Nur widerwillig ließ er von ihm ab. “Bis heute Abend, detka.”

Doch Kai ließ sich nicht auf ein Versprechen ein. “Bis dann”, sagte er.
 


 

Mariam und Wyatt trafen kurz nach Kai bei ihrem Treffpunkt am Alexanderplatz ein. Kai hatte nichts dagegen, dass Wyatt dabei war, im Gegenteil: Der Kleine konnte was lernen und gleichzeitig ein paar niedere Aufgaben für sie verrichten, während sie sich auf das Wesentliche konzentrierten. In den nächsten Wochen würden sie vermutlich eine Menge Leute kennenlernen, die in verschiedenen Abteilungen von Grypholion arbeiteten. Das Ziel war, sich die aktuellen Prozesse zu vergegenwärtigen und Baustellen zu identifizieren, um dann alles optimieren zu können. Nicht alle Mitarbeitenden waren froh über die Anwesenheit von Consultants, aber normalerweise konnten sie sich mit Professionalität und manchmal auch etwas Charme durchsetzen.

Wyatt, das nahm Kai mit einem kurzen Blick zur Kenntnis, hatte die hellen Farben inzwischen aufgegeben, sah aber immer noch ein bisschen aus wie von einem anderen Stern. Kai unterdrückte den Drang, ihm zu sagen, dass es wirklich kein Problem war, wenn er den oberen Knopf seines Hemdes öffnete. Er wollte nicht riskieren, dass sein Schützling einmal mehr vor Aufregung verging.

“Garland hat geschrieben, dass er gleich da ist”, sagte Mariam, “Anscheinend hat seine U-Bahn Verspätung.” Die beiden hatten sich inzwischen kennengelernt und Kai war froh, dass sie sich auf anhieb zu verstehen schienen. Das machte die Zusammenarbeit wesentlich angenehmer, und er war sich sicher, selbst wenn er andere Dinge zu tun hatte, würden Mariam und Garland das Ding schon schaukeln.

Kurz darauf sah er, wie Garland aus dem U-Bahnaufgang kam und das kurze Stück zu ihnen sprintete. “Sorry”, sagte er, als er neben Kai zum Stehen kam, “Scheiß BVG.”

“Keine Sorge”, entgegnete Mariam, “Da unser Chef uns wärmstens empfiehlt, die Öffis zu benutzen, darf er auch nicht böse sein, wenn sich hier und da mal was verspätet.”

Kai schnaubte, dann traf sein Blick auf den Garlands, der ihn ziemlich breit angrinste. “Was?”, fragte er und ahnte schon, was ihm bläute.

“Mir ist da was zu Ohren gekommen”, sagte Garland.

“Ach ja?”

“Jetzt tu nicht so.” Er gab ihm einen kleinen Stoß. “Ich will nur sagen - ich bin ein bisschen sauer. Aber ich finde es auch ein bisschen lustig.”

“Schön für dich.” Kai wandte sich um, damit niemand sah, wie er lächelte. “Abmarsch, Leute. Wir müssen arbeiten.” Und setzte sich in Bewegung. Die anderen folgten ihm brav wie eine Schar Entenküken, und er hörte, wie Mariam Garland leise auszufragen begann, was der Schlagabtausch eben zu bedeuten hatte. Der jedoch schwieg wie ein Grab, und das war auch besser so. Kai hielt sich seinen Mitarbeitenden gegenüber zwar nicht sonderlich bedeckt, was sein Privatleben anging - es stand ihnen frei, sich über Social Media mit ihm zu befreunden oder ihn zu fragen, wie sein Wochenende war - aber von sich aus würde er ihnen nicht sofort alles erzählen.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie Wyatt etwas unschlüssig neben ihm hertrottete. Vermutlich suchte er nach einem Grund, ein Gespräch zu beginnen, wie eigentlich immer. Auch er traute sich nicht, nach etwas anderem zu fragen als dem Geschäftlichen. Zugegeben, Kai war ein bisschen beeindruckt von dieser Determiniertheit, zumal er immer noch nicht verstand, warum der Kleine so besessen von ihm war.

