An einlaminierten Karteikarten perlen Tränen ganz einfach ab
„Hast du ein Pflaster? Die Macke geht immer wieder auf.“
Yuriy verdrehte die Augen bei Boris‘ Jammerei. Aber auch wenn er fand, dass Boris es verdient hatte, stand er auf und besorgte ihm ein Heftpflaster, das er ihm zurechtschnitt. Tatsächlich hatte der Rothaarige ihn gebeten, vorbeizukommen, um ihn abzufragen. Nachdem Boris endlich sein Handy an den Strom angeschlossen hatte, konnte er die Nachricht dann auch empfangen.
„Ich sollte auch ein großes auf deinen Mund kleben“, murrte Yuriy, während er den Finger seines besten Freundes verarztete. Es erinnerte ihn an Kindertage. Damals hatte Boris sich auch immer in Schwierigkeiten gebracht, die auf die eine oder andere Art blutig geendet hatten.
„Dann kannst du weder jammern noch trinken.“
Yuriy hasste den Kontrollverlust, den Alkohol mit sich brachte. Er wollte nicht so werden wie sein Vater.
„Wird dann aber mit dem Abfragen etwas schwierig, meinst du nicht?“, entgegnete Boris ihm spitzfindig und grinste.
„Machst du die Wäsche nachher noch?“, fragte Yuriy, deutete auf die Wäschewanne an seiner Haustür und überging auf diese Weise geflissentlich Boris‘ Kommentar.
„Ja. Gehört die Decke eigentlich Ivan oder Sergei?“
„Mit der du heute Morgen aufgetaucht bist? Glaube nicht. Aber ich hab sie schon mal gesehen.“
Boris wunderte sich. Dann streckte er sich ausgiebig und nahm die Karteikarten wieder auf, die in Yuriys sauberer Handschrift beschriftet waren.
„Okay, konzentrier dich. Wir sind bei Piaget: Nenne alle kognitiven Entwicklungsstufen und das dazugehörige Kindesalter.“
„Hab ich das so aufgeschrieben?“
„Nein, aber das ist wichtig. Los!“
Yuriy brummte, bevor er die Antwort an den Fingern aufzählte: „Zuerst kommt die sensumotorische Intelligenz im Alter von null bis etwa 2 Jahren.“
Boris unterbrauch ihn direkt: „Ach ja, fass diese Stufen jeweils in einem knappen Satz zusammen.“
„Wa-? Boris! Bring mich nicht raus!“
Aber Boris sah ihn abwartend an. Yuriy schnaubte; leider waren Boris‘ Abfragemethoden schon seit Schulzeiten immer sehr erfolgreich gewesen. Wenn er Boris nicht gehabt hätte, wer wusste, ob Yuriy die Oberstufe so gut abgeschlossen hätte. Einige Einser-Module in Geschichte waren auch auf die gute Vorbereitung mit seinem Freund zurückzuführen. Also riss Yuriy sich zusammen. Das Psychologiemodul in Erziehungswissenschaft war schwer.
„In der sensumotorischen Phase entsteht ausschließlich das Zusammenspiel von Wahrnehmungseindrücken und motorischer Aktivität. Danach gleitet das Kind mit etwa zwei bis vier Jahren in die Stufe des symbolischen oder vorbegrifflichen Denkens. Auf dieser Stufe lässt sich eindeutig Denken im Sinne verinnerlichten Handelns nachweisen. Das Kind wird fähig, mit Vorstellungen und Symbolen - die Piaget Vorbegriffe nennt - umzugehen. Es folgt die Stufe des anschaulichen Denkens im Alter von vier bis etwa acht Jahren. In dieser Phase…“
Yuriy hielt kurz inne, um sich zu konzentrieren. Sein Blick suchte in Boris Gesicht etwas, was ihm helfen könnte, doch Boris‘ Miene war undurchsichtig. Er nickte ihm aber aufmunternd zu. Du kannst das!
