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Philomathie

Wenn Neugier nicht wäre
von

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Gyrus cinguli

Bücher

Bücher und Ideen

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Ideen und Träume

Bücher

Bücher und Träume

Bücher und Ideen und Träume und ein Feuer, dass sie alle verschlingt

 

* *

* *

 

Rosa Licht durchflutete die Räume. Das Tifaret reihte sich durch die Halle der höchsten Tempel von Mount Boot, als Fenster oder als Zierde an den Wänden. Die heilige Macht hüllte zwar den kompletten Berg ein, aber hier oben in den höchsten und ältesten Tempeln war die Konzentration so hoch wie nirgendwo. Und die Glocken. Überall hörte man das Schlagen von Glocken, obwohl es nirgendwo welche gab, die dieses Geräusch erzeugend könnten.

Sanzomon war regelrecht von Ehrfurcht ergriffen. Sie war noch nie auf der Spitze von Mount Boot gewesen, ein spitzer, fast weißer Berg umringt von roten Wäldern. Diese Ehre galt nur den Sistermon und der Äbtissin, die auf der Spitze hauste. Diese Ruinen waren uralt, zu Zeiten des ersten Sanzomon erbaut. Nach ihrer Reise durch die Web Continent lebte sie hier und nahm sich der Sorgen der verzweifelten Digimon an. Nicht nur die Engel-Digimon erkannten sie anschließend als heiliges Digimon, ihr wurde erlaubt in das Goldene Land einzutreten. Die Digimon, die hier lebten waren ihre direkten Nachfolgerinnen und übermitteln über Generationen hinweg ihre Weisheit.

Sie konnte immer noch nicht glauben, dass ausgerechnet sie zu so einem Digimon wurde und nun von Sistermon Ciel persönlich zur Äbtissin gebracht wurde. Der Aufstieg war steil, doch sie legten in der Zeit weit mehr Strecke zurück, wie eigentlich möglich gewesen wäre. Vermutlich verursachte diese viele Energie, die um den Berg floss eine Verzerrung im Raum zu ihrem Gunsten.

Die Ruinen waren alt und verfallen, der Boden nicht sehr üppig, und Sanzomon konnte sich kaum vorstellen, dass hier ein Digimon lebte oder wertvolle Schriften hier verwahrt werden sollten. Rosenranken waren an den Mauern nach oben geklärte, aber es waren so gut wie keine Rose mehr zu sehen. Im Tempel selbst brannte kein Licht, nur die Fenster erhellten den langen Flur, durch den Sistermon Ciel Sanzomon schweigend führte. Und überall sah sie das Tifaret. Es wirkte schon übertrieben. Auf dem Pfad, auf dem sie beide gingen waren Kreise gezeichnet die sich überschnitten und ein fast blumenähnliches Muster bildeten. Sanzomon meinte, so was nannte man ein Mandala.

Der Pfad endete schließlich vor einer großen, weißen Türe und an der Spitze dieser Türe schaute ein Kopf auf sie herab. Sanzomon glaubte sogar wirklich, dieser Kopf würde sie direkt ansehen. Er war humanoid und wiederum von drei anderen Köpfen umringt. Zu seiner rechten thronte der Kopf eines Vogel-Digimon, zu seiner linken der eines Stier-Digimon und über ihm der eines Löwen-Digimon.

Wenn es denn Digimon waren, sagte etwas in ihr, das verdächtig nach Sorcerymon klang, wieso aber auch immer sie mit Skepsis erfüllt war. Vielleicht lag es auch einfach an ihren Kopfschmerzen, die dieses Glockenläuten verursachte. Wieso hörte das nicht auf?

Zaghaft klopfte Sistermon Ciel an die Türe.

„Äbtissin. Ich habe sie hergebracht, wie ihr befahlt“, rief Sistermon Ciel, kaum dass sich die große Türe vor ihr öffnete. Der Raum war wesentlich heller wie der Flur vermuten ließ, weit größer wie geschätzt und rund. Die Decke war eine einzige Sternenkarte, wie Sanzomon fasziniert feststellte und sie glaubte auch trotz der Entfernung Sternbilder zu erkennen, die den Löwen, den Schützen und den Affen. Dann sah sie die Bücher und ihr wurde warm uns Herz. Der Anblick dieser Bücherstapel berührte sie. Und zwischen all diesen Büchern lief ein altes, kleines und unscheinbares Digimon auf und ab, das auch gar nicht erst zu bemerken schien, dass noch jemand anwesend war. Erst als Sistermon Ciel sich räusperte, sah das Digimon von seinen Papieren auf. So unscheinbar und klapprig die Äbtissin Babamon war, so soll sie ein stolzes Wesen und ungeahnte Kräfte besitzen, dass alleine verschaffte ihr einen großen Respekt, den sowohl Sistermon Ciel als auch Sanzomon fühlten.

„Schau an. Es stimmt also wirklich“, sagte sie, wenn auch wenig überrascht. Ihre Stimme war rau, kratzig und auch etwas schrill. Babamon griff nach ihrem Besen, der ihr eigentlich als Waffe diente, benutzt ihn aber als Gehstock, um auf die beiden Digimon zuzulaufen. Babamon war klein, von Sanzomon aus betrachtet ging sie ihr knapp über die Knie. Ihr Gesicht war faltig und fahl, ihre Haare ein strenger, grauer Dutt.

„Das ist also der Unruhestifter, von dem ich so viel gehört habe?“, fragte sie ungläubig und hob dabei die Stimme. Demütig nickte Sistermon Ciel und ging einen Schritt zurück, dass Babamon freie Sicht auf Sanzomon hatte. Babamon verzog den Mund und verschränkte ihre Arme.

„Hm. Ich hätte ja ein Digimon mit mehr Elan erwartet. Kindchen, steh nicht da wie ein Häufchen Elend!“

„Es tut mir Leid, Äbtissin. Ich habe nur Kopfschmerzen“, erklärte Sanzomon schwach und hob die Hand vor ihr Gesicht. Dieses helle Licht mochte einerseits angenehm sein, doch es tat in ihren Augen weh und damit auch ihrem Kopf, von dem sie fürchtete, er explodierte jeden Moment.

„Ich fühl mich komisch, seit ich digitiert bin. Ich bin so müde... Und diese Glocken.Wo kommen sie her?“, fragte sie schwach. Schließlich aber ging Sanzomon in die Knie und stützte sich mit ihren Armen ab.

„Sanzomon! Ist alles in Ordnung?“, fragte Sistermon Ciel und das brachte Sanzomon fast zum lachen. Sistermon Ciel, die sie sonst immer adelte und noch vor wenigen Stunden beschimpfte machte sich Sorgen um sie. Ihre Haare und die Bänder fielen in ihr Gesicht und verdunkelte etwas ihre Sicht. Der Schatten half tatsächlich etwas gegen die Kopfschmerzen.

„Das was du hörst ist nur die Macht des Lichtes, die um diesen Berg strömt. Unsereins nimmt die heilige Macht in dieser Form wahr“, erklärte Babamon und ignorierte Sanzomons Schwächeanfall komplett. „Du bist noch sehr unerfahren, aber sobald du gelernt hast deine Kräfte richtig zu kontrollieren, wirst du dieses penetrante Glockenschlag nicht mehr die ganze Zeit hören. Aber du schlägst dich wacker. Andere Digimon, die diese geballte Energie sonst zum ersten Mal zu spüren bekommen übergeben sich dabei und sind überreizt.“

Das sie sich übergeben musste würde Sanzomon nicht behaupten, dennoch war ihr, als drehte sich ihr Magen. Aber sie beherrschte sich. Gereizt fühlte sie sich auch nicht. Nur schrecklich müde.

Babamon nutzte das stumpfe Ende ihres Besens, legte diesen unter Sanzomons Kinn und hob dieses damit hoch, um dem Mönch-Digimon in die Augen schauen zu können. Babamons eigene waren hinter dem Pony versteckt.

„Ich hätte ja nicht gedacht, dass ich noch einmal ein Sanzomon zu Gesicht bekomme und dass es ausgerechnet so ein kleiner Unruhestifter sein würde, der sich als heilige Priesterin entpuppt. Ich gebe zu, ich hatte eine Ahnung, als ich dich und deine Spielkameraden von hier oben so beobachtet habe und von deinen kleinen Schandtaten hörte. Das es aber wirklich so kam erstaunt mich doch. Vor allem nach dem Vorfall mit diesem Wisemon.“

Der Besen wurde weggezogen und Sanzomon ließ ihren Kopf hängen. Sie wünschte sich, sie könnte sich beherrschen um ihre Ohren zuzuhalten, aber vermutlich würde das nichts bringen, wenn es so stimmte, was Babamon ihr sagte. Doch das Läuten war laut. Sie hoffte, auch die Aussage, dass es bald nachlassen könnte würde sich bewahrheiten.

„Sistermon Ciel, lass uns bitte alleine. Ich habe mit ihr Dinge zu bereden.“

„Jawohl, Äbtissin.“

Sistermon Ciel verbeugte sich und verließ den Raum schnurstracks. So wenig Sanzomon sie mochte, sie wünschte, sie bliebe hier. Allein vor der Äbtissin zu stehen jagte Sanzomon Angst ein und machte ihr ihre Lage erst wirklich bewusst. Vor allem nach der Auseinandersetzung zuvor. Sie war einfach abgehauen. Sie hatte ihr Schwert in die Ecke geworfen und war abgehauen, weil sie es ohne Sorcerymon nicht mehr aushielt. Warum sie, ausgerechnet sie zu einem Sanzomon wurde, einem Digimon dass in der Historie von Web Continent so verehrt und geschätzt wurde erschloss sich ihr nicht. Warum sie?

Sanzomon schaute zu Babamon auf und sofort wurden ihre Kopfschmerzen stärker, als sie ins Licht sah.

„Äbtissin... Muss ich in den Krieg?“, fragte Sanzomon zurückhaltend, kaum dass Sistemon Ciel den Raum verließ und sich die Türe schloss. Sie kniete noch auf dem Boden, aber auch so hätte sich Sanzomon so klein vor Babamon gefühlt. Die Äbtissin besaß zwar den Ruf etwas schrullig zu sein und manchmal etwas chaotisch, aber sie war eine starke Persönlichkeit, die angeblich schon sehr lange lebte und viel gesehen hatte. Sie hieß sogar, dass sie sehr streng sei. Das gab ihr eine etwas einschüchternde Art.

„Einen Pazifisten in den Krieg zu schicken wäre ein Verschwendung“, sagte sie schließlich kühl. „Du überlebtest keine Sekunde in dieser harten Welt. Nein, du bist zu etwas anderem bestimmt. Zu etwas Großem.“

„Ich? Zu etwas großen?“, harkte Sanzomon ungläubig nach. Beinahe hätte sie gelacht, zu oft hatte sie schließlich gehört, sie sei nicht tüchtig genug und stellte viel zu viele Fragen, als das je ein anständiges Digimon aus ihr werden würde. Einzig Sorcerymon hatte geglaubt, dass sie was erreichte, aber auch dies nur mit Vorsicht, betonte er schließlich auch oft, dass sie erst einmal noch lernen sollte richtig zu denken. Babamon aber nickte zustimmend.