“Also, Mr. Smith”, sagte er schließlich, denn ein guter Chef war leider einer, der Smalltalk halten konnte, das hatte er schmerzhaft lernen müssen. “Haben Sie sich inzwischen in Berlin eingelebt? Wo wohnen Sie eigentlich?”

“Ähm, die Gegend gehört zu Charlottenburg, glaube ich. Richard-Wagner-Platz? Ich habe dort ein WG-Zimmer.”

“Dann sind Sie heute ja schon einmal quer durch die Stadt gefahren.” Kai kannte sich inzwischen ganz gut aus, aber nach Charlottenburg verschlug es ihn tatsächlich recht selten, obwohl das Viertel sehr schön war. Eine Menge seiner beruflichen Bekanntschaften lebten dort. “Gefällt es Ihnen?”, ermittelte er weiter.

Wyatt lief rot an. “Naja”, sagte er, “Ich sehe meinen Mitbewohner nicht oft. Er studiert Informatik und ist entweder in der Uni oder in seinem Zimmer. Ein etwas komischer Typ, wenn ich ehrlich bin. Ich habe mir natürlich schon viele Sehenswürdigkeiten angesehen!”, fuhr er schnell fort. “Berlin ist wirklich eine interessante Stadt, gerade auch wegen der Geschichte - obwohl ich zugeben muss, dass ich nicht viel darüber weiß, es war nie mein Lieblingsfach… Ich meine, ich glaube, ich habe schon so einiges hier gesehen und es wird nicht langweilig, aber gerade am Wochenende bin ich unschlüssig, wo ich hingehen kann. Ich will ja auch nicht immer nur Museen besuchen. Viele haben mir erzählt, die Parks und Seen sind im Sommer schön, aber jetzt ist es dafür doch schon ein bisschen zu kalt…”

Kai nickte. Als er neu in die Stadt gekommen war, war es ihm ähnlich gegangen. Mit dem Unterschied, dass er Kollegen im gleichen Alter hatte, die ihn des öfteren in irgendwelche Bars oder gar Clubs mitschleppten. Und daraus war ja auch die ein- oder andere krude Freundschaft entstanden. Dann hatte er Takao kennengelernt, und das, davon war er immer noch überzeugt, hatte ihn gerettet. Und inzwischen war sein Freundeskreis dank Yuriy noch einmal stark angewachsen. Dennoch, er hatte das Gefühl nicht vergessen, wie es war, allein in eine völlig fremde Stadt zu kommen.

“Vielleicht hängen Sie sich einfach mal an Miss Shields”, schlug er vor, “Soweit ich weiß macht sie freitags gerne mal die Stadt unsicher, oder Mariam?”, fügte er laut hinzu, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen.

“Glaub ihm kein Wort, Wyatt!”, sagte sie, “Ich bin langweilig. Mit mir schaffst du es höchstens in die nächste Bar. Wenn du feiern willst, musst du dich an den Boss hängen. Der Boss kommt hier nämlich in jeden Club rein. Ich frage mich sowieso, wann der Boss mich mal auf die Gästeliste setzen lässt, so als Entlohnung für meine harte Arbeit.”

“Der Boss hat nicht gewusst, dass du scharf auf sowas bist”, entgegnete Kai, “Aber der Boss könnte das durchaus einrichten, wenn du lieb fragst.”

“Soweit ich weiß steht der Boss heute Abend auf der Gästeliste vom Octavian”, warf Garland ein, “Oder etwa nicht? Hat mir ein Vögelchen gezwitschert.”

“Lass mich raten, das Vögelchen war lang und rothaarig”, sagte Kai. “Bist du auch da?”

“Freilich.”

“Was ist im Octavian?”, fragte Mariam neugierig, und gleichzeitig kam von Wyatt: “Was ist Octavian?”