„In dieser Phase… kommt es geradezu zu einer Explosion des Begriffsinstrumentariums, das allerdings noch recht vereinfacht und absolut gebraucht wird. Das Kind kann in der Regel noch nicht verschiedene Aspekte eines Gegenstandes oder einer Beziehung zwischen Gegenständen gleichzeitig erfassen und berücksichtigen, sondern es bleibt meist bei einem wahrnehmungsmäßig herausragenden Merkmal stehen. Daran schließt sich die Phase des konkret-operativen Denkens von acht bis elf, zwölf Jahren an. Ab dem 12. Lebensjahr steht das Kind auf der Stufe des formalen Denkens.“
„Aha. Und die Inhalte der letzten beiden Phasen?“
Yuriy funkelte Boris an. Er wusste es nicht. Da würde diesmal auch ein bisschen Warten nichts ändern. Boris nickte wissend.
„Wiederholen!“, befahl er und warf dem Rotschopf den Ordner zu, auf dem fett „EW“ stand.
„Ich schaff das nie bis zur Prüfung!“
„Yura… die ist in zwei Wochen. Du hast wie immer frühzeitig damit angefangen. Du kriegst das hin!“
Boris hatte es schon immer verstanden, Yuriy Mut zu machen und ihn zu fokussieren. Sie waren wie Brüder aufgewachsen, nachdem Oxana Kusznetsov durch einen Verkehrsunfall gestorben und er dadurch Waise geworden war. Ihre Cousine, Galina Ivanov, die zu der Zeit selbst einen kleinen Jungen im gleichen Alter hatte, nahm sich seiner an; gemäß dem letzten Willen ihrer Cousine war sie nämlich seine Patentante. Zugegeben, es hatte anfangs einige Reibereien gegeben, aber schließlich hatten sie sich zusammengerauft. Die Gewalttätigkeit von Yuriys Vater, wenn der mal wieder einen über den Durst getrunken hatte, hatte sie zusammengeschweißt. Umso genervter war Yuriy aber auch, wenn Boris trank. Für ihn hatte das stets einen schalen Beigeschmack.
„Ich geh meine Wäsche machen. Wenn ich wieder komme, hast du das drauf. Klar?“
„Ja, Mama…“
„Ich ruf Galina an, wenn du nicht machst, was ich sage.“
„Du würdest mich nicht verpetzen für sowas.“
„Ach nein?“
„… Soll ich ihr von deinem morgendlichen Abenteuer erzählen?“
Beide funkelten sich wie Kontrahenten im Ring an.
„Du willst sie doch nicht traurig machen“, schloss Boris schließlich und gewann damit ihr Duell. Wenn auch mit unfairen Mitteln. Yuriy wollte seine Mutter nicht mit solcher Art Kummer belasten. Sie machte sich schnell viel zu viele Gedanken um ihre Söhne.
„Fick dich, Borislaw!“, fauchte er, weil er verloren hatte.