„Es wird dauern, bis du dich und deine Fähigkeiten im Griff hast, aber sollte das eines Tages geschehen, wirst du sicher ein sehr mächtiges und weises Digimon werden, nach dem sich viele sehnen werden“, erklärte sie. Sie sah zum Fenster hinter ihr auf, ebenfalls geziert mit dem Tifaret. Das blassrosa Licht fiel auf sie beide und umhüllte sie, so warm und angenehm wie eine mütterliche Umarmung.

„Licht und Dunkelheit sind im Ungleichgewicht, die Angst und die Unsicherheit sind groß. Digimon vertrauen auf unsere Kämpfer des Lichts. Aber auch sie sind eben nur Digimon. Sie brauchen einen Anker, einen Sinn. Jemand, der sich ihrer Laster annimmt, damit ihre Hoffnung nie erlischt. Und du kannst dieser Anker für andere Digimon sein, mein Kind.“

Sanzomon war zu ergriffen, um antworten zu können. Babamons Worte, trotz ihrer Stimme erwärmten ihr Herz. Die Vorstellung, das sie anderen Digimon mit ihren Fähigkeiten und ihrem Wissen helfen konnte gab ihr die Kraft zurück, die sie brauchte um wieder aufzustehen und das Glockenläuten zu ignorieren. Sie legte ihre Hände auf ihre Brust. Ihr Herz, oder vielmehr ihr Digikern pochte bei der Vorstellung vor Freude.

„Freu dich aber nicht zu früh“, ermahnte Babamon sie weiter, als sie das Leuchten in Sanzomons Augen sah. „Du musst noch viel lernen. Aber ich denke, ich kann dir dabei etwas helfen.“

„Ihr wollt mir helfen, Äbtissin? Wie?“

„Ich nicht. Zumindest nicht direkt.“

Auf dieser rätselhaften Aussage folgte nichts mehr, doch stattdessen setzte Babamon sich in Bewegung, direkt auf eine Türe zu ihrer rechten zu. Sie klopfte mit ihrem Besen ein, zweimal gegen die Tür, die, wie Sanzomon gerade bemerkte weder Klinke noch Schlüsselloch besaß, aber sich nach Babamons Klopfen von selbst öffnete. Sie winkte Sanzomon zu sich, die ihr auch gleich folgte.

Hinter dieser Türe bestand sich erst nur ein kleiner Durchgang, der wieder an einer Tür endete. Auch diese Türe war mit dem Tifaret geschmückt und statt dem Klopfen wurde diese durch das Leuchten von Babamons Perlenkette geöffnet.

„Komm schon. Wer sich Weisheit aneignen will braucht viel Material. Hier wirst du alles finden, was du brauchst“, sagte sie und schritt in den Raum. Etwas nervös folgte Sanzomon ihr und fand sich schließlich in einem riesigen Saal wieder. Der Raum war rund, erstreckte sich aber nach unten, mitsamt einer Wendeltreppe. Und trotz des gedämmten Lichts sah Sanzomon, dass hier alles voll mit Büchern war. Die Regale, keine Holzregale, sondern in Stein gemeißelt waren voll mit Büchern, mit Schriftrollen und Karten, von oben bis unten. Dieser Raum war im Mount Boot und ging tiefer ins Innere des Berges, vielleicht sogar noch weit unter den Weg.

„Unglaublich“, hauchte Sanzomon atemlos und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie sah nur Bücher. Sie sah die Wendeltreppe hinunter und sah noch einige Platte als Zwischenebene, auf denen man Stehen konnte, da war sogar Mobiliar zum niederlassen. Kristalle brachten Helligkeit hinein. Aber sonst waren hier nur Bücher. Aber und aber alles voll mit Büchern.

„Hier findest du alles was du brauchst. In dieser Bibliothek bewahren wir sämtliche Schriften auf, die ich und alle Äbtissinnen vor mir, bis zu Sanzomon zurück gesammelt, übersetzt und selbst verfasst haben“, erklärte Babamon stolz und lief mit Sanzomon die Wendeltreppe hinab. Doch Sanzomon hörte kaum zu, sondern sah erstaunt in alle Richtungen.

„Diese heiligen Schriften sind kostbar und bieten den Grundstein sämtlicher Lehren unseres Ordens.“

„Und i-ich darf sie alle lesen?“

„Selbstverständlich. Wie willst du dir sonst Wissen aneignen? Und wie sollen andere von dir lernen?“

„Lernen?“

Sanzomon blieb abrupt stehen.

„Von mir lernen? Redet ihr von den jüngeren Digimon? Was soll ich denn ihnen beibringen? Ich bin doch erst vor ein paar Stunden digitiert!“

„Das wirst du früher oder später herausfinden“, meinte Babamon nur ganz gelassen. Dann lief sie weiter hinunter. Sie waren schon an drei Platten vorbeigelaufen und es ging immer noch runter. Auch die Kristalle wurden weniger, je näher sie den Boden kamen.

„Die Bücher sind dein Leitfaden, solange du noch unerfahren bist. Auch das erste Sanzomon war unerfahren, doch mit ihrer Weisheit rettet sie diesen Kontinent und Digimon, die der Dunkelheit zum Opfer fielen konnten endlich wiedergeboren werden. Sie nahm sich der Laster dieses Landes an, indem sie tif in ihr Herz blickte. Eine besondere Fähigkeit deiner Art. Dafür wurde ihr der Eintritt ins Goldene Land gewehrt. Der Tag wird kommen, dann weißt du auch ohne sie, was zu tun sein wird. Wir erwarten Großes von dir, Sanzomon.“

„Großes...“, wiederholte Sanzomon. Ihre Freude war gedämmt. Vielmehr fühlte sie sich nun überfordert. Sie wünschte, sie könnte Sorcerymon fragen, was er davon hielt. Wie sollte sie, ausgerechnet sie mit so einem historisch bedeutendem Digimon mithalten?

Sie waren ganz unten angekommen und dies war mitunter die größte Ebene von allen. Vermutlich war dieses Gewölbe genauso breit wie der Berg. Selbstverständlich war auch hier alles voll mit Büchern. Was Sanzomon jedoch stutzig machte waren die vielen Talismane, die an und zwischen den Büchern hingen.

„Und diese solltest du sehr gut kennen. Halte dich am besten von ihnen fern. Diese Bücher entstammten aus den dunkelsten Ecken der Digiwelt und sie werden hier verwahrt, ehe sie noch ein Unheil mit sich bringen.“

„Unheil? Aber das sind doch nur Bücher“, meinte Sanzomon und nahm auch Babamons Warnung nicht sehr ernst. Interessiert starrte sie durch die Reihen, die Talismane, einige mit dem Tifaret darauf, andere mit Sutras und Psalmen, die das Böse abwendeten sollten. Automatisch streckte sie ihre Finger aus, die es liebten über den Einband eines Buches zu fahren, es zu fühlen und vielleicht auch seinen Inhalt fühlen und erahnen zu können, vielleicht auch um zu überprüfen ob sie wirklich so eine dunkle Macht in sich trugen, aber da ging Babamon dazwischen:

„Finger weg!“, brüllte sie und Sanzomon erschrak so sehr, dass sie einen Satz vom Regal regelrecht wegsprang. Mit großen Auge schaute sie zu der Äbtissin. Ihre Finger schwebten noch in der Luft, als wollte sie etwas ergreifen, aber Sanzomon war wie erstarrt.

„Hast du nicht zugehört? Das sind verbotene Bücher! Lass die Finger von ihnen!“

„Verbotene Bücher?“, wiederholte Sanzomon ungläubig. „Wieso verboten? Und warum werden sie dann hier verwahrt, wenn nicht um sie zu studieren? Und warum vernichtet ihr sie nicht, wenn sie angeblich so viel Unheil bringen?“

„Besser hier als sonst wo. Sie sind ein Mahnmal für uns alle. Außerdem kehren sie immer wieder. Manche Bücher schneller, manche etwas später. Warum? Tja, das weiß niemand?“

„Liest sie denn jemand? Bücher wollen gelesen werden“, sagte Sanzomon scherzhaft. Sie schmunzelte sogar, weil sie an Sorcerymon denken musste. Trotz ihres roten Schales vor dem Mund war Sanzomon, als hätte Babamon es doch gemerkt und war nicht amüsiert darüber.

„Tu dir selbst einen gefallen und lass die Finger davon. Viele der Bücher wurden von hochrangigen Dämonen-Digimon gepriesen. Zwischen ihnen sind auch die Schriften dieser Kreaturen“, mahnte Babamon weiter. Sanzomon schien auch genau zu wissen welches es waren. Es waren die Bücher mit dunklen Einband und einem Zeichen darauf, das stark einer Fledermaus ähnelte. Sie würde Jahre später dieses an Myotismon wiedererkennen.

„Sie sind eine Warnung, dass manche Schriften besser niemals das Tageslicht erblicken sollten“, sagte sie weiter und schritt voran, ungeachtet, das Sanzomon zögerte zu folgen. Sie sah weiter durch die Reihen. Trotz der Warnung würde sie dennoch gerne lesen, was darin stand. Ehe sie Babamon aber folgte, blieb sie wieder stehen, zu den verbotenen Bücher schauend. Zwischen einen von ihnen las sie FAHRENHEIT 451.

 
 

* * * *
 

Dies war nun der dritte Unterrichtstag mit den Cupimon, der Sanzomon bevorstand. Es war zwar immer eine andere Gruppe, den mit über fünfzig Ausbildungs-Digimon in einem Raum war es schwer effektiven Unterricht zu gestalten, aber mit ihrer neuen Aufgabe etwas überfordert, hätte sie die Digimon, die vor wenigen Wochen und Monaten noch ihre Spielkameraden waren ohnehin nicht voneinander unterscheiden können.

Missmutig saß Sanzomon da und blies ihre Haare in die Luft. Gespannt standen die Cupimon vor ihr und warteten, was Sanzomon ihnen beibringen sollte, aber sie war etwas überfordert. Was sollte sie ihnen beibringen? Sie war regelrecht ins kalte Wasser geworfen worden. Sie wusste nicht, wie man Digimon etwas beibrachte, aber die Äbtissin und Sistermon Ciel meinten, sie würde das von selbst erkennen und begreifen, sie müsse sich nur Gedanken machen und überlegen, dann käme es von selbst. Doch es verstimmte Sanzomon nur mehr.

„Sanzomon. Seid ihr traurig oder so?“, fragte eines der Cupimon schüchtern, Sanzomon schüttelte den Kopf, der in ihren Händen lag.