In diesem Moment jedoch waren sie vor dem Bürogebäude angekommen, in dem Grypholion saß. Kai drehte sich zu seinem Team um. “Octavian ist das Codewort für acht Stunden Arbeit, die heute vor uns liegen, also los.”
 

Besagte acht Stunden später fühlte Kai sich gerädert, versuchte aber sein bestes, sich nichts anmerken zu lassen. Es waren diese Momente, in denen er wirklich bereute, ausgerechnet eine Consultingagentur gegründet zu haben. Der ständige Austausch mit wildfremden Menschen zählte nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen, war aber leider Kernbestandteil seines Jobs. Sie würden einfach weiter wachsen müssen, damit er sich in Zukunft nur noch auf dem Chefsessel räkeln konnte, während die anderen die Laufarbeit erledigten…

“Kai?”

Sie standen schon an den Fahrstühlen, als Katja Nowak persönlich aus ihrem Büro kam und sie einholte. Sie hatten sich in der Früh nur kurz die Hand geschüttelt, dann war sie schon zu ihrem Meeting-Marathon aufgebrochen, während Kai und die seinen von ihrem Assistenten durch die Büros geführt worden waren. Er hatte ehrlich gesagt fest damit gerechnet, sie höchstens einmal die Woche aus den Augenwinkeln zu sehen, denn sie war wahrscheinlich die beschäftigste Frau, die er momentan kannte. Umso erstaunter war er darüber, dass sie ihnen nun nachlief. Als sie sie erreicht hatte, lagen ihre Augen betont auf ihm, den anderen schenkte sie keine Beachtung. CEO-Gehabe, aber er verstand, warum sie sich das angeeignet hatte. Es war nicht leicht, sich gegen Männer wie Ralf und Johnny durchzusetzen.

“Ich wollte nur fragen, ob ihr euch zurecht findet und alles gut gelaufen ist bisher”, sagte sie.

“Ja, alles gut”, entgegnete Kai, “Ich denke, wir wissen jetzt, wie wir am besten vorgehen können. Mit ein bisschen Glück werden wir schneller sein als gedacht - aber erzähle das lieber nicht Ralf.”

“Keine Sorge, es ist mir auch lieber, wenn wir beide hier einfach unser Ding machen.” Die Andeutung eines Lächelns umspielte ihre Mundwinkel und Kai hob kurz die Augenbrauen. “Dann sind wir uns ja einig.”

“Wo wir gerade von Ralf sprechen”, fuhr sie fort, “Er hat mir ein gutes Dutzend Einladungen für diese Jürgens-McGregor-Party in London geschickt, mit der Bitte, dich nochmal wärmstens darauf hinzuweisen, dass es eine super Gelegenheit für’s Networking wäre.”

Kai bemerkte, wie Mariam neben ihm nervös wurde. Seit er diese Party ihr gegenüber erwähnt hatte, war sie scharf darauf, ihn zu begleiten. Er hatte nichts dagegen, sie war seine beste Mitarbeiterin und würde sich die nächsten sechs Monate lang für Grypholion den Hintern aufreißen. Ein paar gute Kontakte und eine fancy Party waren da wohl der mindeste Bonus.

Endlich sah Katja nicht mehr nur ihn an, sondern in die Runde. “Nimm doch gleich dein Team mit. Ich kann euch gern eine Handvoll Einladungen schicken. Um ehrlich zu sein brauche ich sowieso nicht so viele.”

Kai neigte den Kopf. “Auch den Praktikanten?”

“Als würde Ralf sich darum scheren. Nimm was du kriegen kannst, Kai. Wirklich.”

Er schnaubte; sie war ihm schon jetzt sympathisch. Er würde sie demnächst auf einen Kaffee einladen müssen - auch wenn er ahnte, dass er dafür ihren Terminkalender stalken musste.

“Schick mir die Einladungen”, sagte er schließlich und meinte zu spüren, wie Mariam innerlich explodierte.
 


 

“Okay Leute, jetzt nochmal konzentrieren - haben wir irgendwas vergessen?”