Boris warf Yuriy einen Luftkuss zu und machte sich auf den Weg in den Waschkeller. In eine Maschine steckte er die Decke, von der er immer noch nicht wusste, woher sie war. In eine andere die zum Glück wieder aufgetauchte Kleidung des gestrigen Abends und seinen wöchentlichen Waschhaufen. Er schmiss sie an und setzte sich auf eine Waschmaschine, betrachtete eine Weile, wie das Wasser eingespült wurde, wie die Wäsche sich vollsog und schließlich im Kreis geschleudert wurde. Eigentlich durfte er sich nicht erlauben, solche Saufeskapaden zu haben. Er sollte ein Vorbild sein, schließlich arbeitete er als Bundesfreiwilliger in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe. Seine Aufgaben umfassten neben dem gemeinsamen Essenkochen auch die Hausaufgabenbetreuung und die Freizeitgestaltung von Drei- bis 18-Jährigen aus schwierigen Familienverhältnissen. Vielleicht war es da nicht so gut, sollte er aus Versehen jemandem aus seinem Arbeitsumkreis begegnen…Andererseits lief sein Vertrag dort auch bald aus. Normalerweise konnte man den Dienst ein Jahr lang ableisten. Boris hatte schon auf 18 Monate verlängert. Nur in Ausnahmefällen konnten 24 Monate geltend gemacht werden, und er wusste, dass er sich nicht dafür qualifizierte. Das hieß, er hatte jetzt noch ein gutes halbes Jahr, bis er… ja was eigentlich? „Bufdi sein“ hatte er nach dem Abi nur gemacht, um sich klar zu werden, was er beruflich mit seinem Leben anstellen wollte. Im Vergleich zu Yuriy war er wirklich schon spät dran. Als sie nach dem Tod von Yuriys Vater von Russland nach Deutschland gekommen waren, waren sie zuerst in Mecklenburg Vorpommern gelandet. In Parchim mussten sie ganz von vorn anfangen. Weil sie kein Deutsch konnten, wurden er und Yuriy in die vierte Klasse zurückversetzt, obwohl sie eigentlich in die fünfte gehörten. Boris fand das ungerecht. Aber er verstand auch kein Wort im Unterricht. Vornehmlich hatten sie Deutschstunden und durften auch noch gar nicht am eigentlichen Unterricht teilnehmen. Außer an Mathe. Zahlen waren ja gleich, rechnen konnten sie. Aber es war ein einziger Krampf. Boris vermisste Kirow. Dort waren seine Mutter und sein Großvater begraben. Sie würden sie nie wieder besuchen gehen können... Das war für ihn wirklich schlimm.
Boris ließ sich auf der ruckelnden Waschmaschine nach hinten sinken. Seine Beine baumelten frei in der Luft. Er dachte an Yuriy, der sich oben das Wissen seiner Karteikarten einprägte. Er dachte an seinen Bücherfetisch, für den er auf dem Schulhof immer geärgert worden war, weil er nicht wie die anderen Jungen beim Fußball mitmachen wollte, sondern lieber unter einem der Bäume saß und las. Und immer in diesen „Hieroglyphen“, wie die anderen Kinder die Schrift genannt hatten, die ihnen als einziges vertraut war in dieser fremden Stadt. Parchim. Boris starrte an die Decke. Seine Gedanken kreisten zurück, als sie zur weiterführenden Schule geschickt worden waren. Parchim hatte genau ein Gymnasium: Das altehrwürdige Friedrich-Franz-Gymnasium. Seine Grundschullehrerin hatte den Kopf geschüttelt, als sie Galina sein Zeugnis überreicht hatte, und gemeint, er habe auf dem Gymnasium nichts zu suchen. Er hätte nicht das Durchhaltevermögen oder das Benehmen für diese Art von Schule. Aber Yuriy würde dorthin gehen. Und wohin Yuriy ging, dahin würde Boris folgen. Das hatte er ihm versprochen, das war ihre Dynamik.
Als sie vor den großen, roten Türen der neuen Schule stand, hatte Yuriy nach Boris‘ Hand gegriffen. Und Boris hatte sie nicht losgelassen, bis sie sich in der Klasse vorstellen mussten. Natürlich hatten sie sich als Brüder vorgestellt. Das hatte den Klassenlehrer dann aber beim Vorlesen der Nachnamen schon verwirrt.