„Nein, ihr Lieben. Ich bin nur etwas überfragt. Ich weiß nicht, was ich Euch beibringen soll“, seufzte Sanzomon. Rätselnd schauten sich die Cupimon an, einige verzogen die Lippen, andere hoben die Schultern. Auch zu dem Sistermon Blanc, dass an der Türe stand schaute Sanzomon einmal verzweifelt hinüber, aber auch sie wusste keinen Rat. Sie war eigentlich als Assistentin für Sanzomon gedacht, aber sie hatte diese Hilfe abgelehnt. Nun lehnte sie sich an die Wand, wirkte genauso gelangweilt. Das Hasen-Gesicht ihrer rosa Haube schlief.

Verzweifelt schaute Sanzomon sich im Zimmer um, vielleicht bekäme sie dann eine Eingebung, jedoch merkte sie nur wie langweilig dieser Raum war. Ja, er war hell, es gab Dinge, die die Ausbildungs-Digimon gebaut und bemalt hatten, aber es wirkte alles absolut gleich. Sie hatten Türme gebaut, aber obwohl jeder davon von einem anderen Cupimon erbaut wurde, sahen sie gleich aus. Sie waren sogar alle gleich hoch. Auf den Bildern, die sie malten war auch überall das Gleiche Motiv zu sehen. Ein Baum mit roten Blättern und ein Vogel-Digimon in der Ecke und einem Pilz, links vom Baum. Alles absolut identisch und Sanzomon fragte sich selbst, ob dass so auch schon war, als sie noch ein Cupimon war. Dann dämmerte ihr die Erinnerung, dass sie ein paar Mal versucht hatte etwas anderes zu machen und sie Ärger bekam, weil sie nicht das tat, was die anderen taten. Nur wusste sie nicht mehr ob sie Ärger von den Sistermon bekam oder von ihren eigenen Spielkameraden.

„Wir können doch beten“, schlug ein Cupimon vor, die anderen nickten ihm zustimmend zu. „Im Zweifel ist beten immer gut. Beten ist wichtig, damit wir unser Licht finden.“

„Ach Kinder, ihr betet schon zu viel am Tag“, seufzte Sanzomon. „Da könnt ihr die Zeit, die ihr mal nicht betet nicht auch noch damit verbringen. Außerdem kann man sein Inneres Licht auch ohne Beten finden.“

„Hä? Ohne Beten?“, fragte ein Cupimon in den hinteren Reihen. „Aber das geht doch gar nicht. Ohne Beten kann man kein Licht haben.“

„Unsinn, Kinder. Ein Licht hat jeder von uns, von Geburt an. Dass muss man nicht erst neu entdecken. Man muss es nur begreifen und es fördern. Licht ist das, was in uns steckt und werden kann.“

Mit offenen Mündern starrten die Cupimon in die Runden.Ihre Augen waren ganz groß, aber verstehen taten sie nichts von dem was Sanzomon ihnen versuchte zu erklären. Es wunderte Sanzomon anfangs, bis sie sicher immer mehr an ihren Unterricht erinnerte. Genauso wie die Kleinen es ihr vortrugen, so hatte sie es selbst ja von den Sistermon gelernt. Auch Sistermon Blanc schaute verwirrt, gar besorgt, aber Sanzomon ignorierte sie.

Sie sah sicher wieder im Zimmer um. Hinter den Cupimon waren jedoch nur die Tische und Stühle, mit Papier und Stiften, Bauklötze, Bücher – aber nur einfache, von der Äbtissin ausgewählt – ein paar Pflanzen, an denen kleinen Blumen oder Bohnen gediehen. Am Fenstersims jedoch stachen Sanzomon fielen ihr ein Würfel, eine Kugel und ein Prisma ins Auge. Diese waren eigentlich für den Mathematik-Unterricht, aber sie waren aus Glas und Sanzomon bekam einen Geistesblitz.

„Ich erkläre es euch ganz einfach“, sagte sie nun euphorisch, sprang auf unter den weiter irritieren Blicken der Cupimon. Einige begannen auch zu tuscheln, als Sanzomon gerade stolz das Prisma ergriff und hochhob.

„Nehmen wir diese schlichte Form. Einfach. Nichts besonderes. Die Zahlen mögen zwar anders sein, aber die Formel dieser Form ist immer die gleiche. Doch hält man sie ins Licht -“

Daraufhin hielt Sanzomon das Prisma in den Lichtstrahl der Sonne, woraufhin Farbkleckse auf dem Boden vor den Cupimon erschienen. Sanzomon drehte das Prisma in ihren Händen noch ein wenig, bis sie den richtigen Winkel fand und schließlich war der Großteil des Raumes in Regenbogenfarben getaucht. Ein großer Regenbogen zog quer durch den Raum, die Cupimon versuchten einzelne Farbflecken zu fangen, doch Sanzomon drehte das Prisma immer ein wenig und nun jagten die Ausbildungs-Digimon den Farbpunkten jauchzend hinterher.

„Seht ihr. Das ist Potenzial“, sagte Sanzomon nun und legte das Prisma wieder ab, aber stellte es so wieder ab, dass noch ein schwacher Regenbogen über den Cupimon an der Decke leuchtete. „Potenzial ist das, was in euch steckt. Potenzial ist die Kraft, die vielen Facetten in sich selbst zu erkennen und sie zu fördern. Euer Licht zu finden bedeutet, eure Fähigkeiten zu finden und welche Optionen sie bringen.“

„Heißt das wir werden... bunt?“, fragte ein Cupimon, nicht sicher ob es verstanden hatte, was Sanzomon versuchte ihnen beizubringen. Sie schüttelte lachend den Kopf.

„Nein. Die Farben waren nur eine Metapher für euch. Die Farben sollen für euer Potenzial stehen. Ihr habt die Möglichkeit so viele Wege einzuschlagen. Ihr müsst nur das Licht in euch entdecken, wie jedes andere Digimon auch, auch wenn sie es nicht Licht nennen. Dann wird euch auch klar, wohin euch euer Weg bringen wird und zu welchen Digimon ihr später werden könnt.“

„Gilt das auch für... die Dämonen-Digimon?“, fragte ein anderes Cupimon vorsichtig und Sanzomon nickte ihm zu.

„Natürlich gilt dies auch für sie. Die Dämonen-Digimon pflegen eine andere Kultur, aber auch sie sind Digimon wie ihr oder ich. Und jedes Digimon hat das Potenzial Teil einer großen Gemeinschaft zu werden, in der wir alle friedlich leben können. Ein Digimon wird nicht automatisch als gut oder böse geboren. Das ist Unfug.“

„Unfug?“, wiederholten die Cupimon verwirrt, aber auch interessiert an dem, was Sanzomon ihnen erklärte. Sistermon Blanc schien immer nervöser zu werden über das, was Sanzomon von sich gab, aber ihre Erziehung verbat ihr, ihrer Vorgesetzten einfach dazwischenzufunken und zu widersprechen.

„Ja, Unfug. Es ist wichtig das wir lernen, auch von anderen Kulturen und Digimon-Gruppen, weil dann wachsne wir auch und unser Licht viel größer, selbst wenn man kein heiliges Digimon ist“, bestätigte Sanzomon weiter den staunenden Cupimon, dann blieb sie an Sistermon Blanc hängen, die eher aber danach aussah, als wollte sie sich am liebsten in Luft auflösen.

„Nehmen wir hier zum Beispiel Sistermon Blanc. Wenn sie jetzt vielleicht irgendwann ein LadyDevimon werden würde, wäre sie ja auch nicht automatisch böse, richtig? Sie kennt uns, wir sind ein Teil ihrer Gesellschaft und sie kennt die regeln des Ordens. Ihr Aussehen und ihre Kräfte würden sich verändern, aber sie wäre immer noch das selbe Digimon wie zuvor.“

„W-Was?! Ich soll zu einem LadyDevimon werden?“, schrie Sistermon Blanc entsetzt auf, wie Sanzomon erst dachte, wie sie einfach erschrocken über diesen Vergleich war. Doch bei genaueren Betracht wurde Sanzomon klar, dass sie nicht nur erschrocken war, sondern regelrecht entsetzt.

„Beim besten Willen, Meister Sanzomon. Wie könnt Ihr nur so etwas behaupten?! Ich bin eine ehrenwerte Dienerin des Ordens!“

„Ich habe nicht behauptet, dass du ein LadyDevimon wirst. Das war nur Rhetorik. Und das Potenzial zu einem LadyDevimon zu digitieren ist in deiner Spezies vorhanden. Das nur bösartige und abtrünnige Digimon zu dämonischen Digimon werden ist eine veraltete These.“

„Meister Sanzomon, bitte, Ihr widersprecht den Lehren des Ordens.“

„Aber so steht es auch in Büchern geschrieben.“

„Da müsst Ihr Euch verlesen haben! Ich würde niemals ein hinterhältiges, boshaftes, kaltherziges, grausames, brutales Dämonen-Digimon werden, niemals!“

„Was ist das für ein Tumult?!“, rief die Stimme von Sistermon Ciel von draußen. Sie selbst öffnete daraufhin auch gleich die Tür des Studierzimmers, aber bevor sie einen Schritt ins Innere tat, drängte sich Sistermon Blanc an ihr vorbei.

„Das werde ich der Äbtissin persönlich melden!“ schrie sie vom Korridor aus zurück und nur noch ihre schnellen Schritte auf dem glatten Steinböden waren zu hören. Sistermon Ciel schaute ihr nach, wandte sich anschließend zu Sanzomon. Sie brachte kein Wort heraus, aber ihr Blick war fordernd auf das Mönch-Digimon gerichtet, hinter dem sich die Cupimon verkrochen, als hätten sie diese Unruhe zu verantworten. Sanzomon ließ sich jedoch vor ihnen nicht anmerken, dass sie selbst genauso fassungslos war und nahm ihr letztes bisschen Ruhe zusammen.

„Ihr Lieben, geht spielen. Der Unterricht ist für heute beendet.“
 

* * * *
 

Weiter in den unteren Ebenen, wo die Tempel weniger zerfallen und neuer waren lebten die Puttimon ihr sorgloses Dasein. Die Tempel, die mehr nur ein Übergang ins Innere des Berges waren, waren ihr Unterschlupf, wo sie die meiste Zeit in ihren Bettchen schliefen und von den Sistermon betreut wurden. Für gewöhnlich war der Berg vom Rot der Bäumen umgeben, doch hier in der Höhle wuchsen blasslila, fast samtblaue Glyzinen hinein und erstreckten sich über die gesamte Decke. Die Puttimon schliefen seelenruhig unter dieser Blütendecke und auch der Boden war nichts weiter als ein blauer Blütenteppich. Vereinzelt segelten Blütenblätter hinab und landete in einer der Wiegen.

Eine landete im Gesicht eines Puttimon, das daraufhin zu niesen anfing und dadurch auch wach wurde. Durch das unsanfte Erwachen nicht ganz bei sich, aber weiterhin müde fing es bereits an zu Schluchzen. Dicke Tränen rannen aus seinen Augen, während es wimmerte und es würde nicht lange dauern, dann würde es auch anfangen zu weinen.