Ivan, Salima und Yuriy traten näher an Mathilda heran, damit sie zu viert das Pult begutachten konnten, das sie soeben für ihre Party bestückt hatten. Sie alle hatten ihre eigenen Vorlieben beim Setup der Technik. Früher hatten sie meist mit dem arbeiten müssen, was die Clubbetreiber ihnen hinstellten, heute richteten sich diese nach ihren Wünschen. Für ihren Take-over mussten sie nun aber Kompromisse finden, denn zwischen ihren Sets blieb keine Zeit, den Aufbau zu verändern. Sie hatten sich für die elaborierte Variante entschieden, sodass es kaum funktionale Einbußen gab. Neben vier rein digitalen Controllern, einem nicht zu verachtenden Mixer, Loops und anderen Effektmaschinen gab es auch zwei Plattenspieler. Salima war die einzige von ihnen, die Vinyl auflegte, aber sie bestand darauf.

“Wir mussten das eine Kabel vom Interface tapen, aber Kane bringt nachher noch Ersatz mit. Passt halt ein bisschen auf, damit es keinen Wackelkontakt gibt. Sollte aber alles funktionieren”, urteilte sie. “Sollen wir einen Probelauf machen?”

Yuriy war der einzige von ihnen, der das Octavian schon mal bespielt hatte. Es unterschied sich von den anderen Technoschuppen insofern, als dass es hier keine hohen Decken gab. Stattdessen befand sich der Club in einer eher niedrigen alten Lagerhalle, ein paar Meter weiter verlief die S-Bahntrasse und um sie herum war heruntergewirtschaftetes Industriegebiet. Die Wände waren recht dünn, und auch wenn sich die Betreiber Mühe gegeben hatten, die Akustik zu verbessern, gab es im Vergleich einige Einbußen. Das Reizvolle an Techno war gerade das Zusammenspiel von Musik und Raum, die Art und Weise, wie die Töne von Wänden und Decke wiederhallten und eine hypnotische Klangumgebung schufen. Die dröhnenden, tiefen Bässe, die man beinahe mehr spürte als hörte und die Yuriy so liebte, funktionierten in den ehemaligen Industriepalästen wie dem Bunker oder dem Don Quichotte wesentlich besser als hier oder gar im Zentrum, wo die Wände eine andere Beschaffenheit hatten und dadurch eine andere Tonqualität erzeugten. Als Club-DJ musste er sich, genau wie die anderen, auf die Gegebenheiten einstellen können. Doch er war sich sicher, dass sie trotz der verbesserungswürdigen Gegebenheiten ihren Spaß haben würden - laut einschlägiger Plattformen sollte es voll werden. Ihre individuellen Fanbases konnten sich inzwischen sehen lassen, und ganz nach Szene-Tradition hatten sie sich auf die Mund-zu-Mund-Propaganda verlassen, anstatt groß die Werbetrommel zu rühren.

Während Salima an die Turntables trat, um ein kleines Probeset zu starten, gesellte Yuriy sich zu Ivan, der heute ungewöhnlich still war.

“Alles klar?”, fragte er und lehnte sich neben ihn an einen der Pfeiler, die die Decke trugen.

Ivan seufzte. “Nee, eigentlich nicht.”

“Ist was passiert?”

Sein Gegenüber nickte, seine Mimik wurde noch missmutiger. “Vor zwei Tagen kam ein Brief”, erzählte er. “Unser Vermieter verkauft das Haus. Klassiker. Komplettsanierung und der ganze Scheiß. Gibt ein Vorkaufsrecht, aber kann sich natürlich keiner leisten.”