Auch auf der neuen Schule war Yuriy oft Opfer von Hänseleien. Es machte Boris wütend. Yuriy wurde immer noch geärgert, weil er lieber las, als Tischtennis oder Fußball zu spielen, und weil er bei den Mädchen beliebt war wegen seiner Augenfarbe. Diese Beliebtheit wurde größer, je älter sie wurden. Yuriy machte sich nie etwas daraus, und das ließ ihn auf viele andere arrogant wirken. Die Hänseleien wurden gemeiner. Und Boris wurde wütender. Irgendwann platzte er. Es blieb nicht bei einer Verwarnung, oder einer Suspendierung. Solange jemand Yuriy piesackte, bekam er es mit Boris zu tun. Es gab lange, klärende Gespräche mit ihm, seiner Patentante Galina und der Schulleitung. Als Yuriy herausfand, dass Boris sich seinetwegen mit seinen Bullys anlegte, fing er an, seine Kämpfe selbst auszufechten. Verbal, mit Sarkasmus und bissigen Kommentaren, die an Schlagfertigkeit ihresgleichen suchten. So schaffte er es, Boris Fäuste aus seinen Angelegenheiten herauszuhalten. Leider war sein Mundwerk manchmal aber doch etwas zu frech – und Boris kam doch noch zum Einsatz. So operierten sie in der Mittelstufe.
Boris rieb sich das Gesicht und seufzte. Hätte er sich damals nicht so oft geprügelt, hätte er vermutlich nicht so viel Unterricht durch die Suspendierungen verloren und dann hätte er auch nicht ein Jahr wiederholen müssen… Aber dann hätte Galina ihn vielleicht auch nicht beim Thaiboxen angemeldet, um seine überschüssige Energie und Aggression loszuwerden… Und Boxen machte er schon sehr gern.
Dann aber kam Galinas Beförderung und sie mussten erneut umziehen. Diesmal ins tiefste Münsterland, wo sie in Tecklenburg ein neues Zuhause fanden. Yuriy schaffte die Oberstufe ohne Verzögerung, weil seine Kurse auch am neuen Gymnasium angewählt werden konnten. Boris hatte weniger Glück. Er musste das Halbjahr wiederholen und neue Kurse wählen… Aber da er nicht blöd war, nahm er den Russischkurs für Fortgeschrittene. Boris vermisste Kirow immer noch. So blieb er heimatverbunden. Dann ging Yuriy zum Studieren nach Münster. Und seine Grundschullehrerin schien Recht zu behalten: Es fiel ihm ab da sehr viel schwerer, am Ball zu bleiben. Yuriy musste ihm gehörig in den Arsch treten. Besonders, weil er seine Prioritäten im Sport sah…
Die Maschine unter ihm vibrierte. Sie war im Endschleudergang. Boris rieb sich die Nasenwurzel. Er wollte wissen, wie lange er hier schon lag und grübelte. Sein Blick fiel auf das heutige Datum. Ah, kein Wunder, dass er grübelte. In zwei Tagen war der Todestag seiner Mutter. In dieser Zeit war er immer besonders nachdenklich, launenhaft und ein wenig düster. Er rieb sich über seine Brust, sie fühlte sich eng an. Mutter… Opa Slawa… Kirow… Er hatte nie aufgehört, seine Heimatstadt zu vermissen. Aber es tat nicht mehr so weh.
Plötzlich piepte sein Handy.
15:22
Yura: Ich möchte mit dir Filme schauen und dich die ganze Nacht halten.
Boris blinzelte. Das war ein merkwürdiges Angebot, aber ok. Vielleicht wusste Yuriy, wie er sich gerade fühlte. Er schrieb zurück:
15:24
Boris: Ok. Hast du dich mittlerweile erinnert, wem die Decke gehört?
15:26
Yura: Nee.
Yura: Kommst du gleich noch wieder?
Boris: Ja. Gleich.
Yura: Wann ist „gleich“???
Boris: ca. 10 Min. Ich kann auch nicht machen, dass die Maschine schneller wäscht.
Kopfschüttelnd rutsche Boris von der Maschine und betrachtete die digitale Anzeige. Jeden Moment würde sie auslaufen und dann beeilte er sich. Sonst war Yuriy ja auch nicht so gestresst. Aber vermutlich, weil es jetzt auf den Bachelorabschluss zuging und die Noten anfingen, wichtig zu werden…
15:31
Yura: Ugh, voll peinlich, ich hab die Nachricht für dich an Borya geschickt… /)////(
Boris starrte auf sein Handy und versuchte die Nachricht zu verstehen. Dann schlich sich ein fast diabolisches Grinsen auf sein Gesicht. So, so… statt zu lernen, schrieb Yuriy mit jemandem? Dem würde er gleich die Hammelbeine lang ziehen! Zwar wusste er nicht, warum ihm die falsch abgeschickte Nachricht so peinlich war, aber das würde er schon herausfinden.