Doch ehe es dass konnte trat ein Digimon an seine Wiege und holte das Digimon mitsamt seiner Decke aus dem Bettchen. Das Digimon sah einerseits zwar den Sistermon ähnlich, aber es war kein Sistermon. Dieses goldene Digimon, in weiß und rot gekleidet blickte herzlich zu dem Puttimon hinab und so herzlich und warm wie ihre Umarmung war auch ihre Stimme.

„Pscht, pscht. Kein Grund zu weinen. Es ist doch alles gut, mein Kleines. Schlaf ruhig weiter“, redete Sanzomon sanft auf das Baby-Digimon ein, dass aber noch weiter winselte, aber nicht so aussah, als würde es jeden Moment zu weinen anfangen. Langsam begann Sanzomon schließlich ihre Arme, in denen das Puttimon lag zu bewegen und es damit hin und her zu schaukeln. Sie summte eine Melodie dabei was genau für eine Melodie konnte Sanzomon nicht sagen oder ob es ein ihr bekanntes Lied war. Vermutlich war es ein Gemisch aus verschiedenen Melodien von Liedern, die ihr die Sistermon gesungen hatten, als sie noch ein Puttimon war.

Jedoch, die Melodie, Sanzomons sanftes Selbst, das Schaukeln und die Glyzinen, die wie Federn hinunter segelten waren so friedlich, so liebevoll und ruhig, dass das Puttimon auch irgendwann das Wimmern sein ließ. Es schloss die Augen, döste und schlief schließlich in Sanzomons Armen wieder ein. Sie hielt es aber noch weiter in ihren Armen.

„Meister Sanzomon. Was macht ihr denn hier?“, rief ein Sistermon Noir mit gedrückter Stimme zu ihr, bedacht die anderen Baby-Digimon nicht zu wecken. Auf Zehenspitzen drängelte sie sich an den Wiegen vorbei und zu Sanzomon hinüber.

„Oh, ich dachte ich schaue etwas nach den Puttimon. Ich sehe sie doch viel zu selten. Dabei sind sie so süß und so unschuldig“, sagte Sanzomon lächelnd und drückte das schlafende Puttimon enger an ihre Brust. Doch Sistermon Noir schien sich mit dieser Antwort nicht zufrieden zu geben.

„Aber sich um die Puttimon zu kümmern ist die Aufgabe von uns Sistermon. Müsst Ihr nichts für den Unterricht vorbeireiten? Und das Abendgebet?“

„Das habe ich doch schon alles erledigt. Ich hatte Zeit. Außerdem habt ihr mit den Cupimon und den Rookies doch genug zu tun.“

„Aber jeder von uns hat feste Aufgaben, die er zu bewältigen hat. So sind die Regeln des Ordens.“

„Wir leben in einer Gemeinschaft, Sistermon Noir. Und in einer Gemeinschaft hilft man auch einander, fernab der Regeln“, erklärte Sanzomon weiter.

„Aber wenn andere plötzlich die Aufgaben machen, die sie nicht tun sollen, dann bringt das die Ordnung doch aus den Fugen.“

„Wir helfen einander. Wir bringen kein Chaos“, erklärte Sanzomon weiter, doch Sistermon Noir schien nur noch unruhiger zu werden.

„Aber... Die Regeln. Die Äbtissin -“

„Sie kann sich gerne bei mir persönlich beschweren.“

Sistermon Noir ließ nun gänzlich von ihr ab, nicht aber weil sie überzeugt war, sondern da sie einsah, dass sie Sanzomon nicht umstimmen konnte. Vorsichtig lief sie wieder an den Wiegen der schlafenden Puttimon vorbei und auch wenn sie die Türe so zaghaft wie möglich schloss, hörte Sanzomon ihre Frustration regelrecht. Doch sie kümmerte sich vorerst nicht darum, sondern war berührt davon, das schlafende Baby-Digimon zu sehen und legte es zurück in sein Bett.

Zufrieden schaute sie durch den Raum. Alle schliefen. Sie seufzte erleichtert. Ehe sie noch einmal, nur zur Sicherheit, durch die Reihen ging schaute sie zur Decke hoch. Zwischen den Glyzinen jedoch sah sie etwas rötliches Aufflackern und für einen Moment glaubte sie, etwas hätte Feuer gefangen. Es stellte sich jedoch schnell als ein rotes Blatt heraus, dass nun mit all den blauen Blüten langsam zu Sanzomon hinunterfiel.
 

* * * *

 

Wieder stand Sanzomon hier, vor Babamon und Sistermon Ciel. Wieder hatte sich ein Digimon über sie beschwert. Das wievielte Mal war es diesen Monat schon? Das fünfte Mal? Sechste? Es könnte auch schon mehr gewesen sein. Wer hatte sich beschwert? Eines der Sistermon?

Ihre Differenzen mit den Sistermon und Babamon häuften sich im Laufe der letzten Monate, dabei bemühte Sanzomon sich bereits weniger aufzufallen, so sehr es sie jedoch widerstrebte und so sehr sie es haste gedankenlos und kritikfrei das nachzuplappern, was man ihr vordiktierte. Sie hasste es. In jeder ihrer Unterrichtsstunden standen zwei Sistermon dabei und beobachteten sie, manchmal sogar Sistermon Ciel persönlich. Hätte sie sich nicht durchgerungen, den Jüngeren Mathematik beizubringen, wie man Sterne las oder was in der Natur giftig und ungiftig war, wäre sie vermutlich schon durchgedreht.

Babamon saß erzürnt in einem hohen Stuhl. Sistermon Ciel stand neben ihr und funkelte Sanzomon so wütend an, dass sie fürchtete sie würde jeden Moment ihr Katana ziehen und sie vielleicht angreifen.

„Was habt Ihr diesmal für eine Ausrede?“, fragte Sistermon Ciel, nach langen Minuten des Schweigens.

„Ich weiß nicht einmal, wieso ich schon wieder hier bin.“

„Ihr wisst wieso, Sanzomon.“

„Nein, tue ich nicht“, behaarte sie weiter, was Sistermon Ciel nur noch ungehaltener machte.

„Also erinnert Ihr Euch nicht mehr an gestern? Wegen den beiden Salamon?“, berichtete sie und langsam dämmerte es Sanzomon auch und sie hatte damit auch einen Verdacht wer sie verpfiffen hatte. Am Tag zuvor digitierten zwei Salamon, eines wurde zu D'arcmon, dass andere zu Angemon. Während D'arcmon nun von Sistermon Ciel im Kampf trainiert wurde, wurde Angemon in die westlichen Protokollwälder versetzt. Die anderen Rookie und auch die Cupimon fragten Sanzomon warum das so war. Sie stellten allgemein viel mehr Fragen und das schien der Äbtissin und den Sistermon zu missfallen. Und sonst erklärte ihnen niemand gewisse Umstände und Regelungen.

„Die jüngeren Digimon wollten wissen, warum Angemon fort musste und D'arcmon nicht. Also habe ich versucht es ihnen zu erklären“, verteidigte Sanzomon sich mühselig. Sie waren diese Verhöre immer mehr Leid. Sistermon Ciel rümpfte abfällig die Nase.

„Das merkte man. Die Cupimon fragen die Sistermon rund um die Uhr deswegen. Sie benutzen Wörter wie maskulin und feminin, sie reden davon dass solche Digimon sich sehr gern haben können, zu gerne sogar und man sie deswegen trennt. Die Sistermon sind überfordert und können ihre Arbeit nicht in Ruhe erledigen, weil Ihr Euch mal wieder nicht an die Regeln hielt.“

„Ich hätte ihn auch gerne den wahren Grund erklären können. Wäre Euch das lieber gewesen?“, fauchte Sanzomon. Sie erschrak über ihre Bissigkeit, amüsierte sich aber darüber, die rot Sistermon Ciel bei dem Gedanken wurde.

„I-I-Ihr hättet einfach gar nichts sagen sollen!“

„Die Kleinen sind doch nicht dumm. Sie sehen doch, dass es einen Unterschied zwischen einem Angemon und einem D'arcmon gibt. Sie haben ein Recht darauf, dass man es ihnen erklärt.“

„Sie sollten nicht einmal auf die Idee kommen, dass es Unterschiede gibt. Wir sind alle gleich, wir sind alle gleichwertig. Wir mögen andere Arten sein, doch wir sind gleich und wir sorgen dafür, das alle gleich sind.“

„Ja, so gleich, dass einer gehen und der anderen bleiben darf! Merkt Ihr nicht, dass Ihr Euch widersprecht?! Die ganzen dummen Regeln sind ein einziger Widerspruch!“, keifte Sanzomon zurück. Ihr Magen brodelte. Wütend ging Sistermon Ciel einen Schritt auf sie zu, doch Babamon hielt sie davon ab, indem sie ihr ihren Besenstiel in den Bauch rammte.

„Hier wird nicht gekämpft, damit das klar ist“, krächzte sie verärgert.

„Äbtissin, dieses Digimon beleidigt Euch und den Orden, der ihr überhaupt diese Möglichkeit gegeben hat, dass zu werden was sie nun ist!“, schrie Sistermon Ciel Sanzomon an.

„Ich wurde nicht gefragt, ob ich diese Position will! Ihr wolltet das. Und bei allem Respekt, ich werde meine eigenen Prinzipien nicht verraten! Ihr habt mir all die Schriften zur Verfügung gestellt und ich nutze ihren Inhalt weiter um den jüngeren Digimon etwas beizubringen! Nicht durch diese lächerlichen Kopien, sondern mit den Originalen!“

„Hast du deswegen die verbotenen Bücher genommen?“, fragte Babamon merkwürdig gelassen. Sanzomon vermutete, sie unterdrückten ihren Ärger einfach nur.

„Habe ich dich nicht davor gewarnt? Nicht anfassen, diese Regel sollte auch ein Unruhestifter verstehen, oder nicht?“

„Wir sind im Krieg mit den dämonischen Digimon. Wenn wir etwas erreichen wollen, dann muss man seinen Feind auch verstehen“, zischte Sanzomon durch die zusammengepressten Zähne. „Sie sind kaum anders als wir. Ihre Schriften ähneln der unseren. Wenn wir zukünftigen Generationen das nicht klar machen – wenn wir ihnen nicht erklären, dass wir letztlich alle verbunden sind, sterben nur noch mehr Digimon in diesem sinnlosen Kampf! Warum also macht ihr diese Bücher nicht zugänglich? Stattdessen entfernt ihr ganze Kapitel und schreibt die Texte um!“

„Es gilt zum Wohle aller und um Chaos zu vermeiden“, schrie Sistermon Ciel dazwischen.