“Shit, Vanja”, sagte Yuriy, sein Blick wanderte zurück zu Salima, die davon genauso betroffen war. “Wollt ihr was machen? Braucht ihr Hilfe?” Er konnte sich vorstellen, an wen das Haus gehen sollte, nämlich an eine der Immobilienheuschrecken, die günstige Häuser kauften, einmal komplett aufhübschten und für den doppelten Preis neu vermieteten oder die Wohnungen gleich als Kapitalanlagen anpriesen. Von den ehemaligen Anwohnenden konnte sich das natürlich niemand leisten. Mieterproteste halfen, wenn es schnell ging und sie laut genug waren. Die städtischen Wohngesellschaften hatten ebenfalls das Recht, die Gebäude zu kaufen, und das war eine weitaus bessere, wenn auch in Yuriys Augen nicht perfekte Lösung. Dennoch, all das verursachte einen immensen Stress, der sich gut und gerne bis zu einem Jahr hinzog.

“Salima und ich wollen mal mit Sergeij sprechen, der ist ja gut vernetzt”, sagte Ivan nun. “Aber wir wollen uns trotzdem langsam nach was anderem umgucken. So wie es aussieht, haben wir noch mindestens sechs Monate, aber du weißt ja, wie das mit Wohnungen gerade ist.”

Yuriy nickte. Scheiße war es. Berlin war schon längst nicht mehr die Stadt der günstigen Mieten und des großen Leerstands, und vielleicht war auch das ein Grund dafür, weshalb er es sich mit Boris so gemütlich machte. Freiwillig würde er sich die Suche nach einer neuen Bleibe jedenfalls nicht antun.

“Sergeij ist da ein guter Ansprechpartner”, bestätigte er, “Der kennt Leute, die euch mit dem Protest helfen. Und euch rechtlich beraten. Und wir können auch alle rumfragen, ob jemand jemanden kennt - du weißt ja, wie das läuft.”

“Ja, danke”, sagte Ivan. “Ich denke auch, wir können das lösen. Nur den Stress braucht halt keiner. Salima und ich wollen einfach nur Musik machen, und jetzt müssen wir uns auch darum kümmern.” Er ächzte genervt und Yuriy verzog mitfühlend den Mund. Hätte es ihn und Boris getroffen, er hätte nicht gewusst, wie er das alles auf die Reihe kriegen sollte. Soziales Engagement war zeitaufwändig und kräftezehrend, und sowohl von Zeit als auch Kraft hatte er momentan nicht unendlich viel zur Verfügung.

“Lass uns ein Krisentreffen machen, wenn wir die Party hinter uns haben, okay?”, schlug er vor, “Wir finden schon eine Lösung.”

“Klingt gut”, meinte Ivan, “Und Danke. Ist gut zu wissen, dass wir das nicht alleine stemmen müssen.”

Yuriy boxte ihn freundschaftlich gegen die Schulter, kam aber nicht mehr dazu, etwas zu erwidern. Die anderen beiden riefen nach ihnen, damit sie ebenfalls ihren Soundcheck machen konnten.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (8)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  WeißeWölfinLarka
2021-04-12T23:25:52+00:00 13.04.2021 01:25
Weißt du, was mir grade auffällt? Oder was mir grad durch den Kopf geht, ist: Der Soundtrack ist so anders als der erste, und ich finde, die Unterscheidung passt zu dem, was du schreibst. Der erste Teil, GSGF, ist irgendwie mehr… wie soll ich sagen, ich fühle mehr Sommer, ich fühle mehr Party, und der Soundtrack gibt das wieder. Teil 2, MT, ist ein wenig ruhiger, gesetzter, möglicherweise melancholischer. Das entnehme ich deinen Worten in der Geschichte – aber auch dem Soundtrack, das harmoniert sehr schön und bildet sich jeweils auch gut ab. (Melancholischer Text stellenweise, also eher noch mehr ernstere Töne angeschlagen, das merke ich jedenfalls.)

Hach. Ein Einblick in das Alltagsleben direkt zu beginn. Das ist schön. Ich lache über dieses „Müsli“, was sich nicht so nennen darf. Auch mag ich Yuriys… darf man es Pedanterie nennen? Ich nenne es Ordnung, ja, Ordnungsliebe, dass er die alte Verpackung schön faltet, bevor sie in den Müll kommt.
Diese Heimeligkeit ist sehr, sehr angenehm. ♥ Ich lese sie sehr sehr gern!