Auf dem Weg zurück in die Wohnung machte er noch einmal Halt an den Briefkästen vor dem Haus. Post konnte er an einem Sonntag zwar nicht erwarten, aber Werbung gab es gefühlt immer.
„Entschuldigung! Entschuldigen Sie, junger Mann!“
Boris sah sich argwöhnisch um. Die alte Dame von nebenan kam freundlich lächelnd auf ihn zu.
„Ich sehe, es geht Ihnen gut. Habe ich Sie doch wieder erkannt!“
„Ähm… Sind Sie sicher, dass Sie mich meinen?“
„Doch, doch… Ich erinnere mich an Ihren unverwechselbaren Haarschnitt und die markanten Ohrringe… Außerdem tragen Sie meine Decke in Ihrer Wanne.“
Boris‘ Ohren wurden heiß.
„Das ist IHRE?!“, entgegnete er bestürzt. Dann hatte sie…
„Ja, mein Junge. Ich habe Sie heute Morgen im Garten liegen sehen, und da es doch etwas frisch war, habe ich mir erlaubt, Sie zuzudecken. Ich hoffe, Sie haben sich nichts weggeholt. Aber einen gesunden Schlaf haben Sie ja.“
Boris traute seinen Ohren nicht. Er hatte noch nie mit ihrer Nachbarin gesprochen – und das war das Erste, womit sie miteinander in Kontakt kamen?
„Ehm… Danke… und tut mir Leid für die Unannehmlichkeiten“, stammelte er leicht betreten, erinnerte er sich doch noch an seine gute Erziehung.
„Schon gut. Soll ich Ihnen die Decke dann abnehmen?“
„Die ist noch nicht trocken. Ich kann sie Ihnen später rüberbringen?“
„Ach, machen Sie sich nicht solche Umstände. Trocknen kann ich sie auch selbst.“
Boris nickte. Er ließ es sich dann aber nicht nehmen, wenigstens mit rüber zu kommen und ihr beim Aufhängen der Decke auf der Wäscheleine zu helfen. Das war das Mindeste, was er tun konnte. Und selbst dafür bedankte sich die alte Nachbarin noch!
„Tut mir nochmals sehr Leid… Falls ich Ihren Schreck am frühen Morgen wiedergutmachen kann… sagen Sie es.“
„Danke. Nachbarn helfen doch einander.“
Sie grinste ihn an, und er nickte nur, um abzudrehen und in sein Haus zu gehen.
„Ah, wenn ich es mir recht überlege, könnten Sie mir vielleicht einen Gefallen tun?“
Boris trabte zu ihr zurück.
„Wissen Sie, mein Sohn ist geschäftlich im Ausland, und mein Rasen ist jetzt schon so hoch gewachsen, wie Sie sicher gemerkt haben, und ich kriege einfach den Rasenmäher nicht an. Würden Sie – natürlich nur, wenn es Ihnen keine Umstände macht – sich meines Problems annehmen? Ich kann Sie auch bezahlen.“
Erleichtert seufzte Boris.
„Das kann ich gerne tun. Aber ich kann kein Geld von Ihnen annehmen. Sehen Sie es als Wiedergutmachung. Und… Nachbarn helfen einander.“
Die alte Dame lachte kurz auf.
„In Ordnung. Ich bin übrigens Irma von Landsberg. Auf eine gute Nachbarschaft.“
Boris ergriff vorsichtig die ihm dargereichte Hand.