„Es ist Zensur!“

„Ruhe jetzt!“

Sanzomon und Sistermon Ciel fuhren zusammen. Kaum eine von beiden wagte es die Äbtissin anzuschauen, die allmählich ihren Zorn auch nicht mehr verbergen konnte. Ihr Besen zitterte in ihren krampfenden Händen und ihre Lippen waren schmal. Auch wenn man ihre Augen wegen des Ponys nicht sah, war Sanzomon sich sicher, dass Babamon einzig sie anstarrte. Und auch wie.

„Sistermon Ciel, du übernimmst den Unterricht für heute. Eventuell auch für Morgen. Ich muss mit Sanzomon einige Dinge klären. Stört uns nicht, verstanden?“

Sistermon Ciel nickte nur. Sie ging, wenn auch nur widerwillig und warf Sanzomon einen letzten, giftigen Blick zu, als sie an ihr vorbeilief. Ihre Schritte hörte man noch sehr lange. Sie war wirklich wütend. Babamon und Sanzomon hingegen schwiegen sich erst an und jeder wartete darauf, dass der andere etwas sagte, während das Licht der Abendsonne durch die Fenster schien und das Tifaret in den Fenstern anleuchtete. Das sonst so zartrosa Licht wirkte knallrot und verlieh dem allem etwas bedrohliches.

„Eigentlich sollte es mich nicht wundern, dass du so eigenwillig und stur bist. Einerseits ist deine Überzeugung in deine Prinzipien beeindruckend“, sagte Babamon erst in ihrer gewohnten, etwas gemächlichen Stimme, dann jedoch schwang sie um, „Jedoch wäre es angemessener wenn du diese Eigenschaften zum Wohl anderer und im Sinne des Orden nutzen würdest.“

„Ich soll Wissen vermitteln und das tue ich. Keine Meinungen und keine Ideologie und nichts anderes sind die Lehren des Ordens. Ich verstehe nicht, wie Ihr so etwas diesen Digimon beibringen könnt und dann noch andere zensiert!“

„Ich und andere Äbtissinnen vor mir haben uns schlicht auf das Wichtigste beschränkt. So viele Schriften wie es gibt, ist es unmöglich, dass ein Digimon, gerade in jungen Jahren und niedrigen Level das begreift. Wir lehren also, was für unsere Gemeinschaft an wichtigsten ist.“

„Und warum soll ausgerechnet dass das Richtige sein?“, fragte Sanzomon weiter und nun hob sich auch ihre Stimme. „Wir haben immer noch Krieg mit den dämonischen Digimon, die aus der Dunklen Zone hierher kommen und nichts, was wir bisher den Digimon beigebracht haben hat irgendetwas dazu beigetragen, dass dieser Krieg ein Ende findet!“

„Mein Kind -“

Babamon lehnte sich nach vorne, viel zu ruhig, viel entspannt und da wurde Sanzomon schon mulmig. Die Worte, die aus dem Mund der Äbtissin kamen wollte sie erst nicht wahrhaben. Sie zweifelte an ihrem Gehör, gar an ihrem Verstand. Das hatte sie nicht gehört. Das konnte nicht sein.

„- war je die Rede davon, dass wir diesen Kampf beenden wollen?“

Stille. Ein schweres Pochen in ihrer Brust, ein Stromschlag durch ihren gesamten Körper. Wie lange diese Stille hielt, war Sanzomon selbst nicht ganz klar. Aber es dauerte lange, bis sie ihren Mund wieder öffnen konnte.

„N... nicht...?“, presste Sanzomon aus sich heraus, vergaß sie regelrecht zu atmen. Für einen Moment war ihr sogar schlecht. Die Stille kam ihr wie eine Unendlichkeit vor und jeder Satz, der Sanzomon einfiel und sie aussprechen, sogar herausschreien wollte erstickte im Schock.

„Dieses Wisemon hat dir ziemlich den Kopf gewaschen. Gewinnen oder verlieren, tse. Das ist so eine typische dämonische Polemik. Entweder oder. Es geht um Balance, mein Kind. Alles muss im Gleichgewicht sein und darin ist schon das Wort. Die Antwort. Gleich. Ja, wir werden nicht gleich geboren. Also müssen wir alle gleich werden. Hast du das in der Zeit immer noch nicht gelernt?“

Sanzomon blieb weiter wie erstarrt. Erinnerungen zogen an ihr vorbei. Die Bilder, die alle gleich aussahen. Die Türmchen, mit immer der selben Anzahl an Klötzen, immer in gleicher Höhe und Form. Sie hatten keine Freunde, man mochte ja immer alle. Es gab keine Gewinner oder Verlierer beim Spielen, sie waren ja alle gleich gut. Auf die Frage,was sie mochten kam immer die gleiche Antwort. Auf die Frage, ob ihnen dies oder jenes gefiel kam immer die gleiche Antwort. Es gab nichts anderes. Kein dazwischen, ein darüber hinaus. Kein Hauch von Individualität.

„Es... es geht gar nicht darum diesen Krieg zu gewinnen?“, sagte Sanzomon schließlich, doch ihre Stimme klang heiser und als ob sie es immer noch nicht glauben konnte, was sie da hörte.

„Gewinnen bedeutet, dass eine Macht die Oberhand gewinnt. Das dürfen wir nicht zulassen. Weder die dunkeln Digimon, noch die unser.“

„Wofür dann diese Tode? Wofür kämpfen wir dann? Wofür ist meine Freundin gestorben? Wofür sind alle anderen gestorben? Warum lernen wir ständig, wie wichtig unserer Gemeinschaft und unsere Reinheit ist, wenn es doch kein Ziel hat?!“

„Es gibt auch mehr Ziele wie nur gewinnen oder verlieren. Es ist nur vielleicht nicht gleich ersichtlich. Oder begreifbar. Schau her.“

Babamon schlug mit ihrem Besen auf den Boden. Der Raum zu Sanzomons rechten wurde stockdunkel. Genau über ihr war die Schnittstelle von Licht und dieser plötzlich Finsternis. Doch so klar war dieser Übergang nicht, er war fließend und sowohl das Licht, als auch der Schatten versuchten über die Mitte des Raumes hinwegzukommen, um den anderen zu verschlingen.

„Licht und Dunkelheit sind wie sehr ungleiche Geschwister. Sie können weder mit, noch ohne einander. Während es bei den meisten Elementarenkräften, wie Wasser, Feuer oder Blitz so ist, dass sie in einer Art Dreifaltigkeit existieren, die stets in eine Richtung geht, sind Licht und Dunkelheit in ständiger Wechselwirkung. Und treffen diese Mächte aufeinander erzeugen sie eine enorme Menge an Energie. Dieser Energie ist die Quintessenz der Digiwelt.“

Zeitgleich zu Babamons bewegender Rede, gerieten der Schatten und die Lichtstrahlen aneinander und Sanzomon fühlte regelrecht das Karma, das dabei freigesetzt wurde, obwohl es nicht mehr wie eine Illusion war. Es gab ein Aufleuchten. Dann waren sie verschwunden und der Raum schimmerte wieder im abendlichen Rot.

„Ohne dies wäre das Leben in der Digiwelt nicht möglich. Das hat auch schon Sanzomon erkannt. Sie war ein heiliges Digimon und nahm doch die Dunkelheit auf ihre Schultern, die in der Luft, in der Erde, im Wasser und in den Herzen der Digimon verankert war, trotz unvorstellbarer Qualen. Doch ihr Opfer setzte die Energie frei, um diesen Kontinent zu retten. Wir gedenken ihrer Taten und ihrem Leid, dass sie aufnahm und all jedes Digimon, dass hier aufgezogen wird, tritt in ihrer Fußstapfen.“

„Das heißt... wir sind nichts als Opfergaben?“

Ihre Sicht verschwamm. Das Entsetzen hatte sie erstarren lassen. Gegen die Tränen konnte Sanzomon sich nicht wehren.

„Ihr seid Teil eines wichtigen Kreislaufes“, schimpfte Babamon, als hätte das Wort Opfergabe sie persönlich beleidigt. „Und auch die Dämonen-Digimon wissen das. Auch die Kämpfen nicht um den Sieg, sondern ums überleben. Je heller unser Licht, so größer wird ihr Schatten. Sie können jedoch nur zerstören. Sie brauchen uns. Und wir brauchen sie, um einen ehrenvollen Tod zu sterben und unser Karma zu steigern. Von diesem Wechselspiel aus Leben und Tod profitieren wir alle. Wir, sie. Die Digiwelt. Doch das funktioniert nur, wenn wir unser Licht in Ordnung halten. Chaos – Dinge, die uns vielleicht zweifeln lassen können wer und was wir sind erschüttert die Balance.“

Die Kraft in den Beinen verließ sie. Sanzomon ging in die Knie, starrte nur den Boden an und kämpfte mit allem darum, die Übelkeit in ihrem Bauch zu tilgen oder sich zu beruhigen. Aber sie konnte nicht.

„Begreifst du jetzt, warum ich dir gesagt habe, du sollst die Finger von diesen Büchern lassen? Wir bewahren sie auf, damit niemand anders sie in die Finger bekommt. Würde dieser blasphemische Schwachsinn seine Runden drehen, würde das nur Verwirrung bringen. Und die Digimon würden zweifeln. Sie würden sich und alles hinterfragen. Das könnte ihr Licht auslöschen. Das könnte sie selbst zu dämonischen Digimon machen. Das können und dürfen wir nicht riskieren.“

Stumm schüttelte Sanzomon nur den Kopf. Ihr Mund schmeckte säuerlich und Wasser sammelte sich. Ihr war wirklich als müsste sie sich fast übergeben. Salamon erschien wieder in ihren Erinnerungen, wie fröhlich sie war ein D'arcmon zu werden und in den Krieg zu ziehen, für das Wohl aller. Hatte sie davon gewusst? Hatte irgendeiner von ihnen das gewusst?

Ihr war klar, dass die Puttimon ihre wiedergeborenen Kameraden waren, die im Krieg gefallen waren. Aber war ihnen klar, in welchen Teufelskreis sie gefangen waren?

„Gibt es... gibt es denn keinen anderen Weg...?“, fragte Sanzomon, aber ihre Stimme war so hoch und gedrückt, dass sie sich selbst kaum hörte.

„Sag du es mir. Gibt es einen anderen Weg als diesen, der so viel Energie frei setzt und dabei die natürlich Balance hält? Vorhin warst du noch so selbstbewusst. Aber spar dir die Luft. Es gibt keinen.“

„Es muss aber einen geben!“

Ihr Schrei ließ Sanzomon selbst zusammenfahren. Er hallte sogar noch darüber hinaus in den Räumen der Äbtissin. Die Übelkeit war fort, aber es brodelte immer noch in Sanzomon.

„Es muss einfach! Es kann nicht sein, dass das der einzige Weg ist“, sagte sie weiter.