Nun lasst den Prakti doch mitkommen! Das tät ihm sicher gut! XD

>>Kai streckte die Hand aus und griff, nachdem er festgestellt hatte, dass seine eigene Kaffeetasse bereits leer war, nach Yuriys.<<
Da isse wieder! Heimeligkeit! Behaglichkeit! Gemütlichkeit! I n t i m i t ä t!!
I‘m a sucker for this!

??? Hm? Ich dachte, Kai hätte Ralf und Johnny 3000 genannt – und Hotel und Flug kommt noch oben drauf?
Kai legt die Fakten auf den Tisch; Yuriy verkauft sich unter Wert :D
Ich finde, das harmoniert sehr gut, mit dem Ende des vorigen Kapitels, weil ja Mathilda die fishy Dinge mit Kane aufgezählt hat und ich mein, Reichweite und so?! Das wär vllt echt n Sprungbrett!
Und ich sehe meinen Wunsch / meine Vorstellung, dass sie tatsächlich (von dir explizit beschriebenen) Sex an der Themse haben, immer klarere Gestalt annehmen!
[An dieser Stelle eine Anmerkung: Ich war so von der Adult-Markierung geflashed, dass ich überrascht war, dass sie doch schon „so früh“ bangen. XD]
Uuuund, ich sehe meine Träume am Boden zerschellen. Yuriy hat keine Zeit. AHHHHH verdammt!

… HABE ICH ETWA EIN „ich will mit dir tanzen!“ GEHÖRT?
MEINE GEBETE WURDEN ERHÖRT!!!!

Omg, „ein paar niedere Arbeiten verrichten“, was ist Wyatt, Pöbel? Und Kai Maria Theresia „Wirft Kuchen auf die Straßen, der Pöbel soll rutschen!“? XDDDD
Aber awww, „Ein guter Chef kann Smalltalk“, wunderbar!
Und im ersten Moment hab ich mich gefragt, wer wohl Wyatts Mitbewohner ist, aber dann ist mir Manabu eingefallen. Ist es Manabu?!

Oh Gott, ich lache so. „Der Boss!“
Ahahahaha, das hat so einen „Der Gerät…“-Vibe…
>>wenn du feiern willst, musst du dich an den Boss hängen. Der Boss kommt hier nämlich in jeden Club rein.<<
Der Boss schläft nie!
Der Boss schleppt den DJ ab!
XD
Ahh, ich liebe dieses flapsige „Der Boss“ – Getue! Herrlich! Auch, weil Kai sich als „äußerst wichtiger CEO“ auch mal selbst auf die Schippe nehmen kann an der Stelle. Wundervolles Geplänkel! LIEBE♥

>>“Octavian ist das Codewort für acht Stunden Arbeit, die heute vor uns liegen, also los.”<<
Spielverderber.

>>denn sie war wahrscheinlich die beschäftigste Frau, die er momentan kannte.<<
Diese Beschreibung mag ich einfach sehr. Erst war ich nicht ganz warm mit ihr, aber dann ging es mit dieser Beschreibung los und dann…. Gott, dann redet sie und sie wurde mir, wie Kai auch, sehr sympathisch! Klingt nach ner Frau mit Köpfchen und Schippchen!

Ich finde es wieder sehr bemerkenswert, wie kompetent und wissend du über DJ-Technik und so schreibst. RECHERCHE! Ich kaufe dir alles ab und ich bin sehr fasziniert von dieser Thematik!

Mann, du schaffst es echt, mit jedem kommenden Kapitel, das folgt, nachdem der Knoten geplatzt und deine Hauptakteure nun ein Paar sind, dem Ganzen noch eine Schippe drauf zu setzen:
Die Sache mit Grypholion. Die komische, nicht ganz saubere Sache mit Kane. Jetzt Vanjas und Salimas anstehender Zwangsräumung (kann man ja schon als solche bezeichnen…)
UFF! Krass!!