„Boris. Boris Kusznetsov. Auf gute Nachbarschaft!“
Endlich wieder oben, fühlte sich Boris ein wenig wie nach einer Begegnung der dritten Art. Aber er war auch erleichtert, dass seine Eskapade keinen größeren Schaden – Herzinfarkt oder so – angerichtet hatte und er seine Schuld abarbeiten konnte. Er trat mit dem Zweitschlüssel in Yuriys Appartement ein. Der hing an seinem Handy und schien ihn gar nicht wahrzunehmen. Nach einem kurzen Abstecher in die Küche für ein Glas Wasser öffnete er die Balkontür und hängte zuerst seine Wäsche auf Yuriys Balkon auf.
Ein Blick durch das Fenster sagte ihm, dass Yuriy immer noch total vertieft in sein mobiles Endgerät war. Grinsend schlich er sich von hinten an. Als er direkt an der Sofakante stand, konnte er auf dem Display mitlesen. Yuriy hatte gerade so hinuntergescrollt, dass er den Absender nicht erkennen konnte.
Ich will dich küssen – so fiebrig und leidenschaftlich, als wären wir in Eile, als würden wir verbrennen, wenn wir aufhören würden, uns zu küssen. Was auch immer der Himmel für dich bedeutet – genau dahin will ich dich bringen, mit meinen Lippen und ich will, dass du dich fühlst, als würdest du verbrennen an dem Feuer, das in mir für dich brennt.
„Jemand muss aber noch ganz dringend lernen, wie Sexting geht…“
Yuriy erschreckte sich so sehr, dass er sein Handy in die Höhe warf und es sehr ungeschickt versuchte wieder aufzufangen, was ihm schließlich mit dem Bauch gelang.
„HIMMEL – HERRGOTT – HIRTE VON JUDÄA!“, rief Yuriy und drehte sich zu ihm um. Boris lachte schallend.
„Was soll das!“, fauchte der Rotschopf ihn sauer an.
„Ja, das frag ich dich. Was machst du? Sollte das n Sext sein? Das ist super cringy, no offense.“
Boris wischte sich immer noch ein Lachtränchen aus dem Augenwinkel.
„Kümmere dich um deinen Kram…“, knurrte Yuriy ihn an und schaltete sein Handy auf stumm.
„Hast du gelernt, was ich dir aufgetragen habe?“
„… Ja“, gab Yuriy widerborstig zurück.
„Gut. Dann sag an!“
„In der fünften Stufe, der Stufe des konkret-operativen Denkens, zeichnen sich die gedanklichen Operationen durch eine größere Beweglichkeit aus. Verschiedene Aspekte eines Gegenstandes oder Vorgangs können gleichzeitig erfasst und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Der Terminus konkrete Operationen meint, dass das Kind nun in Gedanken mit konkreten Objekten bzw. ihren Vorstellungen operieren kann. In der sich anschließenden Stufe des formalen Denkens – ab circa elf oder zwölf Jahren - tritt nach Piaget eine Sinnesumkehrung zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen ein. Das formale Denken ist grundsätzlich hypothetisch-deduktiv.“
„Na siehst du. Du kannst es doch. Und du wirst es auch in zwei Wochen können.“
Boris ließ sich neben Yuriy aufs Sofa plumpsen und streckte sich.
„Bock, heute Abend ein bisschen bei mir zu zocken?“
„Nein, ich muss noch lernen.“
„Man muss auch mal Pausen machen.“
Yuriy zierte sich.
„Guck dir den Ordner an! Den muss ich durcharbeiten!“
„Okay, ein Film? Und wir bestellen Pizza? … Immerhin wolltest du mit mir Filme schauen und mich die ganze Nacht halten… Aua!“
Boris lachte und rieb sich die Schulter. Yuriy hatte ihn geboxt. Seine Wangen waren vor Scham gerötet. Boris wusste selbst, es war gemein, ihn aufzuziehen, aber Yuriy bot so schöne Vorlagen.