„Was willst du denn machen? Vor allem - du, ein Pazifist, noch nie gekämpft, ohne Ahnung wie es da draußen zugeht?“

„Es muss aber eine Lösung geben! Was ist denn mit den Dämonen-Digimon? Ihre Schriften sind unseren so ähnlich! Sie sind uns ähnlich! Im Kern sind wir gleich! Es muss noch eine vernünftige Lösung geben. Dieser sinnlose Kampf kann doch nicht die einzige Antwort sein.“

„Denkst du, das hat keiner versucht?!“

Wieder schlug Babamon mit ihrem Besen auf dem Boden. Etwas neben Sanzomon, dort wo sich der Schatten tummelte ragte etwas heraus. Es war eine Illusionen, nichts anderes, es war ihr klar, aber doch weckte dieses Bild Angst in ihr.

Eine Kreatur, die aus dem Schatten auftauchte wie aus dunklem Wasser erstreckte sich vor ihr. Ihr Gesicht war humanoid, doch der Rest war geradezu monströs. Es war riesig. Die Schwingen so groß wie das ganze Digimon. Seine Zähne und Krallen waren lang, seine Augen leer und seelenlos, aber doch auf Hüfthöhe, wo der rot gepanzerte Körper plötzlich schwarzes Fell bekam starrten sie sechs Augen an. Sein Brüllen klang wie nicht von dieser Welt und Sanzomon konnte kaum glauben, dass dies ein Digimon sein sollte.

Als diese Illusionen verschwand, stürzte Sanzomon wieder zu Boden, obwohl sie es erst geschafft hatte wieder aufzustehen. Ihr Gesicht war blass.

„Willst du mir immer noch weismachen, dass Digimon wie dieses zu irgendeinem Hauch von Vernunft fähig wären? Das sie sich auf einen Kompromiss einigen könnten? Das sie Balance haben wollen?“, fragte Babamon, fordern und angewidert zugleich. „Sie sind triebhafte Geschöpfe, die nur zerstören wollen. Hätten sie uns nicht, die Kontrolle üben, würden sie aussterben. Sie sind der Trieb, wir sind die Vernunft. Sie sterben, wir sterben. Licht und Dunkelheit haben sich und werden sich immer bekämpfen. Und wir können nicht einen Funken Chaos in unseren Reihen dulden.“

„Nein“, presste Sanzomon über ihre zittrigen Lippen. Dann breitete sich dieses Zittern in ihrem ganzen Körper aus.

„Es gibt eine Lösung... Ganz sicher. Es... es hat vielleicht einfach noch keiner versucht.“

„Tse. Wie arrogant bist du, dass du denkst, dass es keiner versucht hätte?“, schimpfte Babamon weiter und schlug anschließend wieder mit dem Besen auf den Boden. Was folgte war ein Glockenschlag. Ein einzelnes Läuten, doch langgezogen, tief und unerträglich laut, dass glaubte ihr Trommelfell würde jeden Moment reißen. Sie hörte nicht einmal mehr ihre eigenen Gedanken, nur das Echo der Glocke, mit einem entsetzlichen Druck im Kopf, als würde dieser jeden Moment explodieren.

„Wir haben alles versucht und es ist immer gescheitert. Nichts erzeugt so viel Energie wie der Kampf zwischen Licht und Dunkelheit. Willst du, dass die Digiwelt unter geht? Willst du dass die Digimon nicht mehr wieder geboren werden? Wir sind all unsere Schriften durch und fanden keine Antwort.“

„Eure Schriften, so wie die zensierten? Die wo nur davon schreiben, dass sich alle um Reinheit zu drehen hat? Das wir keine Freunde haben dürfen? Das wir keinen Hauch von Individualität haben dürfen und keine Träume? Wie soll so eine kleinkarierte Gesellschaft, die nur in ihrer eigenen Welt lebt eine Lösung für alle finden?“

Wieder schlug der Besen auf, als dieser sich aber erhob, wurde Sanzomon mit hochgezogen. Sie selbst konnte sich nicht rühren und irgendwann schwebte sie wenige Zentimeter über den Boden, nicht in der Lage einen Muskel zu rühren. Es war, als packte sie jemand am Hals und zog sie hoch.

„Ich hätte dieses Wisemon früher aus den Weg räumen sollen“, knurrte Babamon verärgert. Sanzomon wurde von der Kraft, die sie in der Luft hielt befreit, doch sie fiel und rang nach Luft. „Er hat deinen Geist vom rechten Pfad gebracht. Genau darum akzeptieren wir keine Aussätzigen. Sie bringen Unruhe in unsere Ordnung, sähen Zweifel. Und Zweifel sind der Nährboden aller Übel. Zweifel bringen Chaos und so die Dunkelheit wieder zurück.“

„Sorcerymon hat kein Chaos gebracht“, schrie Sanzomon dazwischen. „Er hat mir gezeigt wie wichtig der Blick über seine eigenen Grenzen ist. Aber allein wie ihr die Bücher behandelt zeigt, dass ihr nichts ändern wollt! Ihr macht es euch so einfach. Ihr wollt nichts ändern, weil es einfacher ist. Was mit anderen Digimon ist interessiert den Orden nicht und niemand ist interessiert sich weiterzuentwickeln! Die Welt da draußen ist so riesig und man kann so viel und von Büchern lernen! Ich will nicht begreifen, wieso ihr euch alle verschließt!

Sie weinte fast wieder, aber Sanzomon unterdrückte die heißen Tränen oder ihre Stimme weiter anzuheben. Ein Kloß saß in ihrem Hals, aber sie stand wieder, auch wenn ihre Haltung nicht respekteinflößend genug war um Babamon allein dadurch zum nachdenken anzuregen. Vielmehr schien sie noch wütender darüber, dass Sanzomon es wagte ihre Meinung durchzusetzen. Die Sonne sank tiefer. Der Saal war nun so tief rot, als stünde er in Flammen.

„Neugierde... Ein furchtbares Laster“, zischte Babamon nach einer Weile. „Eine so noble Eigenschaft, die außer Kontrolle gerät und durch Mangel an Einsicht ins Verderben führt. Und du bist ohne jede Einsicht, ohne jeden Halt, ohne jede Kontrolle. Doch wenn du dazu weiter verstehen willst, sehe ich nur ein Mittel...“

 

 

* * * *
 

Der eigentlich vom Nachtschleier umhüllte Mount Boote schimmerte bedrohlich Rot. Das Feuer an der Lichtung am Fuß des Berges war hoch, vielleicht sogar höher wie die meisten Bäume, deren eigenes, sattes Rot neben dem des Feuer erblasste. Schwarze Fetzen stiegen durch die warme Luft nach oben, segelten nach einer gewissen Höhe aber hinab, doch lösten sich in Daten auf, ehe sie die Chance erhielten auch nur ein Grashalm zu berühren.

Weitere Bücher wurden ins Feuer geworfen. Das Holz, mit dem dieser Scheiterhaufen entzündet wurde war schon längst verbraucht, nur die Bücher hielten das Feuer am leben. Wieder flog eins hinein. Dann noch eines. Wieder eines. Sie Seiten glühten, zerfiel und tanzten wie schwarze Schmetterlinge ums Feuer.

Ungläubig stand Sanzomon daneben. Sie konnte es nicht einfach nicht glauben.

Alle Bücher aus dem geheimen, unteren Ebenen wurden verbrannt. Nüchtern betrachtet war es absolut sinnlos und nicht tragisch. Die Bücher würden sich nach einer gewissen Zeit wieder von selbst herstellen. Daten waren Daten und die einen würden länger, die anderen weniger brauchen für diesen Prozess.

Was Sanzomon jedoch mehr schockierte war die Symbolik hinter dieser Tat. Es ging nicht um die Zerstörung, sondern um klar zu machen, wie unerwünscht sie waren. Diese Bücher, etwas, was über die eigenen Dogmen hinausgeht und Sanzomons Drang wissen zu wollen, was über diesen Grenzen liegt waren unerwünscht und keiner war bereit es zu versuchen.

Die Sistermon Blanc und die Sistermon Noir standen in einer Reihe, stumm, ohne ein Zucken in ihren Gesichtern und Sanzomon musste sich fragen, ob ihnen klar war warum sie es taten oder sie nur Befehle ausführten. Sistermon Ciel schritt an ihnen vorbei und trat vor Sanzomon.

„Die Äbtissin beauftragte mich damit, Euch mitzuteilen, dass wir alle kritischen Werke verbrannt haben. Es wird Wochen oder Monate dauern, bis sie wieder hier hergestellt sind. Sollte jedoch der Verdacht erneut bestehen, dass diese Werke eine Bedrohung für den Orden und seine Mitglieder darstellt, so sollen sie wieder verbrannt werden, bis zu dem Tag, an dem sie nicht mehr wiederkehren. Zum Schutze der Ordnung.“

„Der Ordnung!“, salutierten die Sistermon. Nur Sanzomon stand wie weggetreten da und starrte ins Feuer. Dass Schriften verbrannt wurden, die eigentlich so wichtig erschienen konnte sie kaum mitansehen, doch ihr Blick war wie gefesselt von den Flammen und den schwarzen Resten der Seiten. Von den Büchern, die Einzigen auf diesem Stück Land die mehr erzählten, wie der Orden preisgab verbrannten vor ihr und wurden zu Asche. Das war die Antwort der Äbtissin.

Sanzomon hatte nicht einmal wirklich dagegen reagieren können. Die Sistermon stürmten herein und nahmen alles mit und ehe sie sich versah glühte die ganze Nacht in rot. Worte hatten nichts gebracht. Ihre Versuche etwas zu unternehmen wurden unterbunden. Einige Sistermon hatten sie angegriffen, jedoch nicht schwer.

Erwartungsvoll stand Sistermon Ciel weiter vor Sanzomon. Der Mund des Mönch-Digimon öffnete sich zwar, aber ihre eigenen Worte hallten nicht im ihrem Kopf wieder.

„Ich gehe!“

Die die ganze Zeit komplett resignierte Sistermon Ciel stutzte plötzlich. Ihre blauen Augen blinzelten schnell hintereinander. Auch die anderen Sistermon schauten auf, verwundert und verwirrt.

„Wie bitte?“

„Ich sagte, ich gehe“, zischte Sanzomon erneut, nur diesmal hörte sie ihre Worte und ihr Verstand begriff ihre Bedeutung, wurde sogar erst stutzig, aber nun, da sie es ausgesprochen hatte, war sie noch überzeugter und sicher, dass es richtig war.

Sanzomon setzte sich endlich wieder in Bewegung und es fühlte sich erst so steif und ungewohnt an wieder zu laufen. Erst drehte sie sich nur um und statt dem Feuer erstreckte sich der Wald vor ihr und die Wege zwischen den Bäumen wirkten schon so einladend, so motivierend.

„I-Ihr könnt nicht gehen!“, schrie Sistermon Ciel ihr nach, nachdem Sanzomon die ersten Schritte zurücklegte. „Ihr seid Teil dieses Ordens. Eure Aufgabe ist es Digimon an Eurer Weisheit teilhaben zu lassen und den Weg zur Erleuchtung zu finden!“

„Für Weisheit braucht man Wissen. Und hier finde ich keines.“

Sanzomon lief weiter. Ihre Schritte wurden flüssiger und schneller.