Wieder ein sehr tolles, gut zu lesendes Kapitel!
Aber: Was heißt detka?!

Von:  LittleLionHead
2020-08-18T07:09:12+00:00 18.08.2020 09:09
Allein der Titel des Kapitels hat Liebe verdient. Ich gehe völlig steil auf Hale Bopp. Und der Rest natürlich auch! Ich finde es total super dass sowohl Kai als auch Yuriy vorschlafen müssen. Bin ich also doch nicht die einzige die nicht mehr so hart feiern kann wie früher. :D Dass du das Thema"bezahlbarer Wohnraum" einbringst gefällt mir. Und der Smalltalk-Struggle! Insgesamt finde ich dass du mit dieser Geschichte (also Großstadtgeflüster und Metropolentänzer) mega nah am real life bist, und das liebe ich sehr. Ich habe übrigens das Gefühl, dass die Party von Ralf und Johnny Unheil bringen wird.... I hope I'm wrong 😅
Antwort von:  lady_j
18.08.2020 13:24
Ahihi, du hast den 69. Kommentar geschrieben 🥳 den ich sehr liebe und in ehren halten werde!!

Die Party in London wird steil, aber nicht nur die 😈
Antwort von:  LittleLionHead
20.08.2020 13:00
Hehe ❤️
Antwort von:  WeißeWölfinLarka
13.04.2021 01:26
Was?! Ich bin sehr neidisch!
Von:  esperluette
2020-08-17T19:27:09+00:00 17.08.2020 21:27
So sorry für Computer und Kapitel hassle :(
Das Kapitel ist toll wie immer, ich merke dem nichts an!

Okay, ich muss mein excitement heute aufteilen zwischen Garland und Mariam. Whaaaha!
Kai, der kleine Pisser der Yuriy und Garland hängen lässt mit seiner Antwort <3 Kai, der Boss-Man <3
Yuriy hat ein Talent Probleme aufzuspüren oder wittern die Probleme ihn? Aber ich glaube fest daran, dass er uns alle retten wird und noch ein Kreuzchen im Weltverbesserer-Bingo machen kann.
Props dem Hauch von „Ich bin zu alt für diesen Scheiß“ der hier durchweht. Ich fühle mich schuldig… und alt.

Jetzt halte ich die Luft an, weils sich noch mehr verdichtet aber ich keine Ahnung habe, wie das alles zusammen einen Sinn ergeben wird. Und weil ich HYPED bin für die Clubnacht!

Von:  FreeWolf
2020-08-17T17:47:18+00:00 17.08.2020 19:47
Ich will meine Faust in die Luft stoßen und laut "Freundschaft" brüllend durch die Straßen ziehen.
Von:  Phoenix-of-Darkness
2020-08-17T09:53:07+00:00 17.08.2020 11:53
Oh ein neuer Handlungsstrang!!!
Ivan und Salima können einen richtig Leid tun....
Umso schöner, dass es sofort Unterstützung gibt. Ich hoffe mit Erfolg!!!

Mariam ist in diesem Kapitel wieder spitze. Ich liebe ihren Charakter und musste schmunzeln über ihr Verhalten bzgl. Party XD
Kai lade sie bitte auch ein.
(Auch wenn Yura leiiiiider keine Zeit hat)
Von:  Mitternachtsblick
2020-08-16T21:22:31+00:00 16.08.2020 23:22
Irgendwie hab ich das Gefühl, dass es auf der Ralfgens-Party nochmal krachen wird? Ist aber nur so ein Gefühl. Irgendwas wird auf jeden Fall passieren, das hab ich im Urin. Mariam liebe ich in diesem Kapitel wieder sehr, ich hab auch viel Liebe für ihre Beziehung zu Kai.
Was sich da mit Ivan, Salima und dem Hausverkauf anbahnt finde ich auch spannend. Das fließt schön in dieses generelle Wohnthema rein, das du immer wieder drin hast und das ich gut und wichtig finde. Bin gespannt, wie sich das dann mit den anderen Strängen vernetzen wird.


Zurück