„Na gut, aber nur einen Film! Und DU musst den Pizzadienst anrufen!“
Boris nickte ergeben und fummelte den Flyer ihrer Lieblingspizzeria aus der Schublade vom Wohnzimmertisch. Sie beide kannten sich in der Wohnung des jeweils anderen bestens aus.
„Das Übliche – oder was Neues?“, fragte er, während er schon wählte.
Yuriy deutete auf die Nummer 42. Boris hob zweiflerisch eine Braue in die Höhe.
„Sicher?“
„Ein Fr… Kommilitone hat sie mir empfohlen. Mal gucken, ob das berechtigt ist.“
Boris zuckte mit den Schultern, nannte seinen Namen, ihre Bestellung und wurde dann auf eine Wartezeit von einer halben Stunde verwiesen.
„Und was wollen wir schauen?“, fragte er dann und erhob sich, um zu Yuriys DVD-Regal zu schlendern.
„Horror? Comedy? Klassiker?“
Als er von Yuriy keine Antwort bekam, drehte er sich um. Sein Freund und Bruder saß schon wieder am Handy; mit gerunzelter Stirn und biss sich auf die Unterlippe. Boris schüttelte den Kopf. Er wählte den Film „300“ aus, den hatten sie schon lange nicht gesehen. Damit ließ er sich auf die Couch fallen. Ein lautes Vibrieren deutete eine erneute Nachricht an. Boris beugte sich nah an Yuriys Ohr:
„I feel you breathe “fuck” on to my neck and I moan your name into your ear.“
Yuriy zuckte wieder zusammen.
„Lass das! Sowas ist das nicht!“
„Ihr solltet auf Englisch schreiben. Sexting auf Deutsch ist so… plump.“
Yuriy rutschte an das andere Ende der Couch und funkelte ihn an.
„Ich sagte doch, sowas machen wir nicht!“
„Ja… klar… Wer ist es überhaupt? Kenne ich-“
„Nein!“
Beschwichtigend hob Boris seine Hände. Er legte seinen Kopf auf die Rückenlehne des Sofas und schloss die Augen. Dann sollte Yuriy eben machen… Schließlich war der Rotschopf sonst auch immer so gut mit Worten.
Erst, als es klingelte, öffnete Boris seine Augen wieder und sah Yuriy abwartend an.
„Hey“, stupste er ihn mit dem Fuß an, „es hat geklingelt.“
„Ja, es ist die Pizza, die DU bestellt hast.“
„Es ist aber DEINE Wohnung.“
Yuriy gab einen frustrierten Laut von sich, stand auf und suchte nach seinem Portemonnaie, um den Pizzaboten zu bezahlen. Dabei hatte er sein Handy neben Boris liegen gelassen. Vielleicht hätte Boris es ignoriert, wenn es nicht in genau diesem Moment vibriert hätte. Neugierig linste er auf das Display.
„Hah, ja genau, sowas ist das nicht…“, äffte Boris Yuriy nach und schüttelte den Kopf.
Nach einem prüfenden Blick, ob Yuriy noch beschäftigt war, schickte er eine Nachricht an die Person, mit der Yuriy sich schrieb. Immerhin wollte er nur helfen.
19:03
Yuriy: I bet you feel so good between my thighs.
Boris hatte gehofft, sofort eine Antwort zu kriegen. Aber das Handy blieb stumm. Enttäuscht seufzte er.
Wie es Tradition bei ihnen war, verstaute er ihre beiden Smartphones in einer Schublade in der Küche. Filmabende wurden nicht durch Handys gestört.
Yuriy kam ins Wohnzimmer zurück und legte ihre Pizzen vor sie auf den Tisch. Boris brachte den Pizzaschneider und Siracha-Sauce, sowie zwei Flaschen Cola.
„Was schauen wir eigentlich?“, fragte Yuriy und füllte ihre Gläser.
„Lass dich überraschen.“
19:22
Kai: Holy fuck, I‘d eat you out all night long if you let me!