„Wie bitte?! I-Ihr wagt es -“

„Lass sie gehen, Sistermon Ciel.“

Zuerst hörte man Babamons Stimme nur, sah sie aber nirgendwo doch dann trat sie aus dem Schatten des Waldes. Ohne ihre Worte hätte man denken können, sie wollte Sanzomon den Weg versperren, dem war aber nicht so.

„Aber Äbtissin...“

„Sie will gehen? Dann soll sie gehen. Unruhe und Chaos brauchen wir hier nicht. Sie wird eines Tages begreifen, was sie davon hat.“

„Äbtissin, ich bitte Euch, das -“

Doch Sistermon Ciel verstummte, als Sanzomon weiter ging. Die Sistermon tuschelten, doch ihre Worte wurden vom dem Knistern des Feuers überdeckt. Ihr Schatten ragte über Babamon hinweg und dann standen sich die beiden Digimon gegenüber. Babamon war zwar alt und kleiner, dennoch strömte sie anders wie Sanzomon die stärkere Autorität aus. Doch selbst Sanzomon wirkte merkwürdig überzeugt und insbesondere stur.

„Na los. Hau ab. Lass dich hier nicht mehr blicken, wenn du glaubst, die Digiwelt dort draußen gebe dir mehr Antworten wie das hier.“

„Wollt Ihr etwa, dass ich gehe?“, fragte Sanzomon sie und Babamon verstummte verdächtig. Sie hatte verstanden, was das Mönch-Digimon ihr sagen wollte und sie nicht die Entscheidung an sich hinterfragte, sondern die eigentliche Motivation der Äbtissin.

„Mach was du willst. Wir haben unsere Regeln und Prinzipen, denen wir folgen. Du hingegen scheinst erst Dinge begreifen zu müssen.“

„Vielleicht muss ich das wirklich...“

Mit diesen letzten Worten lief Sanzomon auch an Babamon vorbei und ließ sie hinter sich. Sie hörte, wie Sistermon Babamon fragten, ob sie das wirklich für richtig hielt, ob sie nichts dagegen tun oder Sanzomon aufhalten wollte. Doch sie schwieg, während Sanzomon von der Dunkelheit des Waldes verschluckt wurde. Dank ihrer helle Kleider konnten ihr die Sistermon lange hinterher sehen und Sanzomon spürte ihre Blicke im Rücken, doch je weiter sie ging, um so schwerer war es ihr zu folgen. Dann irgendwann verlor der Wald seinen Rotstich und zeitgleich war Sanzomon nicht mehr für die aufgewühlten Sistermon zu sehen.

Adrenalin, oder eine digitale Form davon strömte durch ihren Körper und ließ sie ignorieren, dass sie über Stöcke und spitze Steine lief. Sie lief weiter. Sie wurde schneller.

Äste blieben an ihr hängen, die ignorierte Sanzomon aber. Die Bäume änderten sich. Auch wenn es durch die Dunkelheit schwer zu erkennen war, wurde das Holz der Bäume immer dunkler, die Blätter verloren ihre Farbe. Sie ließ den Protokollwald hinter sich. Aber sie lief weiter. Und wurde schneller und irgendwann rannte sie schließlich. Die spitzen Steine ließ sie unbeachtet, dass Äste ihr fast ins Gesicht schlug und sich in ihrer Robe und ihren Haaren verfingen war ihr gleich, dass sie einige Male fast hinfiel war ihr egal.

Sie rannte aus dem Wald und dann war ihr Weg abrupt zu Ende. Sanzomon trat aus den Bäumen und direkt vor ihr tat sich ein Vorsprung auf. Er war nicht besonders tief, mehr wie einen Meter wäre sie nicht nach unten gefallen, sie hätte sich vermutlich auch nicht verletzt, dennoch erschrak sie und durch den Schreck verlor Sanzomon zuerst den Halt. Nun saß sie auf den Boden und bekam Zeit sich zu sammeln und zu realisieren, wo sie war. Sie sah über Wälder hinweg, ihre Kronen nicht in Rot sondern in grün. Es war noch Nacht, doch am Horizont färbte sich der Himmel bereits in Pastell und ein silberner, funkelnder Steifen deuteten das Meer wie auch den Sonnenaufgang an. Hatte die Nacht nicht erst begonnen? Wie weit und wie lange war sie gelaufen?

Sanzomon sah über ihre Schultern zurück. Sie sah die Spitze des Mount Boot, doch die Tempel und Ruinen waren kaum mehr von Felsen zu unterscheiden. Der Berg schimmerte nicht mehr rot, doch eine dicke, schwarze Wolke stieg neben ihm in den Himmel. Ihr zu Hause wirkte so weit weg und bei dem Gedanken an zu Hause wurde Sanzomon klar, was sie eigentlich getan hatte.

Sie war gegangen. Sie war wirklich gegangen. In der Absicht nicht mehr wiederzukehren. Um selbst Dinge zu lernen, zu begreifen und Antworten zu finden. Vielleicht sogar Lösungen.

Wieder zum Horizont schauend tat sich vor ihr die Digiwelt auf und die ersten Sonnenstrahlen hießen sie Willkommen, doch der sichere Hafen war verschlossen und wirkte so fern.

Sie war gegangen. Sie konnte hinaus in die Welt und selbst sehen wie sie war, aber der Weg zurück war versperrt. Was würden die Sistermon den Ausbildungs-Digimon und den Rookies sagen, wenn diese fragen sollten wo Sanzomon war?

Sie sollte und wollte sich freuen, doch bei der Erkenntnis, dass Sanzomon ihre Heimat den Rücken kehrte, sowie Digimon, die sie aufgezogen und beschützt hatten und wie gerne sie das auch für die Jüngeren Digimon getan hätte, stiegen ihr doch die Tränen in die Augen.

Sie konnte gehen wohin und tun was sie wollte. Aber Sanzomon konnte ihre Freiheit nicht genießen.

 

* * * *

 

Sanzomons Augen öffneten sich rasch bei ihrem Erwachen, doch ihr Verstand taumelte noch hinterher und registrierte nicht, wo sie sich befand. Sie richtete sich auf, aber noch im Halbschlaf fiel ihr das schwer. Ein paar mal kniff sie ihre Augen zusammen, dann nahm ihr Verstand wieder ihre Umgebung war. Sie saß in der Bibliothek und es war mitten in der Nacht. Für ihre Arbeit hatten man ihr Tisch, Stuhl und Schreibutensilien zur Verfügung gestellt. Ein Turm aus Büchern erstreckte sich vor ihr in die Höhe, einige lagen vor ihr aufgeschlagen. Sie hatte gehofft in diesen eine Möglichkeit zu finden Myotismon mit dem Amulett zu helfen, aber dann hatte sie sich so sehr in die Schriften vertieft, dass sie die Zeit vergaß. Bei diesen schaurigen Dingen war es kein Wunder, dass sie schlecht schlief.

Die Bücher unterschieden sich kaum von denen, die die Äbtissin aufbewahrte. Auch sie waren voll mit Zaubersprüchen in verschiedenen Sprachen, Weissagungen und Prophezeiungen. Sie las von einer gefürchteten Gottheit, die an einen Ort verband wurde, wo es nichts außer schwarzes Wasser gab. Von sieben sehr mächtigen Dämonen, die irgendwann das Ende Welt bringen würden. Von einem Wesen mitten in der dunklen Zone, geboren aus Verzweiflung und sich nichts sehnlicher wünscht, wie sich selbst mitsamt der gesamten Galaxie in de Luft zu lagen, bis es nur noch Asche gab. Von einem abtrünnigen Digimon, das von mächtigen Kriegern verbannt wurde. Und von einem riesigen Digimon-König, der alles zu Chaos verschmelzen und verschlingen würde.

Einerseits war Sanzomon fasziniert davon, einerseits entsetzt und angewidert. Die Tatsache, dass die Dämonen-Digimon genauso borniert wie die heiligen Digimon waren beruhigte und belustigte sie zugleich. Die Bücher der Äbtissin sprachen davon, wie herzlos und gewalttätig die Dämonen seien, diese wie ignorant, kaltherzig und neidisch die heiligen Digimon waren. Sie schüttelte den Kopf darüber.

Das Amulett mit dem Wappen lag noch unberührt vor ihr. Sie hatte nichts erreicht. Auf mehreren Papieren hatte Sanzomon sich Zauber und mathematische Formeln notiert, aber sie alle halfen nicht, weder um festzustellen um was für einen Typ Daten es sich dabei handelte, noch um das Volumen dessen zu bestimmen. Irgendwas übersah sie und überfragt und müde rieb sie sich den Nacken. Dann seufzte sie. Das war schon der dritte Abend ohne ein Ergebnis.

Die Kerze vor ihr ging aus, dem Sanzomon jedoch erst keine Beachtung schenkte, doch die Atmosphäre in diesem Raum hatte sich verändert. Sie fühlte sich beobachtet und nicht mehr allein. Jemand war bei ihr und auch wenn sie nichts hörte, spürte sie dass derjenige immer näher kam und näher und schließlich direkt hinter ihr stehen blieb. Zuerst kam sie auf den Gedanken, dass dies vielleicht eines der Bakemon sein könnte, doch so direkt hinter ihr und auch wenn sie keinen Schatten sah, war ihr klar, dass dies eigentlich nur Myotismon selbst sein konnte, was sein Lachen auch bestätigte. Wer sonst sollte es auch sein?

„Seid Ihr weiter gekommen?“

„Noch nicht...“, seufzte Sanzomon deprimiert und lehnte sich weiter und tiefer in den Stuhl. „So viele Zahlen... Ich mochte Mathematik nie. Hätte man mir eher gesagt, wie viel Mathematik in Magie steckt, hätte ich vielleicht eher gelernt zu rechnen.“

„Lasst Euch Zeit und hetzt Euch nicht. Ihr benötigt dafür viel Energie. Und Eure Belohnung wird nicht wegrennen.“

„Belohnung...?“

Ihr Körper kippte zur Seite, aber Myotismons Hände umfassten ihre Schultern und Sanzomon blieb gerade so aufrecht sitzen.

„Ja. Eine Belohnung, für Eure Mühen.“

Myotismons Hände, die anfangs noch nur ihre Schultern hielt fuhren etwas weiter nach oben, streichelten über ihre Haut, fuhren sachte die Konturen ihres Halses nach und wieder ihre Schultern hinab. Erst erschrak Sanzomon. So viel Nähe war sie nicht gewohnt und sie hätte Myotismon weit distanzierter eingeschätzt. So etwas sah ihm nicht ähnlich. Aber sie gab zu, auch wenn es im ersten Moment etwas merkwürdig war, fing es doch an ihr zu gefallen. Ihre Haut fing an zu Kribbeln und ihre Schultern entspannten sich.

„Aber ich brauche so etwas nicht. Ich tu das hier als Dank für Eure Gastfreundlichkeit...“

Ein müdes Grinsen huschte Sanzomon über die Lippen.

„Oh, ich bestehe aber darauf. Und ich habe mir gut überlegt, wie ich Eure Mühen würdigen könnte. Ihr liebt es doch, neue Erfahrungen zu machen. Da wüsste ich genau das Richtige.“

Seine Hände verschwanden unter ihrem Schal. Der schwere Stoff rutschte von ihrem Gesicht und hing lose von den Schultern. So ohne den schweren Stoff fühlte sich Sanzomon fast schon nackt. Kalte Luft kitzelte ihren Nacken. Hatte sie das Fenster auf gelassen?

Doch dieser Geruch. So schwer. So merkwürdig. Sie kannte diesen Geruch. Das war kein Wind und dass, was ihre Haut berührte nicht die Luft dieser düsteren, frostigen Nacht.

Myotismons Finger berührten Sanzomons Kinn, dann, fast sinnlich ihren Hals und ein sanfter Druck in ihrer Halsbeuge raubte Sanzomon für einen Moment den Atem.

„Es wird Euch gefallen...“

Sanzomon wollte schreien, brachte aber nichts heraus. Der Schock der Kälte an so einer empfindlichen Stelle ihres Halses und dem krampften Gefühl in ihrem Unterleib, wissend dass das kein Hunger war raubten ihr die Worte in der Kehle.

Sie schnappte nach Luft. Und wachte auf. Vom schnellen Atem war ihr Mund trocken und die Zeit, in der sie ihre Lippen wieder befeuchtete nutzte Sanzomon um sich umzuschauen. Die Kerze war an. Ihr Halstuch saß immer noch auf ihren Schultern, wenn auch nicht mehr all zu ordentlich. Von Myotismon keine Spur. Gar nichts.

„Was war das denn?“, fragte sie sich selbst, fast schon beschämt darüber, was sie da geträumt hatte und dass sie sogar immer noch ein Kribbeln an Schultern und im Bauch spürte. Sie fuhr mit ihren Händen über ihr Gesicht. Es war ganz rot und warm.

Noch benommen von dem plötzlich Wechsel zu Traum und Realität ging oder viel mehr taumelte Sanzomon zum Fenster, riss dieses auf und wurde von der kalten Luft regelrecht erschlagen. Aber sie half gegen die Hitze in ihrem Gesicht, nicht aber gegen die Gänsehaut und das Kribbeln.

War er wirklich da gewesen? Oder nicht? Es wirkte so real. Und lag das wirklich nur an dem Karma dieses Schlosses? Es hatte ihr gefallen. Es hatte ihr wirklich gefallen.

„Ich muss mehr schlafen... Das ist nur die Übermüdung“, sagte sie zu sich selbst und um sich zu beruhigen. Sie kam auf allerlei merkwürdige Gedanken, seit sie in diesem Schloss war. Es war nur einer von vielen unkontrollierbaren Gedankengänge in ihrem Kopf, dem sie keine Beachtung schenken sollte.

Ein letztes Mal holte Sanzomon tief Luft, ließ die kalte Nachtluft in ihre Lungen fahren und blies sie wieder aus, ehe sie sich vornahm das Fenster zu schließen um endlich schlafen zu gehen, doch etwas im Augenwinkel wurde für die erkennbar. Da war Schutz am Fenster, den sie nur sah, weil das Licht der Kerze im richtigen Winkel auf das Glas traf. Doch dieser Schmutz sah mehr nach einem Abdruck aus. Wie Pfoten. Und wie sie feststellte, als sie mit den Fingern über dieses Glas fuhr war dieser Schmutz außen.

Statt das Fenster nun zu schließen öffnete Sanzomon es wieder, atmete aber noch einmal Luft ein. Ihr Körper erholte sich von der Aufregung zuvor, ihr Puls war langsam und gleichmäßig. Sie schloss die Augen und hörte in die lautlose Nacht hinein. Gruselig, wie ruhig es hier war, waren doch die Mehrheit der Bewohner des Schlosses nachtaktiv, aber um so deutlicher, als bei Tage spürte man die negativen Energien, deren Quelle vermutlich Myotismon persönlich war. Und doch hörte Sanzomon inmitten dieser Stille das schwache Läuten von Glocken.

Sie öffnete die Augen wieder und sah hinauf. Genau über ihr war ein Fenster und es schien sogar auf zu sein.

„Ich weiß, du magst mich nicht besonders“, rief Sanzomon hinaus, hoffend, ihr heimlicher Beobachter, von dem sie genau wusste wer es war, war noch in Reichweite. „Aber auch wenn du kein Untotes-Digimon bist, würde ich mich gerne auch mit dir unterhalten. Ich würde mich über etwas Gesellschaft von meinesgleichen sehr freuen. Ich bekomme schon etwas Heimweh, wenn ich deinen Heiligen Ring höre. Vielleicht sind wir uns sogar sehr ähnlich.“

Verträumt blickte Sanzomon in die Nacht hinaus. Sie erkannte einen Schwarm Fledermäuse in der Dunkelheit.

„Trinkst du nächstes Mal etwas Tee mit mir? Die Bakemon bringen mir ohnehin immer zu viel und meistens vergesse ich ihn, weil ich so in meine Arbeit vertieft bin.“

Sie erhielt keine Antwort, doch hörte sie, wie das Fenster über ihr geschlossen wurde. Ihr blieb nichts wie zu hoffen, dass dieses Digimon es sich anders überlegte.

Als sie das Fenster nun endgültig schloss hörte Sanzomon die Glocken aber immer noch. Das war jedoch nicht das Läuten eines Heiligen Ringes, sondern dass des Amulettes, dem sie sich angenommen hatte. Allmählich kam ihr dieses Glockenläuten regelrecht aggressiv vor und sich davon angespornt, setzte sich Sanzomon doch noch einmal an den Tisch, statt einmal einen Schritt in ihr Gästezimmer zu wagen um richtig zu schlafen. Sanzomon lehnte sich mit beiden Ellenbogen auf dem Tisch nach vorn und starrte auf das Amulett. Die Reflexion der Kerze spiegelte sich im rosafarbenen Wappen mit dem Tifaret und immer noch fragte Sanzomon sich, wie Myotismon an so etwas heran gekommen war. Und für so ein kleines, schlichtes Schmuckstück war das Glockenläuten unerträglich laut. Diese Intensität kannte man nur von hochrangigen Engel-Digimon. Dabei war sie sich immer noch nicht sicher, was dieses Ding war oder aus was es Bestand. Solange sie die Daten nicht verstand, konnte sie diese auch nicht ordnen und sie auch nicht kopieren. Und irgendwie war Sanzomon sogar, als sei dieses Läuten nur so laut weil dieses Ding ihr etwas mitteilen wollte.

„Was bist du?“, flüsterte Sanzomon. Sie nahm das Amulett in ihre Hände und lauschte weiter, hoffend, in den Klängen die Antwort zu finden. Dieses Läuten war nur positives Karma und Karma war eine Energie aus bestimmten, gleichwelligen Datenströmen, die beim zusammentreffen mit ihren Daten dieses Geräusch erzeugten. Mehr nicht. Ihre Datenströme waren sich so ähnlich, eine Verbindung musste möglich sein.

Die lauschte weiter dem Läuten. Summte im Ton mit. Zählte die Takte mit und je länger es dauerte, so tiefer verfiel Sanzomon in eine Trance, die ihr erlaubte mehr zu hören, wie nur das Läuten. Babamon lehrte sie, dass ihre Art in die tiefsten Tiefen der Herzen blicken könnte, solange ihr Geist offen dafür war.

Sie horchte weiter dem Läuten. Der Ton war ein anderer wie der, den Sanzomon bisher von heiligen Digimon kannte, der aber einem nicht gleich auffiel. Das Läuten übertönte das wichtigste von allen, der Kern dieser Energie in diesem unscheinbaren Ding. Es war kein Läuten. Es war ein Rufen.

(H̴̻̥̺͋͂͜͝i̵̝̓̀̚k̷͉̙͇̑ả̷͓̀̔̕ŕ̶̛̥̫̦̀̋͒͝ï̸̛͔̽̋)

„Licht?“

Sanzomon kam zu schnell aus ihrer Trance, aber ihre Verwunderung über das, was sie glaubte gehört zu haben ließ sie die Tatsache, dass ihr eigentlich hätte davon schlecht werden müssen vergessen. Aber sie hatte es ganz klar gehört, aber etwas war merkwürdig. Es klang nicht wie ein Wort. Die Betonung, dieses Läuten war zu seltsam, nicht wie ein Wort, es war fast wie bei einem Namen.

(Namen ja aber keine Digimon-Namen sie wollen dass du denkst dass es welche wären aber es sind keine was ist der logische Schluss wenn diese Namen keine Digimon-Namen sind aber alle Digimon doch Digimon-Namen haben? Was ist Montag was sind die in diesen Büchern was deine Äbtissin dir nicht sagt denk nach Sanzomon sie wollen nicht das du es siehst aber du siehst es)

„Menschen... namen...“

Ihr Kopf hob sich und Sanzomon sah nichts vor sich außer das Fenster und die Vorhänger und doch schien sie, als sehe sie mehr als nur das. Im ihren Kopf sprach sie es noch einmal aus. Menschen. Ein komisches Wort, aber sie hatte dieses Wort oft in Sorcerymons Büchern gelesen, aber sich nie darum geschert, was Menschen waren. Als hätte ihr Kopf das einfach ausgeblendet. Als sei sie blind gewesen. War es das,was Myotismon erwähnte? Das die Digiwelt nicht möchte, dass die Digimon gewisse Dinge begriffen? Gab es einen Zusammenhang zwischen Menschen und den Digimon? Standen diese Lebensformen, von denen die Bücher erzählten mit den Digimon in Verbindung? Wollte Babamon deswegen nie darüber reden oder hatte gar Angst, dass es Chaos bringen könnte?

Von ihrer eigenen Erkenntnis übermannt starrte Sanzomon wieder das Amulett in ihren Händen an.

„Du bist nicht wie das, was ich kenne. Dieses Karma geht über die Digiwelt hinaus. Du bist auch nicht rein digital. Natürlich, darum bringen auch meine ganzen Berechnungen gar nichts. Du bist -“

Sie wagte es kaum auszusprechen. Es wirkte immer noch so absurd, aber mit den Geschichten von Sorcerymon im Hinterkopf machte alles so erschreckend viel Sinn. Und Myotismon hatte so viele mehrdeutige Bemerkungen gemacht. Ahnte er es?

Ihre Müdigkeit war vergangen. Sanzomon blieb sitzen, das Amulett in der Hand und ihre Sutras sprechend. Es würde eine sehr lange Nacht werden. Sie würde viel meditieren und sich viele Glocken anhören müssen. Aber sie glaubte es endlich begriffen zu haben.

Sie musste über die Grenzen hinaus.



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